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Perspektiven

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«Künftig mehr agieren als reagieren und funktionieren.»

Wie hat die Pandemie uns, unsere Arbeit, unsere Pfarrei und Kirchgemeinde verändert? Mitarbeitende aus Pfarreien, Blauring und Generalvikariat über ihre Erfahrungen nach fast zwei Jahren Corona.

Rückmeldungen gaben mir den « Eindruck, dass die Musik in der Pandemie leere Räume füllen konnte und die Funktion von (Wort-)Gottesdiensten übernommen hat. Musik hilft, Trennung zu überwinden und das Gefühl von Einsamkeit zu verdrängen. Diese etwas andere Gewichtung hat den Wert der Musik als Teil der Kunst, der Kultur und des Gottesdienstes gesteigert.

Das Problem von Nähe und Distanz wurde zentral. Seit die physische Distanz grösser geworden ist, schätze ich zum Beispiel den Wert einer Umarmung mehr als vorher. Zudem hat uns die Pandemie einen Marschhalt verordnet. Künftig ist mehr Agieren als Reagieren und Funktionieren angesagt.

Die Kirche muss neu gewichten, und wir sollten flexibler auf Bedürfnisse eingehen. Der interkulturelle und interreligiöse Dialog wird wichtiger werden. Zudem hat uns als Team Corona näher zusammengebracht. »

Fotos: Manuela Matt

Bardia Charaf

Mit Corona war vor allem die Un-« beschwertheit Knall auf Fall weg. Wir mussten aus einer gelähmten Situation heraus Anlässe organisieren und sehr flexibel unterwegs sein.

Ich musste meine Lektionen anders gestalten, andere Formen ausprobieren, immer den Abstand wahren. Ich schickte viele Dinge nach Hause zu den Kindern und Jugendlichen, unter anderem auch digitale Botschaften in der Form von Videos. Die Maske irritierte die Kinder im Unterricht.

Viele Menschen sind empfindlicher und emotionaler geworden. So auch die Eltern der Kinder. Mit ihnen gab es mehr Konflikte als früher. Bei der Impffrage spüre ich die Spaltung im beruflichen und privaten Umfeld.

Wir haben in der Pfarrei Leute verloren, die sich sagen: Es geht auch ohne Kirche. Diese müssen wir zurückholen. Das setzt Offenheit für Neues, Anderes voraus, zum Beispiel Gottesdienste auf dem Bauernhof.»

Brigitte Broch

Beatrice Helbling-Wehrli Wir mussten neu herausfinden, « wo die Bedürfnisse der Pfarreiangehörigen jetzt liegen. Die Einzelfallhilfe wurde wichtiger, die Gemeinwesen-Arbeit nahm ab. Interessant war zu beobachten, dass viele Menschen in der Kirche eine Auszeit vom Homeoffice suchten und fanden.

Was wirklich fehlt sind die Unbeschwertheit und spontane Begegnungen. Wir müssen die Menschen in der Pfarrei wieder an Bord holen, mehr Präsenz zeigen und Netzwerke wieder reaktivieren. Wohltuend erlebt habe ich das Gefühl der Verlangsamung im Alltagsleben. Damit wurden Räume geöffnet für eine verstärkte Reflexion der Aufgaben und Arbeit, eine Rückbesinnung auf das Wichtige.

Der Online-Weg hat viele Möglichkeiten, aber auch Grenzen aufgezeigt. Vor allem aber müssen wir den Menschen noch besser zuhören, bei ihnen nachfragen, was sie wirklich brauchen. »

Don Carlo de Stasio

«Wir haben in der Pfarrei Leute verloren, die sich sagen: Es geht auch ohne Kirche.»

Brigitte Broch

Corona war wie ein Tsunami, « der über uns hereingebrochen ist. Wir waren in der Seelsorge nicht bereit für das, was kommt.

Für unsere Gläubigen haben soziale Anlässe und Kontakte eine grosse Bedeutung. Diese sind in der Coronazeit weitgehend weggebrochen. Wir haben sehr viele Gläubige verloren, rund ein Drittel taucht nicht mehr auf. Der Widerstand unter den Gläubigen gegen die Coronamassnahmen ist gross, auch Missionare haben ihre Vorbehalte.

