Rückkehr ohne Wiederkehr

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Franziska Streun R端ckkehr ohne Wiederkehr



Franziska Streun

| Rückkehr ohne Wiederkehr Rodolfo von Wattenwyl (1845–1914) Rebell · Abenteurer · Grossrat

Roman · Zytglogge


Alle Rechte vorbehalten Copyright: Zytglogge Verlag, 2012 Übersetzung der Briefe: Karl Peternell Lektorat: Bettina Kaelin, Hugo Ramseyer Korrektorat: Monika Künzi, Jakob Salzmann Umschlagfoto: Rodolfo von Wattenwyl (1879) Gestaltung Umschlag: Michael Streun, Thun Satz: Zytglogge Verlag Kartenmaterial von Fraile Muerto: South American Missionary Society Annual Report, 1876, S. 34; gezeichnet vom anglikanischen Pastor Joseph Henry Gybbon-Spilsbury, den Rodolfo persönlich kannte Kartenmaterial von Uttigen (Ausschnitt aus dem Blatt 338 ‹Gerzensee› im Kartenwerk Eidg. Stabsbureau 1873, 1:25 000) und von Gurzelen (Ausschnitt aus dem Blatt XII Unterabt. 12 der ‹Dufourkarte› um 1862, 1:25 000): Sammlung Markus Krebser, Thun Druck: fgb – freiburger graphische betriebe ISBN 978-3-7296-0840-5 Zytglogge Verlag, Schoren 7, CH-3653 Oberhofen am Thunersee info@zytglogge.ch, www.zytglogge.ch


F端r Rodolfo und Gottlieb



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PROLOG

Im Spätsommer 1876 hat Gottlieb Künzi aus Uttigen Rodolfo von Wattenwyl in der Pampa von Argentinien besucht. Während einer Büffeljagd sind die beiden von Indios gefangen genommen und auf ein Bahngleis gefesselt worden. Künzi hat sich befreien und damit auch seinem Freund das Leben retten können. Künzi und von Wattenwyl, dessen Haar wegen dieses Vorfalles praktisch von einem Tag auf den anderen ergraute, sind danach in die Schweiz ­zurückgekehrt. Künzi, dessen Vater Gemeindepräsident von Uttigen war, hat von Wattenwyl in den Gemeinderat verholfen – und dieser ist schliesslich ­Gemeindepräsident geworden. Dies ist die Geschichte, die in den Familien von Wattenwyl und Künzi wie auch von weiteren Personen seit Jahrzehnten so und ähnlich erzählt wird. Sie und die in Englisch und Französisch geschriebene Originalkorrespondenz von Rodolfo von Wattenwyl (1845–1914) sind die Ausgangslage für diesen Roman. Rodolfo korrespondierte von 1866 bis zu seiner Rückkehr 1876 in die Schweiz mit seiner Familie, vor allem mit seiner Mutter. Er verbrachte seine Kindheit in einem evangelikal-pietistischen Umfeld, anfangs in Lauenen und in Reichenbach im Berner Oberland und ab 1853 im Schlingmoos, einer 1798 erbauten Berner Campagne in Gurzelen. Diese wurde auch ‹La Retraite› genannt und galt bald als sogenanntes Bewegungs- und Erweckungszentrum von Strenggläubigen. Nach der Schulzeit besuchte Rodolfo die fortschrittlich geltende Landwirtschaftliche Schule Hofwyl und verbrachte danach drei Jahre in England auf einem grossen Landwirtschaftsbetrieb – bei den Shillitos in Woolley (Wakefield, West Yorkshire) –, wo er sich mit John Henry Lapage aus Leeds anfreundete. Mit ihm und dessen Bekanntem, Walter Adolph Hamilton, wanderte Rodolfo 1866 als 21-Jähriger nach Argentinien aus, wo er schliesslich mit ihnen das 7


Landlos Los Alfonsitos bei Fraile Muerto (heute Bell Ville) in der Provinz Córdoba kaufte, eine Estancia aufbaute und pioniermässig Viehzucht und Landwirtschaft betrieb. Nach der Heimkehr 1876 arbeitete Rodolfo als Verwalter auf dem Schlossgut in Gingins im Waadtland, oberhalb von Nyon. 1879 heiratete der mittlerweile 34-Jährige seine entfernte Kusine Pauline Constance von Wattenwyl (1857–1922), Mitbesitzerin des Schlosses Oberdiessbach. Mit ihr zog er nach Uttigen und führte den Landwirtschaftsbetrieb auf dem ­Uttiggut. Rodolfo wurde in Uttigen 1880 in den Gemeinderat gewählt und amtete dort von 1885 bis 1895 als Gemeindepräsident. Ausserdem war er 28 Jahre lang, von 1886 bis zu seinem Tod am 30. Dezember 1914, Grossrat des Kantons Bern. Rodolfo und Pauline Constance von Wattenwyl hatten acht Töchter und zwei Söhne. Nachdem die Familie 1896 nach Oberdiessbach gezogen war – in den Diessenhof, das grosse Landgut in der Nähe des Schlosses –, engagierte Rodolfo sich auch dort in der Gemeindepolitik; als Gemeinderat, Mitglied der Schulkommission und des Kirchgemeinderates. Sein ältester Sohn, ­Eduard Rudolf (1891–1978), wurde später Präsident des Gemeinde­ rates von Oberdiessbach. Der Vater von Rodolfo, Carl Ludwig Gottlieb von Wattenwyl (1808– 1866; meistens Amédée genannt, frz. für Gottlieb), war Pfarrer. 1837 heiratete er die strenggläubige Irin Anna Maria O’Gorman-Munckhouse (1814– 1903) aus Winton (Westmoreland, England), die mit der Familie Lapage in Leeds befreundet war. In ihrer Biografie ‹En Souvenir› schrieb sie ihr Leben nieder. Sie engagierte sich stark für die Heilsarmee, die Evangelische ­Gemeinschaft und die Gemeinde Gurzelen und war noch eine Schülerin Pestalozzis in seiner weltberühmten Anstalt im Schloss Yverdon (Iferten). Rodolfo hatte zwei Brüder, Eduard und Eugen, und fünf Schwestern. Eine war Anna von Wattenwyl (1841–1927). In ihrer 1914 erschienenen Biografie schrieb sie über ihren Weg als Mitglied der Heiligungsbewegung von Christen und als Oberst in der Heilsarmee. 8


Rodolfo hat heute über 70 direkte Nachkommen. So ist er beispielsweise der Urgrossvater von Patrick Frey (Kabarettist, Schauspieler, Autor und Verleger) und dessen Schwester Regina Frey (Affenschützerin, Gründerin und Präsidentin der Stiftung PanEco), von den Brüdern Christoph Hiller (Gemeindepräsident von Meilen ZH) und Michael Hiller (Journalist und Leiter der DRS-Regionalredaktion Zürich Schaffhausen), von Beat Schwabe (Leiter des Bereichs ­Ressourcen am Bundesgericht) und von Sigmund von ­Wattenwyl (heutiger Besitzer des Schlosses Oberdiessbach). Gottlieb Künzi jun. (1858–1933), der als 18-Jähriger Rodolfo 1876 laut der Erzählung besucht und ihm nach dem Überfall der Indios das Leben gerettet hatte, lebte in Uttigen und war der Erstgeborene des damaligen langjährigen Gemeindepräsidenten Gottlieb Künzi sen. (1832–1916). Gottlieb Künzi jun. ist der Ururgrossvater der Autorin. Im Roman ­‹Rückkehr ohne Wiederkehr› wurde einzig die Originalkorrespondenz von Rodolfo gekürzt übernommen. Das Tagebuch und alle übrigen Personen, Namen, Handlungen und Geschichten sind frei erfunden.

