agora42 3/2019 SINN

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Wie lässt sich wirtschaften?

A G O R A

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voll

Muss die Arbeit einen haben?

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Hat der Fortschritt seinen verloren?

Was ist der

des Ganzen?

Ist alles

los?


INHALT

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—3 EDITORIAL —4 INHALT

TERRAIN Hier werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

—8 DIE AUTOREN —9 Jacob Schmidt

»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!« – Zum drohenden Sinnverlust einer arbeitsfixierten Gesellschaft

— 28 Frank Augustin

Wo ist er hin, der Sinn? – Der Mensch in der Glaubenskrise — 34 PORTRAIT

Albert Camus und die Ethik des Absurden

von Andreas Luckner — 16 Armin Nassehi

Sinn und Sinne — 22 Leon Schmid

— 98 IMPRESSUM

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Konsum und die Sehnsucht nach Sinn


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Inhalt

I

H

INTERVIEW

HORIZONT Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen?

— 58 DIE AUTOREN — 59 Constanze Eich

Flexibel? – Aber bitte mit Sinn! — 64 Paul Ariès — 44

»Das ist keine Hoffnung, sondern eine Notwendigkeit« Interview mit Aysel Osmanoglu (Vorstandsmitglied der GLS Bank)

Mehr als nur Brot und Spiele – Der Weg aus dem Kapitalismus führt über die Gratiskultur — 71 Christian Unverzagt

Der Weg des Widersinns — 76 Janina Urban

Die Radikalität der Liebe

— 82 VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN

Vom Suchen und Finden des Sinns — 88 WEITWINKEL

Plädoyer für eine Gemeinsinn-Ökonomie von Silja Graupe und Stephan Panther LAND IN SICHT — 92

EMMA — 94

myops — 96 GEDANKENSPIELE

von Kai Jannek

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DIE AUTOREN

© Foto: Hans Günther Kaufmann

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Jacob Schmidt

T E R R A I N

studierte Psychologie und Gesellschaftstheorie in Jena und war dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Graduiertenkolleg „Modell Romantik“ tätig. Nach dem Einreichen seiner Promotion Achtsamkeit: Zu den Selbst-WeltModellen einer kulturellen Praxis wartet er nun auf die Verteidigung.

Armin Nassehi lehrt am Institut für Soziologie der Ludwig-MaximiliansUniversität München und ist Herausgeber der Kulturzeitschrift Kursbuch. Im August erscheint von ihm: Muster. Theorie der digitalen Moderne (C.H. Beck, 2019). — Seite 16

© Foto: Janusch Tschech

— Seite 9

Leon Schmid studiert Philosophie an der Brecht-Universität Augsburg und ist Magazinmitmacher bei agora42. Er isst gerne Müsli und trägt gelegentlich Kleidung. Außerdem ist er identisch mit sich selbst. — Seite 22

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Frank Augustin

Andreas Luckner

hat Philosophie und Geschichte studiert, dann für das Journal für Philosophie der blaue reiter gearbeitet und ist seit 2009 für agora42 | Das philosophische Wirtschaftsmagazin tätig.

lehrt Philosophie an der Universität Stuttgart und koordiniert dort das Ethisch-Philosophische Grundlagenstudium. Zuletzt von ihm erschienen: Existenz (De Gruyter Verlag, 2018; zusammen mit Sebastian Ostritsch).

— Seite 28

— Seite 34


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»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!« T E R R A I N

Zum drohenden Sinnverlust einer arbeitsfixierten Gesellschaft

Text: Jacob Schmidt

Das Bier gibt es zum Feierabend, die ausgelassene Party am Ende der Woche, den entspannten Urlaub nach mühevollen Monaten des Schuftens. All die schönen Dinge werden in unserer Gesellschaft an eine Bedingung geknüpft: Arbeit. Doch was geschieht, wenn uns die Arbeit ausgeht? 7


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T E R R A I N

Sinn und Sinne Text: Armin Nassehi

Die Welt hat keinen Sinn, den es bloß zu entdecken gälte. Vielmehr wird der Welt Sinn immer unterstellt: Gestalten entstehen erst im Zuge der „sinnhaften“ Sortierung des wahrgenommenen „Weltmaterials“, von dem man gar nicht recht weiß, ob es der Welt selbst entstammt. Wer sich auf die Suche nach dem Sinn begibt, sucht also eigentlich nach der Instanz der Wahrnehmung, dem Menschen oder anderen kognitiven Operatoren – und damit nach der gesellschaftlichen Konstitution von Sinn. 14


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Sinn und Sinne

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Wie Sinne die Welt erst sinnhaft machen

Aus astronomischer Sicht freilich stellen sich auch sehr konkrete Sinnfragen, denn für den menschlichen Wahrnehmungsapparat sind die Blitze unsichtbar, weil sie in einem für uns nicht zugänglichen Frequenzbereich senden. Sie müssen gewissermaßen artifiziell sichtbar gemacht werden – mit Parabolantennen und einer komplexen Software. Der „Sinn“ der Radiowellen liegt dann in der Frage der Selektivität ihres Auftretens jenseits von Zufall und Hintergrundrauschen. Es geht also um ihre Sinnhaftigkeit, also ob sie überhaupt etwas bedeuten beziehungsweise ob sie im Hinblick auf unsere eigenen Beobachtungsschemata einen Unterschied machen. Es geht bei diesem zugegebenermaßen etwas weit hergeholten, also im wahrsten Sinn des Wortes sehr weit hergeholten, Beispiel um die Frage, was wir sehen, wenn wir etwas sehen. Es geht bei Sinnfragen nicht primär darum, ob etwas sinnvoll, sinnlos, sinnstiftend oder unsinnig ist – es geht also weniger um Bewertungen, die anhand einer Sinnskala vorgenommen werden könnten. Es geht darum, was wir sehen, es geht um Sinnhaftigkeit – also wenn man so will um die kognitive Sinnhaftigkeit unserer Operationen. Denn wir sind umgeben von Radiowellen, die sich nicht von selbst zeigen, sondern für die man ganz ähnlich wie im kanadischen Fall des Radioteleskops eine eigene Apparatur braucht, um sie sichtbar zu machen. Früher hätte man vielleicht nicht nach einer wahrnehmenden Parabolantenne samt Erkennungssoftware gefragt, sondern nach der „Lesbarkeit der Welt“ (Blu15

