Mark Pieth – Der Korruptionsjäger

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Mark Pieth Der Korruptionsj채ger



Mark Pieth Der Korruptions ­jäger im Gespräch mit Thomas Brändle und Siri Schubert

Zytglogge


Alle Rechte vorbehalten Copyright: Zytglogge Verlag, 2013 Interviews: Thomas Brändle Redaktion und Lektorat: Siri Schubert Korrektorat: Monika Künzi, Jakob Salzmann Umschlagsfoto: ZVG Gestaltung/Satz: Franziska Muster Schenk, Zytglogge Verlag Druck: fgb · freiburger graphische betriebe ISBN 978-3-7296-0860-3 Zytglogge Verlag · Schoren 7 · CH-3653 Oberhofen am Thunersee info@zytglogge.ch · www.zytglogge.ch


Inhalt

7 England ist wie ein zweites Zuhause für mich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     9 Das Thema Geldwäsche ist förmlich explodiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   34 Es geht nicht um Freispruch um jeden Preis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   54 Internationale Unterstützung für die OECD Anti-Korruptionskonvention . . . . . .   59 Akademische Arbeit mit Erfahrung aus der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   79 Weltweiter Kampf gegen Korruption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   90 Heikle Ermittlung bei Oil for Food . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Als Berater mit dem Weltbankpräsidenten im direkten Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . 127 FIFA oder das Engagement bei einer Mission Impossible . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Das Basel Institute on Governance mit internationaler Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Annex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Lebenslauf von Prof. Dr. iur. Mark Pieth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Publikationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158



Vorwort

Ich muss zugeben, als Thomas Brändle, ehemaliger FDP-Parlamentarier aus Zug und Autor zu verschiedenen Finanzthemen, mit diesem Buchprojekt an mich herantrat, habe ich zunächst etwas reserviert reagiert. Wohl vor allem aus dem Gefühl heraus, ich sei noch nicht ganz reif für diese Art von «Memoiren». Er hat mich aber – zusammen mit dem Verleger Hugo Ramseyer – vom Projekt überzeugt. Thomas Brändle hat sich auch gleich mit grosser Energie in die Recherche geworfen und es ist sein Verdienst, mit dem Blick von aussen alle möglichen Themen angesprochen zu haben. Er hat die Fragen zusammengestellt und die Interviews durchgeführt. Es ist ihm zu verdanken, dass dieses Projekt zustande gekommen ist. Siri Schubert, professionelle Journalistin mit über zehn Jahren Erfahrung als Auslandkorrespondentin in den USA für namhafte deutsche Medien, zeichnet verantwortlich für den Aufbau der Texte und die sprachliche Gestaltung der Interviews. Es ist ihr gelungen, die aus dem Schweizer Dialekt transkribierten Texte in eine ansprechende Interview­ form zu bringen, ohne dass dabei die Unmittelbarkeit des gesprochenen Wortes verloren gegangen wäre. Schliesslich möchte ich Hugo Ramseyer für seine konsequente Unterstützung des Projektes danken. Mark Pieth, Basel April 2013

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England ist wie ein zweites Zuhause für mich

Wie sind Sie aufgewachsen? Meine Familie stammt väterlicherseits aus Graubünden und hat erst vor zwei Generationen den Sprung von einer sehr traditionellen, landwirtschaftlich geprägten Welt in die akademische gemacht. Mein Grossvater Friedrich Pieth kam aus den Bergen nach Chur, um Historiker zu werden. Das war seine absolute Leidenschaft. Er war Lehrer an der Kantonsschule Chur und hat sich einfach brennend für die ­Geschichte der Region interessiert. Er hat auch das historische Standardwerk mit dem Titel «Bündner Geschichte» geschrieben, das noch bis in die 60er Jahre den Bündner Ehepaaren bei der Vermählung zusammen mit der Bibel überreicht wurde. Mein Grossvater hat auch am Entwurf des Stadtwappens von Arosa mitgewirkt. Und obwohl wenig Geld da war, konnten alle seine vier Kinder studieren. Mütterlicherseits (Bild 1) kommt meine Familie aus Appenzell, wo sie über Generationen Beizen und Metzgereien betrieben und handwerkliche Berufe ausübten. Der Vater meiner Mutter war bei der Bahn, er war Mechaniker auf einer Dampflokomotive. Mein Vater (Bild 2) kam als Chemiker von Chur nach Basel, als die Chemie in Basel noch in der Blütezeit war, bevor die pharmazeutische Industrie sie verdrängte. Er war auf die Herstellung von farbgebenden Pigmenten für Textilien, vor allem für Wolle, spezialisiert. Der Prozess war eher handwerklich ausgelegt, die menschliche Arbeitskraft war wichtig, dafür kam er mit wenig Maschinen aus. Das passte noch richtig in die letzte Phase der industriellen Revolution. Doch die ging auch hier zu Ende, die Basler Chemie wurde verkauft und mit ihr die ­arbeitsintensive Farbherstellung. Das war auch der Grund, warum wir 9