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Es klopft. Dreimal laut hintereinander. Hannah schrickt aus ihren Gedanken, zieht rasch den Morgenmantel über das Nachthemd an und huscht zur Türe. Wer das sein könnte? Der Postbote? Doch nicht so früh am Morgen! Ihr Nachbar? Während sie hinauseilt, kämmt sie rasch mit ihren Fingern die ergrauten Locken. Sie öffnet die Türe. Doch da ist niemand. Wer erlaubt sich einen Scherz mit ihr! Ein kalter Luftstoss weht ihr ins Gesicht. Als sie sich umdrehen und wieder ins Haus eintreten will, stösst ihr Fuss an einen Gegenstand. Sie entdeckt einen kleinen Koffer auf der Schwelle. Noch einmal schaut Hannah auf den Weg durch den Garten in Richtung Tor. Nichts, kein Geräusch, keine Bewegung. Hannah hebt den Koffer hoch. Das Leder ist rissig und steif. Sie gibt der Türe einen Stups, damit sie von selbst ins Schloss fällt, huscht ins Wohn­ zimmer zurück und legt den Koffer auf den Tisch. Vorsichtig öffnet sie ihn. Zuoberst liegt eine Todesanzeige. ‹Rodolfo von Wattenwyl ist von uns ­gegangen›. Am 30. Dezember 1914. Ihr Rodolfo lebt nicht mehr. Wer ihr wohl diesen Koffer hingelegt hat? Hannah fühlt sich leer und verwirrt. Jahrzehnte sind es her seit ihrem letzten heimlichen Treffen, seit dem Abschied im Wald damals im Februar. Oder war es März? Zwei Tage später reiste er ab. Sein Ziel war Argentinien. Das war 1866. Sie waren beide 21 Jahre alt. Seither liess er nichts mehr von sich hören, gab nie ein Lebenszeichen von sich. Sie wusste einzig von Dritten, dass er nach seiner Rückkehr in die Schweiz geheiratet und Kinder hatte, in Uttigen und später in Oberdiessbach lebte. Dass er ein bekannter Mann in der Öffentlichkeit war, wohlhabend und angesehen. Ein Gemeindepräsident und ein Grossrat. Mehr wusste sie nicht, wollte sie nie wissen. Ihr fällt ein weisses Blatt Papier auf, das unter der Todesanzeige als Erstes zum Vorschein kommt. Ungefaltet liegt es auf drei mit Schnüren um­ wickelten Briefbündeln. Darunter entdeckt sie ein dickes, in Leder gebundenes Buch mit Notizen. Ein Tagebuch. Die Dokumente sind vergilbt und riechen noch muffiger als der Koffer. 11


Rodolfo ist tot. Am Mittwoch wird er in Oberdiessbach beerdigt. Das ist in fünf Tagen. Am 6. Januar 1915. 69-jährig. Wie sie. Hannah setzt sich hin, starrt auf die Papiere. Noch einmal liest sie die Todesanzeige, Zeile für Zeile, und öffnet den ­Begleitbrief von Friedrich. Sie kennt seine Schrift.

Basel, 30. Dezember 1914 Liebe Hannah, Ich bin der Überbringer dieses Koffers, von dessen Inhalt ich schon lange Kenntnis habe. Er bringt dir deinen Rodolfo zurück, der heute ver­ schieden ist. Seine Mutter hat seine Briefe und sein Tagebuch darin verwahrt, nach­ dem er im Winter 1876 mit Gottlieb Künzi aus Argentinien in die Schweiz zurückgekehrt ist. Mit ebendiesem Koffer, den er als einziges Gepäckstück mitbrachte. Sie wollte, dass sein in ihren Augen unehren­ haftes und sündiges Jahrzehnt im Schweigen vergessen geht. Sie wusste nicht, dass Rodolfos Bruder Eugen im Schlingmoos den Kof­ fer samt Inhalt auf dem Estrich entdeckt und mitgenommen hat. So, wie sie nie sehen wollte, was ihn und mich verband – und dass Eugen wegen seiner psychischen Störungen litt. Als er mit der Zeit realisierte, dass seine Geisteskrankheit schlimmer wurde, vertraute er mir den Koffer an. Für dich. Er wollte, dass du ­Rodolfos Zeilen eines Tages erhältst. Dein Friedrich Ihr ist kalt. Erinnerungsfetzen tauchen auf, immer mehr. Auch alte Gefühle. Sie steht auf, geht in die Küche, wirft Holz in den Herd und bläst hinein, bis die Glut Feuer fängt. Aus einer Dose nimmt sie Pfefferminzblätter und übergiesst das Kraut. Mit dem Tee kehrt sie ins Wohnzimmer zurück. Dann greift sie nach dem Tagebuch.

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ABREISE

Gurzelen, 27. Februar 1866 Ich ersticke. Mir ist alles zu eng hier, zu gläubig, zu fordernd. Nach dem Erwachen lag ich noch lange im Bett und lauschte in den Morgen. Meisen und andere Vögel, die schon zurück sind aus ihren Win­ tergebieten, zwitschern, als Vorboten des Frühlings. Obwohl draussen noch Schnee liegt. Ob sie mich verabschieden? Du, mein Tagebuch, wirst mein Begleiter sein, mich anhören, Geheim­ nisse hüten und Sehnsüchte mit mir teilen, mein Freund sein. Hannah, ich wünschte, du würdest neben mir sein. Du bist Herzschlag der Sehnsüchte. Vieles wäre einfacher für mich, für uns, wenn wir uns nie begegnet wären. Doch du hast mir eine Welt eröffnet, die ich sonst nie kennen gelernt hätte. Wie sehr mussten wir uns immer zurückhalten und unsere Lust bändigen. Alle erwarten etwas von mir. Nach England will ich nicht mehr zurück. Dort habe ich gelernt, was ich lernen wollte: die Schafzucht, die Rinder­ zucht, die Sprache. Land und Leute gefallen mir zu wenig, als dass ich mich dort niederlassen wollte. Hier bleiben will ich auch nicht. Die Pläne von meiner Mutter für mich sind geschrieben, diejenigen von meinem Vater für mich auch; die Erwartungen sind hoch, wenn auch unausgesprochen. Und dich, Hannah, werde ich ja doch nie heiraten können. Ich will deshalb fliehen – auch vor dieser Unmöglichkeit. Wie weiss ein Mann, wie viel Herz er an eine Frau verschenken soll. Was ist Liebe? Sünde? Verderben? Hannah. Geliebte, du, die mein Verlangen ins Unermessliche treibt und die ein Abenteurerherz in sich trägt wie ich. Und eine Fantasie hat, die so weit ist, dass sie den Himmel berührt, und eine ­Zuversicht lebt, die Berge versetzen kann. Doch was mache ich mit dir? Mit uns? 13


