Charles Ferdinand Ramuz Ins Deutsche 체bertragen von Mani Matter
Histoire du Soldat Die Geschichte vom Soldaten Ein M채rchenspiel zu Musik von Igor Strawinsky
Zytglogge
Alle Rechte vorbehalten Copyright: Zytglogge Verlag, 2012 Korrektorat: Monika Künzi, Jakob Salzmann Coverillustration: © Heinz Jost, 1991 Edition Lesabéndio Gestaltung/Satz: Franziska Muster Schenk, Zytglogge Verlag Druck: fgb, freiburger graphische betriebe ISBN 978-3-7296-0844-3 Zytglogge Verlag, Schoren 7, CH-3653 Oberhofen am Thunersee info@zytglogge.ch, www.zytglogge.ch Die Aufführungsrechte von «Histoire du Soldat» sind bei SSA – Schweizerische Autorengesellschaft
| Vorwort
«Jürg Wyttenbach und Mani diskutierten längere Zeit und immer wieder über gemeinsame Theater- und Musikprojekte. Eines davon war, auf einem Bauernwagen an verschiedenen Plätzen in der Berner Altstadt ‹Die Geschichte vom Soldaten› zu spielen. Der Plan kam nie zustande. Mani machte anfangs 1963 in diesem Zusammenhang die Übersetzungsarbeit aus reiner Lust am Übersetzen. Die Genauigkeit, Einfühlsamkeit und Interpretationsfantasie, die Übersetzenden abverlangt werden, faszinierten ihn. Sein ganzes Zimmer an der Egelbergstrasse 28, wo er mit seinem Vater wohnte, war mit Wörterbüchern und Reimlexika übersät, und er konnte stundenlang an einem Wort herumtüfteln. Er machte die Übersetzung, weil er fand, dass die Vorlage von C. F. Ramuz eine bessere Übertragung verdiene als die damals vorliegende. Die Uraufführung war am Basler Theatermarkt 1975 (Musikalische Leitung Jürg Wyttenbach, Inszenierung Erich Hol liger) anlässlich der Eröffnung des neuen Stadttheaters Basel.» Joy Matter
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Jürg Wyttenbachs Erinnerungen an ‹Histoire du Soldat›
«Schon früh war Mani fasziniert von der französischen Kultur und Kunst. (Nicht zu vergessen, dass Manis Mutter französisch sprach!). Das französische Chanson – vor allem Brassens, jedoch auch Villon – beeindruckten und beeinflussten ihn sehr. Viel haben wir während der Übersetzungs-Arbeit über das ‹Absurde Theater› (vor allem über Jean Tardieus ‹Théâtre de chambre›) diskutiert. Ebenso über das ‹Kleine Organon› für das Theater von Bertold Brecht. Dessen ‹Verfremdungs›Theorien beschäftigten Mani lange Zeit. Die Dramaturgie von Ramuz/Strawinsky entsprach nun ziemlich genau Brechts Intentionen: Text, dramatisches Geschehen, Musik, Tanz werden getrennt; das Drama wird ‹entpsychologisiert›, versachlicht, ‹entfremdet›. Die spielerischen, kurzen, unterhaltenden Musikstücke von Strawinsky waren ganz nach Manis Gusto. Ich erinnere mich, dass er sich viel Mühe gab, die Helvetismen im R amuz-Text und das der Romandie adäquate Lokalkolorit in seiner Übersetzung wiederzugeben. Ein gemeinsames Hörerlebnis war die Aufnahme von Ansermet mit Jean Cocteau als Erzähler.» 6 |
| Vorwort
Aus einem Gespräch Jürg Wyttenbachs mit Denis-François Rauss über Instrumentales Theater und Szenische Aktion
… Um nochmals auf deine Schulzeit zurückzukommen: Damals begann deine Freundschaft mit dem bald sehr berühm ten Chansonnier Mani Matter, nicht wahr? JW: Ja. Aber mit Ausnahme eines deftigen Maturan denSongs, welcher einige Lehrer furchtbar auf die Palme brachte, hatte diese Freundschaft noch keine kreativen Folgen. Das kam später: So ist ein Lied der ‹Vier Kanonen› für Sopran und Cello von ihm … DFR:
