auf #07 – Krise! Welche Krise?

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Z e p p e l i n u n i v e r s i tät f r i e d r i c h s h a f e n | z w i s c h e n f r a g e n | au s g a b e # 07 : K r i s e ! W e l c h e K r i s e ? | z w i s c h e n f r a g e n . d e

Krise!Welche Krise?

wirtschaft in der Krise

Das Sparen hat ausgedient! gesellschaft in der Krise

Geschäft versus Moral?

Krise!

gl aube in der Krise

Enthauptung als Schwelle! klima in der Krise

Was braucht die Öko-Wende?

Deutschland 6 EUR Schweiz 8 CHF Europa 8 EUR

Ausgabe #07 ISSN 2192-7979


Was

Nachhaltigkeit für uns bedeutet

Nachhaltigkeit Nachhaltigkeit Nachhaltigkeit Nachhaltigkeit bedeutet bedeutet bedeutet bedeutet

Was fürfür uns Was Was Was für für uns uns uns Als ein in der Region verankertes, inhabergeführtes Familienunternehmen ist es für uns selbstverständlich, unternehmerische Verantwortung zu übernehmen, die weit

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2014 sind wir dem Deutschen Nachhaltigkeitskodex beigetreten.

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Krise! Welche Krise? 06 – 10 Demokratie in Zeiten der Konfusion  helmut willke

Wirtschaft in der Krise

14 – 17

Warum wir uns das Sparen sparen können  marcel tyrell

18 – 23 Eine Gefahr nicht nur für den Verbraucherschutz  heribert dieter 24 – 27 Die wechselnden Strategien der Deutschen Bank  reinhard h. schmidt

europa in der Krise

30 – 31

D as Ende der Drei-Prozent-Hürde und die Hinterzimmerpolitik  Georg Jochum

32 – 37 Die Effizienz bleibt auf der Strecke  Alexander Eisenkopf

Gesellschaft in der Krise

40 – 43 Das Geschäft und die Moral  josef wieland 44 – 47 Geld für alle ohne Gegenleistung  manfred moldaschl

Gl aube in der Krise

50 – 53 Enthauptung als Schwelle: Der „Islamische Staat“  hans Ulrich Gumbrecht 54 – 57

P apst Franziskus und eine „Kirche im Aufbruch“  ramona M. kordesch

klim a in der Krise 60 – 64 Wie die Öko-Wende besser gelingen kann  lucia A. reisch 66 – 69 2-°C-Obergrenze: Ein Leitthema wird zur Randnotiz  markus rhomberg 72 – 75 Acht gute Vorsätze für die Welt  wolfgang muno

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k ult ur in d er Krise


„Große Notfälle und Krisen zeigen uns, um wie viel größer unsere vitalen Ressourcen sind, als wir selbst annahmen.“ William James US-amerikanischer Philosoph (1842– 1910)

Editorial Liebe Leserin, lieber Leser! Bezeugt ist der Begriff, der das Leitthema dieses Heftes prägt, erstaunlicherweise erst seit dem 16. Jahrhundert und hat seinen Ursprung im Griechischen: krísis. Das Wort stand damals für „Entscheidung“ und „entscheidende Wendung“. Eingang fand es deshalb zunächst vor allem in die medizinische Fachsprache: als Bezeichnung für den Höhe- und Wendepunkt einer Krankheit. Erst zwei Jahrhunderte später – und unter dem Einfluss des Französischen „crise“ – setzte sich der heutige Gebrauch durch als „entscheidende, schwierige Situation“. Die Krise. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint sie allgegenwärtig zu sein. Kaum ein Tag ohne Krisenmeldung in den Medien. Und kaum ein Bereich, der nicht betroffen wäre: die Gesellschaft, die Politik, ja die Demokratie insgesamt, die Wirtschaft, das Klima und die Umwelt, selbst die Institutionen des Glaubens. Verbunden ist die Krise mit einer beständigen Suche nach ihren Ursachen und möglichen Folgen, nach Erklärungen, Mustern, Lösungen. Wie auch mit der Frage, wann eine Krise wirklich eine solche ist und wann es sich nur um eine Veränderung handelt, Verwerfungen inklusive. Krise! Welche Krise? Darum und um mehr geht es im vorliegenden Heft, unserem Magazin für Zwischenfragen. Insgesamt 13 Beiträge erwarten Sie darin – von der Frage, welche Auswirkungen sich überhaupt für die Demokratie aus Zeiten der Konfusion ergeben, über die Konsequenzen, wenn Geschäft und Moral getrennte Wege gehen, bis hin zu den Folgen einer sicher bemühten, aber nicht immer durchdachten Klima- und Umweltpolitik. Nach Ruediger John und Patricia Reed begleitet mit Christof Salzmann erneut ein Künstler diese Ausgabe, nach Heft #06 ein weiteres Mal. Gemeinsam mit dem Fotografen Jean-Marc Delettre zeigt Salzmann auf, dass Krisen nicht nur sichtbar werden in Superlativen und urbanen Zusammenhängen, sondern bei genauerer Betrachtung auch in einer ländlichen Peripherie. Die Aufnahmen sind dabei unverfälscht, realitätsnah, unmittelbar und greifbar – Weißraum ermöglicht ihnen zu atmen und entnimmt sie dem unmittelbaren Zugriff durch den textlichen Kontext. Die Bildunterschriften leiten sich ab aus den konkreten Inhalten und ermöglichen eine weitere Aussage zum eigentlich Dargestellten. Durch die gemeinsame Intervention entsteht so eine sich gegenseitig ergänzende Koexistenz. Wir wünschen Ihnen – wie immer – eine anregende Lektüre!

Ihre Insa Sjurts Präsidentin der Zeppelin Universität


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heil l o se V er w ir run g in d en KĂś p fen und in d en O r ien t ierun gen d er Mens c hen


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Demokratie in Zeiten der Konfusion Interview mit Professor Dr. Helmut Willke, Lehrstuhl für Global Governance, über die Herausforderungen durch die Globalisierung und die Wissensgesellschaft

Die großen globalen Probleme wie Klimawandel, Terrorismus oder Finanzkrise haben nicht nur zu einer allgemeinen Verwirrung geführt, sondern auch die Rat- und Planlosigkeit der Politik nationalstaatlich organisierter Demokratien offengelegt. In seinem aktuellen Buch „Demokratie in Zeiten der Konfusion“ beschreibt Helmut Willke den Zustand westlicher Demokra­­ tien und gibt Empfehlungen, wie sie die Herausforderungen der Globalisierung und Wissensgesellschaft bestehen können.

Herr Willke, ich bin verwirrt: Warum bringen diese Konfusionen die Demokratie Wieso leben wir in Zeiten der als politische Steuerungsform in Verlegenheit? BeKonfusion? drohen sie sie gar? In Zeiten von „Je suis Charlie“ Zum Beispiel wird die westliche Demokratie an der liegt das ja auf der Hand: Es Steuerungsleistung und der Wirtschaftsdynamik des herrscht eine globale Konfu- chinesischen Modells gemessen. Dies bringt zwar die sion über Werte, Prioritäten, Schwächen der Demokratie ins Relief, aber es unterEthiken und Weltentwürfe. Denn Konfusion heißt schlägt die völlig unterschiedlichen AusgangspunkZusammenfließen und Verwirrung – durch globale te und Kontextbedingungen der beiden politischen Interdependenzen fließen die unterschiedlichsten Steuerungsformen. Eine ebenso voraussetzungslose Strömungen zusammen und stiften eine heillose Ver­ wie ahnungslose Kritik an der Demokratie, wie sie wirrung in den Köpfen und in den Orientierungen der etwa „Pegida“ formuliert, bedroht in der Tat die DeMenschen. mokratie: Weil forcierte Vereinfachungen der realen Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse nicht Sie sprechen in Ihrem Buch zusätzlich von der Kon- angemessen sind und weil populistische Vereinfafusion der Regime, der Rationalitäten und der Risi- chungen Versprechen machen, die sie nicht einhalten ken. Was meinen Sie damit konkret? können. Die globale Dynamik wirft politische, ökonomische, kulturelle und soziale Regime, also Steuerungsfor- Wie hat die Politik bisher auf die in einer komplemen, durcheinander, so dass unvereinbare Logiken xen Welt zunehmende kognitive Überforderung und Rationalitäten aufeinanderstoßen und daraus reagiert? überraschende Risiken entstehen. Das schließt die Schon lange reagiert die Politik mit dem Aufbau eikonfundierenden Wirkungen des Internets ebenso ner verzweigten Infrastruktur für die Beschaffung ein wie eine maßlose und illusionäre Kritik an der von Expertise: Räte, Kommissionen, BeratungsfirDemokratie als politische Steuerungsform. men, Fachgremien oder Expertenanhörungen gehö-


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ren längst zum politischen Geschäft. Das Problem transnationale Institutionen – Problemlösungen zu dabei ist, dass dies alles subkutan und im Verborge- suchen. Dabei stehen nationale Egoismen und Sonder­ nen passiert. Alle diese Aktivitäten, die notwendig interessen dem Schutz globaler Kollektivgüter gegensind, müssen ans demokratische Licht gebracht und über und machen Lösungen oder auch nur Problemmit demokratischer Legitimation ausgestattet wer- management unwahrscheinlich. den. Zugleich gibt es seit langem spezialisierte Institutionen für besonders schwierige Problemfelder, Was resultiert daraus für den wahlberechtigten Büretwa die Zentralbanken für die Geldpolitik oder die ger und dessen Partizipation an politischen EntscheiVerfassungsgerichte für die Normenkontrolle. Die dungen? demokratisch legitimierte Auslagerung von be- Wahlbeteiligung und Interesse an Politik nehmen stimmten und definierten Problemkomplexen wäre seit langem ab, weil die meisten Bürger von den meisten komplexen und globalen Problemen überfordert also gar nichts Neues. sind. Die Forderung nach Mitsprache aller an allen Mit den fundamentalen Transformationen – Globa- Entscheidungen ist daher kontraproduktiv. Erforderlisierung und Wissensgesellschaft – ist die Entste- lich scheint mir zu sein, Wahlentscheidungen und hung einer ganzen Reihe von neuen globalen Steu- Entscheidungsberechtigung stärker an Kompetenzen erungsregimen wie die Weltgesundheitsorganisa- zu binden. Dort, wo Bürger kompetent und interestion (WHO) oder die Welthandelsorganisation (WTO) siert sind – etwa in NGO, Interessengruppen, sozialen verbunden, die ihrerseits umfangreiche politische Bewegungen oder Fachgemeinschaften –, dort sind sie auch engagiert und scheuen nicht die Mühen politischer Beteiligung. Hätte die von Ihnen geforderte „Dezentrierung“ der Demokratie

nicht ein Legitimitätsproblem? „Im Sinne rein formaler Input-Legitimität − eine Person eine Stimme − ganz sicher. Aber dieser Verlust würde mehr als wettgemacht durch eine gesteigerte Output-Legitimität, die auf Partizipation der Interessierten und Betroffenen, auf Kompetenz und auf Transparenz des Entscheidungsprozesses beruht.“ helmut willke Kompetenzen wahrnehmen. Was bedeutet das für den Entscheidungsspielraum und die Legitimität nationalstaatlich organisierter Demokratien? Tatsächlich haben wir es hier mit einem zentralen Dilemma der nationalstaatlichen Politik zu tun. Die großen Probleme – Terror, Klimawandel, Pandemien, Migration, Energie oder Armut – halten sich nicht an nationalstaatliche Grenzen, aber die nationalstaatlich organisierten Politiksysteme sind die einzigen handlungsfähigen Akteure des Problemmanagements. Die nationale Politik ist überfordert und muss sich mit Problemen befassen, deren Reichweite und Ursachenkonstellationen weit über ihre Einflussmöglichkeiten hinausgehen. Daher ist nationalstaatliche Politik da­ rauf angewiesen, in schwierigen und langsamen internationalen Kooperationsprozessen – G7, G20 sowie

Wie könnte Partizipation unter den Bedingungen von Globalisierung und Wissensgesellschaft neu organisiert werden? Durch eine „Dezentrierung“ der Demokratie. Damit ist gemeint, dass neben dem Souverän – dem Parlament – und durch das Parlament delegiert und legitimiert und neben den bereits bestehenden Delegationen etwa in Form der Zentralbanken oder der Verfassungsgerichte weitere große Problemkomplexe an autonome Regulierungsinstitutionen delegiert werden, um die Parlamente zu entlasten. In diesen Regulierungsinstitutionen sind nach Prinzipien des „cognitive variety“ der gesamte Sachverstand und die versammelte organisationale Expertise vertreten und nach demokratischen Prinzipien organisiert. Diese Prinzipien sind Legitimität, Transparenz, Par­ tizipation, Rechenschaftspflicht und Effektivität. Hier entscheiden dann Fachleute nach Kriterien der Angemessenheit, Nachhaltigkeit und Wirksamkeit über Optionen, die eben nur Fachleute beurteilen können.


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L e gi t imi tät, Tr a nspa renz , Pa r t izipat i o n , Re chens ch a f t sp fl i ch t und Effek t i v i tät


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In Ihrem Buch gehen Sie auf die globale Finanzkrise und Nachfrage treiben das System. Um Demokratie und ihre politischen Folgen detailliert ein. Inwie- und Kapitalismus kompatibel zu machen, sind also fern hat die Krise und die sich daraus erwachsenden Einrichtungen erforderlich, die diese scharfen GegenWirtschafts- und Staatsschuldenkrisen Grenzen des sätze in operationale Prozeduren abmildern: progressive Steuern, umverteilende Erbschaftsteuern, Begeltenden Demokratiemodells aufgedeckt? Demokratische Entscheidungsprozeduren sind von grenzungen von Marktmacht – vor allem von „too big unerwartet hereinbrechenden globalen Krisen völlig to fail“ –, verstärkter Schutz der Kollektivgüter oder überfordert. Allerdings liegt hier auch ein Politik- und Demokratieversagen vor, weil die Politik es versäumt hat, ihre Welche Zukunft hat nach Ihrer Einschätzung weltweit Kompetenzkompetenz wirklich zu nutdas Demokratiemodell überhaupt? „Es hat keine Zukunft zen und das Finanz- und Bankensystem für stark unterentwickelte Länder − die haben andere in ihre Schranken zu verweisen, und Sorgen. Es hat eine glänzende Zukunft als Modell politizwar bevor es zu einer ernsten Krise scher Steuerung komplexer, differenzierter und dynamikommt. Auch das Krisenmanagement der scher Wissensgesellschaften.“ helmut willke großen Demokratien ist nach der Finanzkrise völlig unzureichend und von der mächtigen Finanzlobby massiv behindert, so dass auch sieben Jahre nach der Krise zum Förderung von Innovation und unternehmerischer Beispiel keine wirklichen Maßnahmen gegen Finanz- Kompetenz. Vor allem aber geht es darum, der Belafirmen „too big to fail“ verabschiedet und wirksam gerung einer nach wie vor nationalstaatlich organisierten Politik durch einen globalisierten Kapitalisgeworden sind. mus die Fähigkeit transnationaler politischer KoopeWie lässt sich das Zusammenspiel von Demokratie ration entgegenzusetzen. und Kapitalismus fördern? Durch eine demokratische politische Zähmung des Wie kann Demokratie als Steuerungsmodus hochKapitalismus und durch eine wirksame Umvertei- komplexer Gesellschaften ihre Zukunftsfähigkeit lung von oben nach unten. Was der Ökonom Thomas bewahren? Piketty beschreibt ist ja eine wachsende Dominanz Durch Strategiefähigkeit und Lernkompetenz. des Kapitalvermögens, so dass „Normalverdiener“ prinzipiell die Verlierer eines Kapitalismus sind, der Weiterführende Veröffentlichungen die wirklich Reichen reicher und die Mittelschicht zu Helmut Willke: Demokratie in Zeiten der Konfusion, den Verlierern des Systems macht. Dass dies der DeSuhrkamp Verlag, 2014 mokratie nicht förderlich ist, liegt auf der Hand. AbHelmut Willke: Regieren – Politische Steuerung solut notwendig ist also die Wiederherstellung des komplexer Gesellschaften, Springer VS, 2013 Primats einer Politik, die dem Kapitalismus Grenzen Helmut Willke: Global Governance, transcript, 2006 setzt, ohne seine Stärken der Selbstorganisation und „Demokratien haben sich selbst entmachtet“: Interview der eingebauten Innovativität zu zerstören. mit Helmut Willke auf ZDFheute.de vom 05.06.2015: Diesbezüglich erwähnen Sie die Schaffung sogenannter „Zwischeneinrichtungen“ und „struktureller Kopplungen“. Was ist darunter zu verstehen? Diese Zwischeneinrichtungen sind notwendig, weil die Funktionslogik von Demokratie und Kapitalismus sich diametral widersprechen. Demokratie setzt auf Gleichheit – eine Person, eine Stimme – und Kapitalismus setzt auf Differenz: Unterschiede in Angebot

http://www.heute.de/vor-g7-gipfel-auf-schlosselmau-globalisierung-ueberfordert-politik-politologehelmut-willke-im-interview-38724920.html? anchorName=faktenboxAnchor Mehr vom Autor unter zu.de/willke


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Gel d en t w er t un g


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Warum wir uns das Sparen sparen können Professor Dr. Marcel Tyrell, Lehrstuhl für Unternehmer- und Finanzwissenschaften, über die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat mit ihrer Entscheidung von 2014, den Leitzins von 0,25 auf 0,15 Prozent und den Einlagenzinssatz sogar von Null auf -0,1 Prozent zu senken, Neuland betreten. Sie ist die erste große Zentralbank, die in den Bereich negativer Zinssätze vorstößt. Für Sparer sind das zuerst einmal schlechte Nachrichten: Die Verzinsung auf die Anlage finanzieller Mittel wird nochmals sinken, und auch die Aussichten auf eine zumindest kurzfristige Zinswende stehen eher schlecht. Werden die Interessen der Sparer also momentan mit Füßen getreten? Was sind die Hintergründe dieser Entwicklung? Und wer profitiert eigentlich vom herrschenden Zins­umfeld? Dies erklärt Marcel Tyrell.