Wer bin ich? Die Welt ist mir zu klein geworden, nicht nur in Gurzelen, auch in Eng­ land. Ich will mehr, will die Fesseln lösen, frei sein und finden, wonach ich suche. Übermorgen breche ich auf, lasse alles hinter mir. Wir trafen uns heute ein letztes Mal. In unserem Versteck im Wald. Stapften durch den Schnee, zwischen Bäumen hindurch und lachten nicht, wie wir es sonst immer taten. Wir hätten einander viel sagen wollen und blieben doch stumm. Hannah schwieg, verriet nichts über ihre Gefühle, ihre Hoffnungen. Ich weiss, dass sie gerne mit mir kommen würde. Sie wollte diesen Abschied nicht, ergab sich jedoch in ihr Schicksal. Auch wenn Hannah eine kleine Rebellin ist und uns Tatendrang und Wissens­ durst verbinden – in diesem Augenblick erschrak ich, wie sie dem Unaus­ weichlichen demütig, beinahe unterwürfig begegnete. Ist es diese Hal­ tung, welche den Frauen eigen ist und uns Männern fremd und bei mir unbekannte Emotionen auslöst? Ob ich Frauen in solchen Momenten ihrer Demut wegen verabscheue oder ob ich ihre Kraft bewundere? An der Waldlichtung trennten wir uns. Im Regen. Ich sah ihr nach, wie sie über den matschigen Schnee von mir wegging. Der Wind blies über die Felder. Mich fror. Sie schaute nicht zurück. Sah nicht, wie ich ihr zuwinkte. Gurzelen, 28. Februar 1866 Soeben bin ich erwacht und gleich aufgestanden. Ich habe wirr und viel geträumt; was, erinnere ich nicht mehr. Meine Gedanken wühlen mich auf. Du, Hannah, wärst einzig fähig, mich anzuhören, dir alleine, Tage­ buch, will ich meine Zweifel und Gefühle ohne Scham anvertrauen. Meine Koffer sind gepackt. Alles Nötige ist besorgt und eingekauft. Heute kommen die Tanten, Onkel und Freunde ins Schlingmoos, unsere geliebte Campagne, um mich zu verabschieden. Ich werde noch einen ­letzten Rundgang auf dem Gut und im Dorf machen und dann Abschied nehmen. Ob ich Hannah noch sehen werde? 14


Gestern Abend besuchte ich Freunde in Uttigen. Auch bei Gottlieb Künzi, dem Gemeindepräsidenten, und seinem Sohn, der acht Jahre alt ist und uns gebannt zuhörte, trank ich ein Glas Wein und rauchte eine ­Zigarre. Er wollte unbedingt, dass ich vorbeikomme, war neugierig, wollte meine Pläne hören und fand, dass er mich vielleicht einmal besuchen wolle. Er schenkte mir dieses ledergebundene Tagebuch. Gegen die Ein­ samkeit, sagte er, es solle Zeuge meiner Zeit sein. Künzi ist ein Abenteurer wie ich. Meine Mutter sagt, er sei unseres Stan­ des unwürdig – und meint damit, dass er zu wenig gläubig sei. Morgen früh bringt mich eine Kutsche nach Bern. Dort werde ich die ­Eisenbahn besteigen und bis England nach Leeds zu Henry fahren. Nichts hält mich auf. Ich nehme alle Strapazen auf mich und bin bereit für die Reise ins Ungewisse. Anna, meine Schwester, ruft. Es ist Zeit für das Familienritual, das Mor­ gengebet am Frühstückstisch. Bald bin ich nicht mehr diesen Zwängen ausgesetzt. Ich bin wieder da, sitze im Bett und schreibe. Es ist spätabends. Heute war mein letzter Tag in Gurzelen. Ich bin müde und zugleich aufgewühlt. Mutter war die letzten Tage seltsam schweigsam oder dann erteilte sie mir Ratschläge. Ein alltägliches Gespräch kam nicht zustande. Ich solle ihr jeden Tag schreiben, sagte sie, schon während der Reise und natürlich aus Argentinien. Sie werde mir auch schreiben. Vater war still. Sie beide und auch meine Geschwister möchten ja, dass ich hier bleibe und mithelfe. Ein­ zig den jüngeren Schwestern, Dolly und Constance, scheinten meine Ab­ reise nichts auszumachen. Sie stellen endlos Fragen über das Land, die Reise, über die Indios und meine Pläne. Anna ignoriert mich. Ob sie mir böse ist, weil ich die Geschwister verlasse und weggehe? Als sich Vater vom Frühstückstisch erhob, ging er an mir vorbei, hielt inne und legte seine Hand kurz auf meine Schulter. Ob er mir Mut machen wollte? Ein schlechtes Gewissen? Oder war es eine Geste der Versöhnung? Dann ging er aus dem Haus. Er wirkte in diesem Augenblick alt und ­zerbrechlich. 15


Ich muss weg. Ob es meinen Liebsten passt oder für die Familie uneh­ renhaft ist. In eine Heirat mit Hannah würden sie keinesfalls einwilligen. Die drei Jahre in England haben mir weder innere Ruhe gebracht noch mich von Hannah entfernt. Nach jedem Besuch in der Schweiz begehrte ich sie noch mehr. Was sie wohl jetzt tut? Sie wollte unbedingt mitkommen. Doch ich habe ihr gesagt, dass das zu gefährlich und ungewiss sei, das Unbekannte. Und ihre Mutter würde es ihr sowieso verbieten. Sie braucht Hannah bei ihrer Arbeit als Hebamme, umso mehr, seit ihr Mann gestorben ist. Wer wird dir, Geliebte, nun Bücher zum Lesen besorgen? Ich darf und will dir meine Gefühle nicht mehr zeigen, nichts schreiben, nichts sagen. Ich spüre, wie hart es für dich ist, und bewundere die Kraft, mit der du mich ziehen lässt. Doch – wer weiss, vielleicht hole ich dich, wenn alles geklärt ist, bald nach Argentinien, und wir bauen dort ein gemeinsames Leben auf. Gurzelen, 1. März 1866 Der Tag der Abreise ist da. Seit Stunden bin ich wach und warte auf den Aufbruch. Ich reise ab, mit dir, ledergebundenes Tagebuch, in meiner Mantel­ tasche.