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m Februar 2019 erschien in Nature, also dem weltweiten Zentralorgan der Hochleistungsnaturwissenschaften, ein Artikel, in dem von Fast Radio Bursts berichtet wird, die von dem kanadischen Radioteleskop CHIME (Canadian Hydrogen Intensity Mapping Experiment) in British Columbia aufgezeichnet worden sind. Seit 2012 kennt man das Phänomen sich wiederholender Radioblitze, deren Herkunft noch unklar ist. Sie fallen auch deshalb auf, weil sie einerseits besonders energiereich sind, andererseits wiederholt auftreten. Man kann das Schema ihres Auftretens noch nicht wirklich entschlüsseln. Dem astronomischen Laien, also der überwiegenden Mehrheit der Beobachter, dürfte sich hier die Frage stellen, ob es sich gerade wegen der unklaren Herkunft und der unregelmäßigen Form der Wiederholung womöglich um eine intelligente Herkunft handelt; und je weiter man von der Expertise über den Fall entfernt ist, desto eher wird man geneigt sein, sich zu fragen, ob die Signale nicht doch einen Sinn haben und damit auf Leben oder gar intelligentes Leben verweisen. Wenigstens könnte man daraus interessantere Meldungen machen als aus den wissenschaftlichen Fragen darüber, was man da eigentlich zu sehen bekommt. Wissenschaftler vermuten hier explizit keine intelligenten Quellen, aber auch hier geht es darum, aus bestimmten Mustern die Herkunft der Wellen zu erschließen, weil man diese im Gegensatz zu den Wellen selbst nicht sichtbar machen kann. Ein Intelligenzverdacht entsteht freilich stets dann, wenn die Muster eher unregelmäßig und überraschend sind. Das ist es wohl, was wir von intelligenten Entitäten erwarten.


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T E R R A I N

Konsum und die Sehnsucht nach Sinn

Text: Leon Schmid

In unserer schönen neuen Wirtschaftswelt teilen wir als Massenkonsumenten vielerlei Selbstverständlichkeiten, die Sinn und Unsinn unseres Konsumverhaltens betreffen. Das geschäftige Denken verhindert jedoch zumeist die Reflexion über das, was wir tun, wenn wir konsumieren. Zeit für eine kontemplative Besinnung. Mit dem philosophisch instruierten Blick zeigt sich, dass wir alle Konsumisten sind, ob wir wollen oder nicht.

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B

evor wir uns mit dem Konsumismus und damit dem Herzen heutiger Konsumgesellschaften befassen, wollen wir uns zuvor eine grundlegende Orientierung verschaffen und der Frage nach dem basalen Sinn des Konsums nachspüren. Was ist Konsum? Eine (menschliche) Handlung, die darin besteht, etwas zu verzehren, zu verbrauchen oder dergleichen, unabhängig vom damit verbundenen Zweck. Das mag zunächst etwas seltsam anmuten, denn üblicherweise richtet sich die Beschreibung und die Klassifizierung einer Handlung danach, welcher Zweck damit verfolgt wird. Der Zweck gibt den Sinn, den intentionalen Gehalt einer Handlung vor. Im Fall des Konsums, verstanden als ein spezifischer Tätigkeitstypus, geraten wir hierbei allerdings schnell in Beschreibungsnöte: Ich esse mein Frühstücksmüsli nicht, um es zu konsumieren. Vielmehr esse ich es, um meinen Hunger zu stillen. Konsum ist ein Mittel zur Bedürfnisbefriedigung und nicht der Zweck einer Handlung. Das merke ich unter anderem daran, dass ich den Erfolg meiner Handlung nicht daran bemesse, ob mein Müsli restlos aufgebraucht ist, sondern danach, ob mich die Portion gesättigt hat. Die Konsumtätigkeit ist Ausdruck dessen, dass mir etwas fehlt; etwas, das ich begehre. Sie ist Ausdruck meines Daseins als Mangelwesen. Selbstverständlich esse ich mein Müsli nicht nur, um meinen Hunger zu stillen, sondern auch, um mir ein angenehmes Geschmackserlebnis zu verschaffen. Im Bereich des Genusses lässt sich die Handlung schon eher als konsumorientiert beschreiben, denn je mehr Gewicht ich auf den lustvollen Erlebnisgehalt des Verzehrs lege, umso wichtiger wird der Verzehrungsprozess selbst. Ich esse mein Müsli nun nicht mehr, um in erster Linie meinen Hunger zu stillen, sondern vor allem, um es in all seinen köstlichen Geschmacksnuancen zu erkunden. Wenn ich aber meine Aufmerksamkeit während des Essens nicht auf den Geschmack

