Gastort Thun

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Isabelle Schletti  ·  J on Keller

Gastort Thun h i stor isch · tour istisch · Nostalgisch

z y t g l o g g e


Für Margrit Für Rosmarie

Alle Rechte vorbehalten Copyright: Zytglogge Verlag, 2012 Lektorat: Hugo Ramseyer Korrektorat: Monika Künzi, Jakob Salzmann Umschlagfoto: Kutsche vor Kursaal Thun, Postkarte, undatiert Lithos: FdB, Für das Bild – Fred Braune, Bern Gestaltung/Satz: Franziska Muster Schenk, Zytglogge Verlag Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-7296-0847-4 Zytglogge Verlag · Schoren 7 · CH-3653 Oberhofen am Thunersee info@zytglogge.ch · www.zytglogge.ch


Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Merk-Würdigkeiten in Thun von anno dazumal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Wissenswertes aus

Himmlische Aussicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

den ersten Reisehand­büchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Sehenswürdigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

Die Anfänge der Reiseliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

Lustwandeln und Promenieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

Warum man überhaupt die Schweiz bereiste

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Gasthöfe, Pensionen

Wetter und Klima. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

und Grand Hotels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

14

Der Freienhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

Reiseausrüstung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Historischer Rückblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

Touristenführer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

Erste Fremdenkarawanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

Informationen zu Land und Leuten . . . . . . . . . . . . . . 19

Der Freienhof stärkt seinen Ruf. . . . . . . . . . . . . . . . 46

Anreise nach Thun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Die Ära Engemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

Budget

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Das moderne Schlosshotel und sein Untergang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Das neue Hotel-Restaurant Freienhof . . . . . . . . . 57 Hôtel des Bains de Bellevue. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Berühmte Thuner Gäste

Text: Jon Keller

Der Beginn des Knechtenhofer’schen Tourismusimperiums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Die Blütezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

Marquard Wocher… der Thun das grossflächige Thun-Panorama schenkte . . . . . . . . . . . 29

Illustre Klientele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

Napoleon der Dritte … als bernischer Hauptmann auf dem Thuner Waffenplatz. . . . . . . 47

Ein neuer Gastgeber empfiehlt sich . . . . . . . . . . . 72

Johannes Brahms … drei Sommer in Thun. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Die Aktiengesellschaft

Rainer Maria Rilke … mit Mäzen in Thun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

Hotels Thunerhof & Bellevue. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

Ferdinand Hodler… als Lehrling in Thun. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Heinrich von Kleist … intensive Schaffensperiode auf der Thuner Aareinsel. . . . . . . . . . . . 133 Ralph Benatzky … ein Operettenkönig am Thunersee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 König Feisal I. von Irak … mit Entourage im Palace Hotel Thunerhof. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163


Luxuriöses Touristenleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

Streifzüge in die Umgebung und Besuch

Erinnerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

der viel besungenen Alpenwelt. . . . . . . . . . . . . . . . 127

Beliebte Pensionen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

Ausflüge, Spazierfahrten

Pension Rüfenacht Baumgarten . . . . . . . . . . . . . . . 80

und Wanderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

Pension Itten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

Transportmittel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

Grand Hotel Thunerhof. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

Das gelobte Land. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

Euphorie und Desaster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Die beste Adresse im ganzen

Die entscheidenden Werber

Berner Oberland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

für den Tourismus im Berner Oberland. . . . . . . 143

Verkauf an die Aktiengesellschaft. . . . . . . . . . . . . 95

Aufgeklärt in die Romantik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

Erlauchte Gästeschar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Gelehrte und Gipfelstürmer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

Das letzte Aufflackern

Die grossen Meister

des Thunerhof-Sterns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Wie Kunst und Literatur

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

Der letzte grosse Thuner Hotelbau:

die ersten Gefühlstouristen

Das Beau Rivage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

hervorbrachten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Das unvergessliche Fest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

Vergnüglichkeiten

Staatsmänner und Schöngeister . . . . . . . . . . . . . . . . 158

der Grandseigneurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Vereinsengagement und

Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

touristische Werbung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Anmerkungen und Quellennachweise . . . . . . . 144

Tun und Lassen in der Belle Epoque . . . . . . . . . . . . 108

Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Der Hofstetten-Boulevard. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

Bildhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

Glanzlichter im Kursaal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

Dank

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192


Vorwort

Bereits vor über 200 Jahren war das Berner

die aufkeimende Begeisterung für die idylli-

Oberland eine Reise wert – dies bezeugt ein

schen Naturschönheiten lockten schliesslich

Blick in die damaligen Reisehandbücher.

­immer mehr Fremde ins Berner Oberland.

Thun erlebte seine touristische Blütezeit dementsprechend bereits vor der Belle Epoque.

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war Thun der

Schon sehr früh entstanden hier die ersten

bestzugängliche Ausgangsort für die beliebten

­touristischen Infrastrukturen, so dass es zum

Alpenreisen, welche gut betuchte Touristen aus

wichtigsten Fremdenverkehrs­zentrum des

ganz Europa unternahmen. Die Glanzzeiten

­Berner Oberlandes heranwuchs.