Die Hintergründe der Entwicklung belegen, dass die EZB sich in einer äußerst schwierigen Entscheidungssituation befindet. Einerseits muss sie sich mit massiven Def lationsgefahren in der Eurozone auseinandersetzen. Mehrere Länder der Eurozone haben damit zu kämpfen, dass sie nicht in eine Deflationsspirale, das heißt in einen anhaltenden absoluten Rückgang des Preisniveaus, geraten. Dies hätte fatale Folgen, wie sich unschwer in Japan beobachten lässt, das Mitte der 1990er Jahre in eine ausgedehnte Deflation geschlittert ist, welche das Wirtschaftswachstum dort nachhaltig nahezu zum Stillstand gebracht hat. Andererseits gibt es in der Eurozone aber auch Länder wie beispielsweise Deutschland, denen es vergleichsweise gut geht und deren Inflationsrate (noch) positiv ist. Zusätzlich scheint sich in diesen Ländern die Gefahr von Spekulationsblasen zum Beispiel im Immobilienmarkt aufzubauen, die die Finanzstabilität gefährdet, wie die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in ihrem Jahresbericht von 2013 betont. Die adä­quate Politik zur Bekämpfung dieser Gefahren wären dann jedoch Leitzinserhöhungen.

Finanzsystemstabilität oder Deflationsbekämpfung: Was hat Vorrang? Die EZB ist somit derzeit mit dem zentralen Zielkonflikt konfrontiert, ob sie als Notenbank ihre Geldpolitik eher an der Finanzsystemstabilität oder der Deflationsbekämpfung ausrichtet. Ihre jüngste Zinsentscheidung scheint darauf hinzudeuten, dass sie die Bekämpfung der Deflationsgefahren als momentan vorrangig betrachtet, auch wenn dies in einigen Ländern der Eurozone die Finanzstabilität gefährdet. Was bedeutet dies alles für die Masse der Sparer in Deutschland, also die nicht institutionellen Kapitalanleger? Sie müssen sich darauf einstellen, dass noch für einen längeren Zeitraum von mehreren Jahren das derzeitige Zinsniveau erhalten bleibt. Gerade für deutsche Sparer ist dies jedoch mit Geldentwertung verbunden, so lange die Inflationsrate sich noch im positiven Bereich bewegt. Um dieser Gefahr zu begegnen, könnten sie, wie teilweise in der jüngsten Vergangenheit auch geschehen, verstärkt in Immobilien und Aktien investieren. Welche ist die richtige Anlagestrategie? Da man aber jetzt schon von teilweise inflationierten Preisen für diese Anlageformen ausgehen muss, kann


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diese Anlagestrategie ein hohes Risiko bedeuten. Anleihen könnten daher eine gute Alternative sein, sofern es zu einer Deflation kommt. Denn wenn die Rückzahlung der Anleihen recht sicher ist, wäre dann das Geld mehr wert als heute. Und wenn es darüber hinaus zu weiteren Zinssenkungen käme, könnte man sogar mit Kursgewinnen auf die Die aktuelle Geldmarktpolitik ist mit Anleihen rechnen. So vielen Hoffnungen verknüpft. Wie reoder so ist es jedoch gerade für deutsche alistisch sind diese überhaupt? „Es Anleger momentan scheint so zu sein, als wäre die EZB schwierig, eine Anlamit ihrer Politik zumindest kurzfrisgestrategie zu entwitig erfolgreich und enttäuscht insockeln, die es ihnen fern die Hoffnungen nicht. Aber sie erlaubt, positive Realriskiert mittel- und langfristig ihre renditen ohne hohe R isi ken zu er w ir tUnabhängigkeit.“ marcel tyrell schaften.

ermöglicht einen beschleunigten Schuldenabbau, wenn die Gesamtwirtschaft weiterhin wächst. Da jedoch in anderen Ländern der Eurozone wie Frankreich und Italien eine Kombination von sinkender Inflation und abnehmender wirtschaftlicher Aktivität vorherrscht, ist es wahrscheinlich, dass diese Staaten trotz der niedrigen Zinsen nicht in der Lage sind, momentan ihre Schuldenlast zu reduzieren. Insofern könnte es sein, dass trotz der EZB-Politik die Flieh­ kräfte innerhalb der Eurozone zunehmen werden und es keine Gewinner geben wird. Weiterführende Veröffentlichungen „EZB muss ihre Politik überdenken“: Interview mit ZU-Gastprofessor Heribert Dieter im Deutschlandfunk vom 08.01.2015: http://www.deutschlandfunk.de/ deflationsdebatte-ezb-muss-ihre-politik-ueberdenken. 694.de.html?dram:article_id=308089 Mehr vom Autor unter zu.de/tyrell

Wer profitiert von der Entwicklung? Auf den ersten Blick die Banken. Sie können sich zu historisch einmalig günstigen Konditionen Geld bei der EZB leihen und dieses anlegen. Wenn sie beispielsweise das geliehene Geld in Anleihen ausfallgefährdeter Angesichts des Zins-Desasters: Wie legen Eurozone-Länder investieren und darauf bauen, dass im Sie selbst Ihr Geld an? „In Leib und Seele – Falle eines Ausfalls diese Länim ,Lamm‘ in Kau.“ marcel tyrell der gerettet würden, dann erreichen sie eine auskömmliche Marge auf das eingesetzte Kapital. Die Hoffnung der Zentralbank ist jedoch, dass ihre lockere Geldpolitik die Banken veranlasst, nicht in Staatsanleihen zu investieren, sondern die Kreditvergabe an Unternehmen zu erhöhen. Diese Hoffnung erwies sich jedoch gerade für die deflationsgefährdeten Länder als bisher trügerisch. Was bedeutet der EZB-Kurs für die Staatshaushalte? Zum zweiten profitieren von den historisch niedrigen Zinsen einige Eurostaaten. So konnte beispielsweise im Juni die Finanzagentur des Bundes sechsmonatige Schatzanweisungen zu einem Zinssatz von -0,015 Prozent platzieren. Die Zinsbelastung auf Staatsschulden ist somit etwa in Deutschland äußerst niedrig. Dies


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Eine Gefahr nicht nur für den Verbraucherschutz PD Dr. Heribert Dieter, Gastprofessur für Internationale Politische Ökonomie, analysiert das transatlantische Handels- und Investitionsabkommen TTIP

In der Diskussion um das geplante transatlantische Handels- und Investitionsabkommen TTIP dominieren bislang Fragen des Verbraucherschutzes. Symbol dafür: Das Chlorhühnchen. Dies überrascht, denn mit dem Abkommen steht sehr viel mehr auf dem Spiel. Zum einen gefährden TTIP und ähnliche Großprojekte die Zukunft der multilateralen Handelsordnung. Zum anderen sind vor Abschluss des Vertrages gravierende Hürden zu überwinden, die bislang nicht einmal erörtert wurden – das gilt etwa für die Frage der zwischenstaat­ lichen Streitschlichtung. Außerdem wird der ökonomische Nutzen von TTIP geringer ausfallen als erhofft, während der langfristige politische Schaden – gerade für Deutschland – erheblich sein dürfte, behauptet Heribert Dieter.

Die Debatte in Deutschland eines transatlantischen Vertrages äußern immer zum geplanten Handelsab- wieder, dass es wegen des Stillstands in der Doha-Runkom men er wec k t den A n- de leider keine Alternative zu Freihandelsabkommen schein, es gäbe in den interna- gebe. Zwar wäre die multilaterale Liberalisierung der tionalen Wirtschaftsbeziehun- Königsweg, aber dieser könne eben nicht beschritten gen kein wichtigeres Thema werden, weil unter den Doha-Verhandlungspartnern als den Schutz deutscher Ver- kein Konsens zu erreichen sei. braucher vor den Machenschaften der amerikanischen Welche Länder stehen auf der Bremse? Agrarwirtschaft. Diese Einseitigkeit der Diskussion ist ge- Eine offizielle Antwort der WTO zu dieser Frage gibt fährlich. Denn TTIP weist eine es nicht, aber offenbar handelt es sich um eine geringanze Reihe von Ungereimt- ge Zahl von Staaten. Nicht die kleinen Entwicklungsheiten und Problemen auf, so etwa die Fragmentie- länder verhindern ein positives Resultat, sondern rung der Handelsordnung oder das widersprüchliche einige Schwellenländer sowie die USA. Washingtons Verhalten der USA, die in der Finanzpolitik einen jahr- Verweigerungshaltung ist vor allem innenpolitisch zehntelang existierenden Konsens aufgekündigt ha- motiviert. In den USA fehlt heute eine breite Zustimben und unilateral eine neue Finanzmarktregulie- mung zur weiteren Vertiefung der internationalen rung implementieren. Dies ist ein bislang zu wenig Arbeitsteilung. Viele US-Bürger nehmen die Globalidiskutierter Widerspruch: Einerseits verhandeln USA sierung heute sehr kritisch wahr und äußern etwa in und EU über die Harmonisierung von Produktstand­ Meinungsumfragen erhebliche Bedenken gegenüber ards, andererseits werden bei der Finanzmarktregu- einer Liberalisierung des Handels. Präsident Obama lierung neue, divergierende Regeln geschaffen. hat es in seiner bisherigen Amtszeit nicht gewagt, diese Vorbehalte in der amerikanischen Gesellschaft Doch bevor die Schwächen von TTIP analysiert wer- offen anzusprechen. den, ist zu fragen, warum es eigentlich noch immer kein Ergebnis in der Doha-Runde der Welthandelsor- Auch TTIP wird von Obama nicht als liberales Projekt ganisation (WTO) zu vermelden gibt. Die Befürworter angepriesen, sondern als eines, das für „freien und


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Hier ist in erster Linie die Rolle von Ursprungszeugnissen zu nennen. Der Wegfall von Zöllen wird nämlich durch die Pflicht erkauft, den Warenursprung zu dokumentieren, was bei den Firmen zu nennenswerten Verwaltungskosten führt. Gerade für kleinere Hier zeigt sich ein erster Widerspruch von TTIP. Wa­ und mittelgroße Unternehmen ist es ein Problem, rum sollte die EU, die sich in ihrer eigenen Rhetorik dass durch die Ursprungsregeln administrative Hüreiner offenen, multilateralen Handelsordnung ver- den entstehen. In den Debatten über TTIP wird dieser pflichtet sieht, ausgerechnet mit dem Land ein Ab- Aspekt überraschenderweise kaum berücksichtigt. kommen schließen, das die Weiterentwicklung der Welchen ökonomischen Nutzen hätte TTIP? WTO verhindern möchte? fairen Handel“ sorge. Damit spricht Obama die verbreitete Sorge über „unfaire“ Wettbewerber an. In den 1980er Jahren galt Japan vielen Amerikanern als „unfair“, heute wird oftmals China so eingeschätzt.

Dies gilt auch für wissenschaftliche Untersuchungen. So geht etwa eine Studie des ifo-Instituts zu den EfAllerdings hat nicht nur Washington die WTO in eine fekten von TTIP, die für das BundeswirtschaftsminisSackgasse manövriert. Aus heutiger Sicht war es terium erstellt wurde, nur am Rande auf die Frage ein. höchst unglücklich, dass 2001 der damalige WTO-Ge- Berechnet wurden die Auswirkungen nicht. Dies ist neraldirektor Mike Moore die Doha-Runde im Allein- mehr als ein Flüchtigkeitsfehler. Allgemein wird ergang und ohne Mandat der WTO-Handelsminister zur wartet, dass der ökonomische Nutzen von TTIP hoch „Doha Development Agenda“ umfirmierte. Damit sein werde. In der Praxis dürfte er jedoch sehr viel schuf Moore zwei fatale Erwartungshaltungen. Die geringer ausfallen, als es die elaborierten Prognosen Entwicklungs- und Schwellenländer glaubten nun, vieler Forscher nahelegen. In einem Gutachten des dass es sich um „ihre“ Runde handle, sie also mit weit- ifo-Instituts für die Bertelsmann-Stiftung wurde erreic henden Zugestä nd n issen der OECD-Länder rechnen könnten. Bei den Sie warnen intensiv vor TTIP. Hat es in den bisherigen Vertraditionellen Unterstützern einer liberalen Handelsordnung, also etwa Indushandlungen Ergebnisse gegeben, die Ihre Befürchtungen trieverbänden in OECD-Staaten, entmindern? „Nein, die bisherigen Verhandlungen haben meistand wiederum der Eindruck, dass die ne Befürchtungen bestätigt. Die USA erwarten von TTIP Doha-Runde ihre Interessen nicht bedieeine Verbesserung der rechtlichen Position ihrer Unternehne. Sie wandten sich von den WTO-Vermen. Ohne private Schiedsgerichte werden die USA TTIP handlungen ab und setzten stattdessen vermutlich nicht abschließen. Die geplante Paralleljustiz auf bilaterale Freihandelszonen. Welche Erwartungshaltungen wurden geschaffen?

birgt – aus europäischer Sicht – große Risiken ohne erkenn-

Von den entsprechenden Präferenzabbaren Nutzen.“ heribert dieter kommen gibt es inzwischen rund 380, und über weitere 200 – einschließlich TTIP – wird verhandelt. Zwar konnten sich die Han- rechnet, dass die Realeinkommen in der EU bei einem delsminister der WTO Ende 2013 in Bali auf eine Reihe Szenario weitreichender Integration um durchvon Maßnahmen verständigen, die den Handel er- schnittlich 4,95 Prozent steigen würden. Dabei blieleichtern sollen. Doch von ihrer früheren Stärke ist ben allerdings auch hier die Kosten unberücksichtigt, die mit der Dokumentation des Warenursprungs entdie Organisation weit entfernt. stehen. Mit anderen Worten: Die Einsparungen durch den Wegfall von Zöllen wurden eingerechnet, die auf Werden die Erwartungen zu erfüllen sein? Unternehmen zukommenden Kosten jedoch nicht – Bei TTIP wie bei anderen handelspolitischen Projek- eine erhebliche Schwäche des verwendeten matheten wecken die Befürworter Erwartungen, die sich matischen Modells. TTIP wird daher sehr viel weniger im prognostizierten Umfang nicht erfüllen werden. Arbeitsplätze schaffen, als die vorliegenden Studien Dies gilt für die vorhergesagten Effekte auf das Wirt- suggerieren, und auch die Zunahme des Wirtschaftsschaftswachstum ebenso wie für die erhoffte Schaf- wachstums wird deutlich niedriger ausfallen. fung neuer Arbeitsplätze. Der wichtigste Grund: Die negativen Auswirkungen von Präferenzabkommen Die erwähnten Versäumnisse haben auch damit zu tun, dass die Materie sehr technisch und unübersichtwerden nicht hinreichend in Rechnung gestellt.

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lich ist. Freihandelsabkommen liberalisieren den Wa- de, zielte primär darauf, die handelspolitischen Disrenhandel zwischen den teilnehmenden Ökonomien. kriminierungen der Zwischenkriegszeit zu überwinKeinesfalls soll aber der gesamte Außenhandel der den. Das Kernelement des GATT-Vertrages von 1947, beteiligten Länder liberalisiert werden. Wäre dies das die Meistbegünstigungsklausel (Art. 1), war nicht nur Ziel, könnten Volkswirtschaften es durch unilaterale aus ökonomischer Perspektive ein Meisterstück, sonLiberalisierung erreichen. Länder, die ein Freihandels­ dern auch was die Stabilisierung der internationalen abkommen abschließen, wollen dagegen verhindern, Beziehungen betraf. Die Unterscheidung zwischen dass ihre Außenhandelspolitik unterminiert wird, Freund und Feind im Außenhandel – so prägend und dies erfordert die Beschränkung der Präferenzen während der 1930er Jahre – wurde zumindest für die auf in der Freihandelszone hergestellte Güter. Ur- am Abkommen teilnehmenden Länder erfolgreich sprungsregeln dienen dazu, die „Nationalität“, das überwunden. heißt die Herkunft einer Ware, zu bestimmen. Zugleich können Ursprungregeln einfach umgangen Angesichts dieser historischen Erfahrungen gibt es werden – durch Zahlung des entsprechenden Zolls keinen nachvollziehbaren Grund, die multilaterale und den Verzicht auf präferentielle Behandlung der Handelsordnung über Bord zu werfen. EU und USA Handelsware wird die handelshemmende Wirkung können den weiteren Aufstieg Chinas nicht verhindern – aber sie können sicherstellen, dass internatiovon Ursprungsregeln beseitigt. naler Handel innerhalb jenes Regelwerkes erfolgt, das von ihnen selbst gestaltet wurde. Welche gravierenden Probleme zeichnen sich ab? Liegen Zölle im einstelligen Prozentbereich, stellt sich für Unternehmen die Frage, ob die Zahlung des Zolls nicht einfacher oder gar billiger ist als die Dokumentation des Warenursprungs. Berücksichtigt man, dass die Kosten der Erstellung von Ursprungszeugnissen auf etwa fünf Prozent des Warenwerts geschätzt werden, die mittlere Zollbelastung im transatlantischen Handel bei Industriegütern jedoch nur rund 3,5 Prozent beträgt, relativiert sich der mögliche ökonomische Nutzen von TTIP.