richte, dann werde ich den übergeordneten Zweck – das lustvolle Geschmackserlebnis – nicht erreichen. Trotzdem werde ich konsumiert haben. Halten wir also fest: Konsum ist nicht selbst zweckhaft, aber dennoch zweckrelativ. Er kann mit einer Vielzahl verschiedener Zwecke in Verbindung stehen. Kann er also nicht auch als Selbstzweck angestrebt werden? Konsum um des Konsums willen? Ich esse mein Müsli, um es zu verbrauchen. Meine Absicht besteht nun darin, das Müsli, indem ich es esse, aus der Welt zu schaffen. Mit jedem Happen bewirke ich bereits die Realisierung meiner Absicht. Im Vollzug liegt zugleich die Erfüllung, genauso wie beim Genuss, nur dass es in diesem Fall nebensächlich ist, wie das Müsli schmeckt. Es fällt mir allerdings schwer, eine derartig selbsterfüllende Konsumhandlung zu ersinnen, ohne dabei ein umfassenderes Ziel zu unterstellen, wie beispielsweise die unnachgiebige Vernichtung aller Müslivorräte. Das Beispiel soll zeigen, dass man zwar Konsum um seiner selbst willen zu erstreben vermag, aber niemals nur um seiner selbst willen, denn das Handeln findet im selbstzweckhaften Konsumieren keinen sinnvollen, befriedigenden Abschluss. Deswegen kann das höchste Gut und damit das Glück für den Menschen auch nicht im Konsum bestehen. Wenn Konsum überhaupt eine argumentative Chance in der Suche nach dem Sinn des Lebens haben soll, dann insofern, als er (sinnlichen) Genuss verspricht. Lust und Genuss sind hingegen selbst nur notwendige, aber keine hinreichenden Momente eines gelungenen Lebens. Darin stimmen die meisten Menschen wohl überein. Schwieriger wird es jedoch, wenn wir uns vom basalen Konsum entfernen und uns dem Glaubensgrundsatz heutiger Konsumgesellschaften annähern. Hier liegen die Verlockungen des Konsums nicht mehr nur in der Aussicht auf Genuss, sondern darüber hinaus in der Aussicht auf (Lebens-)Sinn. Im Konsumismus erreicht diese sonderbare Lebensform schließlich ihren Höhepunkt. Um ihren fulminanten Aufstieg in gebührender Differenziertheit zu verstehen, müssen wir uns zuvor dem Konsumbegriff im weiteren Sinn und seiner Grundlegung widmen. 21

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Konsum und die Sehnsucht nach Sinn


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Wo ist er hin, der Sinn?

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Der Mensch in der Glaubenskrise

Text: Frank Augustin

Es ist verständlich, dass man sich die Zukunft schönredet. Tatsächlich aber wird das Leben immer sinnloser.

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Wo ist er hin, der Sinn?

A

Zwei tote Götter

Man könnte es auch so sagen: Erst heute werden wir damit konfrontiert, was es tatsächlich bedeutet, dass „Gott tot ist“. Denn als der große alte Sinnstifter sich von der Bühne schleppte, gab man sich nicht etwa als Regisseur des Stücks zu erkennen und schloss das Theater, sondern sah sich aus Angst vor Trennungsschmerz und Sinnverlust nach einem anderen Hauptdarsteller um – der jetzt ebenfalls seine Abschiedsvorstellung gibt. Bekanntermaßen hatte der von Menschengeist geformte Gott im 18. und 19. Jahrhundert massiv an Glaubwürdigkeit verloren, was Friedrich Nietzsche veranlasste, vom „Tod Gottes“ zu sprechen. Der Verlust des Glaubens an eine göttliche Vorsehung bedeutete, dass die in religiösem Sinn geordnete Lebenswelt zerbrach, in der alles sinnvoll aufeinander verwies und auch dem Menschen selbst ein fester Platz zugewiesen war. Für all jene, die es sich in der Vorstellung eines „höheren“, von Gott gestifteten Sinns – eines Universalsinns – eingerichtet hatten, bedeutete dies nicht weniger als eine gesamtweltliche existenzielle Krise. Zwar kam es in der Epoche der sogenannten Aufklärung zur Abkehr des Menschen von Gott, jedoch keineswegs zur Abkehr des Menschen von einem selbst- und weltversichernden Universalsinn. Vielmehr galt das Motto: Ein neuer Universalsinn muss her! Ein Ersatzsinn, der möglichst glaubhafter sein sollte als sein Vorgänger. So wurde der neue Sinnstifter jener, der den alten auf dem Gewissen hatte: der Gott der Vernunft. Genauer: Der Glaube, es gäbe einen großen gesetzmäßigen Zusammenhang („Welt“, „Natur“ oder auch „Universum“ genannt), in dem bestimmte „vernünftige“ Prinzipien und Regeln gelten, und einen vernunftbegabten Menschen, der – eingebettet in diesen Zusammenhang – diese Prinzipien und Regeln erkennen kann. Dieser Zusammenhang war im Unterschied zu früher nicht abstraktgeistig, sondern konkret-materiell. Entsprechend wurden die Wissenschaftler 27

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lles Sinnvolle implodiert. Alles sicher Geglaubte zerfällt. Es geht bergab. Längst ist der gesellschaftliche Extremzustand zum Normalfall geworden, wie selbst in der kaum zu Zuspitzungen neigenden ZEIT von Bernd Ulrich festgestellt wurde („Es gibt offenbar einen Extremismus der Normalität“). Man hat in allen Bereichen – Gesellschaft, Wirtschaft, Natur, Körper, Psyche – auf Substanz gelebt. Und jetzt wird abgerechnet. Das bedeutet nicht bloß eine „Verschlechterung der Lebensqualität“, wie es wohlstandsgepuffert noch heißt, sondern das kostet Menschenleben. Die Frage, die sich somit stellt: Kann in einem allgemeinen Niedergang ein sinnvolles Leben geführt werden? Was könnte das überhaupt für ein Sinn sein, der mehr als die Absicherung des eigenen Lebens betrifft? Ehrlich gesagt: keine Ahnung. Es fehlt jegliche Grundlage, auf der man sich Gedanken über die sinnvolle Gestaltung der Zukunft machen könnte. Das, was war, bietet keine Perspektive für das, was sein wird. „Wer indes ohne Zukunft lebt“, schreibt der Psychologe Christian Kohlross, „der stößt (…) in jedem Augenblick an die Grenze seines Untergangs. Denn sein Handeln kennt weder wirkliche Ziele und letzte Zwecke, noch sonst einen Sinn. Denn die lägen ja in der Zukunft. Mit einem Wort: Wer ohne Zukunft lebt, der lebt im Zustand fortwährender Depression.“ Puh! Ist das alles nicht übertrieben? Menschen sind doch erfinderisch! Es gibt doch immer Hoffnung! Ja, Hoffnung gibt es. Und das macht alles noch schlimmer. Denn, wie der Philosoph Slavoj Žižek treffend feststellt: „Wahren Mut beweist man nicht, indem man sich vorstellt, wie es anders sein könnte, sondern indem man die Tatsache, dass es keine klar erkennbare Alternative zu den bestehenden Verhältnissen gibt, mit ihren Konsequenzen akzeptiert: Davon zu träumen, wie es anders sein könnte, ist ein Zeichen gedanklicher Feigheit. Es funktioniert als Fetisch, der uns davon abhält, unsere missliche Lage in ihrer schieren Ausweglosigkeit zu erfassen.“