… und auch ‹Sutil und Laar›. Haben diese Scherzlieder für Chor und Klavier vierhändig nicht eine etwas ungewöhn liche Entstehungsgeschichte? JW: Doch: Ich schrieb damals für das Basler Theater die Musik zu einem Weihnachtsmärchen. Ich spielte Mani die Lieder vor. Er fand die Texte recht albern; die Musik jedoch gefiel ihm ganz gut. Jedenfalls bat er mich, sie ihm auf Band zu spielen. Er legte nun unter meine Musik neue, skurrile, schnurrige Chanson-Texte. Der Gegensatz zwischen meinen einfachen, in kanonischen und ‹tonal-seriellen› Formen DFR:
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komponierten Kinderliedern und Manis raffinierten Sprach spielereien, welche eigentlich gar nichts miteinander zu tun hatten, ergab ein recht witziges, weil ungewohntes, ‹verfremdetes› Resultat. DFR: Anlässlich der Einweihung des neuen Basler Theaters 1975 brachtest du ja auch Mani Matters Neuübersetzung der ‹Geschichte vom Soldaten› mit Hans Hollmann als Erzähler zur Erstaufführung. JW: Mani hat monatelang sehr intensiv daran gearbeitet. Es ist sicher die beste Übertragung des genialen Ramuz-Textes. Unsere Zusammenarbeit führte dann zu einem Kurz-OpernProjekt. Ich konzipierte ein Stück, in welchem die Elemente der Oper, d. h. Sprache/Text/Handlung, Szene/Gestus, Solo- und Chorgesang sowie Instrumentalbegleitung zuerst radikal getrennt werden, um sie dann in einem verfremdeten, absurden, komischen Kontrapunkt wieder zu collagieren. So entstand das Libretto ‹Der Unfall›*. Es sollte eine Art Madrigal-Komödie über einen Orchester-Cellisten werden. Diese ‹Hauptperson› setzt sich aus drei Spielern zusammen: dem Cellisten, der das Gefühlsmässige zum Ausdruck bringt; dem Schauspieler, der verstandesmässige Überlegungen formuliert; und schliesslich dem Mimen, der all das darstellt, was visuell und als szenische Aktion gezeigt 8 |
| Vorwort
werden soll. Dazu sollten nur noch eine Koloratursängerin und ein siebenstimmiges Vokalensemble, welche u. a. auch die Funktion des Orchesters zu übernehmen hätten, mit wirken. …
* ‹Mani Matter, Der Unfall›, Madrigalspiel für 10 Mitwirkende. Abgedruckt im ProHelvetia Dossier Musik: ‹Jürg Wyttenbach – Ein Portrait im Spiegel eigener und fremder Texte›, herausgegeben von Sigfried Schibli. Zytglogge Verlag, 1994.
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Personnages LE LECTEUR LE SOLDAT LE DIABLE LA PRINCESSE
(personnage muet)
Orchestre Violon Contrebasse Clarinette Basson Cornet à pistons Trombone Batterie (2 caisses claires sans timbre, de taille différente; un tambour sans timbre; un tambour à timbre; une grosse caisse; cymbales; un tambour de basque; un triangle) Scène Une petite scène mobile montée sur tréteaux. De chaque côté, un avancement. Sur un des avancements est assis le lecteur devant une petite table avec une chopine de vin blanc et un verre; l’orchestre s’installe sur l’autre.
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Personen DER VORLESER DER SOLDAT DER TEUFEL DIE PRINZESSIN
(stumme Rolle)
Orchester Geige Kontrabass Klarinette Fagott Klapphorn Posaune Schlagzeug (2 Trommeln ohne Schnarrsaite in verschiedener Grösse; Militärtrommel ohne Schnarrsaite; Militärtrommel mit Schnarrsaite; grosse Trommel; Becken; Tamburin; Triangel) Szene Eine kleine, bewegliche Jahrmarktbühne auf erhöhtem Gerüst. Auf jeder Seite ein vorspringendes Podium. Auf dem einen sitzt der Vorleser an einem kleinen Tische, vor sich einen Schoppen Weisswein und ein Glas; das Orchester installiert sich auf dem andern Podium.