Wer entscheidet künftig bei Streitigkeiten? Ein weiteres Problem bildet die Streitschlichtung bei Handelsdisputen zwischen einzelnen Staaten. Gerade die Schlichtung ist einer der fast einhellig gepriesenen Erfolge der WTO. Kleine und große Länder können dort handelsrechtliche Positionen anderer Staaten überprüfen lassen. EU und USA haben in diesem Rahmen häufig gegeneinander Klage geführt, etwa im Streit um Boeing und Airbus. Aber wie sollen künftig Streitigkeiten geschlichtet werden? Soll es ein eigenes TTIP-Gericht geben? Und warum sollten sich Europäer und Amerikaner untereinander bei Konflikten einigen können, die sie in der Vergangenheit selbst mit Hilfe der Schlichtung nicht überwinden konnten? Es erscheint blauäugig, eine erleichterte Streitbeilegung zwischen USA und EU ohne Hilfe der WTO zu erwarten.

Doch nicht nur der überschätzte wirtschaftliche Nutzen lässt an TTIP zweifeln. Ein gravierendes Problem ist auch der Ausschluss Chinas und anderer aufstrebender Länder von handelspolitischer Regulierung. In dem Zusammenhang wird immer wieder die Einschätzung vertreten, USA und EU müssten diese letzte Chance zur Regelsetzung nutzen, weil andernfalls China künftig die Leitlinien der internationalen Wirtschaftsbeziehungen festlegen würde. Dabei wird Widersprüchliches Handeln der USA wirft Fragen unterstellt, die chinesische Regierung wäre heute auch die jüngste Politik der USA zur Regulierung der noch bereit, Regeln zu akzeptieren, an deren Formu- Finanzmärkte auf. Während der Handelsbeauftragte lierung sie nicht beteiligt war. Diese Annahme über- Michael Froman nicht müde wird, den Nutzen einer zeugt schon deshalb nicht, weil sie Pekings gestiege- Angleichung von Standards im Warenhandel zu predigen, geht die amerikanische Bankenaufsicht einen nes Gewicht und Selbstbewusstsein ignoriert. umgekehrten Weg. Wie ist die Haltung von EU und USA zu bewerten? Was bedeutet das Ende des Heimatlandprinzips? Doch EU und USA schwächen mit den neuen handels­ politischen Großprojekten nicht nur die WTO, sie ver- 2014 hat man sich in den USA vom bisher geltenden raten auch ihre eigenen Prinzipien. Die multilaterale Heimatlandprinzip (home-country regulation) verHandelsordnung, wie sie nach 1945 von den Ameri- abschiedet. Bislang wurde etwa die Deutsche Bank kanern, später auch von den Europäern geprägt wur- in Frankfurt, und ausschließlich in Frankfurt, beauf-


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sichtigt. Ausländische, in den USA tätige Großbanken werden künftig aber auch von den amerikanischen Behörden überwacht (host-country regulation) und müssen dort gleichfalls Eigenkapital halten. Über die Vor- und Nachteile einer solchen „Balkanisierung der Finanzmärkte“ (The Economist) kann man trefflich streiten, aber zum Geist eines einheitlichen transatlantischen Wirtschaftsraumes passt diese EntIst die Politik eigentlich noch Treiber in der Entwickwicklung kaum.

lung oder längst selbst Getriebener? „Die Politik hat

Nicht nur die Deutsche sich in eine schwierige Lage manövriert. Das VorhaBank, auch die französiben scheitern zu lassen, hätte einen erheblichen sche Großbank BNP PaPrestigeverlust zur Folge. Noch problematischer ist, ribas sieht sich derzeit dass TTIP quasi auf ewig abgeschlossen wäre: Eine heftigen Forderungen Kündigung des Abkommens würde unweigerlich als seitens der USA ausgesetzt. Wegen Verletzung tiefe transatlantische Krise interpretiert werden.“ amerikanischer Sanktiheribert dieter onen gegen den Iran und andere Länder soll BNP zehn Milliarden Dollar Strafe zahlen. Die Regierung in Paris hat diese Maßnahme scharf kritisiert – sie sieht Frankreichs Souveränität gefährdet. Wohlgemerkt – gegen französische Gesetze soll BNP nicht verstoßen haben. Gibt es einen Königsweg? Es gibt also viele Gründe, an TTIP zu zweifeln. Freihandelszonen, die das Welthandelssystem komplexer und intransparenter machen, schaden vor allem mittelständischen Unternehmen, auch in Deutschland. TTIP und andere „Mega-Regionals“ sind besonders problematisch, denn sie lassen sich mit ökonomischen Argumenten kaum erklären. Die neuen Großprojekte dienen auch geopolitischen, nicht nur wirtschaftlichen Zielen. Der ökonomische Königsweg – eine multilaterale Regulierung und Liberalisierung des Handels – wird von der Politik zunehmend verschmäht. Stattdessen kehrt Diskriminierung in die Handelspolitik zurück, was zu wachsenden Konflikten in der neuen multipolaren Weltordnung führen dürfte. Die Geopolitik untergräbt einen liberalen Konsens in der Handelspolitik, wie er seit Ende des Zweiten Weltkriegs bestanden hat.

Weiterführende Veröffentlichungen „Dieser Weg ist nur der zweitbeste“: Interview mit Heribert Dieter im Deutschlandfunk vom 29.06.2014: http://www.deutschlandfunk.de/freihandelsabkommenttip-dieser-weg-ist-nur-der-zweitbeste.694.de. html?dram:article_id=290406 Die transatlantische Sackgasse: Gastkommentar von Heribert Dieter auf Wiener Zeitung Online vom 31.03.2014: http://www.wienerzeitung.at/meinungen/gastkommentare/ 619045_Die-transatlantische-Sackgasse.html Mehr vom Autor unter zu.de/dieter


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Die wechselnden Strategien der Deutschen Bank Professor Dr. Dr. h.c. Reinhard H. Schmidt, Gastprofessur für International Banking, über die Kurswechsel von Deutschlands größtem Kreditinstitut

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Die Liste negativer Schlagzeilen, mit der die Deutsche Bank in den letzten Jahren auf sich aufmerksam machte, ist lang. Ob Ackermann-Prozess, Libor-Skandal oder Manipulation von Referenzzinssätzen – die Schnitte im Kerbholz der Bank sind tief, die Krisen zahlreich. Zeit für eine neue Strategie. Aber hat die Deutsche Bank dazu den richtigen Weg eingeschlagen?

Lange war eine neue Strategie der Deutschen Bank angekündigt Welche Fragen ergeben sich daraus? worden. Im Mai wurde sie von den beiden damaligen Co-Vorsitzenden des Vorstandes, Anju Jain und Jürgen Fitschen, endlich Aber einmal abgesehen von Eigenkapitalanforderungen der Aufverkündet. Ihr wichtigster Punkt: Die vor etwa fünf Jahren er- seher: Was bedeutet das, was als neue Strategie verkündet wird, worbene Aktienmehrheit an der Postbank AG soll wieder ver- aus strategischer Perspektive? Ist die neue Strategie wirklich neu kauft und damit die Postbank aus dem Konzern ausgegliedert und ist sie gut? Stärkt sie die Marktstellung der Deutschen Bank, werden. Dazu kommt die Absicht, Risiken im Investment Ban- eignet sie sich dazu, den Gewinn zu steigern? Was bedeutet sie king abzubauen und in fast allen Teilen der Bank die Kosten zu für Kunden und Mitarbeiter, und würde sie auch zu der dringend senken. Nach einer dynamischen, expansiven Strategie klingt notwendigen Verbesserung der Börsenbewertung der Deutschen das nicht gerade, eher nach Rückzug, nach einem bewussten Bank führen? Auf all diese Fragen hätten die Betroffenen und die Schrumpfen. Und das ist es ja auch. Öffentlichkeit gern Antworten – und von der Deutschen Bank bekommen sie sie nicht. Was steckt hinter den geplanten Maßnahmen? Das Wichtigste ist der geplante Verkauf der Anteilsmehrheit an Letztlich zielen alle geplanten Maßnahmen darauf ab, die Eigen- der Postbank. Was ist davon zu halten? Als die Deutsche Bank kapitalausstattung der Deutschen Bank zu verbessern: im Ver- vor etwas mehr als fünf Jahren, kurz nach der Finanzkrise, unter gleich zu dem, was die Bankenaufseher angesichts der Risikopo- ihrem damaligen Chef Josef Ackermann die schon bestehende sition der Bank fordern, Beteiligung an der Postund dem, was „der Kapibank aufstockte, erwartalmarkt“ erwartet. Der tete man sich davon zwei Welche Rolle spielt die Deutsche Bank nach Ihrer EinVerkau f der Postba n k Vorteile für den ganzen schätzung noch auf internationalem Parkett? „Heute – wenn er denn gelingt – Konzern: eine Risikomingehört die Deutsche Bank trotz aller Probleme immer brächte der Deutschen derung und eine Ertragsnoch zur Weltspitze im internationalen Bankgeschäft, Bank in der Tat Eigenkasteigerung. Das Risiko nicht zuletzt weil sie besser durch die Finanzkrise gepital ein. Die Verringesollte geringer werden, kommen ist als viele ihrer Rivalen. Nur der Abstand rung von Risiken würde weil man erwartete, dass – wenn sie denn erreicht das eher biedere und stazu denen, die ganz oben sind, ist in den letzten fünf wird – tatsächlich den bilere Retail Ban kingJahren größer geworden.“ Reinhard H. Schmidt regulatorischen Bedarf Geschäft der Postbank an Eigenkapital senken, den Gesamtertrag der zu also die relative Kapitalausstattung verbessern. Und auch die Investment Banking-lastig gewordenen Deutschen Bank stabiallgemeine Kostensenkung würde – wenn sie denn gelingt – den ler und risikoärmer machen würde. Die Aktionäre würden dies Gewinn steigern und das Eigenkapital erhöhen. positiv bewerten, weil sie – durchaus mit Recht – die Deutsche Bank schon lange für zu riskant gehalten hätten. Ob diese ÜberVergleicht man die Deutsche Bank mit anderen international legung damals richtig war, weiß man nicht, aber abwegig war tätigen Großbanken, dann sieht man schnell: Ja, die Eigenkapi- sie keinesfalls. talausstattung ist einfach schlecht und deshalb muss etwas passieren. Was jetzt als neue Strategie verkündet worden ist, Was bedeutet dies für das Geschäftsmodell? würde durchaus diesem Zweck gerecht, sie geht insofern also in die richtige Richtung. Die von der Bankenaufsicht festgeleg- Eine Ertragssteigerung sollte daraus entstehen, dass zumindest ten Bedingungen zu erfüllen ist natürlich wichtig. Aber das einige Investment Banking-Produkte zumindest an einige Postallein macht noch keine „neue Strategie“ aus, jedenfalls keine, bankkunden verkauft werden könnten und – innerhalb reguladeren Verkündung den Aktienmarkt zu Beifallskundgebungen torischer Grenzen – Spargelder der Postbank zur Finanzierung veranlassen könnte. anderer Geschäfte der Deutschen Bank genutzt werden könnten.


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Auch diese Überlegung war vielleicht nicht zwingend, aber wer viel früher erkannt, dass die Integration unmöglich oder zumindas Geschäftsmodell der Deutschen Bank kennt, wird sie auch als dest viel zu teuer geworden wäre? recht plausibel einstufen: Die Deutsche Bank ist keine reine Invest­ ment-Bank wie Goldman-Sachs, sondern eine Universalbank, in Spielt der interne Machtkampf eine Rolle? der sich das traditionelle „commercial banking“ und das eher neue „investment banking“ gegenseitig ergänzen und unterstützen. Wenn die beiden genannten Erklärungen nicht greifen, drängt Soweit die damaligen Überlegungen. sich eine dritte auf: Der Verkauf der Mehrheit an der Postbank ist ein Schritt zurück zur Dominanz der Investment-Bänker in Gemessen an der deutlichen Gewichtsverschiebung hin zum der Deutschen Bank. Dem steht gegenüber, dass manche Teile Investment Banking in den ersten Jahren des neuen Jahrhun- des Investment Banking zurückgefahren oder sogar ganz aufgederts war der Kauf der Postbank-Mehrheit am Ende des Jahr- geben werden – und dass dadurch die Boni der Investment-­ zehnts ein Schritt zurück zu Bänker sinken. Man dem Modell der Universalbank. weiß es doch: In der Sie sprechen den Machtkampf zwischen traditioFolgt jetzt, fünf Jahre später, erDeutschen Bank gibt neut ein Schritt zurück, diesmal es seit Jahren einen nellen und Investment-Bankern an. Kann ein wieder eher hin zur einseitigen Machtkampf zwischen Geldhaus mit einem solchen Konflikt auf Dauer Orientierung auf das Investdenen, die das Investprosperieren? „Das geht durchaus, weil Spannunment Banking? Ja, so scheint es ment Banking stärken gen auch Kreativität auslösen können. Nur ist es zumindest, denn was genau den oder gar alles andere unverzichtbar, eine gemeinsame Position zu der Vorstand dazu bewogen haben abschaffen wollen, und Frage zu haben, wie eine große Organisation mit mag, diesen Schritt vorzusehen, den „Traditionalisten“. bleibt weitgehend im Dunkeln. Es gibt zwei Lager und solchen Spannungen umgeht. Das muss fair und Ich will drei mögliche Erklärunzwei Vorstellungen daoffen geschehen.“ Reinhard H. Schmidt gen ansprechen. von, was für die Bank gut ist und wohin sie Was sind die Ursachen für den Strategieschwenk? sich entwickeln soll. Postbank-Mehrheit verkaufen und einige besonders riskante und besonders umstrittene Investment BanMöglicherweise zeigt der „Strategieschwenk“, dass die Argumen- king-Aktivitäten zurückzufahren – das klingt nach einem te, die in der Zeit von Josef Ackermann dafür sprachen, die Post- Machtkampf zwischen den beiden Lagern, der nach der Devise bank zu beherrschen und zu integrieren, auf einmal nicht mehr vertagt wird, dass halt jede Seite ein bisschen nachgeben muss: gelten. Aber welche Argumente sollen eigentlich aus welchen „one for you, one for me“ – und insgesamt eher weiter wie bisher! Gründen nicht mehr gelten? Vielleicht sieht es der heutige Vorstand ja so, aber er scheint es nicht nötig zu finden, seine Gründe Oder ist es vermessen, überhaupt nach irgendwelchen Gründen öffentlich zu nennen und zu erläutern. Strategiewechsel ohne für die neue Strategie zu suchen – außer dem, dass die Deutsche eine genaue Begründung kommen selten gut an. Es spricht nicht Bank wirklich mehr Eigenkapital braucht und der neue Vorstand gerade für die Führung der Deutschen Bank, dass heute nicht zeigen muss, dass er auch initiativ sein kann und sich nicht immehr gelten soll, was gestern noch galt. mer nur mit juristischem Ärger herumschlagen muss. Ein zweiter möglicher Grund, warum man die Integration der Postbank jetzt abgeblasen hat, obwohl daran seit Jahren mit enormem Aufwand gearbeitet worden ist, ist ganz einfach: Es gelingt nicht, das Mindestmaß an Integration zu erreichen, das erforderlich ist, um die erhofften Vorteile zu erreichen. Einfach gesagt: Die Integration gelingt nicht. Viele Millionen, die bisher allein für die Entwicklung einer einheitlichen IT-Plattform aufgewendet wurden, müssen wohl nun abgeschrieben werden. Wenn das der Grund für den Strategiewechsel ist, dann ist er wohl wirklich nötig gewesen. Freilich ist es besser, einen Fehler später zu korrigieren als nie. Aber warum hat man denn nicht

Weiterführende Veröffentlichungen Auf die harte Tour: Beitrag auf ZEIT ONLINE mit ZU-Professor Josef Wieland vom 12.06.2014: http://www.zeit.de/2014/25/usa-recht-deutschland-wirtschaft Mehr vom Autor unter zu.de/schmidt