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Portrait

Albert Camus T E R R A I N

und die Ethik des Absurden

—

Text: Andreas Luckner

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Interview

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»Das ist keine Hoffnung, sondern eine Notwendigkeit«

– Interview mit Aysel Osmanoglu

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Aysel Osmanoglu

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Frau Osmanoglu, das Motto der GLS Bank lautet: „Das macht Sinn“. Inwiefern „macht“ die GLS Sinn?

wurde 1977 in Bulgarien geboren. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks emigrierte ihre Familie 1989 in die Türkei, wo sie in Istanbul ihr Berufsabitur absolvierte. Mit 18 Jahren fasste sie den Entschluss, nach Deutschland auszuwandern. In Heidelberg nahm sie ein Grundstudium der Volkswirtschaftslehre auf, dass sie in Frankfurt am Main mit einem Hauptstudium der Betriebswirtschaftslehre abschloss. Parallel zu ihrem Studium arbeitete sie ab 2002 als studentische Aushilfe bei der Ökobank, welche gerade im Begriff war, mit der GLS Bank zu fusionieren. Nach dem Abschluss des Studiums begann sie 2006 als Trainee bei der GLS Bank. Im Jahr 2013 wurde sie Bereichsleiterin der Ressorts Basisgeschäft und Marktfolge. Seit Anfang 2016 ist sie zudem verantwortlich für die Themen Infrastruktur/IT und Mitglied der Zukunftswerkstatt. Zum 1. Oktober 2017 wurde sie in den Vorstand der GLS Bank berufen.

Mit Banken verbindet man heute Spekulation, Geldwäsche Zinstricksereien oder irreführende Beratung – ganz sicher jedoch nicht das Schenken. Was hat die Gründer der Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken, kurz GLS, bewegt, sich das „Schenken“ auf die Fahnen zu schreiben?

Mit unserem Namen sprechen wir die unterschiedlichen Qualitäten von Geld an: Es wird zum einen als Kaufgeld verwendet, mit dem wir täglich zu tun haben, wenn wir etwas kaufen, um es zu konsumieren; dann als Leihgeld, das wir als Bank in Form von Krediten und Beteiligungen investieren; und schließlich als Schenkgeld, für mich die ultimative Form des Umgangs mit Geld. Das Kaufgeld ist eher vergangenheitsorientiert. Wir sagen damit zum Produzenten: „Vielen Dank, dass du das Konsumgut gemacht hast.“ Es zeigt sich darin die Anerkennung für den Produzenten und er wird bestärkt, solche Produkte erneut herzustellen. Das Schenken dagegen ist viel ungebundener: „Mache dich mit deiner Vision auf den Weg, mit deiner außergewöhnlichen Idee. Wir vertrauen auf deine Zukunftskräfte.“ Das Leihgeld ist dazwischen: „Du hast einen konkreten Plan für ein sinnvolles Vorhaben. Wir tragen dazu bei, dass dein Plan aufgeht und werden am Erfolg partizipieren.“ Wie wird das Schenken in Ihrer Bank praktiziert?

Wir bieten unseren Kunden viele Möglichkeiten an, sinnvoll zu schenken, insbesondere durch unsere Schwesterorganisation, die GLS Treuhand e.V., die eine breite Palette von großartigen Projekten hat, für die gespendet werden kann. Oder Sie gründen mit ihr einen eigenen Stiftungsfonds oder sogar eine selbstständige Stiftung. Ein Klassiker der GLS Bank ist die „Schenkgemeinschaft“: Wenn beispielsweise Eltern einen Kindergarten starten wollen und jeder monatlich 20 oder 40 Euro zusagt, dann finanzieren wir das vor und zahlen die zukünftigen Spenden sofort an den Kindergarten aus – je nach Unterstützerkreis 20.000 bis 100.000 Euro. Am Anfang ist das oft der entscheidende Betrag. Dadurch haben wir schon über 1.000 neue Initiativen ermöglicht. Ab diesem Herbst werden wir die Schenkgemeinschaft digitalisieren, sodass die Unterstützer keinerlei Papierarbeit mehr haben und für ihre Organisation digitale Communitys nutzen können. Wir machen also aus unserem Klassiker ein digitales Angebot, das dann hoffentlich breit genutzt wird und neue Ressourcen in die Zivilgesellschaft bringt.

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I N T E R V I E W

Aysel Osmanoglu

Wir unterstützen ausschließlich Initiativen und Projekte, die nachhaltig sind. Und zwar nachhaltig im dreifachen Sinn: sozial, ökologisch und ökonomisch. Genau in dieser Reihenfolge. Der Mensch mit seinen Bedürfnissen steht im Mittelpunkt und im Zusammenhang damit selbstverständlich auch seine Existenzgrundlage: die Umwelt, also das Ökologische. Das Ökonomische wiederum ist eine Konsequenz unserer wirtschaftlichen Interaktion mit anderen Menschen und stets in Austausch und Verbindung mit der Umwelt. Aus diesem Dreiklang erwächst der GLS-Sinn.