­waren die 1840er und 1850er Jahre. Aber auch

Die Gründe dafür lagen nicht nur in der günsti-

um die Jahrhundertwende, als Interlaken längst

gen verkehrsgeografischen Lage, sondern vor

die Führungsrolle im Fremdenverkehrsgeschäft

allem in der eindrücklichen Szenerie, in welche

des Berner Oberlandes übernommen hatte,

die mittelalterliche Stadt an den Gestaden des

blühte der Tourismus in Thun noch einmal auf.1

Thunersees eingebettet war. Sie bot eine einzigartige Aussicht auf die heroische Gebirgs-

Wie gelangten all die Fremden in das Städtchen

und Gletscherwelt und auf das liebliche See-

an der Aare? Wo logierten sie? Wer waren

und Hügelland.

ihre Gastgeber? Welche Geschichten sprechen

Die Furcht vor den mächtigen Eisriesen hatte

aus ihren Gaststätten, Palasthotels und Pensio-

sich im 18. Jahrhundert durch wissenschaftliche

nen? Wie verbrachten sie ihren Aufenthalt?

Erforschung, sportlich ambitionierte Erschlies-

Wie wurden sie umsorgt? Welche Sehens­

sung und künstlerische Auseinandersetzung mit

würdigkeiten wurden ihnen geboten?

dem Gebirge mehr und mehr in Faszination

Was ­unternahmen sie? Wo vergnügten sie sich?

­umgewandelt. Die Berichte, Schriften und

Und wer waren sie, die Prominenten und

­Gemälde über die fabelhafte Alpenwelt sowie

­Reisefreudigen?

7


Ausschnitt aus Farblithografie, Seite 21

Das vorliegende Werk möchte diese Fragen

schwänglich ausgefallen sind und hier oder dort

Autor unterschiedliche Güte auf. Wo immer

­beantworten, indem es den Gastort Thun in den

ein bisschen übertrieben erscheinen, hielt die

möglich wurden die Fakten jedoch wissen-

Vordergrund rückt. Der Fokus liegt dabei auf

Autoren nicht davon ab, sie in diesem Buch auf-

schaftlich untermauert.

den Gästen und Gaststätten im 19. und begin-

zuführen, geben sie doch ein treffliches Bild der

nenden 20. Jahrhundert. Die Autoren unter­

nostalgischen Gefühls- und Ferienwelt wieder,

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern

lassen es aber nicht, den einen oder anderen

in welcher die damaligen Fremden schwebten.

eine interessante und vergnügliche Reise

geschichtlichen Exkurs einzuflechten, gelegent-

«Die Stimmung, die zum Fabulieren verleitet,

in die touristische Vergangenheit unserer

lich eine Verknüpfung mit der Neuzeit zu schaf-

ist gerade das, was den höchsten Reiz des Rei-

­pitto­resken und schmucken Stadt!

fen und den Blick ab und zu in die umliegenden

selebens ausmacht, zugleich ein Beweis dafür,

­Gegenden zu werfen, so dass die touristische

dass die Reise ihren Zweck erfüllt und das

Isabelle Schletti (Gastort Thun) und

Entwicklung noch besser nachvollziehbar wird.

­Gemüt leicht und frei gemacht hat» – so lautet

Jon Keller (Berühmte Thuner Gäste)

Dabei wird auch auf die Entdeckung der Alpen

sinngemäss ein Zitat aus dem Illustrierten Frem-

als zentraler Impuls für den Fremdenverkehr

denblatt von Thun und Umgebung aus dem Jahr

des Berner Oberlandes und somit der Stadt

1903.3

Thun eingegangen.2 Die Autoren trugen in erster Linie die vorhande-

8

Anhand wissenschaftlicher und historischer

ne Sekundärliteratur, wissenschaftliche Studien,

Fakten, aber auch mittels subjektiver Berichter-

historische Werke, Reisehandbücher, Chroniken,

stattungen aus den vergangenen Jahrhunder-

Werbematerial, alte Zeitungsartikel, Webinfor-

ten sollen so die verflossenen Blütezeiten des

mationen usw. zum vorliegenden Buch zusam-

Thuner Tourismus veranschaulicht und erlebbar

men. Das benutzte Quellenmaterial weist dem-

gemacht werden.