Sie kann es kaum fassen. Nie hätte sie damit gerechnet, dass er eines Tages auf diese Weise in ihr Leben zurückkehrt – auch wenn es keine eigentliche Wiederkehr ist. In all den Jahren hat sie verdrängt, wie sehr er ihr gefehlt hat. In ihrer Wut und Verzweiflung hat sie den Gedanken verbannt, den sie kaum mehr von einem Wunsch unterscheiden konnte: dass Rodolfo sie ­womöglich doch mehr geliebt hat, als er ihr zeigte. Immer hatte sie vermutet oder gehofft, dass Argentinien eine Art Flucht vor ihrer aussichtslosen Liebe war. Hannah friert. Das Fenster im Schlafzimmer ist noch geöffnet. Sie legt den Brief von Friedrich zwischen die Seiten im Tagebuch, wo sie mit Lesen 16


aufgehört hat, und klappt es zu. Sie steht auf und schliesst das Fenster, nimmt die Wolldecke, kehrt zum Tisch zurück und zieht diese fest um ihre Schultern. Schliesslich entnimmt sie dem Koffer das erste Briefbündel und entfernt die Schnur. Die Briefe sind nach dem Poststempel-Datum geordnet. Sie reiht alle Umschläge hintereinander in den Koffer, zupft den ersten Brief heraus und faltet ihn auf.

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ENGLAND

Leeds, Sonntag, 4. März 1866 Liebe Eltern, Meine Reise war nicht angenehm. Im Zug bis Neuenburg zeigte und ­erklärte mir ein Herr alles, was es vom Fenster aus zu sehen gab. Unter anderem die pittoresken Höhlen zwischen Neuenburg und Les Verriè­ res. In Pontarlier musste ich den grossen Koffer öffnen und die Mantel­ taschen zeigen. Ich deklarierte das Kirschwasser und die Zigarren, sonst musste ich keine Zollgebühren bezahlen. Um elf Uhr nachts war ich in Dijon angekommen. Mit all meinem Gepäck und nur einem Zweit­ klassbillett war es undenkbar, vor drei Uhr morgens nach Paris weiter­ zufahren. Also war ich gezwungen, vier Stunden im Wartesaal aus­ zuharren. In Paris musste ich einzig den Mantel zeigen, hingegen wurde in Bou­ logne mein grosser Koffer erneut überprüft und alles durcheinanderge­ bracht, so auch in Folkstone. Es war eigenartig. Sie wollten nie den klei­ nen Koffer öffnen. In Paris hatte ich knapp Zeit, zu essen, zum Gare du Nord zu gehen und 2500 Franken in Schillingstücke zu lösen. Den Rest will ich in Liverpool wechseln. Um zehn Uhr abends kamen wir in Boulogne an. Das Schiff war der­ art voll beladen, dass die Überfahrt drei Stunden dauerte. Da ich stark hustete, blieb ich in meiner Kabine. In Folkstone hatte ich das Glück, den Schnellzug zu erwischen, was ­jedoch zur Folge hatte, dass mein Gepäck weitaus mehr als mein Ticket kostete. Doch ich wagte nicht, das Gepäck mit dem langsameren Zug zu spedieren, da ich nicht wissen konnte, wann es in Leeds ankommen würde. Denn morgen will ich meine Koffer, zusammen mit denjenigen von Henry Lapage, mit dem langsameren Zug nach Liverpool auf­ geben. 18


In London hatte ich zwei Stunden Ruhezeit, um mich zu waschen und um zu frühstücken. Am Morgen darauf stieg ich in den Schnellzug und kam um zwei Uhr in Leeds an. Dass die Zweitklasszüge wenig geheizt waren, tat meinem Husten nicht gerade gut. Ich war froh um meine Decke. Ich kam gerade rechtzeitig zum Abendessen bei den Lapages an. Walter Adolph Hamilton war soeben abgereist. Wie er will auch Henry Lapage England für immer verlassen und hat sich ebenfalls ein Gewehr ge­ kauft, etwas Ähnliches wie ich, für fünf Pfund. Ich hatte noch Einkäufe in Leeds zu tätigen, meine Lederkleider anzu­ probieren und den Rest meiner Napoléons zu wechseln. Henry drängt mich, den Brief zu beenden, damit er rechtzeitig auf die Post kommt. Heute Morgen war ich noch mit der Familie in der Kirche St. Georges, wo ich eine exzellente Predigt hörte und das Heilige Abend­ mahl nahm. Wie schade es ist, dieses Papier nicht mehr vollschreiben zu können. Adieu, liebe Mutter, lieber Vater und alle anderen, noch einmal ­tausend Dank für alles, was Ihr für mich getan habt. Euer Rodolfo Hannah steckt den Brief zurück ins Kuvert, liest das Datum des nächsten Briefes und schlägt das Tagebuch auf, um zu sehen, wann dort der nächste Eintrag datiert ist. Der Tee ist kalt geworden. Sie kann immer noch nicht glauben, was sie in den Händen hält, will aber bis zur Beerdigung alles ge­ lesen haben. Sie lehnt sich zurück und konzentriert sich auf das Tagebuch. Leeds, 4. März 1866 Soeben habe ich den Brief an meine Eltern fertig geschrieben und Henry mitgegeben. Ich habe ihnen vorenthalten, wie sehr mich der Husten beein­ trächtigt und dass ich deshalb die letzten Nächte kaum schlafen konnte. Ich wollte sie nicht unnötig beängstigen. 19


Hier werden Schauermärchen über Argentinien erzählt, auch von der Überfahrt. Einige munkeln, dass die guten Zeiten, um rasch zu Geld zu kommen, vielleicht bald vorbei sein werden. Immer wieder denke ich an H. Bin ich feige, dass ich sie zurückgelassen habe?

Ja, sie hatte damals gelitten und geweint, weil sie es als ungerecht empfand, dass er sie nicht mitnahm und nicht dafür gekämpft hatte, sie gegen den Willen seiner Familie zu heiraten. Ihnen überhaupt von ihr und seiner Liebe zu ihr zu erzählen! Doch Rodolfo hätte die gesamte Familie gegen sich gehabt. Nein, es gab damals keinen Weg. Ausser seiner Flucht. Wie traurig und eifersüchtig sie war. Dass er trotz Protesten der Eltern und Geschwister dieses Abenteuer eingehen durfte, um diese Freiheit hatte Hannah ihn beneidet. Leeds, 6. März 1866 Eigentlich wollte ich gestern abreisen, doch der Zug fuhr nicht. Lapage und ich versuchen es morgen noch einmal. Mein Husten lässt nach, doch ich bin müde und durcheinander und mein Herz tut weh. Leeds, 8. März 1866 Auf die Abreise zu warten, ist unerträglich. Ich vermisse H., bin jedoch vor allem neugierig auf die Reise und auf das unbekannte Land. Viele Männer gehen nach Argentinien. Bessersituierte und Wirte zum Beispiel wandern als Zweitgeborene dorthin aus oder Querulanten wer­ den wegen Missverhaltens dorthin verbannt. Andere wiederum entflie­ hen ganz einfach der Armut und wollen ihr Glück dort versuchen. Es wird viel erzählt hier. Wie wild und brutal die Indios seien, wie die Landschaft wunderschön sei und dass es genügend Möglichkeiten für eine prosperierende Landwirtschaft und Viehzucht habe. Was sie wohl tut? Ob sie mir je verzeihen wird? Was wird aus ihr?

