18
September Mai 2022 2012
| HISTORIE |
IM GRÜNDUNGSJAHR DER ERSTEN SAMMELSTELLE 1919: Marie-Elise und Konrad Kayser mit Tochter Brigitte und Sohn Rupprecht
»Mütter gebt von eurem Überfluss« Es ist Mittwoch, der 4. Juni 1919, als in einer Zeitungsmeldung des »Magdeburger Generalanzeigers« die damals für Deutschland neue Einrichtung ins Licht der Öffentlichkeit tritt. Unter der Überschrift »Gründung einer Sammelstelle für Frauenmilch« ist dort kurz und bündig aufgeschrieben, was, und mit welcher Intention, da künftig an der Säuglingsabteilung des Altstädtischen Krankenhauses vonstattengehen soll: »Schon vor dem Kriege starben in der warmen Jahreszeit von den Flaschenkindern ein höherer Prozentsatz, als von den von der Mutter selbst gestillten. Es ergeht daher die Bitte an alle diejenigen Mütter, die reichlich für das eigene Kind haben, von ihrem Reichtum täglich eine, wenn auch noch so kleine Menge für ein anderes, vielleicht sonst dem Tode geweihtes Kind abzugeben.« Die gesammelte Milch werde zweimal am Tag abgeholt, zur Sammelstelle gebracht und von dort an bedürftige Kinder verteilt. »Das Lebensmittelamt gibt solchen Müttern, die auf diese Weise zwei Kinder ernähren, besondere Lebensmittelzulagen.«
IN JENA MEDIZINISCHE DOKTOREHREN ERLANGT Initiiert hatte den Aufruf die in Jena promovierte Kinderärztin Marie-Elise Kayser, damals noch unter ihrem Mädchennamen Schubert. Am 18. November 1885 in Görlitz als siebentes von acht Kindern des Baurats Ernst Schubert und dessen Ehefrau Elise geboren, hatte sie zunächst die Volksschule und die zehnklassige höhere Töchterschule besucht und als 20-Jährige am Berliner Kaiserin-Augusta-Gymnasium zu Ostern 1906 das Abitur bestanden. Ebenfalls in Berlin nahm sie noch im selben Jahr als Gasthörerin ein Medizinstudium auf, um nach nur einem Jahr an die Universität nach Jena zu wechseln, wo u.a. der Zoologe Ernst Haeckel, der Psychiater Otto Binswanger und der Mediziner Felix Lommel zu ihren Lehrern zählten. Als eine der Vorreiterinnen in Sachen Frauenstudium war sie im April 1911 die erste Frau an der »Salana«, die ein medizinisches Staatsexamen ablegte, und im April 1912 nach Veröffentlichung ihrer Dissertation zum Thema
»Zystenbildung am Gebärmutterhals« den medizinischen Doktorgrad verliehen bekam. Vermutlich angeregt durch ihr Medizinalpraktikum auf der Geburtsstation der Jenaer Frauenklink in der Bachstraße, ließ sie sich nach ihrer Approbation an der Heidelberger Kinderklinik über zwei Jahre zur Kinderärztin fortbilden. Danach folgte sie 1914 ihrem ehemaligen Jenaer Kommilitonen Konrad Kayser nach Magdeburg, der inzwischen Oberarzt an der dortigen Landesfrauenklinik geworden war. EIN KIND UND EINE IDEE WIRD G EBOREN Seit dem 1. August 1914 mit ihm verheiratet, arbeitet Marie-Elise Kayser zunächst in der Säuglingsvorsorge der Klinik, leitet den ärztlichen Betrieb einer Kriegskinderkrippe und wirkt seit 1915 zudem als frei praktizierende Kinderärztin. In ihrer Praxis steht ihr dabei regelmäßig ein nur schwer erträglicher Gegensatz vor Augen: Mütter mit Milch für zwei oder mehr Kinder auf der einen, kranke
Abb.: Medizinhistorische Sammlung am Universitätsklinikum der FSU Jena / Stadtarchiv Erfurt
UM DER DAMALS NOCH WEIT VERBREITETEN SÄUGLINGSSTERBLICHKEIT etwas entgegenzusetzen, begründete MarieElise Kayser am 19. Mai 1919 in Magdeburg die erste Frauenmilchsammelstelle in Deutschland. Zu Blüte und internationaler Ausstrahlung gebracht hat die Kinderärztin, die 1912 an der Universität Jena als erste Frau einen medizinischen Doktortitel erwarb, ihre Idee jedoch seit 1927 in Erfurt.