entsprechend je nach Interpretationsfreiheit

Dass die Erlebnisberichte einiger begeisterter

eines Zeitungsredaktors oder der Individualität

Touristen oft allzu pathetisch und über-

eines Tagebuchverfassers, je nach Epoche und


Wissenswertes aus den ersten Reisehand足b端chern

9


Die Anfänge der Reiseliteratur

Die Schweiz als klassische Tourismusdestination gehörte zu den ersten Ländern, in denen Reiseführer verwendet wurden. Schon im 17. Jahrhundert entstanden erste Reisebeschreibungen in Brief- oder Tagebuchform. Fortan dienten solche Tagebücher der europäischen Oberschicht als Reisehandbücher auf ihrer Grand Tour durch Europa, welche immer beliebter wurde und bei der Ausbildung der jungen Adeligen und Gelehrten nicht mehr wegzudenken war.4 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verfasste der Berner Theologe und Naturwissenschaftler Jacob Samuel Wyttenbach den ersten Reiseführer im klassischen Sinn. Aufgrund seiner vielen Bergexpeditionen erwarb sich Wyttenbach viel Erfahrung und ein grosses Wissen über die alpine Topografie und Reisetechnik. Einheimische wie Fremde suchten bei ihm Rat, so auch Johann Wolfgang von Goethe, als er 1779 seine Tour durch das Berner Oberland antrat. Wyttenbachs «Kurze Anleitung für diejenigen, welche eine Reise durch einen Theil der merkwürdigsten Alpengegenden, Grindelwald und über Meiringen auf Bern zurück machen wollen» aus dem Jahr 1777 war Goethe deshalb ein guter Begleiter auf seiner Reise ins Oberland. Als Standardwerk für die Schweiz kann zweifelsohne Johann Gottfried Ebels «Anleitung auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweitz zu bereisen» aus dem Jahr 1793 bezeichnet werden. Der Klassiker für die Oberländer Reiseliteratur war hingegen die «Reise in das Berner Oberland» des Theologen, Philosophen und Schriftstellers Johann Rudolf Wyss d. J. aus dem Jahr 1816. Ab zweitem Drittel des 19. Jahrhunderts ging schliesslich der deutsche Verleger und Reisebuchautor Karl Baedeker als Vater aller Reiseführer in die Geschichte ein. Noch heute zeigen seine Handbücher die gängigen Routen auf.5 10

WISSENSWERTES AUS DEN ERSTEN REISEHAND­B ÜCHERN

Oft gestaltete sich der Aufbau – ähnlich der neuzeitlichen Reiseliteratur – mit historischen Fakten, allgemeinen Angaben zu Geografie und Klima, zu Land und Leuten, zu Anreise, Ausrüstung und Budget sowie spezifischen Informationen zu Sehenswürdigkeiten und Unterkunftsmöglichkeiten.

Titelblatt aus dem Reiseführer von Johann Rudolf Wyss, «Reise in das Berner Oberland», Teil 1, Bern 1816


Bergreisen in den Alpen, Postkarte 1810

Warum man überhaupt die Schweiz bereiste

Gemäss der damaligen Reiseliteratur bestanden die Vorzüge der Schweiz insbesondere in der abwechslungsreichen und interessanten Naturlandschaft. Ebels berühmter Reiseführer war denn auch für alle Reisenden bestimmt, welche den Genuss malerischer Landschaftsperlen suchten. «Die Naturschönheiten sind unerschöpflich, und versprechen dem Land­schafts­maler, dem Dichter und jedem fühlenden Menschen die schönste Befriedigung.»6 Beson­ders «merk-würdig» sei die Schweiz überdies für alle Forscher und Entdecker, vom Philo­sophen über den Historiker bis zum Mineralogen. Neben der Erholung konnte eine Schweizer Reise also bestens mit dem Studium der Naturkunde verbunden werden – wie man es auch dem Reisehandbuch von Robert Glutz-Blotzheim aus dem Jahr 1823 entnimmt: Im Gegensatz zu den übrigen Ländern mit ihren eintönigen Ebenen biete die Schweiz überall interessante Ausblicke. Und aufgrund des starken Höhengradienten begegne man auf engstem Raum verschiedenen Klimata und somit vielfältiger Flora und Fauna.7 Weil den ersten Gästen noch keine richtige Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung stand, mussten die Reisen in der Anfangszeit grösstenteils zu Fuss unternommen werden – zumindest im unwegsamen Berggebiet. Aus diesem Grund wandten sich die meisten frühen Reiseführer an Fussreisende. Das war billig, gesund und «die freiste Art zu reisen, da es den grössten körperlichen und geistigen Genuss versprach».8 Durch die Wanderungen in der Bergluft erfolge eine wunderbare Stärkung der körperlichen und moralischen Gesundheit. Dem «Zustand der Seele bei dem Schauspiel der ausserordentlichen Natur auf den Zinnen der Alpen» widmete Ebel ein ganzes Kapitel, da

sich dort die Seele «in die Räume der Unendlichkeit erweitern kann» und der entfesselte Geist durch die «feierliche und ernste Stimmung des Gemüths» eine «nie empfundene Begeisterung und das Herz unnennbaren harmlosen Frieden» fühlt! Die erhabene Natur werde «ein Tempel des Nachdenkens und der Weisheit», so dass der Aufenthalt in der Schweiz «den Kopf von vielen Vorurtheilen und das Herz von unwürdigen Gefühlen reinigen» könne.9 Bei Glutz-Blotzheim werden Fussreisen zur Stärkung von Herz und Lunge und zur Erfrischung der Nerven ebenfalls gelobt, weil die reine Luft der Brust des Fussreisenden sehr zuträglich sei. Da sich diese Reisen aber sehr zeitintensiv gestalteten, war eine gewisse Organisation unabdingbar. Es war ratsam, mit kleinen Tagesetappen zu beginnen und sie langsam auf acht Stunden auszuweiten. Mehr als zwölf Stunden Fussmarsch pro Tag wurde nur ganz starken Männern zugemutet. Am besten startete man des frühen Morgens. Indem man das Frühstück ausliess, konnte nicht nur Zeit, sondern auch Geld gespart werden.10 11


«Environs de Thoune», Daniel Wegelin (1802–1885), kolorierte Lithografie, um 1855