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Hannah steht auf. Ihr ist kalt. Sie geht in die Küche und legt Holz nach. Das Feuer im Herd wärmt den Kachelofen im Wohnzimmer. Sie betastet diesen, setzt sich wieder auf den Stuhl und schaut aus dem Fenster. Wie war es damals? Sie versucht sich zu erinnern. Bald darauf zog sie, wie ihre Mutter vorschlug, zu einer Freundin – eine Hebamme wie sie – und ihrer Familie in den Jura. Sie lernte bei ihr Kräuterkunde und ihre Arbeit als Hebamme kennen und versuchte zu vergessen. Rodolfo blieb ihre grosse Liebe. Der erste Gedanke beim Erwachen und der letzte vor dem Einschlafen gehörten über Jahre ihm, seit der neunten Klasse. Alte Wut, die sie verblichen glaubte, entfacht sich neu.

Liverpool, 9. März 1866 Lieber Vater, Heute bin ich in Liverpool angekommen. Ich möchte Mutter, Anna, Fräulein Daitmaier und Constance für ihre Briefe danken, die hier auf mich gewartet haben. Noch am Montag ging ich mit Henry in Leeds Samen für Kohlköpfe, Zwiebeln, Erbsen, Kefen und Salate kaufen, die ich in kleine Flaschen steckte. Ich habe mir auch ein zweites Paar robuste, schwere Stiefel ­gekauft sowie Schafscheren, Schiesspulver, eine Reiseflasche und ein Paar Handschuhe. Wir sollten jemanden anheuern, um alles an Bord der Cordoba zu bringen. Von der Bahnstation in Woolley hatte ich gut drei Kilometer durch den Tiefschnee zu gehen, bis ich bei meinem Lehrherrn Robert Shillito und seiner Frau, die ich besuchen ging, ankam. Ohne meinen MackintoshMantel wäre ich durch und durch nass geworden. In England haben sie zurzeit die Rinderpest, und alle beten dafür, dass sie in Woolley nicht ankommt. Sie haben hier sehr strenge Regeln, damit die Krankheit nicht weiter übertragen wird. Am Morgen darauf verliess ich Woolley und ging zurück zu den ­Lapages. Am nächsten Tag fuhren Henry und ich in Leeds um 9 Uhr in 21


Richtung Liverpool ab, wo wir tags darauf um 10 Uhr ankamen. Wir holten unser Gepäck, brachten es in unsere Unterkunft und gingen gleich einkaufen. Ich sah eine (zu teure) Lederjacke. Für sieben Schil­ ling kaufte ich schliesslich einen Gurt mit Halter für meinen Revolver. Dann tauschte ich 2500 Franken in englische Pfund um und behielt noch 1800 ungewechselt in 20-Franken-Noten zurück. Lapage versicherte meine Überreise, bezahlte sie, und zwar gerade rechtzeitig, denn es war die letzte der zweiten Klasse. Ich bin in einer Viererkabine mit drei Unbekannten, und Lapage erhielt eine Zweier­ kabine auf der anderen Seite des Schiffes und teilte diese mit einem Mann. Nun versuche ich, diesen Platz mit meinem zu tauschen. Hamilton ist unglücklich mit seiner Erstklass-Viererkabine, da sie sich zu nahe am Wasserklosett befindet. Die Leute müssen jeweils seine ­Kabine durchqueren. Wir werden morgen Freitag, am Abend, an Bord der Cordoba sein. Ich schätze, dass wir am Samstag abfahren. Dein Sohn Rodolfo Liverpool, 9. März 1866 Liebe Mama, Erst gestern Abend schrieb ich Ihnen. Doch nun, wo ich seit heute Mor­ gen an Bord der Cordoba bin, schreibe ich weiter und möchte Ihnen sagen, dass ich Ihre lieben Briefe erhalten habe. In den letzten Stunden vor der Abreise rannte ich von einem Ort zum anderen. Am Morgen fuhren Henry, sein Bruder Herbert und ich mit einem Omnibus zu einem Warenhaus, wo meine beiden Kisten hinge­ schickt worden sind. Wir luden sie auf einen Wagen, spazierten zum Nord-Dock und fanden die Cordoba ruhig angelegt vor. Als Erstes wollten wir unsere Kabinen finden, welche für uns ange­ schrieben waren. Wir erhielten je zwei saubere Leintücher und ­Decken. Es hat einen Waschplatz, wo jeden Morgen Wasser aus dem Meer ge­ pumpt wird. Der Erstklass-Salon ist feiner und bequemer, die Kabinen 22


sind geräumiger. Es gibt vier Ladies, welche wie wir in der zweiten Klasse reisen, und nur zwei Frauen in der ersten Klasse. Das Gepäck befindet sich nahe der Kabine. Das ist praktisch, wenn wir etwas brauchen. Anstelle eines anderen Hutes habe ich mir eine Schirm­ mütze angeschafft. Sie liegt tiefer und schützt die Krägen der Kleider und Mackintosh-Hemden. Ich glaube nicht, dass ich mein Duvet auf dem Meer brauche, da ich über eine gute Decke verfüge. Morgen werden kleine Dampfer kommen, die uns um elf Uhr an Bord der Cordoba bringen. Danke bestens, liebe Mama, für die Hinweise, die Sie mir gegeben haben. Und nein, die Napoléons von Eduard habe ich nicht nötig! Nutzt sie für arme Familien in Gurzelen. Dies bereitet mir genauso Freude, wie wenn ich sie auf mir hätte. Heute ist unser letzter Abend in England. Lapage wird zu Walter Adolph Hamilton gehen. Ich habe diesen Herrn noch nicht gesehen und werde ihn erst an Bord der Cordoba kennen lernen. Ich muss Sie nun verlassen. Danke allen, die sich für mich interessiert haben. Küsse für Anna, Constance, Dolly und ein guter Kuss für Sie, liebe Mama, von Ihrem Sohn RvW Rodolfo. So nannte sie ihn. Das passte besser als Rudolf zu ihm, der ihr wie ein unbändiger und unzähmbarer Abenteurer vorkam. Stundenlang konnten sie in ihren Verstecken im Wald, auf den Hügeln über das Leben philosophieren und von einer gemeinsamen Zukunft träumen. Sie wollten fremde Länder entdecken, Kinder haben. Und er brachte ihr alles bei, was er wusste, und freute sich über ihren Wissensdurst. Hannahs Erinnerungen tauchen immer mehr aus dem vermeintlich Vergessenen auf. Und jetzt, wo sie seine Briefe und sein Tagebuch liest, ist ihr, als ob ihre gemeinsame Zeit erst gestern gewesen wäre.