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Das Ende der DreiProzent-Hürde und die Hinterzimmerpolitik Interview mit Professor Dr. Georg Jochum, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Steuerund Europarecht und Recht der Regulierung, über ein Verfassungsgerichtsurteil und die Folgen

Vor anderthalb Jahren öffneten acht Richter in Karlsruhe die Tore ins EU-Parlament. Denn mit der Abschaffung der Drei-Prozent-Hürde lädt das Bundesverfassungsgericht Extremisten und Spaßparteien in das Europäische Parlament ein. Was da an der Wahlurne auf alle zukommt, erklärt Georg Jochum.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl für verfassungswidrig erklärt. Was hat es mit dieser Sperre formal auf sich? Es handelt sich um eine Bestimmung im deutschen Europawahlgesetz, wonach bei der Verteilung der deutschen Mandate nur Parteien berücksichtigt werden, die mindestens drei Prozent der gültigen Stimmen erhalten haben. Mit welcher Begründung haben die Karlsruher Richter die Klausel gekippt? Das Gericht sieht einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz. Die Gleichheit der Wahl bedingt, dass alle Stimmen nicht nur gleich viel zählen, sondern auch einen gleichen Erfolg bei der Umrechnung in Sitze haben. Von dieser Gleichheit kann nur ausnahmsweise abgewichen werden, wenn gewichtige Gemeinwohlgründe dies rechtfertigen. Ein solcher Grund ist die Funktionsfähigkeit des Parlaments im parlamentarischen Regierungssystem. Denn in diesem System bedarf es einer Mehrheit im Parlament, um eine Regierung bilden zu können. Viele kleine Parteien kön-

nen diese Regierungsbildung beeinträchtigen oder sogar unmöglich machen. Einen solchen gewichtigen Grund haben die Richter beim Europaparlament nicht gesehen, weil es ohnehin in viele Parteien zersplittert sei und noch keine so gewichtige Rolle spiele, dass seine Funktionsfähigkeit bedeutender sei als das Gleichheitsrecht der Wähler. Bei der Europawahl 2009 hätten knapp 150.000 Stimmen ohne die Drei-Prozent-Hürde zum Einzug ins Parlament gereicht. Öffnet der Wegfall der Regel jetzt Spaßparteien und Extremisten die Tür nach Europa? Es öffnet in jedem Fall Parteien die Möglichkeit zur Repräsentation, die wie die Rentnerpartei Partikular­ interessen vertreten oder die extreme Minderheitspositionen wie die NPD beziehen. Bei entsprechend niedriger Wahlbeteiligung können dann sogar auch Spaßparteien ins Parlament einziehen. Müssen wir uns nun auch politische Sorgen machen, wenn möglicherweise eine Zersplitterung des Parlaments droht, so wie es der Bundestag befürchtet hat? Das müssen wir in der Tat. Die Entscheidung passt ins Bild. Das Bundesverfassungsgericht hat schon in frü-


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heren Entscheidungen dem Europäischen Parlament die demokratische Legitimation abgesprochen, und die Entscheidung sorgt dafür, dass es so bleibt. Anstatt eine effektive Mitwirkung der Bürger auf Sie beklagen seit Jahren, das Bundesverfassungsgericht europäischer Ebene zu ermögarbeite konsequent an der Delegitimierung Europas. Wo­ lichen, wird das Parlament weirin sehen Sie den Grund? „Das ist schwierig zu sagen. Ein ter geschwächt. Damit wird siGrund mag sein, dass das Bundesverfassungsgericht den chergestellt, dass das scheinbare Vorrang des Nationalstaates und damit auch seine Rolle Primat der nationalen Parlaverteidigen will. Es kann aber auch mit einem vorkonstitu­ mente erhalten bleibt. Da aber die nationalen Parlamente auf tionellen Staatsverständnis zu tun haben. Im Verfassungseuropäischer Ebene gar nicht text ist dies jedenfalls nicht angelegt. Im Gegenteil: Das effektiv mitwirken können, Grundgesetz formuliert in der Präambel das Ziel des Deutstärkt das Urteil vor allem die schen Grundgesetzes als gleichberechtigtes Glied in einem Hinterzimmerdemokratie des vereinigten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Die Europäischen Rates, in dem Verfasser des Grundgesetzes wollten offenbar ein vereinFrau Merkel und ihre Kollegen Lösungen verhandeln, die antes Europa. Das Gericht will es verhindern.“ Georg Jochum schließend „alternativlos“ vom Bundestag abgenickt werden. Da das Europäische Parlament dank reichlich vertretener Partikularinteressen kein machtvoller Akteur sein kann, wird die Demokratie auf europäischer Ebene geschwächt, nicht gestärkt. Kurz: Das Bundesverfassungsgericht arbeitet konsequent weiter an der Delegitimierung Europas. Gibt es in anderen Ländern ähnliche Hürden oder Diskussionen? Wie wird dort beispielsweise Extremisten und Kleinstparteien entgegengewirkt? Das Wahlrecht zum Europaparlament ist in jedem Staat anders geregelt. In 13 von 28 existieren keine Hürden, allerdings bestehen of tmals auf Grund von Wahlkreis­ Haben sich inzwischen Ihre Beeinteilungen oder der fürchtungen bestätigt? „Ja, in volGröße der Abgeordnelem Umfang. Mit ,Die Partei‘ ist tenkontingente faktinun eine Satirepartei ins Parlasche Hürden für Splitment eingezogen.“ Georg Jochum terparteien. Aufgrund der Größe der Abgeordnetenkontingente sind vor allem Deutschland und Spanien großzügige Entsendestaaten für Kleinstparteien. Weiterführende Veröffentlichungen Georg Jochum: Europarecht unter Berücksichtigung des Vertrages von Lissabon, Kohlhammer Verlag, 2012 Mehr vom Autor unter zu.de/jochum


(unr e a l is t is c hen) A nn a hme


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Die Effizienz bleibt auf der Strecke Professor Dr. Alexander Eisenkopf, ZEPPELIN-Lehrstuhl für Wirtschafts- & Verkehrspolitik, über die Auswirkungen der EU-Klimapolitik für den Autofahrer

Seit Jahren setzt sich die Europäische Union dafür ein, die Erderwärmung unter der magischen Grenze von zwei Grad zu halten. Eine ganze Reihe von Maßnahmen betrifft auch die Verkehrspolitik. Dabei läuft man freilich Gefahr, die Effizienz zu vergessen und den Autofahrer über den Tisch zu ziehen, mahnt Alexander Eisenkopf.

Die Klimapolitik Sicht wichtig, international und intersektoral die Löder EU agiert schon sungen mit den geringsten Vermeidungskosten zu seit längerem un- suchen. Angesichts dieses ökonomischen Prinzips ter dem Paradigma spricht vieles dafür, dass die Klimapolitik der EU sich des sogenannten als irrational und wenig effizient erweist und der GeZwei- Grad-Z ie l s. sellschaft viel zu hohe Kosten aufbürdet, ohne die Demnach ist es die zentrale Aufgabe, die CO2-Emissi- angestrebten Wirkungen zu erzielen. Dies soll am onen weltweit so weit zu drosseln, dass die Erderwär- Beispiel der Grenzwerte für die CO2-Emissionen von mung unter der magischen Grenze von zwei Grad Pkw aufgezeigt werden. bleibt. Wie bereits beim Kyoto-Protokoll, sieht sich die EU in einer Vorreiterrolle bei der Reduktion der Emissionen – unter der Wie ließe sich konkret mehr Effizienz in der EU-Klimapo(unrealistischen) Annahme, dass andere Staalitik in diesem Zusammenhang erreichen? „CO2-Emissiten sich diesem Vorbild anschließen werden.

Was sind die Vorgaben der EU-Klimapolitik?

onen sollten dort vermieden werden, wo die geringsten Vermeidungskosten entstehen. Daher sollte die EU weltweit in ,billigere‘ Klimaschutzprojekte investieren, außerdem sollte sie verstärkt auf Maßnahmen setzen, welche die Anpassung an die Folgen des Klimawandels erleichtern.“ Alexander Eisenkopf

Vor diesem Hintergrund plant die EU-Klimapolitik eine nahezu vollständige Dekarbonisierung der europäischen Wirtschaft bis zum Jahre 2050. Als konkrete Ziele für den Verkehrssektor werden eine Reduzierung der CO2-Emissionen um 20 Prozent bis 2030 (gegenüber dem Jahr 2008) und um 60 Prozent bis 2050 (gegenüber dem Jahr 1990) formuliert. Letzteres entspricht nach Angaben der Kommission einer Minderung um 70 Prozent gegenüber 2008, da die Emissionen zwischenzeitlich stark angestiegen sind. Da es sich bei den CO2-Emissionen um eine globale Externalität handelt, erscheint es aus ökonomischer

Was haben Umweltziele mit Emissionsgrenzwerten zu tun? Traditionell werden Umweltziele politisch in Emissionsgrenzwerte übersetzt. In der ökonomischen Diskussion wird jedoch die Internalisierung über Standards und Regulierungen kritisch bewertet, da diese das Kriterium (statischer) ökonomischer Effizienz nicht erfüllen. Sie mögen aber in der Lage sein, leichter die Umsetzung politischer Ziele zu gewährleisten


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(ohne Rücksicht auf die verursachten gesellschaftlichen Kosten). Dagegen werden preispolitische Internalisierungsansätze (Standard-Preis-Ansatz, PigouSteuer oder auch Zertifikatelösungen) von Ökonomen aus Effizienzgründen bevorzugt.

faches des derzeit relevanten Börsenpreises für eine Tonne CO2. Sind die Grenzwerte überhaupt ökonomisch gesehen effizient?

Im Verkehrssektor findet sich zur Internalisierung von Externalitäten derzeit eine implizite Steuerlösung in Gestalt der Mineralölsteuer (Energiesteuer). Der Steuersatz beträgt in Deutschland derzeit 65,45 Cent je Liter Benzin (47,04 Cent für Diesel) bei Verwendung in Kraftfahrzeugen mit Verbrennungs­

Zusätzlich gibt es in Europa derzeit bereits Flottengrenzwerte für die CO2-Emissionen von Pkw; für Lkw sind solche CO2-Grenzwerte in der Diskussion. So soll der aktuelle Pkw-Flottengrenzwert von 130 g CO2/km bis zum Jahre 2021 weiter auf 95 g CO2/km abgesenkt werden. Derartige verschärfte Grenzwerte scheinen allerdings vor dem Hintergrund der oben errechneten GrenzverSie kritisieren, dass mit dem Geld, das in die Vermeidung von meidungskosten ökonomisch ineffizient und unsinnig. Mit dem CO2 investiert wird, an anderer Stelle eine vielfache Wirkung Geld, das die Gesellschaft auf entfaltet werden könnte. Welche Stelle meinen Sie damit? „Bei diese Weise in die Vermeidung anderen CO2-Emittenten in der Industrie beziehungsweise im einer Tonne CO2 investiert, könnAusland sind die Vermeidungskosten deutlich geringer. Außerte man an anderer Stelle eine dem könnte man Geld in die Stilllegung von CO2-Zertifikaten vielfache Wirkung entfalten.

oder in die biologische Sequestrierung von CO2, insbesondere Aufforstung, investieren.“ Alexander Eisenkopf motor. Im Zuge der ökologischen Steuerreform ab 1999 wurde die Erhöhung der Steuersätze (fünfmal 6 Pfennige = 3,07 Cent im Jahresrhythmus) sogar explizit mit einer beabsichtigten Reduzierung der CO2Emissionen begründet (These von der „doppelten Dividende“). Interpretiert man die Mineralölsteuer als Abgabe auf die mit der Verbrennung von Treibstoffen verbundenen CO2-Emissionen, wird jede Tonne CO2 bei Superbenzin implizit mit rund 280 Euro besteuert, für Diesel liegt der implizite Steuersatz bei etwa 180 Euro (Annahme: 1 Liter Super = 2,32 kg CO2; 1 Liter Diesel = 2,62 kg CO2). Zahlen Autofahrer einen viel zu hohen Preis für den Klimaschutz?

CO2-Grenzwerte sind zudem auch deswegen kontraproduktiv, weil die Mess- und Evaluierungsverfahren so ausgerichtet sind, dass die theoretisch definierten und politisch gesetzten Bedingungen erfüllt werden. Dies muss aber nicht den praktischen Nutzungsbedingungen der Fahrzeuge entsprechen. Es kommt bereits heute zu erheblichen Anreizverzerrungen für die Pkw-Hersteller. So wird vielfach beklagt, dass die tatsächlichen Kraftstoffverbräuche von Pkw stark von den herstellerseitig angegebenen Normverbräuchen abweichen. Wäre der Emissionshandel eine Alternative?

Ein umweltökonomisch besonders interessantes Inst­ rument zur Internalisierung von CO2-Emissionen im Verkehr könnte der Emissionshandel sein. Um die gestellte Aufgabe der Reduzierung von CO2-Emissionen ökonomisch effizient zu erfüllen, müsste der Verkehr aber Teil eines umfassenden Regimes mit geringen Transaktionskosten sein. Dies wäre über einen Upstream-Ansatz relativ einfach möglich (Erwerb von Emissionsrechten durch Kraftstoffanbieter). Bei einem Zielpreis von 30 Euro je Tonne CO2 würde dies einem Preisaufschlag von 7 Cent je Liter Benzin beziehungsweise 8 Cent für Diesel entsprechen. Bei einem aktuellen Zertifikatepreis von rund 7 Euro reden wir über etwa 2 Cent je Liter.

Aus ökonomischer Sicht bedeutet dies, dass Autofahrer bereits heute einen hohen Schattenpreis für den Energieverbrauch und damit für die CO2-Emissionen zahlen. Für sie wären alle Investitionen in die Senkung des Benzinverbrauchs kostensenkend, deren Grenzvermeidungskosten kleiner als 280 Euro je Tonne sind (Effizienzgrenze bei Dieselfahrzeugen entsprechend 180 Euro). Da im Automobilsektor Wettbewerb herrscht, ist allerdings davon auszugehen, dass die relevanten Maßnahmen zur Effizienzsteigerung weitgehend realisiert sind. Zusätzliche Anstrengungen zur CO2-Einsparung zum Beispiel Aber auch ein sektoral begrenztes Emissionshandelsbei Dieselfahrzeugen dürften Grenzvermeidungs- system auf EU-Ebene bleibt Stückwerk und Insellösung. kosten von mehr als 180 Euro aufweisen, ein Viel- Da globale Umweltprobleme sich per definitionem


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nur global lösen lassen, setzt dies die internationale Beteiligung aller relevanten Wirtschaftseinheiten (Staaten wie private Wirtschaftssubjekte) voraus. Diese scheitert an asymmetrisch verteilten Kooperationsanreizen, die prohibitiv hohe Kosten für Verhandlungslösungen nach sich ziehen. Daher ist das CO2Problem weder durch das Kyoto-Protokoll noch durch das EU Emissions Trading System (ETS) in seiner jetzigen Form zu lösen. Brauchen wir eine Umorientierung im Klimaschutz? Wenn andere Staaten sich nicht in dem Maße an der Bewältigung der Herausforderungen im Klimaschutz beteiligen, wie sich das die EU in ihrer Gutmenschen­ attitüde vorstellt, werden zum einen die angestrebten Klimaziele nicht erreicht werden. So spielt die Reduzierung der verkehrlichen Emissionen in Europa für das Klima letztlich keine messbare Rolle, verursacht aber hohe Kosten und bindet Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen, um günstige CO2-Einsparpotenziale zu erschließen. Zum anderen wird die ökonomische Effizienz einer so ausgerichteten Klimapolitik zunehmend in Frage gestellt. Laut einer Studie von Richard Tol aus dem Jahre 2012 kostet die 2020-Strategie der Europäischen Union jährlich 185 Milliarden Euro. Diese gewaltige finanzielle Anstrengung wird allerdings den globalen Temperaturanstieg voraussichtlich nur um 0,05 Grad Celsius reduzieren. Wichtig wäre daher eine Umorientierung der nationalen und europäischen Klimapolitik im Hinblick auf mehr Effizienz. Weiterführende Veröffentlichungen Nico Stehr (Hg.): Das Hartwell-Papier – Eine Neuausrichtung der Klimapolitik an der Menschenwürde, Springer VS, 2014 Nico Stehr (Hg.): Der zündende Funke – Innovationen fördern als Weg zu sauberer und bezahlbarer Energie für alle, Springer VS, 2014 Mehr vom Autor unter zu.de/eisenkopf

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Das Geschäft und die Moral Interview mit Professor Dr. Josef Wieland, Direktor des Leadership Excellence Institute Zeppelin | LEIZ und Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Institutional Economics, über global agierende Unternehmen und Werte als Ressource

Amazon, Primark, Zalando, Lidl − die Liste von Unternehmen, die offenbar nicht viel auf ethische Standards geben, ist lang. Dabei sollten sich gerade global agierende Unternehmen um das Wohl ihrer Mitarbeiter sorgen. Denn Werte sind zu einer wich­tigen Ressource geworden, schreibt Josef Wieland in seinem Buch „Governance Ethics“.