1  Doris Pieth-Müller

2 Jürg Pieth

nach England gingen. Die Firma Geigy, Arbeitgeber meines Vaters, hatte im Nordwesten Englands ein Unternehmen gekauft, das die Farbherstellung übernehmen sollte, und mein Vater gab sein Wissen gerne weiter. Die ganze Familie zog also 1958 nach Manchester (Bild 3), das war damals noch eine richtige Industriestadt und sehr bedeutend in der Textilverarbeitung. Es war ja gar nicht so lange nach dem Krieg, und die Nachkriegswehen waren in England noch deutlich spürbar. Manchester ist im Winter wirklich sehr, sehr düster. Wir waren fünf Jahre da, und später ist mein Vater immer wieder in andere Länder gegangen, um die Technologie weiterzuvermitteln. Erst nach ­Spanien und 10


3  Familie Pieth in England

Argentinien, dann in fernere Länder wie Indien und Pakistan. Da bin ich dann nicht mehr mitgegangen, es waren auch immer kürzere ­Aufenthalte über mehrere Monate und nicht über Jahre wie in England, aber was er von den Ländern zu erzählen hatte, hat mich immer fasziniert. Was sind Ihre eindrücklichsten Erinnerungen aus England? Das war eine sehr prägende Zeit, auch weil man dort bereits mit fünf Jahren in die Schule gesteckt wird. Das Schulhaus war ein rotes Backsteinhaus mit einer Kapelle und einem grossen Speisesaal, in dem es ganz furchtbar gestunken hat. Auch in den Schulräumen roch es 11


­ enetrant nach Ölfarbe. Es sah aus wie in einem Harry-Potter-Film. p Allerdings ging es dort nicht nur lustig zu. Wenn den Lehrern etwas nicht passte, wurde uns mit Stöcken auf die Hände geschlagen. Es war keine öffentliche Schule, sondern eine sogenannte ‹preparatory school›, die auf das Gymnasium im damaligen England vorbereiten sollte. Inzwischen hat sich das ganze Schulsystem allerdings komplett geändert. Für mich war es damals zunächst sehr anstrengend, überhaupt mithalten zu können, weil ich ja die Sprache nicht konnte. Glücklicherweise lernt man Sprachen als Fünfjähriger noch ziemlich leicht, so dass ich nach drei Monaten begann, Englisch zu sprechen. Dann wurde es auch leichter in der Schule. England war damals ein ganz anderes als das heutige europäische England in der EU. Manchester war vor allem im Winter durch den pechschwarzen Smog sehr dunkel, eine Kombination aus ungereinigter Kohle und Nebel, die permanent in der Luft hing. Genauso roch es in Berlin, als in Ostdeutschland noch mit Kohle geheizt wurde. Und

4 Schulklamotten mit 5 Jahren

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dann war da noch der typische englische Regen. Alles war also ziemlich rau und grau. Andererseits hatte es auch etwas sehr Heimeliges. Ich habe nach wie vor eine starke Beziehung zu England. Da ich dort einen grossen Teil meiner Kindheit verbracht habe, ist es ja wie ein zweites Zuhause für mich. Das hatte im späteren Leben sehr nachhaltige Konsequenzen, als ich Auseinandersetzungen mit der Regierung und Administration von Tony Blair hatte. Da konnte ich sehr heftig auf seine Vertreter losgehen, weil ich die Kultur und eben auch die Feinheiten der Kommunikation gut kannte, so dass ich auf eine Art sehr deutlich werden konnte, die noch höflich wirkte und deshalb besonders treffend war. Das hat die entsprechenden Leute sehr überrascht. Sie realisierten gar nicht, was mit dem Schweizer eigentlich los war. Sie wussten ja nicht, dass ich in ihrem Schulsystem gross geworden bin. Und ich habe einen grossen Vorteil: Ich kann Englisch. Gibt es noch weitere Anekdoten aus Ihrer Zeit in England? Das Skurrilste waren die Schuluniformen. Ich musste mir als Fünfjähriger jeden Morgen eine Krawatte umbinden (Bild 4). Heute trage ich deshalb wenn immer möglich keine Krawatten mehr. Aus Prinzip. Das Krawattentragen haben sie mir in der Schule gründlich ausgetrieben. Ausser wenn es eben ganz, ganz formell zugeht und ich beispielsweise einen Staatspräsidenten begrüssen muss. Komischerweise mussten wir zu Krawatte, Hemd und Blazer kurze Hosen tragen, auch im Winter. Mir wurde auch ziemlich schnell klar, warum. Auf dem Schulweg gab es Kämpfe und Rangeleien, bei denen man sich umstiess. Wir Kinder hatten ständig blutige Knie, und lange Hosen wären ja dann voller Löcher gewesen. Es war eine raue Welt, und auch die Erwachsenen in England gingen sehr derb miteinander um. Man denke nur ans Rugby oder an die Schlägereien in Pubs, die gehören ja ebenfalls zu England. Das war schon ein interessanter Gegensatz: Einerseits diese sehr förmlichen Schuluniformen, andererseits die Kämpfe, die ja auch nicht viel anders sind als bei den Schülern hier. 13