Baedeker schlug folgende Einteilung für die verschiedenen Tagesetappen vor: Zwischen vier und fünf Uhr morgens sollte man – nüchtern! – loswandern, nach drei Stunden Marsch ein Frühstück einlegen und zwischen zwölf und dreizehn Uhr eine Stärkung aus Brot mit Fleisch oder Käse sowie Wein oder Bier zu sich nehmen. Anschliessend war eine zweistündige Ruhepause empfohlen, damit man bis gegen neunzehn Uhr weitermarschieren, reichlich zu Abend essen und dann frühzeitig zu Bett gehen konnte.11 Dass solche Wanderungen eine gewisse körperliche Konstitution verlangten und insbesondere im Berggebiet nicht unge­fährlich waren, liegt auf der Hand. Reisenden mit Höhenangst, welche angesichts der hohen Gipfel und schroffen Felsschluchten zu Schwindel und schlotternden Knien neigten, wurde deshalb von diesen Vorhaben dringend abgeraten: «Ehe man sich einem gefährlichen Schritt aussetzt, sehe man sich an dem Abgrunde echt satt, bis dessen ganze Wirkung auf die Einbildungskraft erschöpft ist, und man ihn ganz gleichgültig betrachten kann. Zu gleicher Zeit muss man den Weg, welchen man halten will, studieren, und sich den zu machenden Schritt vorzeichnen. Alsdann denkt man nicht mehr an die Gefahr und ist nur beschäftigt, den sich vorgezeichneten Weg zu machen. Im Fall sich aber das Auge an den Abgrund nicht gewöhnt, so sehe man von seinem Vorhaben ab. Denn ist der Weg schmal, so kann sich der Blick auf den Ort, wo der Fuss ­hingestellt werden soll, nicht richten, ohne zugleich den Abgrund zu sehen; dieser Anblick erregt Schwindel, und kann, wenn er sich unvermuthet darbietet, die Ursache eines Unglücks werden!»12

12

WISSENSWERTES AUS DEN ERSTEN REISEHAND­B ÜCHERN

Wetter und Klima

Die naturlandschaftlichen Schönheiten der Schweiz wurden leider nicht selten durch nasskaltes Wetter getrübt. Die ungünstigen Wetterverhältnisse wurden denn auch als kritischer Punkt für Besuche in der Schweiz bemängelt. Einigen Reiseberichten ist zu entnehmen, dass das schlechte Wetter den Fremden einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Auch in Baedekers Ausführungen zu Wetter und Schnee in «Die Schweiz, Handbüchlein für Reisende – nach eigener Anschauung und den besten Hülfsquellen bearbeitet» aus dem Jahr 1844 ist zu lesen, dass in keinem anderen Land «ein Reisender durch anhaltenden Regen mehr gehindert werden kann als in der Schweiz».13 Damit die schlechte Witterung nicht die schönen Aussichten vernebelte, weswegen schliesslich viele Fremde die Reise in die Schweiz überhaupt angetreten hatten, wurden deshalb vor allem die Sommermonate als beste Reisezeit empfohlen.14 Im Gegensatz zum unberechenbaren Klima in den Bergen wurde jenes am Thunersee als äusserst vorteilhaft gelobt. Immer wieder wurden die klimatischen Verhältnisse an der Oberländer Riviera beworben. Nicht umsonst war die Thunersee-Gegend im Mittelalter ein bedeutendes Rebbauzentrum. Durch die umliegenden Hügelzüge vom Nordwind geschützt und durch den mässigenden Einfluss des Wasserbeckens wurde das Klima als sehr mild charakterisiert. Das Gebiet bot sich den Erholungssuchenden deshalb wunderbar für Bade- und Molken­ kuren an. Auch Thun profilierte sich mit dem lieblichen Klima und seinem Angebot an Molkenkuren. Insbesondere um die Jahrhundertwende wurde es als Gesundbrunnen und Luftkurort gerühmt: Aufgrund der sauberen Luft,


13


Denn «ein hoher, befehlender Ton» des Fremden nehme je nach­dem eben Einfluss auf die Rechnung, die man vorgelegt bekommt.

welche übrigens wissenschaftlich immer wieder belegt wurde, eigne sich die Stadt bestens als Übergangsstation vor oder nach einer Kur im Hochgebirge und sei eine ideale Erholungsstation für Rekonvaleszente, nervöse und der Ruhe bedürftige Gäste. Insbesondere bei Blutarmen und Herzkranken habe der tonisierende Einfluss der subalpinen Lage am Thunersee eine gute Wirkung.15

Budget

Die Fremden mussten sich ihren Aufenthalt in der Schweiz einiges kosten lassen. Bevor sich durch die Industrialisierung immer mehr Bürgerliche das Reisen leisten konnten, war dies meist nur den Adligen möglich. Denn das Kostenniveau in der Schweiz war schon damals viel höher als in anderen europäischen Ländern. Einem Handbuch über schweizerische Staatskunde von 1796 ist zu entnehmen, dass es in der Schweiz sowohl in der Stadt als auch auf dem Land sehr viele gute und reinliche Wirtschaften gab. Leider beklagten sich aber viele Fremde über die hohen Preise. Doch lag es schliesslich auf der Hand, dass die meisten Nahrungsmittel aus der Fremde herbeigeschafft werden mussten und schon deshalb nicht «wohlfeil» sein konnten. Es scheint also, dass man auch vor über 200 Jahren das hohe schweizerische Preisniveau mit guter Qualität wettzumachen versuchte.16 Glutz-Blotzheim führte in seinem Reisehandbuch noch andere Gründe zur Erklärung der hohen Preise auf: Die Fremdensaison in der Schweiz sei von Natur aus viel kürzer als in den Nachbarländern, so dass die Einheimischen in dieser kurzen Zeit ihren Lohn für das ganze Jahr erwirtschaften müssten. Und dagegen sei schliesslich nichts einzuwenden. 14