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Première Partie |
Histoire du Soldat
|  Erster Teil
Die Geschichte vom Soldaten
Musique: Marche du soldat. LE LECTEUR
Pendant la musique: Entre Denges et Denezy, un soldat qui rentre chez lui. Quinze jours de congé qu’il a, marche depuis longtemps déjà … A marché, a beaucoup marché, s’impatiente d’arriver, parce qu’il a beaucoup marché … Le rideau se lève. La musique continue. Le décor représente les bords d’un ruisseau. Le soldat entre en scène. Fin de la musique. LE LECTEUR
Voilà un joli endroit … Si on se reposait un moment? Le soldat s’arrête au bord du ruisseau. Mais le fichu métier qu’on a! Le soldat s’assied. Il ouvre son sac. Toujours en route, jamais le sou … C’est ça! mes affaires sens dessus dessous! Mon Saint-Joseph qui est perdu! (C’est une médaille en argent doré avec saint Joseph son patron dessus) Non, tant mieux! … Va toujours fouillant, sort des papiers avec des choses 14 |
Musik: Marsch des Soldaten. DER VORLESER
Während der Musik: Zwischen Wil und Winzenried ein Soldat, der heimwärts zieht. Vierzehn Tag auf Urlaub geht, ist marschiert von früh bis spät. Ist marschiert. Ist sehr weit marschiert. Bis der Weg lang ihm wird, denn er ist sehr weit marschiert. Der Vorhang öffnet sich. Die Musik spielt weiter. Das Bühnenbild stellt das Ufer eines Flusses dar. Der Soldat tritt auf. Ende der Musik. DER VORLESER
Hier ist es schön. Wie wär’s mit einer Rast? Der Soldat hält am Flussufer an. Doch welch ein lumpiger Beruf ist das! Der Soldat setzt sich nieder. Er öffnet seinen Sack. Stets unterwegs, die Taschen leer … Natürlich, meine Sachen alle kreuz und quer! Und mein Sankt Joseph, fehlt der schon? (Das ist eine vergoldete Medaille von Sankt Joseph, seinem Patron.) Nein, hier ist er. Nun, immerhin! Er zieht Papier hervor mit allerlei Sachen drin,
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dedans, des cartouches, sort un miroir, (tout juste si on peut s’y voir) mais le portrait, où est-ce qu’il est? (Un portrait de sa bonne amie qui lui a donné son portrait) Il l’a retrouvé, il va plus profond, il sort de son sac un petit violon. II le tient, il l’a retourné, caresse ce petit bois rouge, ce poli qu’il a, ce lustré, avec des veines tellement bien retracées, qu’on dirait que c’est des portées, passe la main sur sa longueur, son plat … LE SOLDAT
Accorde son violon. On voit que c’est du bon marché, il faut tout le temps l’accorder … Le soldat se met à jouer. Musique: Petits airs au bord du ruisseau. Entre le diable. C’est un petit vieux qui tient à la main un filet à papillons. Tout à coup, il tombe en arrêt. La musique continue. Le diable s’approche du soldat par derrière. Fin de la musique.
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Patronen, ein Spiegelchen sodann (kaum, dass man sich drin sehen kann). Doch nun das Bildchen, wo ich das nur hab’? (Ein Bild von seiner Braut, das sie ihm gab.) Er hat’s gefunden. Er dringt tiefer ein, er bringt jetzt eine kleine Geige zum Vorschein. Er hält sie, dreht sie um, schaut sie an, streichelt das rote Holz – wie das glänzt – mit den Saiten dran – die sind, als ob die Geige Notenlinien hätte –, fährt mit der Hand der Länge nach, fühlt seine Glätte … DER SOLDAT
Stimmt seine Geige. Man merkt schon, dass sie billig war: verstimmt sich immer ganz und gar. Der Soldat beginnt zu spielen. Musik: Kleine Stücke am Bachufer. Der Teufel tritt auf. Er ist ein kleiner Alter, der ein Schmetterlingsnetz in der Hand trägt. Plötzlich steht er still. Die Musik geht weiter. Der Teufel nähert sich dem Soldaten von hinten. Ende der Musik.
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LE DIABLE
Donnez-moi votre violon. LE SOLDAT
Non! LE DIABLE
Vendez-le-moi. LE SOLDAT
Non! LE DIABLE
Posant son filet à papillons et prenant dans la main droite le livre qu’ il a sous le bras gauche: Changez-le-moi contre ce livre. LE SOLDAT
Je sais pas lire. LE DIABLE
Vous ne savez pas lire? ça ne fait rien. C’est un livre … on n’a pas besoin de savoir lire pour le lire. C’est un livre, je vais vous dire, qui se lit tout seul; il se lit pour vous. On n’a qu’à l’ouvrir, on sait tout. C’est un livre … c’est un coffre-fort … 18 |
DER TEUFEL
Gebt mir die Geige! DER SOLDAT
Nein! DER TEUFEL
Verkauft sie mir! DER SOLDAT
Nein! DER TEUFEL
Indem er sein Netz abstellt und ein Buch zur Hand nimmt, das er unter seinem linken Arm getragen hat: Tauscht sie mir gegen dieses Buch! DER SOLDAT
Ich kann nicht lesen. DER TEUFEL
Ihr könnt nicht lesen? Das tut nichts. Es ist ein Buch … auch wer nicht lesen kann, kann es verstehen. Es ist ein Buch, Ihr werdet sehen, das liest sich selbst; es liest sich selbst, für Euch: Man schlägt es auf, und man weiss alles gleich. Es ist ein Buch, ein Geldschrank, wenn Ihr wollt:
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