Urs Frauchiger: ‹Geschichten für Ruth›

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Geschichten für Ruth

Urs Frauchiger

GESCHICHTEN FÜR RUTH

Urs Frauchiger

Essays



Urs Frauchiger Geschichten für Ruth


Gedruckt mit Unterstützung der Ulrico Hoepli-Stiftung, Zürich. Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

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Urs Frauchiger

Geschichten für Ruth Essays



Inhalt

Wie dumm ist die Zauberflöte? . . .. . . . . . .. . . .. . . . .. . . .. .

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Der verschlossene Rosengarten . . . . .. . . . . . .. . . .. . . . .. . . ..

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Joseph Viktor Widmann und die Bedeutung . . . . . .. .

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Wandern . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . .. . . . . .. . .

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Archäologische Erinnerungen eines Wanderers . . .. .

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Pau Casals oder der eigene Ton . . . . . .. . . . . . .. . . .. . . . .. . .

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Quem e esta Senhora? . . . .. . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . .. .

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Gedichte in Lissabon . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . .. . .

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Von Elfen, Trollen und vom roten Faden . . . . .. . .. . . . . 105



Wie dumm ist die Zauberflöte? … was mich aber am meisten freuet, ist der Stille beifall (Mozart) Wie ein Mensch auf die Zauberflöte reagiert, sagt mehr über diesen Menschen aus als über die Zauberflöte. Das darf uns nicht daran hindern, etwas über die Zauberflöte zu sagen. Vielleicht sollten wir zuerst versuchen, etwas über die Oper an sich zu sagen, ohne in trockene Gattungsgeschichte zu verfallen. Mich interessiert vielmehr die Frage «Was darf die Oper»? Mit besonderer Berücksichtigung des Problems Darf Oper auch dumm sein? Sie muss nicht, aber sie darf! – Kurt Tucholsky hat verkündet, die Satire dürfe alles. Das hat allen Satirikern den Kopf verdreht und einigen den Kopf gekostet. Denn die Satire darf nicht alles. Dazu ist sie eine viel zu ernste Sache. Die Oper aber darf alles! Das ist ihre Raison d’être, und das gilt für alle Opern, für die Buffa, das Singspiel, die Operette, das Musical – aber auch, wenn nicht in noch höherem Masse, für die Seria. Das ist ihre gesellschaftliche Funktion und ihre Verantwortung! Wie wäre es sonst zu erklären, dass in einem todernsten historischen Stück der Held über die Bühne stürmt und singt: «Die Häscher nahen! Schleunige Flucht tut Not», und dann singt der diesen Text zehn Minuten lang, ohne dass jemand ruft: «Geh doch endlich, du Esel.» Im Gegenteil: Wir atmen auf und applaudieren. Wer in die Oper geht, betritt eine andere Welt, eine, in der alle Regeln der «real existierenden Welt», so es das über-

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haupt gibt, ausser Kraft gesetzt werden. Es ist nicht a priori eine bessere Welt, aber eine andere. Die ihr hier eintretet, lasst allen Dünkel fahren! Oper ist nicht vernünftig, nicht logisch, nicht real und schon gar nicht realistisch. Aber dumm? Viele Opern, wenn nicht alle, leben davon, dass die Dummköpfe am Schluss bestraft werden. Auf eine gescheite Art bestraft werden. Dürfen folglich der Librettist, die Librettistin nicht dumm sein? – Schikaneder gibt uns die Antwort: Er war mit Sicherheit kein Intellektueller. Ein Tunichtgut, ein Schlaumeier, ein Schelm, ein Schürzenjäger war er. Und gleichzeitig ein mit allen Wassern gewaschener Theatermann, auch Musicus, Regisseur, Librettist, Stückeschreiber und Schauspieler. Er spielte einen der ersten deutschsprachigen Hamlet, offenbar mit Anstand. Das soll ihm einmal jemand nachmachen! Für ihn war das Theater eine Rumpelkammer, der er entnahm, was er gerade brauchte. Das war nicht immer gescheit, aber dumm bestimmt auch nicht. Wie komme ich denn zu solchen Spintisierereien? – Vor geraumer Zeit lief auf 3Sat die Aufzeichnung einer «Zauberflöte im Steinbruch». Dadurch handicapiert, dass die Sänger ein Gesichtsmikrofon trugen, dass sie schwachsinnig und entstellend gekleidet waren und dass einmal mehr ein profilierungssüchtiger Regisseur die Sänger und, schlimmer noch, die Sängerinnen daran hinderte, ihren Beruf professionell auszuüben. Und dass die Drei Knaben die Protagonisten auf einem ERoller umkreisten und falsch sangen, weil ihr Hauptaugenmerk begreiflicherweise darauf gerichtet war, niemanden tot zu fahren.