DIE AUTOREN

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H O R I Z O N T

Constanze Eich

Paul Ariès

studierte Allgemeine Rhetorik, Germanistik und Romanistik in Tübingen und Paris. Sie ist Beraterin für angewandte Rhetorik und strategische Kommunikation, Autorin und Rednerin sowie Gründerin der Unternehmensberatung eichcommunications.

ist Politologe, Essayist und Chefredakteur der französischen Zeitschrift Les Zindigné(e)s. Außerdem leitet er das Observatoire International de la Gratuité (OIG). Er hat sich an der Einrichtung und der Betreuung einer Vielzahl von Gratis-Experimenten sowohl in Frankreich als auch in anderen Ländern beteiligt.

— Seite 59

— Seite 64

Christian Unverzagt

Janina Urban

ist Philosoph, Kunsthistoriker und Ostasienkundler. Er lebt als freier Autor in Heidelberg. 1991 veröffentlichte er zusammen mit Volker Grassmuck Das Müll-System (Suhrkamp Verlag). Zuletzt von ihm erschienen: Masse und Bewegung (Econotion Verlag, 2015).

ist wissenschaftliche Referentin für Neues ökonomisches Denken am Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung und interessiert an sozialen Bewegungen, Philosophie und Kapitalismuskritik. Sie engagiert sich beim Democracy in Europe Movement 2025 und zu Fragen der Zukunft der Europäischen Union.

— Seite 71

— Seite 76

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Flexibel?

H O R I Z O N T

– Aber bitte mit Sinn!

Text: Constanze Eich

In Zeiten großer Veränderung sei es sinnvoll, flexibel zu bleiben: Generelle Anpassungsfähigkeit, Offenheit für Neues und innere Wandlungsfähigkeit sollen die Arbeitstauglichkeit und damit die eigene Existenz sichern. Wie aber sollen sich aus dieser haltlosen Haltung heraus sinnvolle Zukunftsaussichten ergeben?

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Interview

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H O R I Z O N T

Mehr als nur Brot und Spiele —

Der Weg aus dem Kapitalismus führt über die Gratiskultur

Nachgefragt bei Paul Ariès

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Herr Ariès, was sind die Vorzüge der Gratisversorgung gegenüber dem bedingungslosen Grundeinkommen? Mein Ziel besteht keineswegs darin, die Gratisversorgung (gratuité) dem Grundeinkommen entgegenzusetzen, da Letzteres nicht ein Einkommen ist, das nur dem Überleben dient, sondern eines, das auch dem guten Leben zuträglich ist. Es ist ein Instrument, um unsere gesamte Lebensweise umzugestalten und im selben Zuge die herrschenden Ungleichheiten drastisch zu reduzieren. Daher bezeichne ich die Unentgeltlichkeit (gratuité) als ein entmonetarisiertes Grundeinkommen. Die Gratisversorgung scheint mir mindestens drei große Vorteile gegenüber einem monetären Grundeinkommen oder einem Soziallohn zu bieten. Alle diesbezüglichen Untersuchungen belegen, dass, wenn man von bestimmten Leistungen ausgeht, die Gratisversorgung weitaus weniger kostet als ein monetäres Einkommen. Das OIG schätzt, dass die Gratisversorgung im Durchschnitt viermal weniger kostet als die Bereitstellung eines Grundeinkommens. Die Forschungseinrichtung zur Ökonomie an der Universität London nennt sogar einen sechsfach geringeren Betrag. Doch das ist in unseren Augen nicht das Wesentliche: Die Gratisversorgung wirkt nicht nur der Kommerzialisierung entgegen, so wie es auch das Grundeinkommen tut, indem es ein vom (Arbeits-) Markt befreites Einkommen bereitstellt. Vielmehr strebt sie eine grundlegende Entmonetarisierung an. Um der zunehmenden Kommerzialisierung zu entgegnen, schlagen wir als neues Paradigma das der maßvollen Nutzung und der Verteuerung des Missbrauchs vor. Warum sollte man für das Wasser, das man für seinen Haushalt nutzt, denselben Preis bezahlen, wie für das Wasser, mit dem man seinen Pool befüllt? Was für das Wasser gilt, müsste auch für die Gesamtheit der Gemeingüter gelten. Ich möchte betonen, dass es weder eine wissenschaftliche noch eine moralische Definition des guten oder

des schlechten Nutzens gibt. Die einzig akzeptable Definition ist eine politische, soll heißen eine kollektive auf gemeinsamer Abwägung beruhende Definition des Bedarfs. Die Gratisversorgung setzt nicht auf das individuelle Verlangen, sondern auf die kollektive Intelligenz. Die Menschen bestimmen den Unterschied zwischen einer normalen Nutzung von Wasser und dessen Verschwendung. Wir gehen davon aus, dass wir nicht dieselben Antworten erhalten, wenn wir die Menschen in ihrer Eigenschaft als KonsumentInnen oder aber in ihrer Eigenschaft als BürgerInnen befragen. Es liegt an den Menschen zu entscheiden, in welchem Bereich mit der Gratisversorgung begonnen werden soll: Wasser oder Energie, öffentlicher Personennahverkehr oder kulturelle Dienstleistungen etc. Es liegt ebenso an den Menschen, für den jeweiligen Bereich zu entscheiden, was davon kostenlos, was teurer oder was sogar verboten sein soll. Die Gratisversorgung hat nichts mit den bestehenden kostenlosen Sozialleistungen gemein. Diese systembegleitende Form der Unentgeltlichkeit ging bisher stets mit Erniedrigung und Überwachung einher. Diese Form der Vergütung für die vereinsamten Schiffbrüchigen des Systems hat es nie ermöglicht, den Kurs der Dinge, die Konzeption der bereitgestellten Leistungen zu ändern. Das Schöne an der öffentlichen Schule ist, dass die Kinder nicht danach gefragt werden, ob sie aus reichen oder aus armen Familien stammen, weil sie als Kinder per se berechtigt sind, eine Schule zu besuchen. Wieso sollte das, was sich im Bereich der Schule oder der Gesundheit bewährt hat, nicht auch für die anderen tragenden Säulen der Existenz, wie dem Recht auf Wohnraum oder der Ernährung gelten? Die Gratisversorgung kommt einer Logik der Rechtserweiterung gleich, einer konstanten Anerkennung neuer Rechte.