Welche Schulfächer mochten Sie besonders? Ich mochte sie alle nicht besonders. Es war aber auch wirklich eine seltsame Schule. Wir sassen in drei Bankreihen und wurden ständig neu eingeteilt, nach Rang. Nach Rang? Ja, ab der zweiten Klassen wurden unsere Sitzplätze nach Rang vergeben. Das Zeugnis sagte aus, an welcher Stelle man im Vergleich zu den anderen Schülern stand. Das wurde nach einem bestimmten Schlüssel in Prozenten zusammengezählt, und am Schluss war man dann eben Erster, Dritter oder Zehnter und sass entweder ganz vorne oder hinten auf dem Sünderbänklein. Die ganze Sache wurde sehr ernst genommen. Und der Streber war der Star? Klar, der bekam auch einen Preis am ‹Sports Day› oder am ‹Speech Day›. Wurde der Streber von den anderen verprügelt? Nein, im Gegenteil. Schulische Leistungen galten damals noch viel. Die Bankeinteilung war auch eine Vorbereitung auf die Zukunft. Die erste Bankreihe wurde für die Manchester Grammar School vorbereitet, die beste weiterführende Schule vor Ort. Die zweite Reihe war für die zweitbeste Schule vorbestimmt, und so ging es weiter. Das Elitedenken stand absolut im Vordergrund, das kann man sich in der Schweiz nur schwer vorstellen. Für mich war das eher skurril. Ich kann es aber heute bei den Engländern, die durch diese Schulen geschleust wurden und dann auch die entsprechende Universität absolviert haben, wiedererkennen. Ich schwamm ja eine Zeit lang im selben Strom, bin dann aber ausgestiegen, als wir in die Schweiz zurückkehrten.

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Warum machte Ihnen damals die Rückkehr in die Schweiz so zu schaffen? Ich hielt die Rückkehr damals als Zehnjähriger für weitaus schlimmer als das Weggehen. Meine Eltern hatten keine Chance, mich angemessen auf den Umzug in die Schweiz vorzubereiten, weil sie selbst davon ausgegangen waren, dass wir viel länger bleiben würden. Als wir wieder in der Schweiz landeten, konnte ich kein Schriftdeutsch, weder sprechen noch schreiben. Ich sprach nur Englisch und Bündner Dialekt. Ich hatte in England schon sechs Schuljahre absolviert, weil man dort früher eingeschult wird, hier kam ich in die vierte Klasse. Ich besuchte für ein paar Wochen eine Übergangsklasse, um Deutsch zu lernen, bevor ich ans Humanistische Gymnasium wechselte. Die Stimmung an der Schule empfand ich als sehr aggressiv. Noch aggressiver als in England? Erstaunlicherweise ja. In England gab es anfangs Kämpfe, um die Hackordnung festzulegen. Dann wurde es besser. Hier dauerte das Ganze länger und war auch ungleich heftiger. Als Aussenseiter und Fremder wurde ich hier praktisch gemobbt. Für die anderen war ich ja auch ein komischer Kauz, der noch nicht einmal die Sprache richtig konnte. Wie hat sich das geändert? Einige Jahre später wollte keiner der Lehrer mit den Schülern meiner Klasse, die als sehr schwierig galten, eine Schulaufführung ­machen. Die Aufführung war aber Voraussetzung, damit wir eine Maturareise machen konnten, denn durch Theateraufführungen wurden die Reisen damals finanziert. Dass wir kein Stück aufführen sollten, wollte ich aber nicht akzeptieren, also habe ich die Regie übernommen, nach dem Motto «Do it yourself». Wir haben es uns natürlich nicht leicht gemacht und das Filmskript ‹Zürich Transit› aus ‹Mein Name sei Gantenbein› von Max Frisch, genommen und es zum Teil als Film und zum Teil als Theaterstück aufgeführt. Es hatte etwa 30 Szenen und 15


viele Schnitte, und wir haben einen kleinen Teil als Film gezeigt und den Rest als Theaterstück aufgeführt. Also schon damals multimedial? Ja, das war 1972/73 in der siebten Gymnasialklasse. Das Theaterstück war so ein Erfolg, dass wir uns die fantastischste Maturareise leisten konnten. Nur leider haben wir zunächst keinen Lehrer gefunden, der mit dieser Bande verreisen wollte. Dann haben wir einen faszinierenden Turnlehrer gefunden, den Trainer der Volleyball-Nationalmannschaft, und der hat gesagt, er würde schon mitkommen, aber nur, wenn er das Ziel auswählen dürfte. Und wohin ging es dann? Nach Portugal. Zu einer Zeit, als Portugal noch kein Reiseland war. Das war noch vor der Nelkenrevolution von 1974. Diese Reise ins ­Salazar-Portugal und anschliessend im Franco-Spanien waren für mich die ersten tieferen Einblicke in die Welt der Diktaturen, sie haben mich sehr geprägt. Es war spannend, weil es auch das Portugal vor dem EU-Beitritt war. Später habe ich auch Bücher von Antonio Lobo Antunes wie ‹Das Handbuch der Inquisitoren› gelesen, und da wurde mir ­vieles, was ich dort gesehen hatte, plötzlich klar. Gibt es Vorbilder, die Sie in Ihrer Kindheit und Jugend besonders beeindruckt haben? Meine Jugend fiel mitten in die Nach-68er-Zeit (Bild 5). Da gab es auf der einen Seite Woodstock, auf der anderen Seite den Vietnamkrieg. Dazu kamen bestimmte Ereignisse, die mich sehr geprägt haben. Über den Regierungsputsch in Chile durch Augusto Pinochet und die Folgen war ich sehr erschrocken. Das schien ja auch sehr nah, weil die Flüchtenden bald darauf in die Schweiz kamen. Kurz vorher war etwas Ähnliches ja in der Tschechoslowakei passiert. Ich dachte damals nicht in politischen Blöcken; was den Tschechen widerfuhr, empfand ich als 16