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In den angeregten und erregten Diskussionen der folgenden Tage wurde unter anderem Schikaneders Drehbuch als das «dümmste Libretto der Operngeschichte» bezeichnet. Das traf mich mitten ins Herz. Es betrifft ein frühkindliches Erlebnis, das fortan mein Weltbild über den Haufen warf und prägte: Kurz vor Weihnachten war meine Mutter mit mir aus dem hintersten Emmental ins Berner Stadttheater zu einer Aufführung der Zauberflöte gefahren. Ich war schon schulpflichtig und auf meinem 3/4-Cello bis zum zweiten Band «Mittelstufe» gelangt. Auf Mozart freute ich mich; er war mir dank unseres vorsintflutlichen Radios ein Begriff. Auf der Hinfahrt versuchte die Mutter, mich auch auf die verworrene Handlung vorzubereiten. Das beängstigte mich eher, doch in der Aufführung fügte sich, dem pädagogischen Geschick meiner Mutter sei Dank, eines plötzlich problemlos ins andere. Ich sei aufrecht dagesessen und hätte mich überhaupt nicht bewegt. Es war zu viel für mich. Ich verstand nichts und gleichzeitig alles: die Schlange, die ich nicht aus dem Zoo, sondern aus der Bibel kannte. Die Drei Damen, eine Verzauberung, die ich noch nicht ganz verstand: Erotik, das Urelement der Oper, Papageno, der mein Freund wurde. Ihn dürstete nach einem «Lieben Weiblein» – schon wieder einer! Die bezaubernd schöne Bildnis-Arie, da hörte ich mehr als dass ich schaute. Die bezaubernd schöne Pamina. Und wieder die Drei Damen. Sie überreichen dem bezaubernd schönen Tamino die Zauberflöte. Mit meinem Cello hätte ich sie gleichwohl nicht getauscht. Und jetzt die Königin der Nacht, hoch oben in Glanz und Gloria, die noch höher hinaus sang, als sie schon stand oder schwebte! Warum stürzte sie nicht ab? (Ich war nicht schwindelfrei.) Die Drei Knaben – ohne Velo. Jetzt ein Hain, kein Wald, ein Hain. Säulen, ein Tem-

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pel der Weisheit. Was war das, Weisheit, von der ständig die Rede ist? Im Emmental gab es das nicht. Plötzlich ein «Schwarzer», damals sagte man «Neger». Dann ein drohendes Zurück! Fortissimo! Das Zurück, das gab’s im Emmental die ganze Zeit. Es dröhnte aus dem Hintergrund, alles tauchte hier aus dem Hintergrund auf. Schon wieder der «Neger», aber Tamino hat ein Glockenspiel, der «Neger» verschwindet tanzend, samt tanzenden Sklaven. Was sind das, Sklaven? Von ferne naht feierliche Musik, Pauken und Trompeten, Sarastro, ein steifer, merkwürdig gekleideter alter Mann tritt auf. Der «Neger» kommt zurück, schleppt Tamino herbei, der Pamina umarmt, die schon da ist. Der «Neger» – hier heisst er «Mohr» – trennt sie. Sarastro verurteilt ihn zu siebenundzwanzig Sohlenstreichen. Siebenundzwanzig, eine heilige Zahl. Und wofür wird er denn bestraft? Pause. Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nie ins Opernhaus kommen. (frei nach Matthäus 18,3) Mit dem Gemeinplatz «Mozart hat die Zauberflöte gerettet» ist es schon gar nicht getan. In Bezug auf den ersten Akt könnte man ebenso gut sagen, Schikaneder habe die Zauberflöte gerettet. Oder er habe jedenfalls Mozart gerettet. Mozart war, einige Wochen vor seinem Tod, nach den Turbulenzen mit dem Titus und all den privaten und finanziellen Querelen am Ende. Schikaneder hat ihn wieder aufgepäppelt, hat ihn kulinarisch verwöhnt und leider – es gibt keine konkreten Beweise, aber viele fiese Andeutungen – tüchtig mit ihm gezecht und hat damit einen seiner vielen Sargnägel

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eingeschlagen. Fest steht hingegen: Das Libretto machte Mozart Spass. Davon zeugen einige Briefe, das beweist vor allem seine Musik! Immer wieder muss er alles um sich herum vergessen haben, muss er glücklich gewesen sein. Glücklich! War er auch noch glücklich, als er den zweiten Aufzug komponierte? Sicher weniger. Und da kommen wir um die Freimaurerei nicht herum, die schon im Laufe des ersten Aktes aufscheint, aber da noch eher als ein weiteres Versatzstück. Jetzt beginnt sie zu überwuchern, sich breitzumachen wie ein Virus. Was war da los? Mozart und Schikaneder, beide waren sie Freimaurer. Sehr verschiedene Freimaurer freilich. (Den Dritten, der im Bunde gewesen sein soll, Karl Ludwig Giesecke, der sogar Teile der Freimaurerpassagen selber geschrieben haben wollte, wenn nicht die ganze Freimaurerei überhaupt, blenden wir aus. Er tut nichts zur Sache, und im Libretto findet sich kein Hinweis auf einen Stilbruch.) Schikaneder war auch hier ein unzuverlässiger Geselle, Opportunist wie immer, der vor allem sein Publikum durch die maurerische Mitgliedschaft zu erweitern suchte. Mozart aber glaubte. Nach dem Tode des Vaters, seines geistigen Präzeptors und Ermahners, war ihm ein Bezug zu diesen Bezirken weggebrochen. Das hoffte er hier wiederzufinden, und so spielte er das Spiel mit. Aber ganz konnte er sich auch nicht identifizieren. Seinen Freimaurermusiken, auch denen ausserhalb der Zauberflöte, haftet bei allem Glanz der Bassethörner etwas Unfrohes an, sogar ein gewisser «Dienst nach Vorschrift». Mit einer Ausnahme, einem Wunder: die Maurerische Trauermusik KV 477. In diesen 69 Takten tut sich das Universum seiner Seele