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AUF SEE

Auf der Cordoba, 12. März 1866 Nun sind wir seit zwei Tagen auf See. Vielen ist schlecht, mir auch. Doch es geht mir langsam besser. Inmitten der vielen Männer zu sein, ist nicht ein­ fach. Einige waschen sich nicht, ich rieche es – ekelhaft. Sie waschen auch ihre Kleider nicht. Die meisten saufen, grölen und wissen nichts von der Welt, sind weder gebildet noch haben sie irgendwelche Pläne. Ich bin lieber mit Henry zusammen oder lese in meiner Kabine. Obschon ich H. und meine Familie vermisse, spüre ich, den richtigen Entscheid getroffen zu haben. Ich will mehr vom Leben erfahren und wis­ sen. Argentinien, ich komme! Was sie wohl macht? Werde ich sie je vergessen? Können wir später dort ein Leben zusammen aufbauen? Alle anderen Frauen, denen ich bisher begegnet bin, interessieren mich nicht. Sie sind langweilig, steif und ohne Feuer im Herz. Oder sie bilden ­keinen Satz ohne die Wörter Sünde, Bibel und Gott. Das schneidet mir den Schnauf ab. Auf der Cordoba, 16. März 1866 Im Moment mag ich nicht viel schreiben. Der Alltag auf dem Schiff ist wie die Aussicht eintönig. Wasser, Wasser, Wasser. Henry und ich haben uns nun doch mit einigen Männern angefreundet. Wir sprechen ungeduldig über unsere Vorstellungen, Hoffnungen und Pläne und können es kaum erwarten, drüben anzukommen. Doch die Fahrt dauert noch lange.

Sie haben sich kennen gelernt, als er auf dem Heimweg von der Schule nach Hause schlenderte. Er war wie sie 15 Jahre alt. Während des Gehens las er in einem Buch. Sie bog um die Ecke bei der Molkerei und stiess mit ihm zusammen. Sein Buch flog in hohem Bogen auf den Boden. 24


Zuerst wollte Rodolfo sie tadeln, doch stattdessen schmunzelte er. Auch Hannah hätte ihn aufziehen wollen, weil er lesend statt mit offenen Augen voranging und sie doch am Hinterkopf keine Augen hätte. Doch sie brachte kein Wort über ihre Lippen. Sie fragte sich, ob ihr Gesicht ebenso gerötet war wie seines. Wie lange dies zurückliegt! Langsam wird ihr wärmer. Das Feuer im ­Küchenherd lodert. Sie nimmt den nächsten Brief aus dem Umschlag.

An Bord der Cordoba, zehn Stunden, nachdem wir Teneriffa passiert haben, 21. März 1866 Liebe Eltern, Wir sind heute im stillen Wasser angekommen, und ich will versuchen zu schreiben, da es weniger schaukelt. Am Samstag, 10. März, sind wir abgesegelt. Ich stieg mit meinem Handgepäck zu, um zu sehen, dass wir alles an der richtigen Landungs­ brücke abstellten. Henry folgte zu Fuss. Überall waren Träger, die Ge­ päckstücke von den Treppen an den Piers auf die Dampfer luden. Ihr müsst wissen, dass es an solchen Plätzen in Liverpool etliche Vagabun­ den und Radaubrüder hat. Wer sein Gepäck nicht gut in den Augen ­behält, riskiert, dass plötzlich einige Stücke fehlen. Der Pier ist lang und breit. Den ganzen Tag legen Dampfer an und ab. Das rege Treiben in diesem Meereshafen ist verwirrend. Auf dem Steg wurde ich Hamilton und seinem Onkel, einem netten alten Gentle­ man, vorgestellt. Der kleine Dampfer brachte uns in zwanzig Minuten zur Cordoba. Einen Teil des Nachmittages verbrachten wir mit Versorgen und Ord­ nen unseres Gepäcks und dem Auspacken einiger Dinge für die Nacht. Es wurden erneut Passagiere, Offiziere, Segler und Gepäck an Bord ­gebracht. Viertel nach vier begann das Schiff die Anker zu lichten. Um fünf Uhr bimmelten die Glocken, und die Cordoba fuhr los. Wir blie­ ben alle so lange an Deck, wie wir Liverpool sehen konnten. 25


Es wurde schnell Nacht, und wir mussten schauen, wie wir etwas zu essen bekamen. Das Frühstück gibt es um 8.30 Uhr, das Mittagessen um ein Uhr und Tee um 18 Uhr. Die ersten zwei Tage wurden wir gut verpflegt, mit frischem Rind bei jeder Mahlzeit, mit Kaffee am Morgen und Tee am Abend, beides ohne Milch. Abends gab es Rindfleisch, Kar­ toffeln, Suppe und Brot, dies jedoch alles nicht für lange. Nach einer Woche wurden wird nämlich äusserst schlecht verpflegt. Wir alle waren die nächsten Tage mehr oder weniger krank. Anstelle von frischem Fleisch wurde uns immer gesalzenes Rind- und Schweine­ fleisch vorgesetzt. Wir fanden das enttäuschend. Nun, seit Montag, 19. März, geht es wieder recht gut. Wir sind stark und gesund, um für unsere Rechte zu kämpfen. Dem Steward, der in der zweiten Klasse für die Tische, die Betten und die Reinigung der K­abinen zuständig ist, zeigten wir den Vertrag unseres Fahrscheins. Wir sagten ihm, wir würden auf unseren Wochenrationen bestehen und darauf, dass gut gekocht werde. Lapage, ich und der Gentleman, der in unserer Kabine schläft, vereinbarten, dass wir die Woche unter uns aufteilen. Abwechslungsweise nimmt einer von uns die Bestellun­ gen für das Frühstück, das Mittagessen und das Abendessen auf und schaut, dass der Schiffskoch das Gewünschte auch kocht. Mehrere Pas­ sagiere wechselten, als sie ihr schlechtes Essen sahen, zur ersten Klasse und bezahlten zehn Pfund mehr. Lapage und ich fanden, dass wir nicht so seien, sondern auf unserem Recht auf die versprochenen Le­ bensmittel und Getränke beharren w ­ ürden. Natürlich gibt es in der ersten Klasse Vorteile. Sie haben schön aus­ gestattete Betten und mehr Raum, dinieren mit dem Kapitän, den ers­ ten und zweiten Offizieren. Zudem essen sie jeden Tag Huhn, Ente, frisches Schaffleisch, Pastete, Kuchen und andere feine Dinge. Im Zen­ trum des Schiffes befindet sich ein Aufenthaltsraum, wo wir rauchen, spielen und lesen. Der Grossteil des Schiffes jedoch ist von der dritten Klasse und durch teilweise dubiose Leute besetzt. An Deck hat es auch Ställe, in denen Schafe, Schweine und Fohlen mitfahren. 26