Ihr neues Buch untersucht die Auswirkungen von moralischen Regeln und Werten auf die Führung von Unternehmen. Was sind die wichtigsten Thesen? Firmen sind Organisationen der Wirtschaft, aber ihre Aktivitäten haben immer auch eine normative Seite. Integrity und Compliance-Management, Corporate Social Responsibility, Nachhaltigkeit, soziale Standards in transkulturellen globalen Wertschöpfungsketten sind Beispiele für die Anforderungen an die moralische Seite des Geschäfts. Unternehmen brauchen daher angemessene Governance-Strukturen, um diese moralische Seite zur Wirkung zu bringen. Das Buch untersucht die Art und den Kontext dieser moralsensitiven Mechanismen in der ökonomischen Wertschöpfung – welche Wirkungen sie haben, welche Rolle sie in der Wertschöpfung spielen. Dabei geht es dann naturgemäß nicht allein um den „share­ holder value“, sondern um shared value für alle Stake­ holder. Es ist also eine Aufgabe des Strategischen Managements. Grundlage für dieses Buch ist Ihre Theorie „Ethics of Governance“, ein vergleichendes Forschungsprojekt, das bereits vor 15 Jahren startete. Können Sie diese Theorie einmal umreißen und ihre Entwicklung erklären? Unternehmen werden darin als Kooperationsprojekte von Ressourceneigentümern verstanden. So wie der Shareholder Kapital einbringt, so bringen andere Stakeholder, etwa Mitarbeiter oder die Gesellschaft, ihre Ressourcen in die Wertschöpfung des Unternehmens ein. Diese Ressourcen können materieller und immaterieller Natur sein, etwa bestimmte berufliche Fähigkeiten, aber auch moralische Werte wie Inte­


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grität, Fairness, Ehrlichkeit, Loyalität. Werte werden In Ihren fünf Kapiteln gehen Sie auch auf die prakin der Governance-Ethik als normative Ressourcen tischen Herausforderungen ein. Können Sie ein Beikonzipiert, die nicht einfach Handlungsbeschränkun- spiel anführen, wie sich Ihre Forschungsergebnisse gen sind, sondern eine wesentliche Rolle in der Allo- auf die Lage von Unternehmen übertragen lassen? kation von Ressourcen spielen. Werte, Moral, Ethik Aktuell beschäftigen sich viele Firmen mit der Frage werden damit endogene Faktoren für Allokationslö- nach ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, also sungen in der Wirtschaft, deren Effektivität und Effi- der sogenannten Corporate Social Responsibility. zienz von der angemessenen Governance-Struktur Gleiches gilt für das Integritäts- und Complianceabhängt. Die Governance-Ethik ist ein Beitrag zu ei- Management. Die Fragen, die sich hier stellen, sind ner institutionen-ökonomischen Theorie der Firma, offensichtlich: Wo ist der Bezug dieser Fragen zur privaten und gesellschaftlichen Wertschöpfung? und sie arbeitet multidisziplinär.

sh a red va lue für a l l e S ta k eh o l d er

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gl o b a l s o ur c in g


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Immer wieder stehen prominente Firmen in diesem Zusammenhang in der Kritik. Welche hingegen würden Sie loben? „Es gibt eine ganze Reihe von Unternehmen, die schon sehr weit sind auf diesem Wege. Ich möchte keine einzelnen Namen nennen, aber wenn man sich, um nur ein Beispiel zu nennen, die verschiedenen Listen der Teilnehmer und Gewinner von CSR- und Integritäts-Preisen ansieht, bekommt man einen guten Eindruck davon, was heute bereits gute Praxis ist.“ josef wieland

Welche Konsequenzen Globalisierung hört sich ziemlich modern an, aber ergeben sich daraus für häufig bedeutet das für Unternehmen, dass sie mit das strategische und sozialen Standards konfrontiert sind, von denen wir operative Management? seit mehr als 100 Jahren annehmen, dass wir sie überWie sehen effektive Ma- wunden hätten. Politik und Konsumenten erwarten nagementsysteme aus, von den Unternehmen, dass diese mithelfen, diese mit denen sich diese Fra- Bedingungen zu verändern. Zu Recht denke ich, da sie gen abarbeiten lassen? ja Bestandteil der Wertschöpfungsketten von UnterWelche gesellschaftli- nehmen sind. Viele Akteure der Wirtschaft sehen das chen Standards spielen genau so und engagieren sich: Lieferantenentwickeine Rolle und durch lung, Soziale Standards, Stakeholder-Dialogie, Menwelche Stakeholder-Dia- schenrechtsfragen − das sind heute Standardaufgaloge kom men sie zu- ben des global sourcing, ohne deren Lösung es für stande? Was bestimmt Unternehmen nur schwer möglich ist, sich erfolgreich deren Legitimität und wirtschaftlich zu entwickeln. was bedeutet das für die Entwicklung von Gesellschaft und Politik? Das Buch diskutiert diese Fragen Weiterführende Veröffentlichungen an einer ganzen Reihe von Themen, und zwar sowohl Josef Wieland, Roland Steinmeyer, Stephan Grüninger (Hg.): hinsichtlich ihrer theoretischen Integration als auch Handbuch Compliance-Management – Konzeptionelle Grundlagen, ganz praktisch anwendungsorientiert. praktische Erfolgsfaktoren, globale Herausforderungen, Erich Schmidt Verlag, 2014

Eine Umfrage von Trade Extensions ergab kürzlich, Josef Wieland: Governance Ethics – Global value creation, dass 80 Prozent der Verbraucher glauben, dass ethieconomic organization and normativity, Springer VS, 2014 sches Handeln für Unternehmen und Marken wichMehr vom Autor unter zu.de/wieland tig ist. Der wesentliche Faktor beim Einkauf ist jedoch weiterhin der Preis. Wie lassen sich beide Wünsche in der Praxis zusammenführen? Ja, Konsumenten haben hohe moralische Präferenzen, aber nur eine geringe Zahlungsbereitschaft. Solange das so ist, bleibt es der Politik und vor allem den Unternehmen Sie untersuchen „Governance Ethics“ schon seit selbst überlassen, hier vielen Jahren. Welche Entwicklung in der Praxis Anreize für Engagestellen Sie fest? „Es ist in vielerlei Hinsicht von einem ment zu schaffen. Ich Außenseiterthema zu einem Managementstandard denke, das hat ebenso geworden. Denken Sie nur an die Themen IntegritätsKonsequenzen f ü r und Compliance-Management, die gesellschaftliche Marketingstrategien, VerbraucherkommuVerantwortung von Unternehmen, social innovation nikation und Verbrauund Nachhaltigkeit, Stakeholder-Management und cherbildung. Auch shared value. Unternehmen müssen heute die norhier sind wir wieder mative Seite des Geschäftes genauso beherrschen bei einer normativen wie die ökonomische.“ josef wieland Frage in einem ökonomischen Kontext. Ob unmenschliche Arbeitszeiten bei Amazon oder Zalando, unwürdige Produktionsbedingungen bei Primark oder Überwachung am Arbeitsplatz bei Lidl: Unternehmen scheinen Moral und Werte heute herzlich egal. Woher kommt diese Entwicklung, und was müssen Unternehmen dringend ändern?


Umg a n gsf o r men


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Geld für alle ohne Gegenleistung Interview mit Professor Dr. Dr. Manfred Moldaschl, Audi-Stiftungslehrstuhl für Sozioökonomie und unternehmerisches Handeln, über das bedingungslose Grundeinkommen Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Jahrelang wurde in Deutschland über die Einführung eines Mindestlohnes erbittert debattiert, bevor er 2015 dann auch eingeführt wurde. Doch wofür einen Mindestlohn, wenn der Staat jedem ein Grundeinkommen gewährt? Ob so ein Modell wirklich funktionieren kann, erklärt Manfred Moldaschl.

Das bedingungslo- Überflussgesellschaften nun die historische Möglichse Grundeinkom- keit bieten. Es gibt aber immerhin Vorformen und men soll jeden Bür- gesellschaftliche Sozialsysteme, die der Idee schon ger unabhängig ein Stück weit entgegenkommen sowie einzelne Exvon seiner wirtschaftlichen Lage und ohne Bedürf- perimente wie jenes der kanadischen Stadt Dauphin. tigkeitsprüfung eine gesetzlich festgelegte und für Dort wurde Mitte der 1970er Jahre ein großes sozialjeden gleiche finanzielle Zuwendung vom Staat ga- politisches Experiment mit etwa 1.000 Familien rantieren. Gibt es überhaupt ein Land, in dem ein durchgeführt. Dessen „Mincome“ hatte mehr mit solches Modell bereits in die Praxis umgesetzt wor- bedingungslosem Grundeinkommen als mit Mindestlohn zu tun. den ist, und wie sind die Erfahrungen? Das bedingungslose Grundeinkommen soll viel mehr und kann zumindest theoretisch auch viel mehr. Es Wenn schon die Einführung von gesetzlichen Mingeht gar nicht allein und vorrangig um eine bloße destlöhnen auf die wirtschaftliche Stabilität in Absicherung des Einzelnen, sondern um Perspektiven Deutschland für viele Wissenschaftler nicht absehfür eine nachhaltigere, mehr am Gemeinwesen und an sinnvoller Zusammenarbeit interessierte GesellWarum tun sich sämtliche Parteien so schwer mit dem schaft, die das erreichte ProduktiviThema? „Weil es fast allem widerspricht, was wir in Bezug tätsniveau unserer technologischen auf Arbeit ,for granted‘ nehmen.“ Manfred Moldaschl Zivilisation für mehr einsetzen kann und will als für mehr Fernseher und Einkaufstüten. Ich möchte hier den amerikanischen Politologen Benjamin Barber zitieren, bar ist, wie kann man dann eigentlich über theoder zwar 1984 nicht für ein Grundeinkommen plä- retische Überlegungen hinaus an die Einführung dierte, aber für die Idee einer „starken“, republikani- eines Grundeinkommens denken? schen Demokratie, für die das Grundeinkommen wie Diese „vielen Wissenschaftler“ müssen aber ganz seltgemacht scheint und die er einer „schwachen“, libe- same, ganz uninformierte und ganz besonders deutsche Wissenschaftler sein, die das nicht können. ralen Demokratie entgegensetzt. Schließlich gibt es mittlerweile oder schon lange in Es gibt aber noch kein Land, in das wir reisen und uns den meisten zivilisierten Ländern einen Mindestdas ansehen könnten. Einer muss vorangehen wie bei lohn – und sehr viele Studien über seine nicht komjeder Innovation. Und diese ist eine, zu der unsere plett völkervernichtenden Auswirkungen.


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Über theoretische Überlegungen hinaus muss man eine befriedigende Einkommens- und Beschäftinatürlich auch praktische Überlegungen anstellen, gungsmöglichkeit bieten, es würde also einen Quaaber die sind natürlich auch theoretisch. Also muss litätswettbewerb um höherwertigere und produkman sich Länder ansehen, deren Sozialsysteme ohne- tivere Arbeit geben. hin mehr Elemente beinhalten, die in eine solche Richtung weisen, wie etwa skandinavische Länder. Würde ein Grundeinkommen nicht dazu führen, Dazu benötigt man auch entsprechende historische dass für in unteren Lohngruppen Beschäftigte kein Beispiele und sollte natürlich etwas tun, was man bei Anreiz mehr für eine Arbeitsaufnahme besteht und jeder größeren sozialen Innovation tut. Egal ob in Un- mit verstärkter Zuwanderung aus einkommensternehmen, Behörden oder Staaten. Es geht ganz ein- schwachen Staaten zu rechnen ist? fach darum, Pilotprojekte und Realexperimente in Zuerst einmal haben wir in Deutschland fünf Milliüberschaubaren sozialräumlichen Einheiten durch- onen Menschen, die nicht in den Arbeitsprozess hi­ zuführen. neinkommen. In den südeuropäischen Ländern sind es noch viel mehr. Es ist Ausdruck einer zu überwindenden Denkweise, nur in Anreizkategorien zu denken. Zweifellos ist das GrundWelches Land könnte bei einer Einführung am eheseinkommen aber ein Hebel, der die Menschen ten vorangehen? „Die Schweiz.“ Manfred Moldaschl soweit frei macht, nicht mehr Arbeit um jeden Preis und zu jeglichen Bedingungen anzunehmen. Aber genau das ist Absicht! ZweiWelche Folgen sehen Sie für den Arbeitsmarkt, die tens gilt es, im Zeitalter der „Freizügigkeit“ beziePreisentwicklung und die Wettbewerbsfähigkeit der hungsweise der Arbeitskräftemobilität, auf die man deutschen Wirtschaft? dieses schöne Wort „verschrumpfmarktet“ hat, jede „It’s hard to predict, especially the future”, soll Chur- nationale Politik hinsichtlich ihrer Kompatibilität mit chill gesagt haben. Dass man es erproben sollte, um dem transnationalen Kontext zu prüfen. Wie sich die Erfahrungen damit zu machen und begründetere EU nach außen abschottet, ist ohnehin kaum mehr Prognosen abgeben zu können, hatte ich bereits emp- steigerungsfähig, und intern lassen sich unschwer fohlen. Hier nun entsprechende Szenarien hinsicht- Regelungen denken, wie man Zuzug aus nur diesem lich der genannten drei Dimensionen zu skizzieren, Grunde regulieren kann. verbietet schon der verfügbare Raum. Also begnüge ich mich mit zwei Sätzen. Die Einführung eines Grundeinkommens für alle Erstens: Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt wä- ist vom Staat allein nicht finanzierbar. Würde eine ren enorm! Man stelle sich nur vor, die Nachfrager von zusätzliche Umverteilung von Einkommen und VerArbeit müssten diese so gestalten, dass sie attraktiv ist, mögen nicht zum Ende unserer Gesellschaftsform inhaltlich interessant, mit menschlichen Interaktions- führen? möglichkeiten und Umgangsformen. Schrecklich, Der Staat sind wir, nur manche machen sich aus dem nicht? Zweitens: Es gibt gute Argumente dafür, dass Staub, wenn sie viel beizutragen hätten. Dass das das Grundeinkommen für eine Preisstabilität sorgen Grundeinkommen gerade in der konservativen würde, wie wir sie in der bedingungslosen Konkurren- Schweiz viel intensiver diskutiert wird als in Deutschzwirtschaft im Durchschnitt nicht haben, aber die sind land, hat sicher auch damit zu tun, dass die Schweiz natürlich umstritten. ein viel solidarischeres, auf breiterer Basis stehendes Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes ist wohl das Rentensystem hat. Dieses kann man praktisch als komplexeste aller Aggregate wirtschaftswissen- Ausgangspunkt von Strategien einer Umgestaltung schaftlicher Beobachtung. Schließlich fließt in die- ansehen. Insofern kann man sich ihr „unverriesterse Größe wirklich alles ein: die Produktivität, die tes“ und ziemlich zukunftsfestes Drei-Säulen-Modell Bildung, das Humankapital der Bevölkerung, das auch als Vorbild für die Umgestaltung des deutschen Sozialkapital derselben, die Qualität der Arbeit. Nur Rentensystems vorstellen, quasi als Zwischenschritt soviel kann man sagen: Nur für die wenigsten Men- bei der Vorbereitung eines bedingungslosen Grundschen in einem Land dürfte das Grundeinkommen einkommens. Mehr vom Autor unter zu.de/moldaschl


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Enthauptung als Schwelle: Der „Islamische Staat“ Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht, Gastprofessur für Literaturwissenschaften, über Videobotschaften und „Verbrechen gegen die Menschheit“