Der Austausch mit den Gläubigen hat sich verändert. Wir orientieren weniger, vermitteln weniger Informationen, sondern sind mehr sozial unterwegs, weil dies so rar ist. Es braucht künftig ein noch stärkeres Zusammengehen von Missionen und Ortspfarreien. Es braucht auf beiden Seiten Seelsorgende mit mehr Kompetenzen zu interkultureller Pastoral.»

«Die Pandemie hat die Frage nach dem Wert eines Menschen aufgeworfen.»

Pfarrer Mario Pinggera

Wir haben in dieser Zeit einige « Menschen verloren. Über Livestream erreichen wir aber auch andere und zusätzliche Menschen. Hausbesuche werden immer wichtiger. Es ist das grosse Bedürfnis der Menschen, dass wir raus aus dem Büro zu ihnen in die Wohnungen und Häuser kommen, dass wir mit ihnen einen intensiveren Kontakt pflegen.

Ich habe während der Pandemie eine interessante Erfahrung gemacht. Die Pandemie hat Dinge offengelegt, die bisher nicht sichtbar waren. Es liegt viel Aggression in der Luft, die zwar vor Corona schon da war, aber erst jetzt an die Oberfläche tritt. Die lautstarke Totalverweigerung erstaunt mich und macht mir auch Angst. Insgesamt bin ich ruhiger und gelassener geworden. Belastend fand ich die hermetische Abriegelung von Pflegeheimen und Spitälern. Die Pandemie hat auch die Frage nach dem Wert eines Menschen aufgeworfen. »

Mario Pinggera

Anna Maria Caldarulo Kirchgemeinde Turbenthal Das Gemeinschaftsgefühl in der « Pfarrei hat gelitten. Viele haben sich zurückgezogen, auch ich. Wohl aus Angst vor dem Virus, blieben vor allem Familien mit Kindern weg. Bei den Seniorinnen und Senioren hingegen war die Angst vor der Einsamkeit grös - ser als die Angst vor einer Ansteckung.

Umgekehrt wünschen sich viele den aktiven Kontakt mit den Seelsorgenden. Organisatorisch mussten wir von der Kirchenpflege stärker mitdenken und das Seelsorgeteam bei den wenigen Anlässen und Gottesdiensten intensiver unterstützen. Gute und zuverlässige Informationsflüsse zu den Mitarbeitenden und Eltern wurden zentral.

Die Herausforderung wird sein, dass wir in der Öffentlichkeit aktiver und attraktiver auftreten. Sonst verschwinden wir in der Versenkung. Mit Blick auf die Neuwahlen im kommenden Jahr bin ich aber unsicher, ob sich nach dem Rückzug ins Private noch viele Leute ehrenamtlich engagieren wollen.»

Tanja Bosshard Jungwacht Blauring Zürich An Corona nervt mich vor allem « die fehlende Planungssicherheit. Noch immer ist unklar, ob wir den diesjährigen Weihnachtsmarkt durchführen können. Immer wieder war Flexibilität gefragt: Gruppenstunden mit oder ohne Masken, Zvieri der Kinder vor Ort oder zu Hause?

Künftig werden wir noch achtsamer, aufmerksamer und mit mehr Rücksicht unterwegs sein. Gerade was die mentale Gesundheit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen betrifft. Zudem werden wir künftig einen intensiveren Austausch mit den Eltern pflegen.

Ich selbst bin einerseits genervter als früher, gab es doch über Monate auf allen Kanälen und auch im privaten Gespräch nur noch Corona. Andererseits reagiere ich gelassener auf die Meinungen anderer, wenn es um die Einordnung der Pandemie geht.» Die Gespräche führte Aschi Rutz.

Was macht Corona mit uns? Blitzumfrage zum kirchlichen Leben

Wir haben in Kirchgemeinden und Pfarreien nachgefragt. 195 Pfarrer, Pfarreibeauftragte, Pfarreirats- und Kirchenpflege-Mitglieder haben geantwortet.

Hat sich in Ihrer Pfarrei coronabedingt das kirchliche Leben entscheidend verändert?

Ja

eher Ja

eher Nein

Nein

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Wie hat sich die Corona-Krise insgesamt auf das kirchliche Leben in Ihrer Pfarrei ausgewirkt?