Wir verloren England rasch aus den Augen. Es war kalt, viele wurden seekrank oder bekamen Kopfschmerzen. Wir hatten keinen kirchlichen Dienst und keine öffentlichen Gebete, wie dies auf den meisten der ­Southamptonboats praktiziert wird. Wenn die See stürmisch wurde, zogen sich Lapage und ich in die ­Kabine zurück. Wir schliefen auf den beiden Kajütenbetten oben. Mit uns war ein junger Herr, der für die Schafzucht auswanderte, und ein dritter Mann, der zwei Jahre in der Südarmee gedient hatte. Wir haben nur Raum für den Kleiderständer und drei Nägel, um un­ sere Mäntel und Kleider aufzuhängen. Für das Wasser zum Waschen wird eine Weissblechschüssel benutzt. Doch es ist nur erlaubt, wenig Wasser dafür zu verwenden, und Salzwasser kann nur mit einer beson­ deren Seife benutzt werden. Fortsetzung, Donnerstag, 22. März Da ich gestern zu lange an der Sonne geschrieben habe, leide ich jetzt an Kopfschmerzen. Als die See vor ein paar Tagen so wild und rau war, schlug ich den an­ deren vor, ein Tagebuch zu führen. So, dass auch sie danach spannende Briefe schreiben können. Doch da diese Leute keine Erfahrung mit der Seekrankheit hatten, waren sie unfähig zu schreiben und zu lesen. Ich konnte von einem deutschen Ehepaar, das in der dritten Klasse reist, kleine Tabaksamen abkaufen. Sie sprechen beide kein einziges Wort Englisch und wurden von englischen und irischen Arbeitern be­ trogen, die mit ihnen in derselben Kabine sind. Die Drittklass-Passagiere sind ein lumpiger Haufen von 20 bis 25 Ker­ len. In der zweiten Klasse sind wir zehn Reisende, in der ersten Klasse reisen ebenfalls zehn. Die Mannschaft besteht aus ungefähr zehn See­ leuten, drei Offizieren, dem Kapitän, einem Dutzend M ­ aschinisten, einem Heizer, einem Zimmermann, drei Köchen, Stewards, Dienern und Service Boys. 27


Diese Tage hatten wir nachts regelmässig raue See, die Nacht auf Sams­ tag war die schlimmste. Unaufhörlich tauchte und stieg der Dampfer hoch und legte sich von Zeit zu Zeit derart stark zur Seite, dass die ge­ samte Fracht durcheinander geriet und alles Gepäck verrutschte. Lei­ der hat es eines der sieben Rettungsboote weggespült. Wenn es so stür­ misch ist, nehme ich den Teller mit dem Essen jeweils vom Tisch und lege ihn auf meine Knie. Wir hatten Glück, dass wir nicht die Bucht von Biscaya kreuzen muss­ ten. Die Motoren hätten uns kaum die ganze Zeit gegen den Strom schieben können. Nach neun Tagen sichteten wir erstmals wieder Land: Wir sahen die Insel Madeira. Von acht Uhr früh bis acht Uhr in der Nacht sind unsere Kabinen zu heiss, um sich darin aufzuhalten. Wenn das Meer ruhig ist, können wir unsere kleinen Luken öffnen. Doch sobald es Wellen gibt, müssen wir sie schliessen, ansonsten würden Bett, Bücher, Krägen und viele andere Dinge mit Salzwasser durchnässt. Am Dienstag sahen wir in der Ferne eine unbewohnte Insel. Der Kapi­ tän erzählte uns, dass dort ein Piratenschiff einen Schatz versteckt habe. Allerdings habe ein portugiesisches Schiff vor zehn Jahren vergeb­ lich nach dem versteckten Gold gesucht. Diese Tage folgten uns lange Fische, sogenannte Tümmler. Sie tauchten kurz an der Wasseroberfläche auf und verschwanden gleich wieder. Ein Mann schoss auf sie, traf jedoch keinen. Sie waren zu schnell. Bald werden wir einen 24-Stunden-Halt in St. Vincent (statt in ­Madeira) machen. Wir hoffen, dass wir dort Lagerhallen finden, um Früchte und angenehme Reiseutensilien zu kaufen. Doch ich muss jetzt Schluss machen für heute, ein Kuss für jeden von Euch. Euer Rodolfo Hannah lässt den Brief sinken. Sie sieht ihn, wie er die Tage und Wochen auf diesem Dampfer verbringt, stundenlang schreibt, wahrscheinlich auch aus Langeweile, alles analysiert und beobachtet, was um ihn herum geschieht. 28


Nun hat ihr Friedrich Rodolfo wiedergebracht. Friedrich hatte sie nach ihrem Wegzug immer wieder im Jura aufgesucht und ihr nach drei Jahren einen Heiratsantrag gemacht. Das war im Frühjahr 1869. Sie kannte ihn von der Schule her. Er war ein zurückgezogener, feingliedriger Junge, trug eine Brille, las wie sie viel und vertiefte sich gerne in Gespräche. Die grosse Liebe war es nicht, doch ihre Ehe ent­ wickelte sich in Respekt und Wertschätzung zueinander. Nach der Hochzeit zogen sie in eine Wohnung im Stadtzentrum von Basel. Von Rodolfo sprach sie nie. Gedankenversunken schiebt Hannah den Brief zurück in den Umschlag, legt ihn auf den Stapel und vergewissert sich der Reihenfolge der Daten zwischen Tagebuch und nächstem Brief. An Bord der Cordoba, 23. März 1866 Ich habe viel Zeit, schreibe andauernd Briefe an meine Eltern, und wenn ich könnte, würde ich auch H. an meiner Reise Anteil nehmen lassen. Schreiben, wie sehr ich mir wünschte, sie wäre bei mir. Dass ich sie ver­ misse und gerne meine Gedanken mit ihr teilen würde. Was sie wohl tut? Ich will mich von ihr lösen. Auf mich wartet Argentinien. Der Alltag auf dem Schiff mit den vielen Männern ist keine leichte An­ gelegenheit. Die hygienischen Verhältnisse sind mangelhaft, das Essen ebenso. Lapage und ich haben viel Zeit zum Reden, doch ich erzählte ihm nichts von H. Er würde mich auslachen. Für ‹Weiber›, wie er die Frauen nennt, hat er wenig übrig, wie er jedenfalls zu sagen pflegt. Es seien Wesen, die er nicht verstehe und die ihn verunsichern würden. Und sowieso, ­Kinder wolle er keine. Geliebte, in Gedanken küsse ich sanft deine Hand, atme den Duft dei­ ner Haut tief ein und fahre deinen Rundungen entlang.