Die elektronisch veröffentlichten Bilder von den Enthauptungen zweier Journalisten durch die Organisation „Islamischer Staat“ haben weltweit den Ton politischer Reaktionen verändert. Wo genau liegt die Angesichts der Viel- ihre offizielle Einordnung in diese Kategorie durch die zahl von ak tuellen UNO wie eine im kafkaesken Sinn lächerliche UnterSchwelle, die überschritten wurde, fragt u n d p o t e n z i e l l e n treibung? Und wieso ist die Zahl der Stimmen so viel Hans Ulrich Gumbrecht. Kriegsschauplätzen geringer als sonst bei ähnlichen Anlässen, die eine im sogenannten „Mittleren Osten“ ist es zu einer Gleichung aufzumachen versuchen zwischen den nicht immer banalen Herausforderung für politisch Taten jener Terrorgruppe und den militärischen Akgebildete Bürger geworden, die Fülle des täglich über tionen etablierter Staaten (in diesem Fall eben den sie hereinbrechenden Informationsmaterials geogra- Bombenangriffen der amerikanischen Luftwaffe)? fisch zu differenzieren und dann an eine jeweils ad- Vielleicht hilft es bei diesem Versuch, Begriffe für äquate Vorgeschichte anzuschließen. Hinzu kommt Gräuel und Schrecken zu finden, wenn man zunächst − auf einer höheren Komplexitätsebene − die politisch einmal möglichst genau jene Videobotschaften bekorrekte Verpflichtung, alle einschlägigen Konflikte schreibt, die in Europa und Nordamerika − aus guten, „differenziert“ zu sehen, was auf das Verbot hinaus- aber doch nicht unwidersprochenen Gründen − nur läuft, je für die eine oder andere Seite eines spezifi- schwer zugänglich sind (ich habe die Sequenz der Töschen Konfliktes Partei zu ergreifen. Diese biedere tung von James Foley in Brasilien gesehen). Mündigkeit, glaube und hoffe ich, ist nun durch Berichte über Gräueltaten der unter dem Namen „Isla- War die Videobotschaft eine „Botschaft an Amerika“? mischer Staat“ die Bevölkerung des Irak und Syriens terrorisierenden Organisation durchbrochen worden. Die Bilder seiner Enthauptung sind inszeniert als Nicht einmal die Angriffe der amerikanischen Luft- „Botschaft an Amerika“, aber gehen − anders als vor waffe gegen den „Islamischen Staat“ haben − wie Jahren von Al-Quaida produzierte Bilder derselben sonst eigentlich immer − weltweite Proteste ausge- Gattung − über die bloße Dokumentation des Vollzulöst. Stattdessen erreichten Ekel, Schrecken und Em- ges einer Exekution hinaus. In der Mitte und im Vorpörung einen neuen – vielleicht gar nicht mehr über- dergrund steht offenbar mit Handschellen unbewegbietbaren − Höhepunkt in Reaktion auf die im Inter- lich gemacht das Opfer, dessen Körper mit einem net sichtbar gemachten (und in den meisten orangefarbenen Überhang bedeckt ist, wie er auch westlichen Ländern schnell blockierten) Enthauptun- für Patienten bei chirurgischen Eingriffen verwendet gen der Journalisten James Foley und Steve Sotloff, wird. Neben Foley sieht man, beweglich und gestikudie laut „Islamischem Staat“ zur Serie werden sollen. lierend, den Henker in schwarzer Milizkleidung, sein zugewiesenes Opfer mindestens um eine Kopflänge Welche Fragen werfen die Enthauptungen auf? überragend. James Foley spricht, wie es zu solchen Szenen gehört, als Konvertierter und klagt die PoAber was genau unterscheidet die als Videobotschaft litik der amerikanischen Regierung an. Der Henker zugänglich gemachten Enthauptungen von anderen ergänzt − auf Englisch und in einem mittlerweile „Verbrechen gegen die Menschheit“? Warum wirkte wissenschaftlich identifizierten „multikulturellen


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Londoner Akzent“ −, dass die anstehende Exekution um den Preis eines Lösegeldes von hundert Millionen Euro hätte vermieden werden können. Beide Reden zusammen dauern etwas mehr als eine Minute und werden am unteren Bildrand in arabische Schriftzeichen übersetzt.

schwelle, die sich in den westlichen Kulturen seit dem Ende der Aufklärung immer deutlicher abgezeichnet hat. Diese Tabuschwelle unterscheidet zwischen körperlichen Leiden von Opfern, die innerhalb einer militärischen Rationalität angeblich nicht zu vermeiden sind, und einem auch militärisch dysfunktionalen Exzess solcher Leiden.

Wie gehen Sie persönlich mit solchen Videobotschaften um? „Wenn ich die Zeit habe, mute ich sie mir zu. Denn ich glaube, es ist – philosophisch und politisch – wichtig, nicht die Augen vor dem zu verschließen, was an Brutalität menschenmöglich ist. So wie es wichtig war, nach dem Zweiten Weltkrieg nicht die Augen vor den Überresten der deutschen Konzentrationslager zu verschließen.“ Hans Ulrich Gumbrecht

Eigenartigerweise gibt es in der deutschen Sprache kein gängiges Wort, um solchen Exzess zu markieren (man kann von „Gräueln“ reden, aber der Begriff ist weniger gängig und wohl auch weniger genau als etwa das englische Wort „atrocity“). Historisch gesehen ist die Entstehung einer damals neuen Sensibilität, welche Gräuel ausschließen und unmöglich machen wollte, durch Francisco de Goyas „Desastres de la Guerra“ markiert, eine Serie von Stichen aus den spanischen Befreiungskriegen gegen Napoleon, welche Gräuel – bemerkenswerterweise auf beiden Seiten des Konflikts – festhält, um mit dem Bild einer nackten jungen Frau zu enden, die für „das Leben“ steht, für „das nackte Leben“ eben (von dem während des vergangenen Jahrzehnts in der Welt der Intellektuellen vor allem die Philosophie von Giorgio Agamben gehandelt hat).

Während dieser etwas mehr als einer Minute zeigt der Henker einen mit dem spezifischen Ernst seiner Gestalt und Rolle in Spannung stehenden Drang, die Schneide eines kurzen Messers zu zeigen, vor die Kamera zu halten und so – wie vor Jahren der damals fast mythologisch gewordene „Terrorist Carlos“ − etwas zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Entgegen der elektronischen Ankündigung wird aber der Moment der Enthauptung nicht sichtbar. Zwar beugt sich der Henker wie ein sorgfältiger Metzger von hinten über James Foley, umgibt seinen Kopf mit an den Ellenbogen zu einer Raute abgewinkelten Armen und berührt Foleys Gurgel mit seinem Messer. Doch dar- Gibt es eine Konvergenz zur Industrialisierung des auf folgt eine Still-Fotografie von Foleys Leiche, die Tötens? bäuchlings im Wüstensand liegt und ab der Höhe der Schultern von einer roten Blende unsichtbar gemacht Vor dieser historischen Schwelle waren auch in den wird. „Humanitäre Erwägungen“ können es eigent- westlichen Kulturen öffentliche Rituale der körperlilich kaum gewesen sein, die zu dieser Aussparung chen Bestrafung und Exekution gang und gäbe. Man führten. War es ein Grauen der Henker angesichts kann also sagen, dass der „Islamische Staat“ – im gloihrer eigenen Gräueltat? Oder die mangelnde chirur- balen Kontext sehr wahrscheinlich bewusst und progische Kompetenz, um aus dem Schnitt in die Gurgel grammatisch (der Henker der Videos ist aller Wahrwirklich eine Enthauptung werden zu lassen? scheinlichkeit nach in England zur Schule gegangen) – die Schwelle in Richtung auf die Vergangenheit Wurde bewusst eine Tabuschwelle durchbrochen? zurück-überschreitet. Dies impliziert eine eindimensionale Sicht der Opfer: Ihr unveräußerliches – und Aber noch einmal und vor allem: Wie unterscheidet seit der Aufklärung zugleich als tendenziell „sakrosich diese Szene etwa von Bombenangriffen, welche sankt“ angesehenes – „nacktes Leben“ ist gegenüber das Risiko in Kauf nehmen, Zivilisten zu töten, wie ihrer Rolle als angebliche „Verbrecher“ ausgeklamunterscheidet sie sich von der Praxis der Hamas, Waf- mert. So gesehen existiert eine Konvergenz zwischen fen mit den Körpern von Kindern zu schützen – und den Enthauptungsvideos des „Islamischen Staates“ auch von der Industrialisierung des Tötens in den und der Industrialisierung des Tötens im deutschen Konzentrationslagern der deutschen Nationalsozia- Nationalsozialismus, der die Namen seiner Opfer listen? Der programmatische Wille, Enthauptungen durch in ihre Unterarme tätowierte Nummern erzur Schau zu stellen, ignoriert aggressiv eine Tabu­ setzte – und so in der entgegengesetzten Weise ihr


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menschliches Recht auf „das nackte Leben“ ausklammerte. Doch der deutsche Perfektionismus des Dritten Reiches ging eine Koalition mit den modernen Werten der Hygiene und der Effizienz ein (insofern waren die Gaskammern Nachfolgedispositive der Guillotine als Enthauptungsmaschine) und glaubte so, eine Schwelle hin auf die Zukunft zu überschreiten, während der „Islamische Staat“ seine grauenvolle Sehnsucht nach einem archaisch-elementaren Moment in der eigenen Tradition kultiviert. Was ist „notwendig“, was „unmöglich“? Die vor zweihundert Jahren in einigen europäischen und amerikanischen Gesellschaften dominierende „Geschichtsphilosophie“ hatte mit solchen zugleich konvergierenden und divergierenden Entwicklungen nicht gerechnet. Sie setzte – ob hegelianisch oder später marxistisch fundiert – auf die vermeintliche Gewissheit, dass sich bessere – „humanere“ – Formen des Lebens zukünftig „mit Notwendigkeit“ durchsetzen würden. Im späteren 19. und im gesamten 20. Jahrhundert sind allerdings viele westliche Intellektuelle skeptisch gegen die eigene Unterstellung geworden, dass sich solch positive Entwicklungen „mit Notwendigkeit“ einstellen sollten, und haben zunehmend die Welt als ein Feld der Kontingenz als eine existentielle Dimension der Unwägbarkeiten und Ambivalenzen beschrieben. Aufgeklärt und „humanitär“ erschien nun, wer in dieser Welt, die sich als ein Feld der Kontingenz zeigte, auf ihre Ränder als Zonen des Notwendigen und des Unmöglichen setzte.

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ist – und werden soll. Anders gesagt: Wo alles möglich und nichts mehr notwendig oder unmöglich scheint. Was zweihundert Jahre lang gegenüber den möglichen Formen menschlichen – „humanitären“ – Verhaltens als unmöglich ausgeschlossen war, kommt zurück unter der neuen Konstellation universeller Kontingenz, die absolut nichts mehr ausschließt – ohne dass wir es noch wagen, auf grundsätzlich Besseres zu hoffen. Es ist wieder möglich geworden – und eben nicht unmöglich geblieben – einst gezogene Grenzen und Schwellen zurück-zu-überschreiten, die „wir Menschen“ für immer hinter uns gelassen zu haben glaubten. Was uns bleibt, sind eher hilflose Reaktionen des Grauens – und symmetrische Reaktionen der Eskalation. Mehr vom Autor unter zu.de/gumbrecht

Manche Menschenrechte Welche Reaktionen erleben Sie als Lehrender zumindest sollten weiter als „unveräußerlich“ (also „notvon Seiten Studierender zu diesem Thema? „Ich wendig“) gelten − und einihabe noch nie Grausamkeiten dieses Niveaus ge Verbrechen als „Verbreaus der Gegenwart im Unterricht thematisiert. chen gegen die Menschheit“ Weiß nicht genau warum. Vielleicht fürchte ich (also „unmöglich“). In dieser mich vor Reaktionen, die Verständnis mit den Hinsicht hat sich unser AllTätern zu haben versuchen – und mich über tag des 21. Jahrhunderts nun offenbar so verschoben, dass alle Selbstkontrolle hinaus irritieren würden.“ aus der Welt als ein Feld der Hans Ulrich Gumbrecht Kontingenz zwischen den Zonen des Notwendigen und des Unmöglichen – nicht zuletzt in Folge der Akkumulation und wechselseitigen Abgleichung von allzu vielen verschiedenen „Kulturen“ in globaler Zeit – ein Universum der Kontingenz geworden ist, wo sowohl das seit der Aufklärung als „notwendig“ wie „unmöglich“ Geltende wieder möglich geworden


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Papst Franziskus und eine „Kirche im Aufbruch“ Dr. Ramona M. Kordesch, Theologin und Akademische Mitarbeiterin am Civil Society Center, über Papst Franziskus und Reformen in der katholischen Kirche

Es war nach Jahren der Skandale nicht nur eine mediale Sensation, als der Erzbischof und Kardinal von Buenos Aires Jorge Mario Bergolio zum ersten lateinamerikanischen Papst in der Geschichte ausgerufen wurde, nachdem Papst Benedikt XVI. den bereits angekündigten Rücktritt aus dem höchsten Amt der katholischen Kirche vollzogen hatte. Fortan scheint sein Name Programm und Paradigmenwechsel zugleich zu sein. Dennoch gab es noch nie so viele Interpreten, die der staunenden Christenheit erklären, wie Papst Franziskus die Welt aber auch seine Kirche versteht, meint Ramona M. Kordesch.

Von Anfang an war seinem ersten apostolischen Lehrschreiben „Evangelii und ist beständig Gaudium“ klar geworden sein. Darin ist es Franziskus das Pontifikat Fran- gelungen, originär katholischen Lehrinhalten wie ziskus’ von einem auch dem Evangelium entsprechenden Lebens- und medialen Hype und Handlungsformen einen neuen hermeneutischen einer beispiellosen Schlüssel zu geben. Die Einberufung der zweiten auSympathiewelle ge- ßerordentlichen Bischofssynode zum Thema „Ehe und kennzeichnet. Hoffnungsvolle Beobachter sahen Familie“ folgte. Und es wird vor allem durch Franzisschon nach den ersten Monaten die Zeit der „ideolo- kus’ starke Orientierung an Symbolen und Gesten gischen Abrüstung des Papsttums“ gekommen und deutlich, dass ihm die Suche nach neuen Ausdrucks­ staunten über so manche harsch und ungestüm for- formen eines zeitgemäßen Verhältnisses von Kirche mulierte Kritik an der römischen Kurie als Verwal- und Welt Anliegen und Auftrag zugleich ist. Da kann tungsspitze der katholischen Kirche. Es weht ein fri- interne Kritik an einer selbstreferentiellen Kirche, am scher Wind im Vatikan, der vor allem durch das spon- vatikanischen Staatsapparat und seinen Klerikern tane Wort des Papstes, Reformwillen und Klartext nicht ausbleiben, auch wenn die Angemessenheit der und weniger durch theologische Fachsprache charak- Artikulation derselben streitbar erscheint. terisiert ist. Das mag sympathisch sein, vor allem weil sein Vorgänger, der große Theologe Papst Benedikt Was ist in näherer Zukunft thematisch zu erwarten? XVI., als vermeintlicher Reaktionär am Stuhl Petri verunglimpft, im Kreuzfeuer so mancher Kritik stand. Mit seiner unkonventionellen Art und Weise, sein Und das mag auch wichtig sein, denn beispiellos ge- Charisma medial einzusetzen, bleibt Franziskus für lingt es Franziskus vor allem für pastorale Themen viele seiner Apologeten ein Unberechenbarer. Und aus seiner eigenen Lebens- und Glaubenserfahrung dies nicht ganz zu Unrecht, denn sein Pontifikat wird zu mobilisieren und diese in das neuralgische Zent- von Erwartungen begleitet, die es noch zu erfüllen rum der katholischen Christenheit zu bringen. gilt. Mit Spannung wird der Ausgang der Familiensynode im Herbst 2015 erwartet, und bislang ist noch Welche Impulse hat Franziskus bisher gesetzt? nicht klar, welche neue theologische Programmatik seiner ersten, jüngst erschienenen Enzyklika mit dem Dass dieser Papst ein – im besten und nicht konfessio- klingenden Titel „Die Ökologie des Menschen“ zu nellen Sinne des Wortes – evangelikaler ist, dürfte mit Grunde liegen wird. Zu erwarten wäre jedenfalls


die Su che n a ch neuen Ausdru ck sf o r men


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eine handfeste Globalisierungskritik. Dieses Thema ist dem Papst nicht fremd, erregte er doch durch die Formel über eine „Wirtschaft, die tötet“ (EG 53) großes Aufsehen, indem er den vermeintlichen Gegensatz zwischen Wirtschaft und Gemeinwohl bekräftigend herbeigeschrieben hat. Dass eine aus pastoraler Sicht

Re v o lu t i o n v o n o ben

berechtigte, aber nicht immer dem Thema angemessene individual-ethische Bildmetaphorik als Antwort auf institutionen-ethische Problemlagen zu groben Missverständnissen verleitet, liegt auf der Hand und führt, wenn nicht gleich zu Verstimmungen jedenfalls zu berechtigten Nachfragen.


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Gibt es so etwas wie eine Grundbotschaft?

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Welcher Bedeutung kommt der Konvergenz zu?