DAS OBSERVATOIRE INTERNATIONAL DE LA GRATUITÉ (OIG)

wurde ins Leben gerufen, um Projekte aufzuspüren, die öffentliche Dienstleistung oder Gemeingüter gratis zur Verfügung stellen. Paul Ariès, der Leiter dieser Warte, sieht in derartigen Projekten die Vorstufe einer neuen Gesellschaftsform, die dem Kapitalismus Paroli zu bieten vermag. Die gratuité hat Ariès zufolge ein weitreichendes emanzipatorisches Potenzial. Wir haben ihm Fragen zu seinem Ansatz gestellt, die er so umfangreich beantwortet hat, dass wir sie in einem Artikel zusammengefasst haben. Den zentralen Begriff der gratuité haben wir wahlweise mit Gratisversorgung, Gratiskultur oder Unentgeltlichkeit wiedergegeben.

H O R I Z O N T

Mehr als nur Brot und Spiele

Warum sollte man für das Wasser, das man für seinen Haushalt nutzt, denselben Preis bezahlen, wie für das Wasser, mit dem man seinen Pool befüllt?

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H O R I Z O N T

Der Weg des Widersinns

Text: Christian Unverzagt

Haben die vielen Krisen – Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Eurokrise, Klimakrise, Ressourcenkrise, Demokratiekrise etc. – in eine allgemeine Sinnkrise geführt? Oder war der Widersinn schon vor Ankunft der Krisenarmada angelegt und kommt nun sinnvollerweise zum Vorschein?

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Radikalität und Sinn — H O R I Z O N T

Was macht die Liebe mit uns?

Text: Janina Urban

Wir müssen reden … Über die Liebe. Denn Liebe ist keineswegs eine rein private Angelegenheit. Auch wenn sie ihre sinnstiftende wie auch sinnvernichtende Wirksamkeit in der persönlichen Lebensgeschichte entfaltet. Doch darüber hinaus ist die Liebe sowohl von gesellschaftlichen Faktoren geprägt, wie sie auch selbst ein prägender gesellschaftlicher Faktor ist. Keine Revolution erfolgt ohne Leidenschaft. 74


„W

enn dies revolutionäre Zeiten wären, dann würden wir über die Liebe streiten“, schreibt der kroatische Philosoph Sre ko Horvat in seinem Buch The Radicality of Love. „Das tun wir zurzeit allerdings nicht.“ Horvat ist neben seiner theoretischen Arbeit auch Aktivist, befreundet mit teils kontroversen Persönlichkeiten, wie etwa dem australischen Whistleblower Julian Assange, dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek oder dem ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, mit dem er zusammen die paneuropäische Bewegung DiEM25 (Democracy in Europe Movement) gründete – und wodurch ich auf ihn aufmerksam wurde. Sein Bestreben, dass wir unsere Vorstellungswelten für eine gerechte Zukunft in Europa wieder kultivieren müssen, prägt zunehmend meine Generation, die jetzt in ihren 30ern ist, und dann eben auch dieses schwierige Thema der Liebe. Über Liebe und Sinn zu schreiben, ist mir fast ein wenig peinlich – so als ob mich jemand argwöhnisch anschaut und fragt, ob ich noch ernsthaft an die Liebe glauben kann. Von meinem Standpunkt als politisch engagiertem Menschen ist diese Feststellung dann wiederum ganz schön erschreckend, als ob es nicht die Themen wären, die mich tagtäglich umtreiben, Menschen in Depressionen werfen und die anscheinend doch nur (wieder) dem Privaten zugerechnet werden. Für das Nachdenken über die Rolle der Liebe für das eigene und das politische Leben können Horvats Ansätze mit denen der in Israel tätigen Schriftstellerin Eva Illouz ins Gespräch gebracht werden – eine dialektische Sichtweise mit einer soziologischen – anhand der Fragen: Was macht die Liebe mit uns? Was machen wir mit ihr und welcher Sinn ergibt sich hieraus für das Leben und Denken im aktuellen Jahrzehnt?

Das Sich-Verlieben Liebe hat etwas Disruptives: Wir werden aus unserem Alltag herausgerissen. Den Bezugspunkt unseres Denkens und Handelns bildet auf einmal diese eine Person, in die wir uns verliebt haben. Liebe verrückt das Gleichgewicht in unseren Tätigkeiten. Wo wir unsere Zeit auf die Arbeit, die Freunde und die Familie aufgeteilt hatten, möchten wir auf einmal nur noch Zeit mit dieser einen Person verbringen, (wenngleich uns eingeredet wird, wir sollten nicht unsere eigenen Interessen dabei vernachlässigen). Aus meinem Interesse wird unser Interesse, das ‚Wir wollen …‘ kommt schneller über die Lippen, als man es kontrollieren kann, und unsere Entzückung über die kleinen Gesten oder Eigenartigkeiten des anderen sind von außen nur schwer nachzuvollziehen. Sre ko Horvat beschreibt Liebe als ein Ereignis, das sich rückwirkend selbst setzt: Wir lieben eine Person nicht wegen ihres Lächelns, ihrer Haare oder Sprache, sondern weil wir schon verliebt sind, finden wir diese Details so anziehend. Dies macht die Liebe zentral für die eigene Sinnstiftung: Wenn ich verliebt bin, erscheint es mir so, als füge sich diese Begegnung in eine Kette von schicksalshaften Ereignissen ein, die in dieser Liebe gipfeln mussten. Das Bestehen einer Liebesbeziehung wirft ein rettendes Licht auf die Frage, was wir in diesem Leben zu suchen haben.