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auf – und schliesst sich sogleich wieder. Er vermochte es niemals mehr zu öffnen. Schon gar nicht in der Zauberflöte. Ist das ein Makel? Nein!! Wenn überhaupt etwas ein Makel ist, ist es das Verhalten der Rezipienten. Da gibt es die unheilbaren Nörgler, die Besserwisser, die Pedanten, denen die Gabe der Empathie abhandengekommen ist – und die Menge der verbohrten Mozartverehrer, die Mozart besser zu kennen meinen als alle andern. Mir scheint, Mozart kann man nicht anders begegnen als mit einer vorurteilslosen Bereitschaft für alles, was er macht – vorurteilslos heisst nicht kritiklos. Und dann sind noch die Regisseure. Sie werden gerade durch ein so turbulentes Geschehen wie das in der Zauberflöte dazu verführt, ihren trivialen Fantasien freien Lauf zu lassen, Mozart auf die Schulter zu springen und zu rufen «Hoppla da bin ich!». Ist es denkbar, dass sogar Goethe einer analogen Verlockung unterlag, wenn auch auf einer höheren Etage? Glaubte er vielleicht, da passiere etwas Faustisches, als er, analog zum Faust zwei, sozusagen eine «Zauberflöte zwei» in Angriff nahm, ein Unterfangen, dessen Absurdität er bald einsah? Lange Zeit diente er den Zauberflötenbefürwortern als Kronzeuge, die, wie Wolfgang Hildesheimer anmerkte, ihre Artikel mit der Wendung «Selbst Goethe …» einzuleiten pflegten. In einer Zeit des «Fack ju Göthe» hat auch diese Zauberformel an Autorität eingebüsst. Mozart hat da selbst Goethen nicht nötig. In der Zauberflöte hat er die Sache am Schluss gut zurechtgebogen, und Schikaneder hat nach Kräften vorgespurt. Gewiss sind noch manche Fährnisse zu bestehen: Papageno sorgt mehrmals für komische Intermezzi, bis er seine Papapapapapagena bekommt, und der Fortsetzung der leidigen maurerischen Prüferei verdanken wir die Arie der Pamina, die edelste Variante der klassischen Wahnsinnsarie. Die Drei

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Knaben erweisen sich endlich als dramaturgisch unverzichtbar, und wenn man der Wirrungen und maurerischen Irrungen langsam müde wird, greifen Librettist und Komponist zu den alten Tricks des Theaters: Ein Unwetter erhebt sich, unter Blitz und Donner tauchen die Mächte der Finsternis ab. Verwandlung: Sarastros Sonnentempel erstrahlt in einer Lichtschau. Jubelchöre! Mozart hat bessere geschrieben. Neun Wochen später war er tot. Kann man daraus etwas lernen? – Ich berufe mich auf Mozart: «In einer Opera muss die Poesie schlechterdings der Musik gehorsame Tochter sein.» Jedes Mal, wenn man sich irgendwo erdreistet, die Zauberflöte aufführen zu wollen, sollten sämtliche Ausführenden verpflichtet sein, dieses Zitat vor jeder Probe im Chor zu rezitieren, und der Dirigent wäre vertraglich gehalten, dieser Regel unerbittlich Nachachtung zu verschaffen. Aber welcher Dirigent könnte das überhaupt? Er müsste hochkompetent und zugleich demütig sein. Gibt es das? – Josef Krips und Bruno Walter haben es in ihren Zauberflöten erfüllt. Mariss Jansons hätte dem Anforderungsprofil ideal entsprochen, aber er starb, bevor er seine exemplarische Zauberflöte hätte realisieren können. Unter den Jüngeren könnte ich mir Lorenzo Viotti vorstellen. Dass er Schweizer ist, wäre kein Nachteil. Dieses Personal würde wohl von selber dafür sorgen, dass die Freimaurerei nicht unter dem lastenden, tragischen Gewicht erstickt. Es ist fast schon Tradition geworden, dass die maurerischen Passagen erst das «Eigentliche», die «Tiefe», das Numinose und das Metaphysische, kurz: das letzte Ziel bedeuten. Vergebliches Bemühen! Es führt zu nichts als zu langsamen Tempi, Pathos, dickem, nicht selten teigigem Klang; bei den Streichern zu einem aufgeregten Vibrato, «als

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ob sie das hitzige Fieber hätten», wie Vater Leopold in seiner Violinschule schrieb. Weg damit! Das ideologisch überladene Schiff muss Fahrt aufnehmen, man muss die Segel hissen statt sich ins Schwitzen rudern, Rückenwind gewinnen und in einer geheimnisvollen Unverbindlichkeit entschwinden. Selbst über den einen oder den andern Strich darf man diskutieren, das rät einer, der sonst, zumal bei Schubert, nicht die geringste Verkürzung der göttlichen Längen befürwortet. Aber auch hier: Federführend sind die Musiker, nicht die Dramaturgen. Giuseppe Verdi, der nächste ganz grosse Opernkomponist nach Mozart, ist exemplarisch: Am Schluss des Falstaff, seiner letzten Oper – vergessen wir nicht, auch die Zauberflöte ist Mozarts letztes Werk, nicht das Requiem – leistet er sich eine Fuge; sonst Inbegriff schwergewichtiger Gelehrsamkeit, bei ihm ein Wunder federleichter Grazie: Tutto nel mondo è burla … Und als Zugabe ein kleiner subversiver Vorschlag: Man entwende das Schloss, das Papageno den Mund verschliessen soll. Dem wird es nichts ausmachen; als geborener Stegreifschauspieler wird er die Szene auch ohne meistern. Alsdann montiere man es hinterrücks am Mundwerk des Regisseurs und werfe das Schlüsselchen in den tiefsten Abgrund. Das ist bereits die halbe Miete für eine perfekte Aufführung.