5 Fahrausweis

genauso problematisch wie das Schicksal der Chilenen. Von den Leuten, die mich damals politisch beeinflussten, habe ich Bücher, also ihre Fantasien, gelesen. Eines davon war das Buch von James Connolly, einem katholischen Kommunisten und Vordenker der politischen Theorie, den man später zum Anführer des Osteraufstands von 1916 machte, der die Unabhängigkeit Irlands zum Ziel hatte. Connolly wurde von den Engländern hingerichtet. Es gab also schon Menschen und Ideen, mit denen ich mich intensiv auseinander setzte, es ist aber nicht so, dass sie meine Vorbilder waren. Ich und eine Gruppe von 17


Freunden haben sehr viel gelesen und diskutiert, aber wir wussten nicht, ob wir eher in Richtung Hippies oder eher in Richtung Politik gehen sollten. Auf der einen Seite waren da Persönlichkeiten wie Joan Baez oder Bob Dylan, die wir toll fanden. Auf der anderen Seite waren der Vietnamkrieg, Chile und die Tschechoslowakei. Das bildete das Spannungsfeld, in dem wir uns bewegten. Die politischen Themen sorgten dann auch für Spannungen am Familientisch. Speziell beim Thema Vietnam hatte ich heftige Auseinandersetzungen mit meinem Vater. War die nationale Politik auch ein Thema am Familientisch? Nein, der Vietnamkrieg war der Hauptkonfliktpunkt. Ich war danach lange weg, und dann standen andere Themen im Vordergrund. Mein Vater und ich mieden später auch bewusst die Themen von ­früher. Aber Sie hatten in der Jugend ja noch ein anderes Hobby. Ja, bevor ich anfing, mit Freunden politische Literatur zu lesen, machte ich etwas ganz anderes. Ich war Höhlenforscher (Bild 6). Als ich so um die 15 Jahre alt war, kletterten wir in einer Gruppe von vier, fünf Jungen, die völlig selbständig Abenteuer zu bestehen hatten, in Höhlen im Jura herum. Das war zum Teil recht gefährlich. Mit den Eltern haben wir darüber natürlich möglichst nicht gesprochen. Ist daraus das Archäologiestudium entstanden? Das wollte ich tatsächlich studieren, und ich habe auch an der Uni die entsprechenden praktischen Fächer besucht. Beim Höhlenforschen in der Jugend ging es aber um etwas anderes, nämlich darum, sich selbst zu testen und zu sehen, wie man reagiert und wie man mit der Angst umgeht, wenn plötzlich die Lampe ausfällt und es um einen herum völlig dunkel ist.

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6  Mit 15 Jahren in Bournois/Doubs, Frankreich

7  Mit 8 Jahren in Parpan, Graubünden


Welchen Sport mochten Sie? Leichtathletik mochte ich sehr gern. Laufen vor allem – die kurzen Sprints oder lange Distanzen, die Mittelstrecke mochte ich nicht so. Und natürlich Skifahren (Bild 7). Ich stand schon mit drei Jahren auf den Brettern. Auch während der Zeit in England gingen wir im Winter immer in die Bündner Berge zurück zum Skifahren. Wir waren jeweils einen ganzen Monat in Parpan. Später begeisterte ich mich für das Kajakfahren auf dem Meer. Das mache ich heute noch. Und Fussball? Fussball habe ich gar nicht gespielt. Volleyball und Faustball schon, aber nicht Fussball. Welche Literatur habe Sie bevorzugt gelesen? Als Kind las ich alles, was mir in die Finger kam. Später kam eine Phase, in der ich sehr ernsthafte, politisch-philosophische Bücher gelesen habe. Hannah Arendt und Ernst Bloch. Daneben viele Romane. Auch Kriminalromane? Ja, ich hatte ein ganzes Regal voller Krimis. Das war dann die leichte Lektüre. Da bin ich aber sehr wählerisch. Ich habe recht spezielle Sachen gelesen, die wahrscheinlich gar nicht so bekannt sind. Ich hatte eine ganze Sammlung, sicher 30 bis 40 Bücher von Arthur Upfield, einem australischen Kriminalromanautoren aus den 20er Jahren. Sein Protagonist ist halb Aborigine, halb Weisser, und die Handlung spielt immer im australischen Busch. Sie lesen Literatur ja auch gerne in der Originalsprache. Welche Sprachen ausser Englisch sprechen Sie noch? Französisch kann ich relativ gut, Spanisch und ein wenig Italienisch spreche ich auch. Aber Englisch ist immer noch meine stärkste Sprache. Da bin ich so gut wie Muttersprachler. Ich halte jede Woche zwei 20