Das Ende der Liebe Das Ende einer Beziehung stellt wiederum infrage, ob es je Liebe gewesen ist. In dem Fall, dass ich ungewollt verlassen werde, stehe ich vor dem Rätsel, warum die andere Person nicht mehr das in mir sieht, was sie zu Anfang und im Laufe der Beziehung in mir gesehen hat. Häufig ist es der sich auftuende Spalt zwischen meiner bisherigen Geschichtsschreibung einer funktionierenden Beziehung und der Variante, von der ich jetzt gezwungen werde, sie zu akzeptieren, der am meisten Schmerz verursacht. In dem Fall, dass ich eine Person verlasse, stellt sich hingegen die Frage, wie ich jemals mein ganzes Leben mit ihr verbringen wollen konnte. Nur Sympathie und Gewohnheit mögen das sich lösende Beziehungsgeflecht noch für eine Weile aufrechterhalten. Manchmal stellt sich eine Beziehung sogar als das zentrale Hindernis für das eigene Wohlergehen heraus, welches man vor der alles verändernden Entscheidung nie erkannt hätte. Die Geschichte des unausweichlichen Eintreffens der Liebe kann einem Gefühl der absoluten Zufälligkeit der Begegnungen weichen und das Erlebnis der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebensverlaufs wieder ins Gegenteil verkehren. Der Fakt des Durchlebens diverser Beziehungen – man könnte auch fast sagen die Anhäufung – und das Beobachten dieser Zyklen bei anderen (häufig schon früh bei den Eltern, dann bei Freunden

Liebe hat etwas Disruptives: Wir werden aus unserem Alltag herausgerissen.

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Radikalität und Sinn


VER ANT WOR TUNG ÜBERNEHMEN

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In der Reihe VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN führen die Köpfe der Thales-Akademie offene Gespräche mit progressiven Unternehmerpersönlichkeiten oder stellen eigene Erfahrungen und Positionen aus ihrer Forschungs- und Bildungsarbeit zur Diskussion.

THALES-AKADEMIE:

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Die gemeinnützige Thales-Akademie bietet heutigen und zukünftigen Verantwortungsträgern die Möglichkeit, fundiertes Expertenwissen und eigenständige Lösungsstrategien zu den aktuellen Herausforderungen der Wirtschaftsethik, Medizinethik und Digitalethik zu entwickeln. Hierfür bietet die Thales-Akademie praxisnahe philosophische Seminare für Unternehmen und Hochschulen sowie – gemeinsam mit der Universität Freiburg und der Hochschule Furtwangen – die beiden berufsbegleitenden Weiterbildungen Wirtschaftsethik und Medizinethik an. Beide Weiterbildungen schließen mit dem international anerkannten Certificate of Advanced Studies (CAS) ab. Der nächste Jahrgang der Weiterbildung Wirtschaftsethik startet im September 2019; Bewerbungsschluss ist der 1. August. www.thales-akademie.de

Seminarhaus für die Weiterbildungen zur Wirtschaftsethik und Medizinethik in Freiburg

Das Team der Thales-Akademie

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Vom Suchen und Finden des Sinns

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Vom Suchen und Finden des Sinns – oder: Warum 42 nicht die Antwort ist — „Ich bin 22 Jahre alt, besitze einen akademischen Grad, einen luxuriösen Wagen, ich bin finanziell gesichert, und es steht mir mehr ‚Sex‘ und Macht zur Verfügung, als ich verkraften kann. Nur dass ich mich fragen muss, was für einen Sinn das alles haben soll.“ Nein, diese Sätze stammen nicht von einem ausgebrannten Bachelor-Absolventen unserer Tage. Sie stammen von einem Patienten des Psychologen Viktor Frankl, den dieser bereits 1970 in seinem Aufsatz Der Wille zum Sinn zitiert. Kann uns dieses Bekenntnis heute noch etwas vermitteln? Kann es uns an verschüttete Einsichten erinnern oder auf neue Fragen stoßen? Nun, zumindest dürfte es heute schwerfallen, schon mit 22 Jahren ein solches Maß an Saturiertheit und Sinnentleerung zu erreichen. Heute müssen wir eher noch einen MBA draufsetzen, einen Selbstfindungstrip an die Ostküste Australiens unternehmen und unbezahlte Überstunden in agilen Start-ups absolvieren, um derart verunsichert und erschöpft darnieder zu sinken und uns zu fragen, wie wir die Jahre auf diesem eigenartigen Planeten eigentlich verbringen wollen. Doch auch jenseits dieser zweifelhaften Gnade der späten Geburt deutet das Bekenntnis von Frankls Patient auf fünf Besonderheiten unserer Sinnsehnsucht hin, von denen wir uns gerade heute inspirieren lassen können.

H O R I Z O N T

Text: Philippe Merz

Erstens: Sinnsehnsucht ist eine uralte, zutiefst menschliche Erfahrung

Es ist keine neue Einsicht, dass ein Lebensentwurf, der primär auf Konsumoptionen und Statussymbole ausgerichtet ist, stets an der Schwelle zum Sinnverlust steht. Im Gegenteil, diese Einsicht reicht allein in unserem Kulturkreis bis zu Sokrates zurück, der beim Gang über den Marktplatz Athens einmal ausgerufen haben soll: „Ach, wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf!“ Die Geschichte des abendländischen Denkens beginnt insofern sowohl mit Konsumkritik als auch mit dem Zweifel, ob ein Leben, das auf äußere Bestätigung durch Ämter, Macht, Reichtum oder Reputation angelegt ist, tatsächlich dauerhaften Sinn zu stiften vermag. Wie tief unsere Sehnsucht nach solch dauerhafter Sinnerfahrung reicht, bestätigen Studien von Biologen, Soziologen und Psychologen spätestens seit den 1960er-Jahren, und zwar nicht zuletzt dadurch, dass die Erfahrung von Sinnlosigkeit schon bei jungen Erwachsenen „die Grenzen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaftsordnung“ überschreitet, wie der Psychiater Osvald Vymetal bereits 1966 bemerkte. Demnach gründet die Erfahrung existenzieller Sinnlosigkeit keineswegs in einer wachstums- und wettbewerbsorientierten Wirtschaftsordnung als solcher, sondern ist vielmehr das notwendige Pendant einer zutiefst menschlichen Fähigkeit zum Sinn, die in der Jugend erstmals mit all ihrer Offenheit und Fragwürdigkeit erlebt wird. 81