Dennoch darf nicht übersehen werden, dass die ersten Soll der Versuch unternommen werden, beide Dimenzwei Jahre seines Pontifikates von der Grundbotschaft sionen von Kirche – Gestalt und Sinngehalt – angegeprägt sind, durch Vorbild und Lebenswandel dafür messen zu erfassen und neu zu vereinen, so wird vor zu sorgen, dass die gan- allem Konvergenz gefragt sein, und da helfen auch ze Kirche glaubwürdi- die zahlreichen Fremdprophetien über Franziskus’ Was an ihm hat Sie als Theologin ger wird. Während das „Revolution von oben“ nicht weiter. Ein Papst, der so bisher am meisten überrascht? „Wie Papstamt der Vergan- gekonnt ein öffentlichkeitswirksames Erneuerungsschnell es ihm gelungen ist, die kathogenheit gewöhnlich kalkül einsetzt, wird mit Mehrheiten im eigenen lische Sozialethik wieder auf die polivon Distanz geprägt Haus operieren müssen. Und dies wäre für eine „Kirwar, gibt Franziskus’ che im Aufbruch“, die sich vor dem Leithorizont des tische Weltbühne zu führen und eine Reformwille zu verste- Evangeliums verstärkt als eine dezentrale, pluralishohe Aufmerksamkeit für das Anliehen, dass der Grund für mus- und demokratiefähige Organisation ausweisen gen der Kirche zu generieren, die weit den Mangel an Wirk- will, nicht nur wünschenswert, sondern wesentlich. über die katholische Welt hinausgeht. sa m keit u nd Wer tFür diesen Kurs wird Franziskus bejuschätzung gegenüber Mehr von der Autorin unter zu.de/kordesch belt, auch wenn verbale Ausrutscher der Kirche zuallererst bei einer autozentrieran seinem Image bereits zu kratzen be­ ten Kirche selbst zu suginnen.“ Ramona M. Kordesch chen ist. Diese Einsicht mag für viele unbequem sein, doch die beständige Rückbindung an das Evangelium als Grund und Auftrag macht Reformen notwendig. Dabei kann kein Vernünftiger erwarten, dass ein Papst in kürzester Zeit eine Kurien- und Kirchenreform durchsetzt, sie bleibt vor allem eine Hat Franziskus in seiner Amtszeit bisher gehalgemeinsame Anstrenten, was sich viele von ihm versprochen haben? gung von Haupt und Gliedern der Kirche und „Franziskus stärkt den Blick für die Tatsache, dass vielleicht ein Stück weit die römisch-katholische Kirche mit 1,2 Millionen auch eine paradoxe AufGläubigen tatsächlich eine Weltkirche ist und gabe: Denn der Vatikan dass das katholische Christentum in vielen Spra– machtpolitisches Zenchen und liturgischen Formen den Globus umtrum der römisch-kathospannend vital präsent ist. In gewisser Weise stellt lischen Christenheit – ist auch ein Staatsapparat, er damit die verengte Wahrnehmung einer euroder von protokol la r ipa- oder vatikanzentrierten Kirche auf den Kopf.“ schen, diplomatischen Ramona M. Kordesch und liturgischen Vorschrif ten geprägt ist, und doch bleibt die Kirche im Sinne ihrer Grundorientierung an den „Zeichen der Zeit“ gleichzeitig immer eine reformbedürftige.


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Wie die Öko-Wende besser gelingen kann Professorin Dr. Lucia A. Reisch, Gastprofessur für Konsumverhalten und Verbraucherpolitik, über Fehlentwicklungen im Zuge des ökologischen Umbaus und „grüne“ Vorgaben

Der Umbau hin zu einer ökologischen Gesellschaft in Deutschland ist in vollem Gange – und steht sich doch oft selbst im Weg. Dabei gäbe es durchaus einfache Mittel wie „grüne“ Vorgaben, um Fehlentwicklungen zu korrigieren und die Öko-Wende zu beschleunigen. Das ist das Ergebnis einer gemeinsamen Untersuchung von Lucia A. Reisch und Professor Cass Sunstein von der Harvard University.

„Wir wollen zeigen, Anreize – manchmal sowohl auf ökonomische als auch dass sic h g r ü ne politische Hindernisse treffen“. Trotzdem finden solVorgaben wesent- che grünen Vorgaben bisher nur wenig Beachtung – lich auf die Um- zum Nachteil von Umwelt und Wirtschaft. welt auswirken können – manchmal ähnlich stark wie politische Anordnungen und Verbote und poten- Welche Bereiche eines ökologischen Umbaus werden ziell deutlich stärker als Informationskampagnen, untersucht? Appelle an die Moral und sogar große wirtschaftliche Anreize“, schreiben Professorin Dr. Lucia A. Reisch, Die beiden Wissenschaftler haben beispielhaft vier Leiterin des Forschungszentrums „Verbraucher, Markt Bereiche des ökologischen Umbaus vor dem Hinterund Politik“ an der ZU, und der Rechtswissenschaft- grund von wissenschaftlichen Studien und Erkenntler und Berater von US-Präsident Barack Obama Pro- nissen der Verbraucherforschung besonders unterfessor Cass Sunstein von der Harvard University in sucht: den Papierverbrauch, die Nutzung von Ökoihrer gemeinsamen Studie „Automatisch Grün: Ver­ Strom, die Energieeffizienz und die Einführung haltensökonomik und Umweltschutz“, erschienen im intelligenter Stromnetze. Und sie zeigen dabei auf, „Harvard Environmental Law Review“ (auf deutsch wie grüne Vorgaben jeweils das Verbraucherverhalerschienen in der „Zeitschrift für Umweltpolitik & ten maßgeblich und positiv beeinflussen. Umweltrecht“). Am simpelsten zeigen sich die Auswirkungen beim Grüne Vorgaben seien inzwischen „ein wichtiges In- Papierverbrauch. Private wie öffentliche Einrichtunstrument im regulativen Repertoire, um die Umwelt gen können „beispielsweise ihre Mitarbeiter mit reizu schützen und gleichzeitig Geld zu sparen“, stellen nen Fakten über die Vorteile sparsamen Verhaltens die Autoren fest. Solche Vorgaben könnten erheblich informieren, durch moralische Appelle auf sie einzueffektiver sein als andere Instrumente, „einschließ- wirken versuchen, indem sie auf wirtschaftliche und lich solcher, die den Steuerzahler viel kosten“. Dies gel- ökologische Vorteile hinweisen, eine Papiergebühr te insbesondere in einer Zeit, „in der die üblichen Hilfs- einführen oder Grenzwerte für den Gesamtverbrauch mittel – Anordnungen, Verbote und wirtschaftliche einzelner Mitarbeiter oder Abteilungen festlegen“,


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zählen die Wissenschaftler mögliche Steuerungsins- Wissenschaftlern der Columbia University und der trumente auf. Für Reisch und Sunstein aber gibt es University of North Carolina sollten Probanden in eieine viel einfachere Lösung: „Die Einrichtung kann nem Hausbau-Experiment zwischen effizienten, aber die Voreinstellung ihrer Drucker von ,Einseitiger teuren Energiesparlampen und ineffizienten, aber Druck‘ auf ,Beidseitiger Druck‘ ändern.“ Die Rutgers preiswerten Glühlampen wählen. „Das wesentliche University in New Jersey tat genau dies – und redu- Ergebnis lautet, dass die grüne Vorgabe eine große zierte so binnen drei Jahren den Papierverbrauch um Rolle spielt“, sagen Reisch und Sunstein. Wenn die in55 Millionen Blatt, eine Verringerung um 44 Prozent, effizienten Glühlampen als Standard gesetzt waren, was 4.650 Bäumen entspricht. blieben 44 Prozent der Probanden dabei. Waren hingegen die effizienten Energiesparlampen der Standard, kamen diese Welche Entwicklungen beobachten Sie seit Ihrer Studie in den Märkau f 79,8 P rozent Zuten? „Das Interesse an bewusster Gestaltung des Entscheidungsumstimmung. Reisch und felds wächst – was im Unternehmensbereich seit langem Standard ist, Sunstein: „Diese unbeginnt nun auch die öffentliche Verwaltung zu interessieren. Allerscheinbare Wahl kann dings: Wenn sich ein staatlicher Akteur Nudging-Instrumente bedient, durchaus weitreichende Folgen haben: Wenn muss dieses vollkommen transparent und der demokratisch legitii n j e d e m H au s h a l t mierten Kontrolle unterworfen sein. Manipulation − auch durch Deder USA auch nur eine fault − ist kein akzeptables Governance-Instrument.“ lucia A. reisch Glühlampe gegen eine Energiesparlampe ausgetauscht würde, könnGibt es weitere Beispiele? ten mehr als 600 Millionen US-Dollar an jährlichen Energiekosten sowie eine Treibhausgasmenge eingeAls weiteres Beispiel untersuchten Reisch und Sun- spart werden, die dem Ausstoß von 800.000 Autos stein das Verhalten der Verbraucher bei der Nutzung entspricht.“ Die eingesparte Menge würde reichen, von Öko-Strom. „In Deutschland geben viele Men- mehr als drei Millionen Haushalte ein ganzes Jahr schen an, dass sie grüne Energie bevorzugen würden, zu beleuchten. wenn sie die Wahl hätten“, stellen die Forscher fest. In der Praxis aber sieht es anders aus: „Nur wenige Und was zeigt sich bei intelligenten Stromnetzen? Verbraucher entscheiden sich jedoch tatsächlich für Öko-Strom“. Ein Grund dafür könnte laut den beiden Schließlich das Beispiel der intelligenten Stromnetze: Forschern darin liegen, dass sich die Menschen zu- Die Einführung dieser Technologie gilt in Deutschmeist erst durch eigenes aktives Handeln für grüne land als eine Voraussetzung für die geplante drastiEnergie entscheiden müssen – „und das tut kaum sche Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien im jemand“. Als Gegenbeispiel nennen Reisch und Sun- Rahmen der Energiewende. „Intelligente Stromnetze stein unter anderem den süddeutschen Stromver- versprechen, das Gleichgewicht zwischen Energieansorger Energiedienst GmbH. Er führte drei unter- gebot und -nachfrage herzustellen und das Versorschiedliche Tarife ein mit dem Unterschied, dass der gungsnetz flexibler, effizienter und zuverlässiger zu Standardtarif für die Verbraucher nun nicht mehr machen“, erklären Reisch und Sunstein die Bedeutung konventionell, sondern grün erzeugten Strom vor- dieser Technologie. Dennoch ist die Akzeptanz bei den sah. Also: „Wer sich nicht selbst anders entschied, Verbrauchern gering. Sie befürchten Risiken beim bekam den grünen Stromtarif“. Das waren am Ende Datenschutz oder Einschränkungen beim Wohnkom94 Prozent der Verbraucher. Ein Beispiel, dem inzwi- fort bei Fernsteuerung des Energieverbrauches. Reisch schen immer mehr Stromanbieter in Deutschland und Sunstein führen hier eine experimentelle Untergefolgt sind. suchung aus Dänemark an. Auch dort zeigte sich, „dass die jeweilige Vorgabe das Verbraucherverhalten Welches Bild ergibt sich bei energieeffizienten Produkten? stark beeinflusst“. Konkret wäre die Akzeptanz der Installation intelligenter Zähler höher, wenn sie nicht Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Einsatz von ener- ausdrücklich gewählt, sondern ausdrücklich abgegieeffizienten Produkten. Bei einer Untersuchung von lehnt werden müsse.


T e c hn o l o gie


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Was ist das Fazit der Forscher? „Für die Entscheidungen von Verbrauchern spielen wirtschaftliche Anreize eine zentrale Rolle. Betreffen diese Entscheidungen jedoch ökologische Fragen, dann sind sie auch von einer Vielzahl anderer Faktoren wie sozialer Normen und den jeweiligen Defaultregeln abhängig“, stellen Reisch und Sunstein in ihrer Untersuchung abschließend fest. Wenn kein grüner Standard vorgegeben sei, könne die Suche nach einer umweltschonenderen Option sehr auf wendig sein. Und selbst wenn der AufWie gehen Sie selbst als Verbraucherin mit fehlenden oder wand sehr gering sei, sei der vorhandenen grünen Vorgaben um? „Zunächst einmal falVerbraucher unter Umstänlen mir Defaultregeln heute sofort auf, was vor meiner Beden nicht bereit, ihn zu beschäftigung mit Nudges nicht unbedingt der Fall war − und treiben – zum Beispiel aufich frage mich, wer die Architektur der Wahl gestaltet hat, grund von Trägheit oder Prokrastination –, was zu wer die Defaultregeln aufgestellt hat, mit welcher Legitiwirtschaftlichen und ökolomation und vor allem: mit welchem Ziel. Wenn dies meigischen Nachteilen führen nen eigenen Zielen und Werten entspricht, dann folge ich könne. Das Fazit der beiden dem Default – wenn nicht, entscheide ich mich dagegen.“ Wissenschaftler: „In wichlucia A. reisch tigen Bereichen sind Entscheidungen von Verbrauchern sowohl für die Umwelt als auch für die Wirtschaf t de facto nach­teilig – und zwar nicht, weil dies so beabsichtigt wurde, sondern allein aufgrund der jeweiligen Entscheidungsarchitekturen.“ In einigen Fällen könne diese Architektur nicht vom Einzelnen verändert werden, so die Forscher: „Dann ist privates und öffentliches kollektives Handeln gefragt.“ Weiterführende Veröffentlichungen Lucia A. Reisch, Julia Sandrini: Nudging in der Verbraucherpolitik – Ansätze verhaltensbasierter Regulierung, Nomos Verlag, 2015 Lucia A. Reisch, Sabine Bietz: Zeit für Nachhaltigkeit – Zeiten der Transformation: Mit Zeitpolitik gesellschaftliche Veränderungsprozesse steuern, oekom verlag, 2014 Mehr Zeitwohlstand!: Vortrag von Lucia A. Reisch bei Deutschlandradio Wissen vom 22.03.2015: http://dradiowissen.de/beitrag/ zeitpolitik-mehr-zeitwohlstand-f%C3%BCrmehr-nachhaltigkeit Mehr von der Autorin unter zu.de/reisch


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2-°C-Obergrenze: Ein Leitthema wird zur Randnotiz Professor Dr. Markus Rhomberg, Lehrstuhl für Politische Kommunikation, über die „2-°C-Obergrenze“ in der politischen und gesellschaftlichen Debatte

Bei der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 verständigte sich die internatio­nale Staatengemeinschaft auf das globale Klima­schutzziel der 2-°C-Obergrenze. Es sollen Maßnahmen ergriffen werden, die durchschnittliche Erwärmung der Erde unter zwei Grad gegenüber vorindustriellen Werten zu halten. Die 2-°C-Obergrenze wurde daraufhin zum Leitthema der gesellschaftlichen Debatte über den Klimawandel. Fünf Jahre danach jedoch spielt sie praktisch keine Rolle mehr. Woran liegt das? Welche Ursachen, welche Folgen hat das? Das hat Markus Rhomberg im Auftrag des Umweltbundesamtes untersucht.

Markus Rhomberg analysierte Wer waren die Akteure in der Debatte? gemeinsam mit seinem Doktoranden Jonas Kaiser dazu die Zwar könnte man nach Ansicht Rhombergs argumenMedieninhalte von sechs Ta- tieren, dass die Häufigkeit der Berichterstattung kein geszeitungen (Die Tageszei- aussagekräftiger Indikator für die Wichtigkeit eines tung, Die Welt, Frankfurter Themas für die Politik ist. „Zumindest bedeutet dies Allgemeine Zeitung, Handels- aber“, befindet Rhomberg, „dass das Thema nach und blatt, Süddeutsche Zeitung, nach aus der Wahrnehmung der Öffentlichkeit verBild) und vier Wochenmagazi- schwindet.“ Dies auch mit dem Nebeneffekt, dass die nen (Die Zeit, Focus, Der Spie- Politik durch dieses Defizit an Aufmerksamkeit auch gel, Stern). Dabei zeigte sich, nicht unter starken Handlungsdruck gerate und stehe. dass die Häufigkeit der Berichterstattung nach einem Hoch während des Klimagip- Innenpolitisch, so die Wissenschaftler, werde die 2-°C­­ fels in Kopenhagen im Dezember 2009 bis heute Obergrenze in den Jahren 2009 bis 2014 zumindest nur wenig diskutiert: Die Bunlangsam, aber stetig destagsfraktionen hätten abn i m mt . Spiege lsich kaum zum Thema gebi ld l ic h zeige sic h Wie sind Sie auf das Forschungsthema äußer t. Und wenn sich dies auch im Zuge der gekommen? „Wir arbeiten schon seit dazu die Politik in den MeE ne r g ie w e n d e -D e mehreren Jahren zu Fragen der Klimadien äußerten, dann vor batte, so die Forscher. kommunikation. Dieses Projekt wurde allem durch das BundesmiDort werde vor allem gefördert vom Deutschen Umweltbunnisterium für Umwelt, Nadiskutier t, w ie die turschutz, Bau und ReaktorWende gestaltet werdesamt.“ markus rhomberg sicherheit (BMUB) und das den soll. Rhomberg: Bundeskanzleramt. Hinge„Warum eine Energie­ transformation notwendig ist und welche Rolle die gen seien deutsche Politiker mit Aussagen zur 2-°C­­ Obergrenze rund um die Vertragsstaatenkonferenzen 2-°C-Obergrenze dabei spielt ist kaum Thema.“


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der UN-Klimarahmenkonvention, der Rio+20-Konferenz sowie dem Bericht der Arbeitsgruppe 1 zum 5. IPCC­­­­-Sachstandsbericht in den Medien präsent. Spätestens ab dem Jahr 2012 übernahmen in den führenden deutschen Medien aber wissenschaftliche Akteure die Hauptrolle in der Debatte um die Einhaltung der 2-°C-Obergrenze. Wo liegen die Ursachen? In diesem Zusammenhang ist für Rhomberg und Kaiser auch der Befund interessant, dass sich die Debatte vom Politikteil der Zeitungen in den Wissenschaftsteil verlagert hat: „Die 2-°C-Obergrenze ist vom Politikthema zum Wissenschaftsthema geworden.“ Liegt das am Fehlen durchschlagender Verhandlungserfolge? Schiebt die Politik ihre Verantwortung ab? Ist dies ein Indiz für Resignation in der Klimapolitik? „Was sich deutlich zeigt, ist, dass die durchaus optimistische politische Grundstimmung, die bis zum Jahr 2010 erkennbar war, in der Medienanalyse immer mehr einer gewissen Indifferenz für das Thema weicht“, stellen die Wissenschaftler fest.

am Rande diskutiert. Im Zentrum hingegen stehe das Erreichen beziehungsweise Nicht-Erreichen, verbunden mit der Konnotation des politischen Scheiterns: „Wird das Ziel erreicht – ja oder nein?“ Die sozioökonomischen und ökologischen Konsequenzen des Überschreitens der 2-°C-Obergrenze würden – zumindest in den analysierten Medien – kaum diskutiert. Ebenso wenig stehe der Nutzen der Einhaltung der 2-°C-Obergrenze beziehungsweise der Maßnahmen dafür im Blickpunkt. Rhomberg: „Dass die Einhaltung der 2-°C-Obergrenze mit der Bewahrung von Lebensräumen und Menschenleben eng verknüpft ist, gerät weitgehend aus dem medialen Fokus.“ Was bedeutet dies für die Wissenschaft? Für die Wissenschaft bedeutet der Rückzug der Politik aus den Medien nach Ansicht der Forscher zweierlei: Einerseits werde von ihr verlangt, klare Aussagen zu treffen. Andererseits bewege sie sich in den Medien auf unbekanntem Terrain. Die Forschung selbst nimmt das Thema in ihren Publikationen erst nach dem Ende des medialen Hypes auf. Insbesondere in der deutschen Forschungslandschaft fällt Rhomberg und Kaiser aber eine intensivere Beschäftigung im internationalen Vergleich auf. In der Forschung werden dabei jene Fragen thematisiert, die die Politik nur selten aufgreift: Nämlich welche Maßnahmen getroffen werden müssen, um die 2-°CObergrenze einhalten zu können, und was erwartbare Konsequenzen des Nicht-Erreichens dieses globalen Klimaschutzzieles sind.