Vorträge irgendwo in der Welt, neben meinen anderen Verpflichtungen. Die Reden schreibe ich jeweils mit leichter Feder im Flugzeug auf meiner Reise dorthin. Das Schreiben liegt Ihnen ja. Ursprünglich wollten Sie Journalist werden, begannen dann aber ein Archäologiestudium. Wie kam das? Gemeinsam mit einem Freund, der ebenfalls Journalist werden wollte, begann ich nach dem Studium aus eigenem Antrieb Reportagen zu schreiben und sie Zeitungsredaktionen anzubieten. Wir schrieben zum Beispiel über den Militärdienstverweigerer, der 1952 von Schweizer Grenzwächtern erschossen wurde. Die Geschichte war ­bizarr. Nachdem er eines abends in der Schweiz in Flüh in seiner Stammkneipe gewesen war, wurde er auf dem Heimweg ins Elsass erschossen, als er über die Grenze nach Hause ging. Wir recherchierten vor Ort und arbeiteten die Archive durch und wollten sehen, ob wir das Zeug zu Journalisten hatten. Einiges wurde auf diesem Weg tatsächlich veröffentlicht. Mein Freund verfolgte den Weg weiter und ging zur Neuen Zürcher Zeitung. Ich wollte studieren, um dann Journalist zu werden, wählte aber eine unmögliche Fächerkombination: Geschichte, Deutsch und Wirtschaftspolitik. Und habe dann noch Archäologie dazu genommen. Nach vier Semestern war mir klar, dass mir der Fokus fehlte und ich nur noch an Geschichte interessiert war. Ich hatte damals ­einige Freunde, die Jus studierten. Sie schrieben Dissertationen und wurden Strafverteidiger. Der ehemalige Nationalratspräsident Claude Janiak war einer von ihnen. Ich fand das alles sehr spannend und ­begann nun ebenfalls mit Jus. Ich hatte ja einiges aufzuholen, weil ich schon eine Weile studiert hatte, und wollte Vollgas geben. Es gab da auch eine Gruppe von älteren Studenten, die es wie ich eilig hatten, und wir lernten sehr konzentriert und effizient.

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Wer hat Sie denn am meisten beeinflusst? Das war im Grundstudium auf jeden Fall Professor Günter Stratenwerth (Bild 8). Er war sehr, sehr gut und hat ganze Generationen schwer beeindruckt. Seine rechtsphilosophischen Seminare fanden zum Teil nicht an der Uni, sondern reihum bei den Studenten zuhause statt. Ich wohnte damals im Dachstock eines Basler Altstadthauses aus dem 13. Jahrhundert am Spalenberg. Die Dachschräge reichte bis auf den Boden. Es war recht eng, und wir sassen alle im Schneidersitz auf Kissen auf dem Boden – auch Professor Stratenwerth. Nur ein älterer Student, ein Studienkollege von Professor Stratenwerth, sass immer auf dem einzigen Schaukelstuhl, warum, weiss ich nicht. Trotz der lockeren Umgebung ging es in den Seminaren sehr ernsthaft zu. Wir lasen die Schriften von Philosophen und 8  Prof. Theoretikern wie Jürgen Habermas und Niklas Günter Stratenwerth Luhmann. Davon habe ich auch später noch lange profitiert. Und Ihr Berufswunsch kristallisierte sich damals auch heraus? Ja, ich wollte damals Strafverteidiger werden und hatte eine etwas romantische Vorstellung von Strafverteidigern entwickelt. Der Vater eines Studienkollegen war Zivilrichter und sagte mir: «Das lässt du besser sein. Den Beruf gibt es in der Schweiz gar nicht.» Mir wurde erst später so richtig klar, wie Recht er hatte. Damals herrschte in der Schweiz noch die Inquisition. Der Strafverteidiger war vom gesamten Vorverfahren ausgeschlossen und durfte am Schluss lediglich ein Plädoyer halten. Ich habe über diesen Missstand später ein Büchlein mit dem Titel «Strafverteidigung wozu?» geschrieben und auch zu diesem Thema promoviert. Titel meiner Dissertation war: «Der Beweisantrag im Schweizer Strafrecht», und als ich 1984 damit fertig war, erhielt ich in der Martinskirche einen Preis. In der Laudatio hiess es: «… dafür, 22


dass er in vorzüglicher Weise darlegt, wie lebendig die Inquisition in der Schweiz heute noch ist.» Mit der neuen Strafprozessordnung hat sich Vieles geändert, aber damals traf es den Kern ziemlich genau. Sie wurden dann aber nicht Strafverteidiger, sondern Assistent. Ja, das wollte ich eigentlich schon vorher, ich dachte nur zunächst, dass das nicht möglich sei, weil Professor Stratenwerth schon genügend Assistenten hatte. Er sagte mir aber, dass es einen neuen Professor gebe, Detlef Krauss (Bild 9), der Assistenten brauchen könne. Also bewarb ich mich und wurde erster Assistent von Professor Krauss. Ich arbeitete vier Jahre für ihn, während ich meine Dissertation schrieb. Ich hatte grosses Glück, weil ich mit Detlef Krauss mit einem Gegenmodell zu meinen bisherigen Lehrern konfrontiert wurde. Er war wie ein sehr direkter, nicht sehr pflegeleichter «grosser Bruder», wie er selbst später einmal sagte. 9  Prof. Er liess sich auf jede Diskussion ein und war auch Detlef Krauss bereit, sie auszutragen. Leider ist er inzwischen verstorben. Wie haben Sie Ihre Frau Ilse kennengelernt? Ihr Cousin war damals auch einer der Höhlenforscher. Als er den Militärdienst verweigerte, kam ich zu seinem Prozess im Schloss Thun. Dort lernte ich dann Ilse kennen, und wir verliebten uns. Ich war damals knapp 20 Jahre alt. Fünf Jahre später, als unsere Tochter Jenny zur Welt kam, heirateten wir. Ilse unterrichtete bereits Englisch und Geschichte an einem Gymnasium, und ich habe noch studiert. Wir wohnten damals in einer Wohngemeinschaft, das war eine ganz spannende Sache. Das Haus stand neben der Mission und gehörte der Handelsgesellschaft UTC, die in den Ländern, in denen die Mission aktiv war, Handel betrieb. Die Gesellschaft geriet später furchtbar in Verruf, 23