WEIT W INK EL

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Niko Paech Niko Paech

Die Rubrik WEITWINKEL präsentiert plurale und kritische Perspektiven auf aktuelle ökonomische und wirtschaftspolitische Themen. Denkgefängnisse, in denen wir in politischen und alltäglichen Debatten oft unwillkürlich gefangen sind, sollen aufgezeigt und deren Mauern gesprengt werden. So soll sich der Blick auf das Neue, das Ungewöhnliche und durchaus auch Unbequeme weiten. Die Macher der Reihe WEITWINKEL sind Professorinnen und Professoren der Cusanus Hochschule, die Ökonomie im weiten Sinn verstehen – das heißt im Dialog von Wirtschaftswissenschaften, Philosophie, Kulturgeschichte, Soziologie und Politikwissenschaften. Die Cusanus Hochschule ist eine junge, staatlich anerkannte Hochschule in freier Trägerschaft, die sich als institutionelle und politische Alternative zu ökonomisierter Bildung versteht. Sie bietet innovative Studiengänge der Ökonomie (B. A. und M. A.) an, die Denken und Handeln verbinden, das soziale Verantwortungsbewusstsein stärken und auf die Neugestaltung der Gesellschaft vorbereiten.

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„Stop and Think!“ Plädoyer für eine Gemeinsinn-Ökonomie Text: Silja Graupe und Stephan Panther

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Lorem „Stop and Ipsum Think!”

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„Streik!“ Der Mensch als reines Gewohnheitstier? Das Nachdenken über Gewohnheiten hat eine lange philosophische Tradition, die im Westen mit Aristoteles beginnt und bis in unsere Tage reicht, etwa zu John Dewey oder Pierre Bourdieu. Gewohnheiten, so lässt sich sagen, sind demnach eine zwiespältige Angelegenheit: Zum einen stellen sie als die von uns eingeübten körperlichen Bewegungsmuster ebenso wie als die Muster unseres Wahrnehmens, Denkens, Fühlens und Wertens die Grundlage unseres Handelns dar; sie geben uns Halt. Zum anderen können sie zu einem in Routinen erstarrten Verhältnis zur Welt werden, zu einem Gefäng-

H O R I Z O N T

Junge Menschen in der ganzen Welt rufen die Menschheit im September 2019 zum Klimastreik auf. Es gelte, „sich zusammenzuschließen, Farbe zu bekennen und sich für unser Klima aus der Komfortzone herauszuwagen“. Damit sind sie nicht allein. Weltweit haben sich ihnen Aktivistinnen und Aktivisten angeschlossen, um eine „Zeitenwende“ einzuläuten. „Der Schlüssel scheint darin zu liegen, unsere gewohnten Abläufe zu unterbrechen – es sind diese Routinen, die uns ermatten, der Umstand, dass wir jeden Morgen aufstehen und ziemlich genau dasselbe tun wie am Tag zuvor, sogar noch im Angesicht einer anhebenden Krise.“ Können wir Menschen aber tatsächlich unsere tiefsitzenden Gewohnheiten verändern? Die in der Ökonomie dominierenden Menschenbilder verneinen dies. Deswegen müssen wir uns weigern, sie als Selbstbilder zu übernehmen.

nis ständiger Wiederholung. In der philosophischen Tradition galten Gewohnheiten meist grundsätzlich als änderbar – und die Reflexion über sie, individuell wie gesellschaftlich, galt als ein erster Schritt zu einer solchen Veränderung (gerade in Krisenzeiten). Heute dominiert jedoch in weiten Teilen der Verhaltensökonomik – ebenso wie im Marketing, der Beeinflussungsforschung und auch in den Kognitionswissenschaften – ein verhängnisvoll verkürztes Bild menschlicher Erkenntnisfähigkeit, in dem uns genau diese Fähigkeit zum Selbstbewusstsein abgesprochen wird.

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IMPR E SSUM

MAGAZINMACHER Frank Augustin, Wolfram Bernhardt, Tanja Will MAGAZINMITMACHER Ana Kugli, Lia Polotzek, Leon Schmid, Janusch Tschech BEIRAT Rudi Blind, Wolfgang Kesselring, Louis Klein, Matthias Maier, Max Pohl, Richard David Precht, Birger P. Priddat, Jan Tomasic agora42 ist Medienpartner des Weltethos-Instituts und des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik.

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GESTALTUNG & LAYOUT D M B O – Studio für Gestaltung www.dmbo.de Art Direction Janina Schneider Gestaltung Anissa Kaizani, Janina Schneider FOTOGRAFIE /BILDER S. 7: Jean Wimmerlin/unsplash S. 78-85: Philippe Merz S. 57: Jonathan Brinkhorst/unsplash S. 44-54: agora42 ILLUSTRATIONEN S. 34/ 96-97: Anissa Kaizani S. 92-93/ 94-95: Adriana Hüttel KORREKTORAT Ana Kugli www.wortkultur-online.de DRUCK W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG

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Wir bedanken uns bei Ana Kugli (Wortkultur) für die Zusammenstellung der quer über die Ausgabe verteilten Sinn-Sprüche.

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