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Im Gegenzug wurde konstatiert, dass im Schweizer Alltag viel mehr getrunken wird, als man es sich gewohnt war. Oft werde «zu viel Wein, in meistens sehr mittelmässigen Sorten aufgestellt, der, auch ungetrunken, doch angerechnet wird.»17 Im Reiseführer von Ebel wurde jedoch nicht nur bei den Schweizern, sondern auch bei den ausländischen Gästen Nachholbedarf geortet. Als Schweizer Tourist sollte man nämlich die örtlichen Umgangs­formen kennen. Denn «ein hoher, befehlender Ton» des Fremden nehme je nach­dem eben Einfluss auf die Rechnung, die man vorgelegt bekommt.18 Konkrete Angaben zu Geld- und Preisfragen erhält man neben den ­Ausführungen von Glutz-Blotzheim auch aus dem Reiseführer von Wyss. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten die Gasthöfe, Führer, Träger, Kutscher und Ruderer noch keine festen Tarife. Sie nahmen das Geld einfach dort, wo es ihnen vorhanden zu sein schien. Als ungefähres Taggeld für Wagen, Mann und Pferd wurden sechs Franken und für einen Ruderer über den See zwei Franken veranschlagt. Dazu kamen die stark schwankenden Trinkgelder sowie Ausgaben für die Bediensteten und weitere Kleinigkeiten. Was die Verköstigung betraf, so war sie überall etwa gleich teuer, egal, ob man auf dem Land oder in der Stadt speiste. Ein Mahl kostete circa zwei Franken, wobei das Nachtessen manchmal sogar billiger ausfiel als das Mittagessen. Ein Frühstück belief sich auf einen halben Franken und das Zimmer für die Nacht auf das Doppelte. Sparmöglichkeiten ergaben sich, indem man anstatt per Wagen zu Fuss reiste, mittags die Wirtstafel mied und sich dafür mit einfachem Proviant zufrieden gab. Auf diese Weise konnten sich auch Weniger-gutBetuchte ihre Reisewünsche erfüllen. Ebel ermunterte deshalb alle


Reise per Post, aus «Das grosse Landbuch», von Hermann Hartmann, undatiert

­ örsen ausgestatteten Gäste getroffenen Anordnungen mustergültige B Leistungen aufzuweisen, namentlich auf den Central-Fremdenplätzen. Die grossen Kur-Anstalten I. Ranges in Thun, Interlaken, Mürren, Beatenberg (…) besitzen eine musterhafte, elegante und dabei comfortable Einrichtung und sind bei durchwegs entsprechenden, aber keineswegs übertriebenen – ja bei längerem Aufenthalt sogar mässigen Preisen – wohl darnach angethan, unser Bestreben, das Reisepublikum zu strahlenförmigen Excursionen von einem Centralpunkte aus zu bewegen, zu rechtfertigen und ihm allen möglichen Vorschub zu leisten.» 20 Wem die Preise in den Anstalten I. Ranges dennoch zu hoch waren, fand schliesslich auch in den Gasthöfen II. Ranges eine gute Ausstattung mit vorteilhaften Konditionen.21

Reiseausrüstung

Jünglinge, welche grosse Talente, aber kein Vermögen besassen, trotzdem die schönsten Länder Europas zu entdecken. Denn «auch mit wenig Geld kann man die Schweiz bereisen, wenn man nur frohen Muth und Kraft in den Gliedern hat.»19 Wer sich also die teuren Post-Eilwagen oder Lohnkutschen nicht leisten konnte, kam trotzdem auf die Rechnung, vorausgesetzt, er verfügte über eine gute Kondition und Ausrüstung. Noch bis zur Jahrhundertwende wurden aus den Nachbarländern immer wieder Klagen über die hohen Preise in der Schweiz laut, wobei man abermals versuchte, mit der perfekten Dienstleistung in der Schweiz zu argumentieren: «Die Schweiz hat in Bezug auf die für das Unterkommen ihrer, den verschiedensten Ständen angehörenden und mit den verschiedensten

Während die Neuzeit leichte und funktionale Reiseausrüstung kennt, musste man sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit schwererem Rüstzeug begnügen. So ist den frühen Reise­führern zu entnehmen, dass für eine Tour ins Gebirge Beinkleider und Kniegürtel unpassend seien. ­Vielmehr empfahlen sich lange Oberhosen und Halbrock. Unterwegs konnte dann der Überrock zu einer Wurst gerollt, mit Schnüren zusammengebunden und über die Schulter getragen werden. «Dies Verfahren ist ausserordentlich nützlich», schrieb E. Hirschfeld 1829 in seinem «Taschenbuch für Reisende im Berner Oberland», denn so würden die Ausdünstung und das Atem­­­holen beim Anstieg sehr erleichtert. Gemäss Glutz-Blotzheim bestand eine zweckmässige Kleidung aus einem tüchernen Oberrock, einem Gilet mit Knöpfen bis zur Halsbinde, weiten und langen Beinkleidern aus Tuch sowie einem Flanell-Unter 15