aber das ist eine andere Geschichte. Damals gehörte das Haus mit 20 Zimmern und etwa 2000 Quadratmetern Land mehrheitlich der Familie Preiswerk. Es war ein sehr schönes Haus, von hohen Mauern und Bäumen umgeben, und obwohl es mitten in der Stadt stand, fühlte man sich fast wie in einem Wald. Das Haus stand unter Denkmalschutz und durfte nicht abgerissen werden. Der neue Eigentümer, die Bürgergemeinde, wusste nicht so recht, was er mit dem Haus anfangen sollte. Also meldeten wir uns und sagten, dass wir es gerne übernehmen und renovieren wollten. Die Bürgergemeinde stimmte zu, die einzige Auflage war, dass wir beim Renovieren sauber malen sollten. Die Farben waren egal. Also legten wir los und renovierten. Es wurde tatsächlich sehr schön und bunt: orange, aubergine und ein exotisches Gelb. Wir waren vier junge Familien, die das Haus gemeinsam bewohnten. Es kamen dann im Laufe der Zeit immer mehr Kinder hinzu, bis es schliesslich acht waren. Wie haben Sie denn die junge Familie und Ihre Arbeit unter einen Hut bekommen? Wir organisierten uns in der Wohngemeinschaft so, dass vier Erwachsene an jeweils einem Tag ganz für Kinder und Haushalt zuständig waren. Für mich hiess das also an einem Tag einkaufen, kochen, Kinder in den Kindergarten, die Spielgruppe oder die Schule bringen, aufräumen, sauber machen, alles, was eben dazugehört. Dafür hatte ich dann aber wieder vier Tage zum Arbeiten. Das war sehr gut für mich, denn ich arbeitete zwischen 1988 und 1992/3 beim Bundesamt für Justiz in Bern und konnte dann vier Tage in der Woche dort sein. Zunächst haben Sie aber noch studiert. Wie haben Sie denn das Studium und den Lebensunterhalt finanziert? Damals war es noch möglich, mit relativ wenig Geld über die Runden zu kommen. Heute ist das weitaus schwieriger. Ich habe vier Jahre lang als Chauffeur für eine Warenhauskette gearbeitet. Das war sehr 24


abwechslungsreich, ich wurde immer dort eingesetzt, wo es etwas zu transportieren gab. Am frühen Morgen schon ging es los, da holte ich Gemüse aus der Markthalle, und ich fuhr damit zu diversen Geschäften in Kleinbasel. Wenn ich zurück kam, stand schon ein Lastwagen mit Möbeln bereit, und ich schwärmte mit einem Freund aus, um die Möbel auszuliefern und aufzubauen. Das waren echte Billigmöbel, mit denen wir die Neubauten im Baselbiet und im Aargau versorgten. Sie fielen zum grossen Teil bald wieder auseinander und mussten von uns wieder abgeholt werden. Abends wurden wir dann als Fahrer für den Partyservice eingespannt. Heute wäre das so nicht mehr möglich. Nein, ich glaube, heute gibt es solche Jobs kaum noch. Und die kleinen Summen, die wir damals verdienten, würden heute auch nicht mehr reichen. Wir lebten in studentischen Wohngemeinschaften und brauchten 300 bis 400 Franken für die Miete und dann noch mal 400 bis 500 Franken zum Leben. Wir kochten abwechselnd und lebten auch sonst nicht übertrieben luxuriös. Aber wir hatten nicht das Gefühl, dass uns etwas fehlte. Nach der Assistentenzeit und dem Advokatenexamen erhielten Sie ein Stipendium und gingen 1986 ins Ausland, erst ans Max-Planck-Institut für Internationales und Vergleichendes Strafrecht in Freiburg im Breisgau und später dann nach Cambridge. Ich hatte ein dreijähriges Auslandsstipendium erhalten und nutzte die Zeit, um meine Habilitation zu schreiben. Wer im deutschsprachigen Europa Professor an einer juristischen Fakultät werden möchte, muss eine Dissertation und eine Habilitation verfasst haben. Ein Auslandsaufenthalt ist dabei sehr wichtig, um andere Perspektiven kennenzulernen. Ich ging für zwei Jahre nach Freiburg und für ein Jahr nach Cambridge. Interessant war neben der Forschung und den Erfahrungen im Ausland auch der Kontrast zwischen den beiden Einrich25