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Der verschlossene Rosengarten Jetzt bin ich oben. Der steile Fussweg ist gesperrt, weil auch der Rosengarten, wie alle Pärke und Anlagen der Stadt, virushalber gesperrt ist. Aber der Hohlweg nebendran vaut le détour mit seinen Bäumen im Park der kanadischen Botschaft, in denen Vögel erwachen, Tauben girren und gurren. Ich weiss nicht, wie sie alle heissen, die Vögel und die Bäume. Ahorn ist keiner dabei. Sollte es doch haben vor dem Sitz der Kanadier. Jedenfalls stehe ich da, über und vor einem Panorama, das seinesgleichen sucht: unten der Fluss. Ungenau, ihn die «Biegung des Flusses» zu nennen, so literarisch das auch tönt. Ein vollendeter Bogen ist es, der die Stadt umfasst, liebevoll umfasst, wenn man von den zeitweiligen Überflutungen der Unterstadt absieht. Zuweilen vielleicht auch etwas erstickend, jedenfalls nach Ansicht der städtischen Verkehrsplaner. Da unten die Altstadt, noch ein Jahrhundert älter als das Vaterland, das teure! Gut erhalten, ständig umgebaut und dessen ungeachtet irgendwo stimmig. Viel Fassade, «doch wie’s da drinnen aussieht, geht niemand was an». Weltkulturerbe und immer noch heimelig. Drei Kirchen: Direkt unter mir die Nydeggkirche. «Meine» Kirche, ich zahle da Kirchensteuer, zahle sie gern, obwohl ich die hundert Meter zwischen meiner Wohnung und ihr selten beschreite. Der Pfarrer ist gut, daran liegt es nicht. Er weiss den gewählten oder auferlegten Bibeltext von innen her aufzulichten, statt ihn mit Donnerstimme «auslegen» zu wollen. Ich bin einfach kein «praktizierender Christ», denn praktizierend darf man nur heissen, wenn man regelmässig den Gottesdienst besucht. Der Turm ist der eleganteste, am schlanksten aufragende nicht nur Berns. Ich sehe ihn von

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meinem Fenster aus auf gleicher Höhe. Letzte Nacht ist der erdnächste volle Mond hinter ihm fast beängstigend dunkelrot vorbeigezogen. Dann das Münster, ein eindrucksvoller und einladender Bau, das letzte sakrale Zeugnis der Spätgotik. Den Bernern sagt man nach, sie seien langsam und immer etwas hintendrein; «die Letzten werden die Ersten sein» – das geht nicht immer auf, aber manchmal schon. Die Spitze des Turms ist noch viel jüngeren Datums. Man setzte sie erst darauf, als der ausladende Palast der Bundesstadt aufgeworfen wurde und mit einer allzu wuchtigen toskanischen Kuppel das Münster zu überragen drohte. Das durfte nicht sein, so wenig wie in Rom ein Gebäude intra muros den Petersdom beeinträchtigen darf. Fast auf gleicher Höhe die bescheidenere neogotische Christkatholische Kirche. Da war mein erster Schwiegervater Organist und hat in jungen Jahren meine Frau und mich zu mancher Abendmusik geladen. Jeden Heiligen Abend haben wir auch die «Christnachtmesse» weniger bestritten als bereichert und vertieft, das darf man wohl sagen. Direkt gegenüber das plumpe spätgotische kantonale Rathaus, ebenfalls fleissig umgebaut. Hier zimmern holzgeschnitzte Figuren beiderlei Geschlechts hölzerne Gesetze. Ich wohne in Bern und in Lissabon. In den zwei schönsten Städten der Welt. Wenn ich in Bern bin, weihe ich, ja, es ist eine Weihestunde, fast jeden frühen Morgen dem Aufstieg hier hinauf. Gegenwärtig jeden Tag, denn seit Wochen sind die Morgen fast alle heiter. Und ich bin genau genommen virushalber in Quarantäne gefangen. Weiss nicht genau, ob ich überhaupt noch ins Freie dürfte. In einer Demokratie, die wir – nehmt alles nur in allem – zum Glück noch erleben, sind «vor dem Gesetz alle gleich». Das bedeutet, dass alle