Hannah schliesst die Augen. Auch sie roch ihn gerne. Sie drückte jeweils ihre Nase an seinen Hals und sog seinen Duft ein. Wie gerne wäre sie ewig mit ihm verschmolzen gewesen. 29


Wenn sie nach den geheimen Treffen abends im Bett lag, stellte sie sich vor, wie er sie aufsuchen würde in ihrem Kummer. Und wie es wäre, wenn sie die Nacht zusammen verbrächten. Oft streichelte sie dann ihren Busen. Mit schlechtem Gewissen lag sie jeweils im Bett und lauschte, ob die Mutter in der Nähe war. Sie rutscht vom Kachelofen hinunter und geht in die Küche, um Holz nachzulegen. Dass sie noch Nachthemd und Morgenmantel trägt, bemerkt sie erst jetzt. Ihr ist, als ob die Zeit nicht mehr existiert und sie mit Rodolfo auf hoher See ist.

Freitag, 23. März 1866 Liebe Familie, Lapage schreibt normalerweise am Morgen und ich am Nachmittag. Am Mittwoch sahen wir Licht in Häusern auf der Insel Teneriffa. Wir blieben alle auf bis Mitternacht, bei schönstem Mondlicht. Unsere Tagesbeschäftigung begann gegen neun Uhr mit einem Spazier­ gang. Am Bug schauen wir als Erstes, ob vor uns ein Schiff ist. In d­ iesen zwei Wochen Fahrt sahen wir nur wenige Schiffe, vielleicht ein ­halbes Dutzend Segelboote und Kohlenschiffe. Dann sprechen wir manchmal mit anderen Männern. Es ist spannend, den Mann an Steuer und Kompass zu beobachten. An Bord hat es viele Bücher; etliche von Sir Walter Scott. Es ist schade, dass wir so wenig zu tun haben. Nun beschreibe ich Euch ein paar unserer Reisegefährten an Bord der Cordoba, zuerst Passagiere in der ersten Klasse: Hamilton ist ein Gent­ leman, von mittlerer Grösse, nicht gut aussehend, mir erscheint er nett und grosszügig. Wir haben zwar noch keine engere Beziehung aufge­ baut, doch dazu bleibt uns noch Zeit. Er hat in einem Broker-Office in Liverpool gearbeitet und weiss viel über Wert und Qualität der Wolle und will alles über Schafe wissen. Ein anderer Herr, der mich in der ersten Klasse am meisten interessiert, ist ein Gentleman aus Berkshire, der einen Sohn und einen Neffen besuchen will, die Schafhirten in 30


der Provinz Entre-Ríos sind. Mit dabei hat er einen englischen Schaf­ hirten, seine Frau und viele Hunde für die Jagd. Dieser Mann schaut ständig nach seinen Tieren und nach seiner Frau, die ihm beinahe so viel zu tun gibt wie alle übrigen Arbeiten zusammen; dies ist keine ­Ermutigung für eine Ehe! In der zweiten Klasse sind wir uns näher. Da ist z. B. ein reicher älte­ rer, mehrsprachiger Gentleman, der rund um die Welt gereist ist. Er hat auch schon ein Segelschiff eines Freundes betreut und kennt die Mittelmeerregion und die Schweiz besser als ich. 1829 war er im Ber­ ner Oberland überall zu Fuss unterwegs. Der Kapitän zeigte mir eine gute Landkarte von den Nord-Provinzen Córdoba, Santa Fé, Corrientes etc. Er empfiehlt die Córdoba-Provinz am meisten, weil diese, sobald die Eisenbahn dort eröffnet werden kann, zu einem grossen Vorteil wird. Er hat selber ein grosses Stück Land zwischen Rosario und Córdoba gekauft und will dort Exkursio­ nen machen, während er sein Schiff leert und neu belädt. Fortsetzung, Samstagnachmittag, 24. März 1866 Der Kapitän wüsste viel über das Land, doch er spricht eigentlich nur mit den Erstklasspassagieren oder wenn er dazu genötigt wird. Wir haben einen Reiseführer für Buenos Aires und die Provinz erhal­ ten, doch er ist bereits 1863 erschienen. Lapage und ich haben vor, in Buenos Aires vorerst eine Unterkunft mit einem Aufenthaltsraum und drei Betten zu finden. Hamilton schlägt vor, so rasch wie möglich für ein paar Monate auf einer Estancia zu ver­ bringen. Estancia ist das argentinische Wort für eine Farm oder ein grosses Gut. Er will unterdessen nach käuflichem Land Ausschau hal­ ten. Ich weiss nicht, über wie viel Kapital Hamilton verfügt. Ich glaube, dass er mich fragen wird, ihn als Partner zu begleiten, so dass er grösser beginnen kann. Doch ich will nichts überstürzen und kaufen, bevor ich eine gewisse Zeit in diesem Land gelebt habe. 31


Heute Morgen hatte ich Schwierigkeiten, meine kleine Kiste herauszu­ bekommen. Dann klappte es doch noch, und ich packte einige Sachen aus, darunter meine Flöte, um etwas spielen zu können. Ausser derje­ nigen der drei schlecht eingespielten Offiziere, gibt es an Bord keine Musik. Dann haben wir vier weibliche, unauffällige Bedienstete in der zwei­ ten Klasse, eine von ihnen ist ein dunkles, spanisch aussehendes Mäd­ chen. Sie sind für eine Lady verpflichtet worden und reisen nach Mon­ tevideo. Wir führen allgemeine Konversation, und manchmal wollen sie Geschichten von Lapage und mir hören. Diese jungen Ladys kommen gelegen; sie nähen oder flicken unsere Hüte oder Handschuhe oder sind für andere kleinere Aufmerksam­ keiten nützlich. Das Klima ist angenehm. Die meisten Passagiere spazieren auf dem Deck bis spät in die Nacht hinein. Manchmal trinken wir eine Flasche helles Bier, das billigste Getränk an Bord. Ein paar Kekse sind zurzeit unser Abendessen. Weder Bier noch Wein gibt es umsonst, nicht einmal in der ersten Klasse. Zum Glück liess Mutter meinen Namen auf die neue Berner Hose nähen. Denn der Kapitän sagte uns, dass wir vermutlich in Buenos Aires für neue Kleider Zoll bezahlen müssten, es sei denn, wir könnten beweisen, dass diese bereits getragen wurden. Ich glaube, dass meine Kisten die solidesten von allen auf dem Schiff sind, und ich habe keinen Zweifel, dass sie von grossem Nutzen sind, wenn nicht weisse Termiten das Holz zerfressen. Die Cordoba hat sich in den letzten zwei Tagen wegen des starken Win­ des nur langsam vorwärtsbewegt. Die Männer sind den ganzen Tag damit beschäftigt, Kohle zu laden. Wir hoffen auf ein gutes Bad in St. Vincent. An Bord ist es kaum mög­ lich, sich gründlich zu waschen. Ganz allgemein könnten wir unsere Reise besser geniessen, wenn wir mehr Beschäftigung oder einen kom­ fortablen Platz für unsere Korrespondenz hätten. 32


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