tungen: Das Max-Planck-Institut ist ein reines Forschungsinstitut mit 200 fest angestellten Mitarbeitern, eine richtige Forschungsfabrik also, während am Cambridge Institute of Criminology auch unterrichtet wird. Das Max-Planck-Institut ist sehr hierarchisch organisiert, während es in Cambridge in einem typisch englischen Arrangement fünf gleichrangige Professoren gibt, daneben sehr wenig Personal und nur ein paar Forscher. Stattdessen kommen Akademiker aus der ganzen Welt nach Cambridge, um Kurse zu besuchen oder zu unterrichten. Das tat ich auch häufig und war dann ein ‹visiting fellow›, das ist jemand, der Narrenfreiheit hat und an seinem eigenen Buch schreibt. Wie haben Sie die Zeit in Cambridge in Erinnerung? Ich war mit der Familie zweimal längere Zeit in Cambridge, einmal für ein halbes und dann für ein ganzes Jahr. Das Cambridge Institute of Criminology war ein Ort, an dem intellektuell sehr viel lief. Und nicht nur dort (lacht) – auch das Wasser lief. Das Dach des Instituts war undicht, und wir mussten Eimer unter die Decke stellen, damit es uns nicht auf die Computer regnete. Das war schon eindrücklich: Nebenan waren diese wunderschönen mittelalterliches Colleges, so wie man Cambridge eben kennt, das Cambridge Institute of Criminology war aber nur eine Baracke. Es war einfach kein Geld da. Inzwischen gibt es aber ein neues Gebäude mit einem dichten Dach. Der Umzug als Familie war unkompliziert. Wir mieteten ein schmales Häuschen am Stadtrand, direkt an einem Fluss, mit einem lang gestreckten Garten. Hinter dem Gartenhäuschen reichten die Wiesen bis zum nächsten Dorf. Wir kauften Fahrräder und meldeten die Kinder in der Schule an. Das war ganz anders als auf der ‹preparatory school›, die ich besucht hatte. Wir gingen mit den Kindern in die Schule und stellten uns vor. Niemand fragte nach unserem Status oder wollte sonst irgendetwas wissen. Es klappte alles wunderbar. Am nächsten Tag waren unsere beiden Töchter, Jenny und Aline, in der Schule, und eine Woche später hatten sie bereits Freunde und Freundinnen. Die 26


10  Jenny, Ilse und Aline

Schule hat unseren Töchtern ältere Schüler zugeteilt, um ihnen beim Eingewöhnen zu helfen. Jenny und Aline (Bild 10) haben auch die Sprache sehr schnell gelernt, und bald lernten wir auch die Eltern von ihren Schulfreunden kennen. Wir hatten einen sehr netten Freundeskreis von Kollegen aus der Uni, Leuten, die ich von den vorherigen, kürzeren Aufenthalten kannte, und dann kamen eben noch die Eltern der Schulfreunde dazu. Es war eine lebendige, spannende Zeit. Warum war die Erfahrung für Ihre Töchter so anders als Ihre eigene in der Preparatory School? Das Schulsystem hatte sich stark verändert. Es ist sehr viel kinder­ gerechter geworden. Es war zum Teil das Ergebnis eines kulturellen Wandels, England war ja inzwischen der EU beigetreten. Aber es liegt vielleicht auch daran, dass in Cambridge einfach ein anderes Klima herrschte und die intellektuelle Elite vielleicht gar nicht wollte, dass ihre Kinder so malträtiert würden, wie sie selber es hatte erleiden müssen. Die Eltern wollten wahrscheinlich für ihre Kinder lieber interessanten und altersgerechten Unterricht als stures Pauken und Schläge auf die Hand. 27


Beim Cambridge Institute of Criminology denkt man ja eher an James Bond, den MI6, Scotland Yard und modernste Spionage-Technik. (Lacht). Criminology sucht vielmehr nach Erklärungen, warum Menschen kriminell werden und wie sich die Kriminalität ausbreitet. Dabei geht es nicht um Polizeiwissenschaft, sondern um viel tiefer gehende Forschung. In Cambridge treffen sich die Experten auf diesem Gebiet, um Grundlagenforschung zu betreiben. Das ist schon ein guter Ort, auch wenn die Infrastruktur damals noch nicht so gut war. Heute ist sie aber viel besser. Sie selbst haben ja auch schon einmal die Aufmerksamkeit des Staatsschutzes auf sich gezogen. Es wurde in Bern eine Fiche über Sie angelegt, weil Sie gegen den Vietnamkrieg demonstriert hatten. Was stand da sonst noch drin? Das ist eine amüsante Geschichte. Es stand dort drin, dass ich in der Anti-Apartheid-Bewegung für Südafrika aktiv war. Ich wusste erst gar nicht, wie die Ficheure darauf kamen. Allerdings wohnte die Chefin des Südafrika-Boykotts auch in unserem Haus. Sie hatte sich ab und zu mein Auto ausgeliehen, um ein Strassentheater aufzuführen. Da haben die Ficheure wohl ganz pflichtbewusst die Autonummer notiert. Das waren relativ schlichte Gemüter. Ich habe sie später alle beim Bund kennen gelernt, als ich mithalf, sie auf die Verfolgung des organisierten Verbrechens umzuschulen. Ich weiss allerdings nicht, ob es etwas genützt hat. Das waren dieselben Leute? Ja, und es war ganz lustig, sie zu sehen. Es gab damals beim Bund 250 Ficheure, und danach konnte ich mir schon eher eine Vorstellung darüber machen, was das für Leute waren. Die Berichte gaben nicht zu viel her, es waren die Hälfte oder sogar drei Viertel geschwärzt. Wenn man die Fiche anforderte, konnte man ja die Namen und alles, was die Ficheure identifiziert hätte, nicht lesen. 28