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allen befehlen können, was nicht selten Schwierigkeiten zufolge hat, zumal Gesetzeslücken. Und durch die schlüpfe ich. Es ist nicht erlaubt und nicht verboten. Einkaufen darf man, «ums Haus herumlaufen» hat das Volk dem Volk sogar empfohlen. Doch wie soll ich bei mir im vierten Stock einer weitgeschweiften Häuserreihe ums Haus laufen? Ich müsste ja über die Dächer, und da ich mitnichten schwindelfrei bin, lasse ich es bleiben. Dafür halte ich andernorts die verbindliche «social distance» von zwei Metern zwischen zwei Menschenkindern peinlich genau ein. Das zwingt mich manchmal zu gewissen Zickzackkursen, was meiner Kondition nur dienlich ist. Angesteckt zu werden fürchte ich nicht, in meinem Alter darf man sterben, aber was ich niemals will, ist andere Menschen gefährden. Hier oben haben meine Augen freien Auslauf. Meist schweifen sie zuerst ins Weite: dorthin, wo die Stadt, von hinten durch die aufgehende Sonne beschienen, sich im Vagen verliert. So verliere ich meine Augen aus den Augen, bis sie, kokett herumschnüffelnd, zurückkehren. Ich weiss, wohin es sie zieht: Auf der rechten Seite der Häuserreihe am Nydeggstalden erhebt sich ein weisses Dreieck mit einem einzigen Fenster über die anderen Dächer. Und hinter diesem Fenster wohnen Ruth und ich seit 30 Jahren. Im vierten Stock ohne Lift. In der geräumigen Wohnung führt noch einmal eine Treppe hinauf zu einem Galeriezimmer. Ich wünschte mir immer ein Turmzimmer, so eins wie Montaigne hatte. Wenn ich dort oben arbeite, hat es etwas spitzwegisch Geborgenes. Wie ein grosses Zelt, sagt Ruth. Das mag von aussen gesehen, wo nur Engel Einsicht haben, so scheinen; von innen aber sehe ich unten durch die geöffneten Fenster auf ein Meer von grünem Blätterwerk. Ich müsste nur hinabsteigen, aus dem Fenster springen und wäre frei wie Italo Calvinos Baron auf

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den Bäumen. Will ich aber nicht, ich will ja schreiben – das hier schreiben. Durch das Fenster, das ich vom Rosengarten aus jetzt erblicke, sehe ich den ganzen Rosengarten, vor welchem ich gegenwärtig stehe. Eine in sich gespiegelte Welt. In diesen verzauberten Frühlingstagen sehe ich sowohl vom Turmzimmer wie von hier oben ein anderes Meer: ein Blütenmeer. Das beziehungsweise die eben verschwenderisch blühenden Bäume haben, so sagt man, «Japaner» der Stadt geschenkt. Durch die Blüten flimmern Fluss und Stadt wie in einem Märchen. Andere meinen, es mute impressionistisch an. Meinetwegen, ich sage: wie ein Märchen. Auch als ich fern von Bern arbeitete, habe ich einzurichten gewusst, dass ich jeweils zur Blütezeit in Bern weilte, denn das Turmzimmer habe ich klugerweise behalten. Der Blüten wegen. Seit zehn Jahren lebe ich wieder da, ungeachtet dessen, dass ich doppelt so viel Steuern zahle wie an der Zürcher Goldküste. Unter anderem auch der Blüten wegen. Bern ist eine gute Stadt. Wenn man genug hat von dieser Güte, ist man sogleich im Tessin oder am Genfersee. Oder im Jura. Oder im Puschlav. Dann ist die Schweiz schon fast zu Ende. Das reicht. Wenn nicht, fliege ich nach Lisboa. Jetzt kann ich nicht fliegen. Nun hingegen weiter, die paar Schritte hinauf zum Rosengarten. Der ist ja geschlossen, ich weiss. Aber er hat vier vergitterte Eingänge. Nicht dass ich darüber kletterte. Das schaffe ich nicht mehr. Zudem ist er bewacht, wie Wolf Biermann zu DDR-Zeiten sang: Das war in Buckow zur Süßkirschenzeit – Die Bäume steh’n an der Chaussee!

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Das war in Buckow zur Süßkirschenzeit – Die Bäume gehör’n der LPG! Die hat an jeden ein’ Zettel gemacht: Das Volkseigentum wird streng bewacht In der Nacht, in der Nacht – Und besonders in der Nacht! Jetzt ist ohnehin Morgen. Die flaumenleichte Zeit der ersten Frühe. Mörike: O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe! welch neue Welt bewegest du in mir? Was ist’s, daß ich auf einmal nun in dir von sanfter Wollust meines Daseins glühe? Das erste Gitter. Dahinter der grosse Spielplatz. Daneben eine Bibliothek für die gehobenen Parkbesucher. Jahrzehntelang standen meine Bücher auch darin. Ich weiss nicht, ob sie noch da sind. Habe nicht nachgeschaut. Ich halte mich an den Stäben fest. Singe innerlich Schubert: Der Kreuzzug. Ein Münich steht in seiner Zell am Fenstergitter grau, Viel Rittersleut in Waffen hell, die reiten durch die Au. Sehe schon fast die Hälfte des Parks, die gelben Blumenbanden, viele weisse Blüten. Die weite Grasfläche, auf der sogar Fussball nicht verboten wäre. Meine drei Birken, die mir näher sind als die drei Rütlibeschwörer. Das stumm gesungene Lied ist auch zu Ende:

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Es ist ja auch ein Kreuzeszug in das gelobte Land. Naja. Schräg gegenüber ein noch feudaleres Tor, auch vergittert. Ein grosser Park, eindrücklicher Baumbestand. Eine breitspurige Vorfahrt. Ein Herrschaftshaus, Gründerzeitstil: grosse Tafel an der Mauer: Galerie Jürg Stuker. Eine kleinere am Tor: Wenn Tor offen Achtung vor dem Hunde! Da drin gibt es gar keinen Hund. Herr Stuker hat das Tafelsilber, das Porzellan, überhaupt die wertvolle Habe des halben europäischen Hochadels – nein, nicht verscherbelt. Er hat sie «verauktioniert», eher über ihrem Wert. Das konnte er, weil er, der einstige Primarlehrer, einer der weltweit seltenen wirklichen Kenner war, und weil er diese jovial weltmännische Attitüde beherrschte, die die verarmten Aristokraten fast in die Knie zwang. Unser Streichquartett umrahmte lange Zeit seine Auktionen mit Haydn und Mozart. Wir fuhren vor der imposanten Eingangstreppe mit unseren Deux chevaux, Renault 4 und Morris Minor vor. Er bat uns nicht, wie es andernorts meist der Fall war, nach gehabter Performance unverzüglich zusammenzupacken. Wir durften bleiben, edle Weine schlürfen und Konversation mit den Notabeln pflegen, was wir fast so gut beherrschten wie das Spielen. Auch zahlte er durchaus angemessen, freilich nicht in bar. Er führte eine Art Milchbüchlein, in das er die Honorare persönlich eintrug. Traten wir im Ausland auf oder bespielten Schallplatten, deckte er daraus allfällige Defizite und rundete wenn nötig die Summe noch auf. Ehre seinem Andenken! Bis zum nächsten Eingang sind es nur ein paar Schritte. Mehr Zugang als Eingang, geschweige denn ein Tor. Daneben

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die Bedürfnisanlage. Sie sei «optimal hygienisch» heisst es. Warum ist sie denn geschlossen? Wäre doch besser, die einsamen Passanten könnten sich hier befreien statt im Freien. Von hier überblicke ich den Teich mit den zwei Monumentalgruppen. Sie sollen Europa und Neptun darstellen. Doch warum tun sie es in so naturwidrig invaliditätsanfälligen Posen? Bei Europa kann ich das zur Not noch nachvollziehen. Aber bei Neptun? «Mir wei nid grüble», sagen die denkfaulen Berner. Nun habe ich auch Einblick in das gepflegte Niemandsland zwischen dem eigentlichen Park und der hohen Friedhofsmauer. Ja natürlich, der Rosengarten war einmal der Friedhof von Bern. In der Stadt unten Verstorbene wurden via Untertorbrücke den Hang hinaufgekarrt. Extra muros, das war optimal hygienisch und setzte den Pestzügen ein Ende. Und we das Mailand wyter wär, vil tuusig Stund vo hie, mit Trummle und mit Pfyffe wei iz die Buebe zieh – Oli – he! mit Trummle und mit Pfyffe wei iz die Buebe zieh. Wes aber e luschtige Summer git, so blibt ke Bueb bim Schatz, im Röseligarte z Mailand hett ’s no für mänge Platz – Oli – he! im Röseligarte z Mailand hett ’s no für mänge Platz. Bis ins Jahr 1877 wurde der Rosengarten als Friedhof für die Berner genutzt, die sich nicht als Söldner in der Lombardei hinmorden liessen. Heute wachsen hier 223 Rosenarten. Nachzählen ist gestattet. 1956 wurde die Anlage grundlegend neu gestaltet. 1956! Da habe ich meine Matur gemacht.

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Im selben Jahr sind wir beide reif geworden, der Park und ich. Nun nähere ich mich der Klimax meiner Gänge. Ich laufe, aussen natürlich, der Friedhofmauer nach. Schon stehe ich vor dem repräsentativen Portal mit den vergoldeten – nein, nicht Spitzen, sondern Tannenzapfen. Vor mir die breite Kreuzallee des Parks, von jungen Lindenbäumen gesäumt. Das nenne ich lindengrün! Schumann, Erstes Grün: Du junges Grün, du frisches Gras, Wie manches Herz durch dich genas, Das von des Winters Schnee erkrankt, O wie mein Herz nach dir verlangt! Naja: erkrankt und verlankt. Aber Schumann macht alles wieder gut. Das muss man den Bernern lassen: Sie haben einen Sinn für die herrschaftliche, aber nicht allzu herrschaftliche Allüre: Fast unmerklich steigt die Allee an, bis sie zwischen zwei Urnen ins Offene mündet. Hinter der niedrigen Mauer am Abhang ist die Stadt verschwunden. Lauter Himmel, lauter Horizont, von der Landschaft vollendet gerahmt: links die bewaldete Senkung, vom Gurten, dem Berner Hausberg, bis ins Flachland – und sogleich sanft wieder aufsteigend, um endgültig Richtung Jura zu entschwinden. Dieser Blick ist mir nie aufgefallen, weil ich in besseren Zeiten den Park immer von der Seite her betreten habe. Erst jetzt merke ich auch, dass ich von aussen her das Gelände flächendeckend zu betrachten vermag, wenn ich die Ansichten durch die verschiedenen Tore innerlich zusammensetze und die Augen darin spazieren führe. Durch die