In den Medien werde in den Folgejahren geradezu eine Müdigkeit gegenüber der 2-°C-Obergrenze, wenn nicht sogar dem gesamten Klimathema gegenüber, spürbar. Bei ihrer Medienanalyse stellten Rhomberg und Kaiser fest, dass die großen internationalen Klimagipfel nicht als erfolgreiches Mittel zur Einhaltung der 2-°C-Obergrenze wahrgenommen werden. Lieber griffen die Medien das „Scheitern“ dieser Gipfel auf. Die Klimapolitik sei hier in einer Zwickmüh- Was bedeutet es schließlich, dass die Wissenschaft le: Einerseits steige das öffentliche Interesse im Zuge ihre Erkenntnisse zunehmend auch medial publisolcher Konferenzen. Andererseits würden die Frus- ziert? Wird sie dadurch stärker politisiert? Wird sie trationen höher, weil der große Durchbruch eben dadurch auch angreifbarer? „Im Wissenschaftssysnicht gelingt. Rhomberg: „Immer wieder flankiert tem selbst gehört die wissenschaftliche Auseinanvon Meldungen über steigende Emissionstrends welt- dersetzung zum guten Stil“, analysiert Rhomberg. weit, verwundert es auch nicht, dass insbesondere „Medien-Debatten zwischen Wissenschaftlern werdie ,Nicht-Erreichbarkeit‘ der 2-°C-Obergrenze thema- den hingegen von außenstehenden Akteuren gerne tisiert wird.“ genutzt, um Uneinigkeit der Wissenschaft in der Klimafrage zu propagieren.“ Indem Wissenschaftler Welcher Blick ergibt sich aus der Medienperspektive? nach ihren Empfehlungen gefragt würden, setzten sie sich gleichzeitig der Kritik aus, eine Rolle einzuAus Medienperspektive sei die Debatte um die 2-°C­­ nehmen, die ihnen nicht zustehe. Rhomberg: „So beObergrenze kein Einhaltungsdiskurs, sondern vor wegen sich Wissenschaftler auf dem ihnen meist allem ein Zieldiskurs. Das „Warum ist die Einhaltung unbekannten Medien-Terrain – nur wenige suchen von zwei Grad notwendig und sinnvoll?“ werde nur aktiv und strategisch den Weg in die Öffentlichkeit.“


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Wer könnte eine Scharnierfunktion übernehmen? NGOS, Stiftungen, Beratungsinstitute und andere Akteure, die sich im Feld zwischen Wissenschaft, Politik und Medien bewegen, könnten nach Meinung der Forscher hier eine Scharnierfunktion übernehmen. In den Medien sind sie Sehen Sie die Möglichkeit einer Renaissance konstant mit Kommentaren zur 2-°Cfür das Thema oder hat es sich schlicht überObergrenze vertreten. Rhomberg: „Ihre Kernkompetenz liegt vor allem darin, lebt? „Das werden wir wohl erst nach dem Wissenschaft, Politik und Medien mitWeltklimagipfel in Paris im Dezember diesen einander zu verbinden.“ Viele dieser Jahres sehen. Bis dahin wird uns das 2-°C-Ziel Akteure beobachteten die politischen aber auf alle Fälle noch weiter begleiten und Entwicklungen, sichteten wissensowohl von Politik als auch Wissenschaft als schaftliche Studien systematisch und Grundlage für einen neuen Klimavertrag geversuchten die Ergebnisse in den Medien zu platzieren. Dies gelinge jepusht werden.“ markus rhomberg doch nur teilweise. Wie können sie noch besser dazu beitragen, dass die wichtigsten Botschaften ihren Weg in die Öffentlichkeit finden? „Der Austausch zwischen Akteuren ist ein wichtiges Instrument, um besser zu verstehen, welchen Mechanismen die mediale Debatte um Klimaschutzthemen folgt “, schlussfolgern Rhomberg und Kaiser. Mehr vom Autor unter zu.de/rhomberg

INdiz Für re si gn at i o n

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Acht gute Vorsätze für die Welt Interview mit Dr. Wolfgang Muno, Vertretungsprofessur für Internationale Beziehungen, über die Millenniums-Entwicklungsziele von 2000 und was aus ihnen wurde

15 Jahre, acht Ziele, vier Organisationen und eine Vision: Die 2000 beschlossenen MillenniumsEntwicklungsziele unter dem Dach der UN sollten die Welt etwas besser machen, Armut und Hunger bekämpfen, Schulbildung gewähren. 2015 läuft die Frist für die Erreichung der Ziele ab − und die Bilanz fällt ernüchternd aus. Wolfgang Muno evaluiert die Ergebnisse.

Für die Erreichung der Entwicklungsländern entsprechende Anstrengungen Entwicklungsziele wurde und Prioritätensetzungen fordern. 2015 als Zieljahr gesetzt. Was folgt für die Zukunft? Ziele, wie die Senkung der Kindersterblichkeit oder In den kommenden Mo- die Verbesserung der Gesundheitsversorgung der naten wird vor allem die Mütter, erfordern aktive Bemühungen der EntwickPost-2015-Agenda disku- lungsländer. Wie realistisch sind solche Ziele? tiert. Dies findet unter Die Ziele waren sehr realistisch, was man daran sieht, anderem bei einer gro- dass viele Länder sie auch erreicht haben. Dabei muss ßen UN-Konferenz, dem „United Nations Summit to man regionale und nationale Unterschiede sehen. Eradopt the post-2015 development agenda“in New folgreich waren viele Länder in Ostasien und LateinYork vom 25. bis 27. September 2015 statt. Dabei wird es aber nicht nur um Armutsbekämpfung Angesichts der globalen Probleme wirken da Begehen, was ja der Kern der Millenniums-Entwicklungsziele war, sondern auch um globale schlüsse wie der kleinste gemeinsame Nenner. Wie Probleme wie Klima, Nachhaltigkeit oder Ressinnvoll sind diese dann überhaupt? „Was wäre die sourcenknappheit. Die neuen Sustainable DeAlternative?“ wolfgang muno velopment Goals definieren umfassend Entwicklungsziele wirtschaftlicher, sozialer, politischer und umweltpolitischer Art. Es bleibt aber amerika, die viele der Millennium Development Goals sicherlich offen, inwiefern solche umfassenden (MDG) erreicht haben, weniger erfolgreich waren LänZiele eher vage Wünsche darstellen oder konkreter der in Südasien und Subsahara-Afrika, die teilweise definiert werden. noch sehr weit entfernt sind. Was sagt das aus? Ostasien und Lateinamerika waren erfolgreich, weil die naDie UN-Millenniumsziele umfassen acht Punkte. tionalen Regierungen tatsächlich die Prioritäten ent18 Unterpunkte und 48 Indikatoren sollen die Fort- sprechend gesetzt haben. Zum Beispiel die linken schritte messbar machen. Kann man die gesetzten Regierungen, die seit der Jahrtausendwende in Ziele wirklich einfordern und wenn ja, von wem? Lateinamerika an die Macht gekommen sind und eine Ja, sicher kann man die einfordern, sie wurden ernsthafte Sozialpolitik betrieben haben − mit entspreschließlich von so ziemlich allen Akteuren im Rah- chenden Ergebnissen, was die MDG betrifft. Gleiches men der UN beschlossen. Wo man sie einfordern gilt für Ostasien, insbesondere China, wo die Kommukann? Bei den nationalen Regierungen, die dafür ver- nistische Partei das Land entwickeln will und bedeuantwortlich sind, aber auch bei Gebern von Entwick- tende Fortschritte in der Armutsbekämpfung erreicht lungshilfe. Wer kann sie einfordern? Wir als Bürger hat. In vielen Ländern Subsahara-Afrikas wie Südasikönnen von unseren Regierungen als Geber Prioritä- ens gibt es zwar auch Verbesserungen, aber die Ziele ten fordern, die Geber aber auch die jeweiligen Bürger sind oft nicht erreicht worden. Die Entwicklungsproblekönnten von ihren Regierungen in den betroffenen matik ist komplex, vereinfacht gesagt, zum einen bleibt


Ziel e sind o f t ni ch t errei ch t w o rd en


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vieles in Korruption und Misswirtschaft hängen, zum anderen haben die Länder auch einfach wenig Spielraum. Sie haben kaum wirtschaftliches Potenzial oder sind nicht in der Lage, ihre Ressourcen gewinnbringend auszubeuten, also so, dass auch etwas im Land bleibt, wie es Botswana etwa geschafft hat, der Kongo und viele andere Länder aber ganz und gar nicht. Warum tun sich die Industrienationen auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe so schwer − gemessen an einer gerechteren Handelspolitik oder einen erleich-

Hier sind Hil fen a l l er Ar t n ö t i g

terten Zugang zu neuen Märkten. Weshalb zögern viele vor der Erhöhung der Ausgaben, die in den meisten Staaten unter 0,5 Prozent des Bruttoinlands­ produktes liegen? Einmal hat Entwicklungshilfe nur eine untergeordnete Priorität, insbesondere in Zeiten von Wirtschaftskrisen. Außerdem sind Entwicklungsländer schlicht weit weg, sowohl geografisch als auch im übertragenen Sinne. Deutschland erreicht das selbst gesteckte Ziel der 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Entwicklungshilfe bei weitem nicht und


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wird es auch lange nicht erreichen. Die USA sind noch im 19. und 20. Jahrhundert mit den USA und Europa, weiter weg. Lediglich Großbritannien und kleine Län- nachdem sie entwickelt waren. Danach hat ein Entder wie Norwegen haben das Ziel erreicht. Wenn man wicklungsstaat (developmental state) durch gezielte einen ausgeglichenen Haushalt will, wird man an Eingriffe und Förderung in den erwähnten Ländern solchen Punkten Einsparungen machen. Aber Groß- Fortschritt ermöglicht. britannien hat gezeigt, dass ein politischer Wille nötig, aber auch hinreichend ist. Die Regierung Cameron Mit den heutigen Regularien der Welthandelsorganihat gezielt den Entwicklungsetat erhöht und hat so sation (WTO) ist solch ein Entwicklungsstaat aber in wenigen Jahren das 0,7 Prozent-Ziel erreicht, auch weil man sich aufgrund der Bei globalen Themen wie die Entwicklungs- und die Klimapolitik kolonialen Vergangenheit prägen Großkonferenzen das Bild. Inwieweit sind diese überseiner Verantwortung behaupt „global“ handlungsfähig? „Aus einer ,realistischen‘ Sicht wusst ist.

(im Sinne der politischen Theorie) wird dabei eher heiße Luft produziert beziehungsweise ,cheap talk‘, da prinzipiell nationale Interessen dominieren. Aus der Sicht der liberalen Theorie geht es darum, gemeinsame Interessen und Maßnahmen zu formulieren, was mal gelingt, mal nicht. Aus einer konstruktivistischen Sicht wiederum ist Kommunikation der erste, notwendige Schritt, und gerade solche Konferenzen dienen dazu, Probleme zu definieren und Positionen und Meinungen auszutauschen. Ob es dann zu Lösungen kommt, das ist eine andere Frage.“ wolfgang muno

Was aber könnte man besser machen, ohne noch mehr Gelder fließen zu lassen? Für die ärmsten Länder sind sicherlich erhöhte Hilfeleistungen sinnvoll. Ein Beispiel hierfür ist Nepal. Ohnehin eines der ärmsten Länder der Welt, durch geografische Faktoren extrem benachteiligt, ist das Land nun durch die schweren Erdbeben und Schäden noch mehr gebeutelt. Hier sind Hilfen aller Art nötig, damit das Land wieder auf die Beine kommt. Das dürfte noch Jahre dauern, wie man an Haiti sehen kann, einem weiteren Land, das nach einer Katastrophe schlicht internationale Hilfe aller Art benötigte und noch immer benötigt. Für Schwellenländer wäre sicherlich eine Marktöffnung der OECD-Länder und somit ein leichterer Zugang zu neuen Märkten hilfreich, aber das kostet – auch Arbeitsplätze bei uns.

nicht vereinbar, das heißt die internationale Wirtschaftsordnung verhindert ganz gezielt entwicklungsfördernde Maßnahmen. Zudem muss man konstatieren, dass viele der abgehängten Länder auch gar keinen funktionierenden Staat haben, um effektiv Entwicklung zu fördern. Außerdem bleiben Bereiche wie die Landwirtschaft außen vor und werden in Japan, den USA und der EU hochgradig subventioniert und protegiert. Obwohl man sich da nichts vormachen sollte: Bei einer kompletten Marktöffnung, könnte da ein afrikanischer oder indischer Kleinbauer gegen die großen Agrarkonzerne in Europa, den USA oder Brasilien konkurrieren? Die hätten keine Chance.

Für afrikanische Länder gibt es beispielsweise die „Everything-but-arms-Initiative“. Diese öffnet europäische Märkte für afrikanische Produkte, aber auch afrikanische für europäische. Nun haben afrikani- Was dann? sche Länder aber kaum konkurrenzfähige Produkte, Ganz das Gegenteil: Länder und Regierungen müssen außer ein paar Rohstoffen. Bei einem ungleichen Ent- eine gezielte Entwicklungspolitik im eigenen Land wicklungsstand profitieren aber nur die entwickelten betreiben, Armut bekämpfen und eine eigene, diverLänder von einer Marktöffnung, die anderen haben sifizierte Produktpalette aufbauen, nicht nur Rohstofkaum Chancen, sich gegen die Konkurrenz zu behaup- fe exportieren und nach Möglichkeit industrialisieten. David Ricardos Theorie der komparativen Kosten- ren. Dazu benötigen sie einen funktionierenden Staat. vorteile funktioniert nur unter ganz bestimmten Aber selbst wenn sie erfolgreich wären, gibt es wieBedingungen, die Ricardo selbst aufgelistet hat, die derum Probleme mit Nachhaltigkeit, Umwelt und aber von den Apologeten des Freihandels regelmäßig Klima. Wenn China das Entwicklungsniveau und den unterschlagen werden. Deshalb haben die Nachzügler Ressourcenverbrauch Europas erreicht, kann sich der im 19. Jahrhundert − wie Deutschland oder die USA − Planet verabschieden. Sie sehen: Ein kompliziertes auch keine Liberalisierung gefordert, sondern eine Feld. Die Post-2015-Debatte muss zeigen, welche Mögstaatliche Entwicklungspolitik betrieben – so wie lichkeiten und Chancen entstehen können. auch Japan, Taiwan, Südkorea oder China. Entwicklung durch Freihandel, das gab es für Großbritannien Mehr vom Autor unter zu.de/muno


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Impressum Herausgeber

Professorin Dr. Insa Sjurts, Präsidentin ZU

Chefredaktion

ainer Böhme R

Anschrift der Redaktion

Zeppelin Universität Universitätskommunikation Am Seemooser Horn 20 88045 Friedrichshafen

Redaktion

Rainer Böhme, Florian Gehm, Sebastian Paul

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Projektleitung & Art Direction Philipp N. Hertel

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