Wie steht denn Ihre Familie zu Ihrer Arbeit? Die Fiche beim Staatsschutz war ja wahrscheinlich noch das Harmloseste, was Sie über sich ergehen lassen mussten. Ja, die Kinder haben manchmal Anrufe von Spinnern entgegennehmen müssen, die meinten, ich müsste ihnen helfen. Ich war ja viel in Bern, und wenn so jemand anrief, wussten meine Töchter nicht, was sie machen sollten. Sie hörten sich die Geschichten deshalb geduldig an. Zum Teil hat es sie amüsiert, zum Teil fanden sie es richtig blöd. Es gab seltene Momente, in denen es richtig unangenehm wurde. Es gibt ja diese Briefe, die angeblich aus Nigeria kommen und in denen die Zahlung von 30 Millionen Dollar versprochen wird, wenn man nur eine Bearbeitungsgebühr von 5 Tausend Dollar zahlt. Normalerweise ist so etwas ziemlich harmlos, aber wir bekamen einmal einen handgeschriebenen Brief, an dessen Ende «Liebe Grüsse an Aline und Jenny», also an meine beiden Töchter, stand. Das ging natürlich zu weit. Es war nicht so einfach, die Namen meiner Kinder herauszufinden, es musste also jemand gewesen sein, der sich die Informationen beschafft hat und dabei schon ziemlich nah an die Familie herangekommen ist. Das hat meine Töchter dann auch sehr verstört. Eine Ihrer Töchter schenkte Ihnen eine Visitenkarte mit dem Titel ‹Workaholic›. Sind Sie das? Natürlich. Auf eine Art bestimmt. Aber das ist hier an der juristischen Fakultät jeder. 60 Stunden die Woche sind normal, sonst schafft man die Arbeit nicht, das macht jeder Professor, der etwas auf sich hält. Wenn ich mein Programm für die Woche schaffen will, muss ich am Wochenende Anlauf nehmen, sonst wird das nichts. Aber ich habe natürlich auch andere Interessen. Wenn ich auf Reisen bin, schalte ich oft ganz ab. In Borneo bin ich mit einem Führer durch den Urwald gestapft, fernab von jeder Zivilisation. Geschlafen haben wir auf dem Boden, auf einem Holzbrett. Das war in Sarawak, im Dschungel von Borneo, also die Gegend, in der auch Bruno Manser aktiv war und in 29


der er mit den Penan gelebt hat. Unser Essen mussten wir in unseren Rucksäcken mittragen. Als ich in Bolivien arbeitete, bin ich eine Wochen im Amazonasgebiet, in der Region Beni, unterwegs gewesen. Ich reiste auf einem Traumschiff aus Tropenholz; es gab da nur eine Kajüte und Hängematten. Geduscht haben wir uns mit rotem Wasser aus dem Fluss. Manchmal sind wir auch im Fluss geschwommen. Als wir einmal nach dem Schwimmen gerade wieder auf dem Boot waren, sagte einer: «So, jetzt gehen wir fischen.» Also haben wir am gleichen Ort nach Piranhas gefischt. Dazu hielten wir ein Stück Rindfleisch etwa zehn Sekunden ins Wasser und hatten dann einen Piranha an der Angel. Das war schon ein komisches Gefühl. Als wir vorher dort schwammen, hatten wir ja keine Ahnung, dass das Wasser nur so wimmelte von Piranhas. Aber letztlich haben wir die Piranhas gegessen und nicht sie uns. Ein wenig später waren wir an einer Stelle, an der die Krokodile brüten, und nachts war das ganze Schiff von Augenpaaren umringt. Dann griff einer der Männer ins Wasser und hatte sogleich ein kleines Krokodil in der Hand. Das war eine Gegend mit sehr vielen wild lebenden Tieren. Solche Reisen habe ich früher öfter gemacht. Und was die Arbeit angeht: Klar, man muss ein bisschen besessen sein von den Dingen, die man tut. In einem früheren Interview las ich, dass Sie sich von starken Emotionen und Gegensätzen angezogen fühlen. Ja, mich interessieren kontroverse Themen im politischen Kontext, wie ich sie beispielsweise bei der OECD finde. Wenn dort die Fetzen fliegen und erkennbar wird, welche Interessen damit verbunden sind, ist das sehr spannend. Ihnen eilt der Ruf des Indiana Jones unter den Juristen voraus. Sie sehen sich eher als Odysseus. Weshalb? (lacht) Odysseus hat sich ja auch ein bisschen treiben lassen. Es verschlägt ihn an immer wieder neue Ufer, an denen er manchmal recht 30


11  Mit Ingeborg Zerbes

lange bleibt. Ich habe mir vieles von dem, was ich mache, ja gar nicht ausgesucht. Erst in den vergangenen Jahren habe ich begonnen, mir etwas strategischer zu überlegen, was ich mit meiner Zeit machen will. Inzwischen hat sich Ihre private Situation auch geändert. Sie haben jetzt eine neue Partnerin. Ilse und ich haben uns vor einigen Jahren getrennt. Meine Partnerin Ingeborg (Bild 11) ist auch Strafrechtsprofessorin, allerdings in Bremen, so dass wir an mehreren Orten zugleich leben. Zeit ist ja sicher eine sehr knappe Ressource. Sie lehren, forschen, beraten, leiten Gremien und Kommissionen, haben das Basel Institute on Governance gegründet und sind dort Stiftungsratsvorsitzender, haben Ämter und Aufgaben bei der Weltbank und dem World Economic Forum, und wahrscheinlich kommt noch einiges dazu. Wie schaffen Sie es, das alles unter einen Hut zu bringen? Um mit solcher Intensität arbeiten zu können, muss man schon ein ziemlich organisiertes Leben führen. Dazu muss man das Leben und 31


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