Wird das Pfarreileben nach Corona wieder so sein wie vor Corona?

positiv

eher positiv

eher negativ

negativ

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Ja

eher Ja

eher Nein

Nein

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Mehr zur Umfrage und den zahlreichen Rückmeldungen im iKath.

«Eucharistie neu denken lernen»

Der Theologe Arnd Bünker (52) ist Titularprofessor der Universität Freiburg i.Ue. der Schweizer Bischofskonferenz.

Die ökumenische Studie Contoc* befragte in 22 Ländern Seelsorgende, welche Rolle digitale Angebote während der Corona-Pandemie hatten und wie sich ihre Arbeit durch die Pandemie verändert hat. Federführend bei der Studie war auch das Pastoralsoziologische Institut St. Gallen (SPI). Dessen Leiter Arnd Bünker berichtet über zentrale Ergebnisse für die Schweiz.

Sind die Kirchen «systemrelevant» oder nicht? Diese Frage wurde im Lockdown immer wieder gestellt. Können Sie heute eine Antwort geben?

Arnd Bünker: Der Bundesrat hat die Kirchen leider erst spät in den Blick genommen, die Präsenz der Seelsorge blieb auch deswegen im ersten Lockdown an verschiedenen Orten stark eingeschränkt. Aber dann erkannte die Politik, wie wichtig die Seelsorge gerade für die vulnerabelsten Menschen ist, vor allem auch in Heimen und Spitälern. Nach meiner Einschätzung führte diese Erfahrung zu einer nachhaltigen Stärkung der Seelsorge im Gesundheits- und Pflegewesen. Hier war Seelsorge tatsächlich systemrelevant.

Und wie wichtig waren die Gottesdienste, die ja auch über Wochen und Monate nicht stattfinden konnten?

Arnd Bünker: Wir haben keine Bedarfsanalyse durchgeführt, dazu wäre eine ganz andere Studie nötig. Wir wissen also nicht, wie stark die ausgefallenen Gottesdienste vermisst wurden. Wir haben uns auf die veränderten Arbeitsbedingungen der Seelsorgenden sowie die neuen, digitalen Angebote konzentriert.

Was sind hier die wichtigsten Erkenntnisse?

Arnd Bünker: Der erste Eindruck damals, wonach die meisten Seelsorgenden einfach die traditionellen Messen 1:1 in den digitalen Raum übertrugen, täuscht. Die Wirklichkeit ist viel differenzierter, auch wenn viele neue Ansätze unter dem Radar einer (kirchen)-öffentlichen Wahrnehmung blieben. Es entwickelte sich schnell eine breite Versuchslandschaft von digitalen liturgischen und gottesdienstlichen Feiern jenseits klassischer Gottesdienste. Damit verbunden war nicht einfach nur ein technologischer Sprung, sondern auch ein inhaltlicher Innovationsschub.

Wie sah der aus?

Arnd Bünker: Ein wichtiges Element war die Schärfung der Zielgruppe. Unsere traditionellen Sonntagsgottesdienste laden ja immer ‘alle’ ein, kommen tun aber immer weniger. Die neuen Angebote waren viel zielgrup-

penorientierter, richteten sich an junge Menschen, oder an Seniorinnen und Senioren oder andere Zielgruppen.

Hat das funktioniert?

Arnd Bünker: Ja, sehr oft. Bei den spezifisch anvisierten Zielgruppen erreichten die Angebote zum Teil auch neues Publikum. Auch wurde die klassische Rollenteilung oft aufgebrochen, womit offenbar unlösbare Strukturprobleme der katholischen Kirche mit ihrer hierarchischen Trennung in Klerus und Laien gegenstandslos wurden. Im ersten Lockdown waren viele kirchliche Regeln ausser Kraft gesetzt. Das hat bei vielen Seelsorgenden eine ganz neue Kreativität entfacht. Es ist zu wünschen, dass diese Aufbrüche nach der Pandemie nicht wieder versanden. Sie sollten Motivation dafür sein, unsere Seelsorgeangebote grundsätzlich zu überdenken.

Dann konnte die Kirche die Krise also als Chance nutzen?