Topographische Karte von «Thun mit Umgebungen», Abraham Roth, 1873

hemd, das auf blossem Leibe getragen wurde, damit man sich beim Schwitzen nicht erkältet. Für den Kopf eignete sich am besten eine leichte Mütze aus Tuch oder Sammet, welche mit Riemen befestigt und vorne mit einem kleinen Schirm gegen den Glanz des Schnees und gegen die Sonnenstrahlen versehen und mit Wachsleinwand überzogen war. Bei Regenwetter war zudem ein Mantel aus Wachstuch sehr nützlich. Zur weiteren Ausstattung gehörten ein Reisestab, vorzügliche, mit Nägel beschlagene Schuhe sowie ein paar Hundert Ersatz-Schuhnägel, Zwirnstrümpfe (mit Doppelsohlen an Zehen und Fersen), Gama­schen aus Leder, Rasiermesser, Kamm, Spiegel und zwei Enden Wachslicht.22 Vom Mitschleppen eines Ränzels, Mantelsackes oder Tornisters wurde abgeraten, da diese bald zu schwer würden. Dagegen sollte man seine Rocktaschen mit folgendem Inhalt füllen: ein oder zwei Hemden, ein oder zwei Paar Strümpfe, Tücher, lederner Becher, kleiner Kompass, Phosphor-Feuerzeug, kleine Brieftasche, Bleistift sowie Tintenfass mit Stachel.23 «Liebhabern des Zeichnens» wurde empfohlen, Papier und Kreide mitzu­nehmen, um leicht und schnell «treffliche Abrisse zu erhalten und so den Anblick der Natur in Zukunft zum Leben zu erwecken – besser als es durch Beschreibungen möglich sei». Wichtig waren diesbezüglich auch kleine Spiegel, mit denen die Lichter und Schatten sowie die Landschaften zusammengedrängt betrachtet werden konnten und sich so besser studieren liessen.24 Über den notwendigen Reiseproviant schliesslich erfuhr man im Abschnitt «Von den Anstalten zum Leibesbedarf». Als «Mundvorrath» dienten nicht wie heute Isostar und Well­ness­riegel, sondern eine Korb­ flasche mit Himbeeressig oder Kirschwasser. Der mit Wasser vermischte 16

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Kirch­brannt­wein war gemäss Hirschfelds Reiseratgeber ein ideales ­Mittel gegen Müdigkeit und Erschöpfung. Da scheinbar sehr viel Milch getrunken wurde, welche auf den Magen der Fremden oft blähend wirkte, plädierte Wyss hingegen ganz einfach für simples Quellwasser. Gegen den Hunger wurde kaltes Fleisch und Brot empfohlen. Und wem das Brot, welches in den Alpen nicht sehr schmackhaft und eher selten verfügbar war, nicht mundete, sollte «Thee, Caffe und Chocolate» als Ersatz mitnehmen.25 Unter der Rubrik «Anstalten zum Geistesbedarf» wurden des Weiteren Literatur, Schriften und Landkarten aufgeführt, welche unbedingt ins Gepäck gehörten. Allerdings waren die Karten früher ungenau, sehr schwer und oft nur in Massstäben von 1:200 000 oder gar 1:600 000 vorhanden – ein Umstand, der manchen Reisenden manchmal unfreiwillig auf Abwege führte.26 Ferner musste auch für medizinische Notfälle unterwegs vorgesorgt werden. Während heute Compeed-Blasenpflaster zum Standard jeder Taschenapotheke gehören, gab es früher ganz andere Hausmittel zur Behandlung von Blasen und brennenden Fusssohlen: Es wurde empfohlen, sich während langen und beschwerlichen Tagesetappen in den heissen Tälern öfters einige Minuten in Bäche zu stellen, bis Füsse und Strümpfe ganz nass waren. «Sind schon Blasen entstanden, so öffne man sie nicht mit der Scheere, sondern ziehe mit einer Nähnadel an der Grundfläche so nahe als möglich einen Faden durch, und schneide die beyden Enden zwey Linien von der Haut entfernt ab; auf diese Weise wird man den folgenden Tag keine Schmerzen haben und recht gut gehen können.»27 Als Prävention und Abhärtung der Füsse empfahl sich zudem das Einreiben mit Branntwein und Talg oder die Verwendung


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Titelbild einer Vorrede von Albrecht von Haller in «Beschreibung einer Reise, die im Jahr 1776 durch einen Theil der Bernischen Alpen gemacht worden von Samuel Aus Markus Krebser, «Thun und seine Landschaft in der Kunst der Kleinmeister»

­Wyttenbach». Mit einer von Balthasar Anton Dunker gezeichneten und von Josef Störklin radierten und ­gestochenen Vignette.

von Pferdehaarsohlen. Gegen die vielen Mücken und Bremsen in den Alpentälern und auf dem See wurde zudem geraten, lederne Strümpfe zu tragen.28 Angesichts der immensen Ausrüstung, welche die Reisenden mit sich zu schleppen hatten, gab es aber immer wieder Appelle, sein Gepäck auf das Minimum zu reduzieren, denn schliesslich konnte auch während der Reise Schuhwerk erstanden oder die Leinwand gewaschen werden. Zudem tat man gut daran, einige Kleidungsstücke bereits im Voraus an die Orte, die man besuchen wollte, zu schicken. Was die Frauenzimmer betraf, so wurde nicht gewagt, vorzuschreiben, was diese mitzunehmen hätten. Auf jeden Fall wurde auch dem weiblichen Geschlecht Einschränkung geraten.29