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Pandemie zum Outsider verbannt, wurde ich erst zum leibhaftigen Insider. Die Atemübungen vor den drei Birken gelingen mir von hier aus problemlos. Vielleicht sogar besser, weil niemand mich stört, nichts mich ablenkt, keine Touristen herumhetzen und wie besessen fotografieren. Warum fällt mir gerade jetzt eine schöne Geschichte ein: Eine Reisegruppe steht auf der Akropolis. Besser gesagt, sie steht eben nicht, die Leute hüpfen herum, balancieren auf den Säulenstümpfen, konterfeien sich gegenseitig, prüfen hastig, ob sie «gut herausgekommen sind», was der Fall zu sein scheint, obwohl man eigentlich nichts eingefangen hat als sich selber. Ein einziger älterer Herr steht wirklich still, schaut und schaut freien Auges. Bis eine Dame zu ihm tritt und fragt: «Sie Ärmster, haben sie ausgerechnet jetzt, auf dem Höhepunkt unserer Tour, ihren Fotoapparat im Hotel vergessen?» «Nein», sagt der Mann. «Um Gottes willen, so wurde er Ihnen gestohlen!» «Nein», sagt der Mann. «Ja aber, warum fotografieren Sie denn nicht?» «Ach, wissen Sie», sagt der Mann, «ich schaue es mir gleich jetzt an.» Dieser Mann bin ich. Brauche dazu nicht einmal nach Hellas zu jetten, was gegenwärtig ohnehin nicht ratsam sein dürfte. Ist etwa das gemeint mit dem «Das Land der Griechen mit der Seele suchend»? Kaum. Ich bin ja da. Drin und draussen zugleich. Anderswo und doch mit allem vertraut. Angst habe ich keine, obwohl ich nicht unbedingt mutig und tapfer bin. Wer hat mich da hineingestossen? Oder vielmehr ausgestossen?

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Ohne es zu merken, bin ich weiter der Mauer nach gegangen. Noch bleibt ein Tor. Auch das eher ein Portal, übermannshoch, sogar mit echten Spitzen. Aber nicht vergoldet. Es steht offen, denn es ist der Eingang für die Gärtner. Dahinter die Unterstände für das Werkzeug und die zuweilen recht aufdringlichen Motoren. Da verweile ich nur kurz auf der Schwelle. Viel ist nicht zu sehen, direkt vor mir ein einziger Blütenbaum. Mir scheint, der habe schon seit Monaten geblüht. Weit hinten drei jüngere schlankere, noch hellere Birken. Sozusagen Nachwuchsbirken für die nächste Generation. Ich wende mich zum Gehen. Heimkehren darf ich noch nicht. Mein Trainingsbedarf ist nicht gestillt. Ich brauche mehr Höhenmeter, hinauf, hinunter, den Biegungen und Bogen der Aare nach und wieder hinauf. Oh, ich kenne viele Wege, wo keine Leute gehen. Was vermeid’ ich denn die Wege Wo die andern Wandrer gehn, Suche mir versteckte Stege … «Durch vereiste Felsenhöhn» mache ich nicht mit. Im Frühling! Habe ja doch nichts begangen Dass ich Menschen sollte scheun. Welch ein törichtes Verlangen Treibt mich in die Wüstenein? Habe ich wirklich nichts begangen?

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Joseph Viktor Widmann und die Bedeutung «Josef Victor Widmann war mit Sicherheit ein bedeutender Mann. Doch die Betonung muss auf ‹war› gesetzt werden. Nur weil Widmann gewisse Dinge zur Sprache brachte, die seiner Zeit ‹voraus› waren, bedeutet keineswegs, dass er heute irgendeine Bedeutung für uns hätte.» Wer eigentlich hat den Literaturkritikern und -wissenschaftern die Lizenz für Verdammungsurteile erteilt? Zwar hat der Herr da oben die übliche Methode angewandt: Man federt zuerst ein wenig ab und heuchelt Objektivität, bevor man das Fallbeil sausen lässt. Bedeutung! Relevanz! Wenn ich das nur schon höre! Was zum Teufel soll das sein? Was bedeutet Bedeutung? Ist es möglich, dass Bedeutung so etwas ist wie ein Virus, etwas zwischen Sein und Nichtsein, das sich erst verwirklicht, wenn es an einer Zelle andockt beziehungsweise einer solchen aufhockt? Ich masse mir nicht an, die Frage beantworten zu wollen. Das gerade nicht! Wenn meine Ausführungen über Widmann eine Winzigkeit dazu beitrügen, dass man im Kunsturteil weniger urteilt und mehr darstellt, wäre ich längst zufrieden. Es gibt das beliebte Spiel «Liebs liebs Büseli – Bösi bösi Chatz», das selbst mit bescheidenen schauspielerischen und dramaturgischen Mitteln bei Kindern erstaunliche Wirkungen entfaltet. Leider spielen viele Leute das Spiel weiter, selbst wenn sie der genialischen Kindheitsphase entwachsen und längst zu faden Durchschnittsbürgern mutiert sind. Allein steht das Widmannbashing ja nicht: Der junge, zuweilen vorwitzige Paul Klee schrieb noch zu Lebzeiten Widmanns in sein Tagebuch: «Ich habe ein Opus vom Dichter unserer Stadt gelesen, das Drama: Die Muse des Aretin. Der