Arnd Bünker: Ganz so einfach ist es nicht. Teilweise ist es tatsächlich gelungen. Hauptsächlich da, wo auch schon vor der Krise Aufbrüche gewagt und erprobt wurden. Aber es gab natürlich auch die andere Seite, wo klassische Messfeiern einfach vom leeren Kirchengebäude in den digitalen Raum verlegt wurden. Das ist sicher weniger nachhaltig. Das bestehende Repertoire wurde ohne inhaltliche Erneuerung ins Digitale übertragen, ohne die Eigengesetzlichkeit des Digitalen zu berücksichtigen. Es gab aber auch Seelsorgende, die vorher vor allem in der Liturgie engagiert waren, die fielen selbst regelrecht in ein Loch, wenn nicht gar in Depression. Das gehört auch zum Bild. Zusammengefasst gab es drei Reaktionen auf den Lockdown: Innovation, Verlagerung und Depression.

Soll man denn überhaupt klassische Gottesdienste übertragen?

Arnd Bünker: Auf jeden Fall, aber dabei die je eigenen Gesetze des Mediums berücksichtigen. Stille Zeiten, zum Beispiel beim Kommunionempfang, mit guter Musik überbrücken, keine langen Predigten, dafür mehr bildgerechte Zeichen. Und je nach

Das Schweizer Fernsehen schraubt die Gottesdienstübertragungen aber immer weiter zurück.

Arnd Bünker: Das Gottesdienstprogramm bei SRF ist zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. Hier zeigt sich die Randständigkeit von Religion in den öffentlichen Medien. Darin spiegelt sich aber auch, dass es auf Ebene Schweiz oder Deutschschweiz keinen ernsthaften Dialog auf Augenhöhe mit den Verantwortlichen des SRF gibt. So geraten die Potenziale der Religion für die Öffentlichkeit aus dem Blick und die Medienpräsenz

sinkt. Uns fehlten am Ende gerade in der Pandemiekrise eingespielte Kontakte und Beziehungen.

SRF argumentiert mit rückläufigen Zuschauerzahlen.

Arnd Bünker: Weil die Gottesdienste zu selten, kaum zielgruppenspezifisch und insgesamt thematisch zu wenig profiliert sind. Aber an den letzten Pandemie-Weihnachten hätte ich mich sehr über einen ästhetisch wie inhaltlich ansprechenden, gemeinsam von SRF, Bundesrat, den Bischöfen und der Reformierten Kirche und anderen gestalteten Gottesdienst oder eine auch religiöse Weihnachtsfeier im TV-Programm gefreut. Zu möglichst guter Sendezeit. Ich bin sicher, dass der auch Zuschauer gefunden hätte. Meines Wissens kam man aber weder seitens der Kirchen noch beim SRF auf die Idee.

Arnd Bünker: Die Eucharistie als «Quelle und Mitte des christlichen Lebens» ist ein schöner theologischer Gedanke, der aber von der Realität schon lange überholt ist. Empirisch spielt die Eucharistiefeier am Sonntag für viele Christinnen und Christen keine zentrale Rolle mehr. Das zeigt, dass wir Eucharistie neu denken lernen und neu feiern lernen müssen. Dieses Desiderat wurde durch die Erfahrung von Corona noch verschärft.

Haben Sie selbst während des Lockdowns digitale Gottesdienste angeschaut?

Arnd Bünker: Ja, schon rein aus

«Das Gottesdienst- programm bei SRF ist zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig.»

Arnd Bünker

Jeder noch so gute digitale Gottesdienst kann das konkrete Feiern der Eucharistie in einer kirchlichen Gemeinschaft nicht ersetzen, oder?

beruflichem Interesse. Aber nicht nur! In dieser Zeit gab es in meiner Familie Krankheitsfälle. Besuche im Spital waren nicht möglich. Da war auch für mich persönlich ein guter Gottesdienst eine spirituelle Stütze.

Das Gespräch führte Simon Spengler.

* Die CONTOC-Studie (Churches Online in Times of Corona) wurde in 22 Ländern durchgeführt. In der Schweiz wurde sie vom SPI und vom Zentrum Die Auswertung wird bis Ende Jahr eine auf Deutsch und eine auf Englisch

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