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Touristenführer

Damit das schwere Reisegepäck nicht zu sehr ins Gewicht fiel, bestand die Möglichkeit, Touristenführer zu engagieren. Diese Führer trugen den Gästen gewöhnlich zehn bis fünfzehn Kilogramm Gepäck. Zudem kannten sie sich in der Gegend aus, sprachen mitunter englisch und französisch und warteten mit den besten Tipps für gute Wirtshäuser auf. Von ihren Reiseherren bekamen sie jeweils Referenzen, welche sie in einem Heftlein aufbewahrten und potenziellen neuen Kunden als Garant für professionelle Betreuung vorweisen konnten. Die Führer wurden also sehr empfohlen, selbst wenn sie eher teuer waren. In den 1820er Jahren kostete ein Führer sechs Franken pro Tag. Am Ende der Reise bekam er zusätzlich ein Trinkgeld, und für jeden Tag, den er für den Heimweg benötigte, wurden ihm weitere vier Franken vergütet.


Wer sich aufgrund seiner sprachlichen und geografischen Kenntnisse die Reise ohne Führer zumutete und bereit war, einen Teil der schweren Ausrüstung selber zu tragen, dem war geraten, nur ein Pferd mit Knecht zu mieten. So konnten Kosten gespart werden. Bei grosser Reisegesellschaft lohnte es sich ohnehin, ein Pferd oder ein Maultier dabei zu haben, damit Frauen oder müde Männer zuweilen mitreiten und sich ausruhen konnten. Grundsätzlich waren aber kleine Reisegesellschaften den grossen vorzuziehen, da die Gasthäuser eher klein waren und nur über wenige Betten verfügten.30

Das Neuhaus bei Interlaken-Unterseen, aus «Das grosse Landbuch», von Hermann Hartmann, undatiert

Meistens erkundigte man sich in den bekannten Gasthöfen vor Ort nach geeigneten Führern, in Thun zum Beispiel im Freienhof. Die Führer im Oberland wurden sehr gelobt, da sie nicht nur sehr «artig», sondern auch willkommene Gesellschafter in den einsamen Bergtälern waren. Einem Reisebericht aus dem Jahr 1790 ist zu entnehmen, dass der Reisende von einem Küher namens Hotz begleitet wurde, welcher lange als Senner auf einer Alp tätig gewesen war und nun mit seiner Familie im Gwatt wohnte. Der Verfasser war von seinem belesenen und unterhaltsamen Führer so angetan, dass dieser ihn noch bis nach Luzern begleiten durfte.31 Es gab auch Führer, die so gefragt waren, dass man sie schon Monate vor Reiseantritt engagieren musste (so zum Beispiel ein gewisser Herr Werre von Thun). Waren sie bereits gebucht, bestand aber immerhin noch die Möglichkeit, in Neuhaus oder Interlaken einen geeigneten Reisebegleiter zu finden. Dort standen zugleich Lohnkutscher und Pferde für die abenteuerliche Expedition in die Berge bereit.32

Informationen zu Land und Leuten

Neben den praktischen Informationen durften in den Reisehandbüchern auch ein paar Ausführungen zu Land und Leuten nicht fehlen. Das Wissen um die Eigenheiten eines Volkes gehörte schliesslich zum Rüstzeug für einen erfolgreichen, interessanten Auslandbesuch. Schon vor 200 Jahren wurden deshalb Reiselustige über die Charaktereigenschaften eines Berner Oberländers aufgeklärt. Es muss angefügt werden, dass es sich dabei je nach Verfasser um subjektive Pauschalurteile handelte, welche allerdings unterhaltsam zu lesen sind.

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Blick auf Thun, Daniel Wegelin (1802–1885), Farblithografie, um 1844

Wyss merkte 1816 in seiner «Reise in das Berner Oberland» an, dass die «Gemüthsbeschaffenheit» dieses Völkchens grundsätzlich schwierig zu beschreiben sei, da sich entsprechende Berichte zum Teil widersprächen. Kam dazu, dass es nicht nur zwischen den Ober- und Unterländern, sondern auch zwischen den verschiedenen Talschaften grosse Unterschiede gab. Trotzdem lag es auf der Hand, dass eine Landschaft ihre Bewohner prägt, und deshalb finden sich in diversen Büchern Überschneidungen das Oberländer Naturell betreffend. Schon vor rund 450 Jahren beschrieb der Chronist Johannes Stumpf die Berner Oberländer als «ein schön gerad, mannlich und herzhaft Volk».33 Bei Wyss finden wir die Charakterisierung der oberländischen Gemütsart wie folgt vor: Der Oberländer sei von Natur aus zufrieden, witzig, rein, heiter und angenehm gleichmütig. Er sei gastfreundlich, höflich, dienstwillig, ruhig, nicht sehr gesprächig und eher in sich gekehrt: ohne brausende Leidenschaft – analog der Bergluft, in der er lebe. Er habe einerseits einen gesunden Verstand, sei andererseits aber auch ein wenig abergläubisch. Im Gegensatz zu den Emmentalern seien die Oberländer zwar weniger gebildet, verfügten dafür aber über eine feinere Sprache, eine grosse Tapferkeit und einen gesunden Körper.34 Einen ähnlichen Vergleich machte Edouard de Muralt 1865 in seinem Führer durch Thun und dessen Merkwürdig­keiten: Anders als die sehnigen, gedrungenen Gestalten der Emmentaler seien die Oberländer schlank und gewandt. Ihr feineres Wesen sei in den Gesichtszügen und der Sprache ersichtlich.35