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Italienfreund und Italienwanderer spricht auch hier, nur dass es im Drama ein wenig peinlich ist. Als Feuilleton im Berner Bund ist solche Reisefrucht eher angebracht. Manchmal ist der alte Herr Redakteur ein wenig lüstern. Das soll dann das üppige Tizianische Venedig darstellen. Aber auch hier ist nicht aus dem Vollen geschöpft. […] Übrigens klar, dass so ein Nachschössling einer Nachrenaissance schwächlichen Blutes sein muss.» Und drei Jahre später: «Der Berner Bund kam mit einem Drama Oenone zu Wort. Man feierte einen Stadtdichter, und niemand kann etwas dagegen sagen. Es ist doch ganz natürlich. Ja, wäre er ein Prophet, dann schlössen sich die heimischen Tempel vor ihm.» Der letzte Satz zeugt von beträchtlicher Hellsicht: Die Berner beharren seit jeher auf einer fast krankhaften Abneigung gegen Überdurchschnittlichkeit. Kaum hebt einer den Kopf etwas zu auffällig, tuscheln sie: «Der soll bloss nicht meinen, er sei etwas Besonderes.» Weibliche Form inbegriffen. Nie werden sie begreifen, dass man zwar nicht besser, wohl aber anders sein kann. Das beginnt schon mit Albrecht von Haller. Als er mit Ruhm bekleckert vom Ausland heimkehrte, versorgten sie ihn als Direktor der Salzbergwerke von Roche. Und als Kaiser Joseph II. einen für damalige Verhältnisse aufwendigen Umweg auf sich nahm, um mit Haller einen halben Tag lang zu konversieren, zuckten sie die Schultern. Das geht weiter mit Bonstetten, Klee, Hodler, C. A. Loosli, Hugo Marti, Kurt Marti, Dürrenmatt. Letzterer rächte sich damit, dass er anlässlich einer Ehrung, die erst widerwillig absolviert wurde, als er längst weltberühmt war, das Preisgeld noch auf der Ehrentribüne an junge Leute verteilte.

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Am unerbittlichsten ging Karl Kraus mit Widmann um. Dieser hatte Krausens krause «Heine und die Folgen» zwar kritisch, aber auch in einem verständnisvollen und differenzierten Ton besprochen, der sich vom Aufjaulen der verletzten Journaille positiv abhob. Das war dem Eitlen zu wenig. Er schrieb in seiner Fackel: «Einer der unausstehlichsten Lobmeier in neudeutschen Literaturteilen ist sicherlich Herr J. V. Widmann in Bern. Zu der Neuen Freien Presse [der einflussreichsten Wiener Zeitung dieser Zeit] steht er in einem eigenartigen Reclametauschverhältnis. Sie kauft ihm nicht nur Feuilletons ab, sondern lobt auch alle seine Werke in eigenen Feuilletons, worauf er, nicht faul, flugs die Redakteure der Neuen Freien Presse im Feuilleton des Berner Bund lobt. Namentlich Herr Bruno Ganz steht mit Widmann im Verhältnis der Tour- und Retourbegeisterung.» So geht es fast eine Seite lang weiter mit krassen Beispielen der Tour- und Retourbegeisterung. Das ist ja nicht einmal falsch. Diese Praxis unterscheidet sich von der heute üblichen höchstens dadurch, dass die aktuelle mit weniger feinen Klingen geführt wird. Wir Deutschschweizer nennen das ebenso treffsicher wie selbstkritisch «Söihäfeli – Söitecheli». Das Zitat beweist immerhin, dass Widmann mindestens im «neudeutschen» Bereich eine führende Stellung gewonnen hatte – und dies aus eigenem Verdienst, denn er war fast der Einzige, der den geschmeidigen Wiener Feuilletonisten gewachsen, wenn nicht teilweise sogar überlegen war. Und es beweist weiter, dass der Berner Bund ganz allein dank Widmann eine «Bedeutung» (!) okkupierte, welche die Neue Zürcher Zeitung vorübergehend erblassen liess. Nun ist es aber an der Zeit, dass ich erkläre, wer Widmann eigentlich war. Geboren wurde er am 20. Februar 1842. Sein Vater war ein entsprungener Zisterziensermönch, der bald einmal mit seiner Familie nach Liestal ins Baselland umzog,

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Foto: Valérie Chételat

Urs Frauchiger Geb. 1936 im Emmental, ist Cellist, Musiktheoretiker und Schriftsteller, war Generalsekretär der europäischen Musikhochschulen, Honorarprofessor der Universität Bern, betreute die Musikabteilung im Studio Bern des Deutschschweizer Rundfunks, wurde 1977 zum Direktor des Konservatoriums und der Musikhochschule Bern gewählt, war von 1992 bis 1997 Leiter der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Er lebt in Bern und Lissabon.


Geschichten für Ruth

Einmal mehr erweist sich Urs Frauchiger als geist­ reicher und empathischer Erzähler. Mit ausgewiesener Kenner- und Leidenschaft bewegt er sich in den ­T hemenfeldern Musik – Literatur – Natur und ­Wandern. Seine hier versammelten Geschichten für Ruth sind jeweils in sich geschlossen und doch wie absichtslos ineinander verwoben.   Das Resultat: anregende, auf unterhaltsame Weise bildende Betrachtungen, die leichtfüssig daher­ kommen und von tiefer Durchdringung zeugen.

Urs Frauchiger

GESCHICHTEN FÜR RUTH Essays

Urs Frauchiger

Ein roter Faden ist ein roter Faden ist ein roter Faden. Entweder es gibt ihn oder es gibt ihn nicht. Zwingend kann er nicht sein. Darf er keinesfalls sein. Es gibt auch gute Bücher ohne «roten Faden». Sie sind sogar darum gut, weil sie keinen haben.   Dieses Buch da hat einen. Was sage ich? – Mehrere! Ein ganzes Netz von roten Fäden. Es ist Sache der Leserin, des Lesers, sie freizulegen. In diesem Fall sogar einer ganz bestimmten Leserin. Ich weiss, dass sie das kann.

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Zytglogge_Cover_Frauchiger_def.indd 7

03.09.21 13:51


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