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Ein typischer oberländischer Charakterzug sei schliesslich die Gemächlichkeit. Alles Neue sei ihm verhasst. Sein Wesen sei eher von Bequemlichkeit geprägt und auch die Lernbegierde und Arbeitsliebe sei keine typische Eigenart des Oberländers. Der Mangel an Arbeitsliebe komme aber aus der Zufriedenheit. Er sei zufrieden mit dem, was ihm die Natur gibt. Jene, die für bessere Kleidung und Kost ihr Leben mit Arbeiten verbringen, könnten sie nur belächeln.36 Von dieser geringen Arbeitsamkeit war auch in anderen Reisehand­ büchern die Rede: «Die Lernbegierde ist bey diesem Volke überhaupt kein Charakterzug; im Gegentheil wird da alles, wie bey den mehresten Bergvölkern auf Bequemlichkeit berechnet; was man nicht thun muss, wird sicher nicht gethan. Das Behagliche geht bey den Mädchen so weit, dass sie die Erdäpfel auf den Knien aus dem Boden graben, um den Rücken zu schonen; bey der Arbeit tragen sie oft Handschuhe, und wenns regnet, tragen sie zum Melken Regenschirme. Der Mangel an Arbeitsliebe ist ihnen aber sehr gut zu verzeihen, da er grösstentheils durch die Zufriedenheit erzeugt wird!»37 Solche Charakterzüge fielen auch dem Reisenden Karl Spazier im Jahr 1790 auf. In seinem Bericht «Wanderungen durch die Schweiz» schrieb er vom «einfachen, schlichten und gesetzten Geist, der mit der Kälte ausdauert». Auch er schilderte die Berner Oberländer als einen festen und kernhaften Menschenschlag mit einer regelmässigen Lebensweise.38


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Ausschnitt aus Umrissradierung, Seite 26

Anreise nach Thun

Was einen waschechten Berner Oberländer tatsächlich ausmachte, beurteilte der kluge Fremde natürlich am besten vor Ort. Die Anreise nach Thun erfolgte meistens von Bern her. Während einem heute alleine mit dem Zug täglich rund hundert Kurse zur Verfügung stehen, um in circa 20 Minuten von der Haupt­stadt nach Thun zu gelangen, musste man sich um 1790 noch mit dem Lehnwagen, welcher von zwei Pferden gezogen wurde, begnügen. Immerhin war die seit 1772 bestehende Landstrasse zwischen Thun und Bern für damalige Verhältnisse relativ gut ausgebaut. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts fuhr bereits mehrmals wöchentlich eine vierplätzige Diligence von Bern nach Thun, wo die Reisenden auf das Schiff Richtung Oberländer Alpen umsteigen konnten. Die Fahrt en voiture dauerte ungefähr drei bis fünf Stunden. In Gegenrichtung gondelte das Postschiff zweimal wöchentlich aare­ abwärts nach Bern, danach musste es durch schnaubende Pferde dem Ufer entlang wieder nach Thun hochgezogen werden.39 Natürlich konnte man die Reise auch auf Schusters Rappen machen. Je nach Routenwahl und eingeschalteten Pausen dauerte dies zwischen fünf und sechs Stunden. Der schnellste Weg führte dabei über Münsingen durch das Aaretal, man konnte aber auch auf das Gürbetal ausweichen oder über Schwarzenburg oder Grosshöchstetten reisen. Beliebt war ferner ein Umweg über die Blumenstein- oder Gurnigelbäder, wo sonntags so genannte Volks­belustigungen stattfanden. Überhaupt gab es genügend Orte, um sich unterwegs zu vergnü­gen. Allein auf der Route Bern – Thun gab es zwölf Schenken, etliche Brennereien, Trink­häuser und Badewirtschaften. Diese zogen nicht nur Touris 22

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ten, sondern auch allerlei Armen­pack, Gesindel und Buhldirnen an. Den Anfang machte im Bodenacker bei Muri gar ein «Lustigmacher-Haus». Manch einer beklagte deshalb die zunehmende Immoralität. Vor allem den Pfarrern und Behörden waren die «Verschwendungs- und Lieder­ lich­keits-Anstalten» ein Dorn im Auge.40 Egal ob man zu Fuss oder mit der Postkutsche reiste, überall – und insbesondere im Aaretal – bestaunten die Fremden die mittelländisch fruchtbare Landschaft mit den vielen Obstbäumen und Hecken. Sie bewunderten den Wohlstand der bernischen Bauernhöfe und die schönen Dörfer, wo meist grosse Ordnung und Reinlichkeit herrschten. Die heitere, flache Gegend nordwestlich von Thun war mit einem ganzen Register «der schönsten und fruchtbarsten Güter» bestückt. Und während man an den zierlichen und romantischen Landhäusern vorbei langsam die Tore der Stadt erreichte, bot sich ab und zu Gelegenheit, Erlebnisse und Erfahrungen mit den vielen Reisenden, welche gerade von ihrer Oberland-Tour zurückkehrten, auszutauschen.41


Merk-W端rdigkeiten in Thun von anno dazumal

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