agora42 2/2019 Natur und Wirtschaft

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A G O R A

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Ausgabe 02/2019 | Deutschland 9,80 EUR Österreich 9,80 EUR | Schweiz 13,90 CHF

AUSGABE 02/2019

NATUR UND WIRTSCHAFT


INHALT

agora 42

T

—3 EDITORIAL —4 INHALT

TERRAIN Hier werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind. —8 DIE AUTOREN —9 Thomas Potthast

Was ist Natur? – Erkundungen in unübersichtlicher Zeit — 15 Birger P. Priddat

Ökonomie und Natur

— 29 Carola Hesse-Marx

Rettet uns künstliche Intelligenz vor dem Klimawandel? — 36 PORTRAIT

Werner Heisenberg und die Melodie der Atome

von Heribert Holzinger

— 23 Tanja Will

— 94 MARKTPLATZ

In Wüsten (über-)leben – Die Ausbreitung von Wüstengebieten und die innere Verwüstung

Der Reiz des eigenen Tempos von Andrea S. Klahre — 98 IMPRESSUM

LEXIKON von Lia Polotzek

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— 14 BIODIVERSITÄT

— 22 BODEN


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Inhalt

I

H

INTERVIEW

HORIZONT Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen? — 58 DIE AUTOREN — 59 Christoph Sanders/ Martin Krobath

"We are nature defending itself" — 64 Eduard Kaeser

Die faule Ameise — 44 Natur, Kapitalismus und das Neue

— 70 Niko Paech

Es kommt kein Fressen ohne Moral

Interview mit Reinhard Loske

— 76 VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN

Der Berg ruft nicht

— 82 WEITWINKEL

Die ökologische Verantwortung der Ökonomik von Silja Graupe und Walter Otto Ötsch LAND IN SICHT — 86

Dark Mountain Project — 88

Pflegeethik Initiative — 90

Wusoa GmbH — 92 GEDANKENSPIELE von Kai Jannek

von Philippe Merz

— 28 TIERHALTUNG

— 33 KLIMA

— 63 LUFT

— 68 WALD

— 75 WASSER

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DIE AUTOREN

© Foto: Janusch Tschech

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T E R R A I N

Thomas Potthast

Birger P. Priddat

Tanja Will

ist Professor für Ethik, Theorie und Geschichte der Biowissenschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen sowie Sprecher des dortigen Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften.

ist Seniorprofessor für Wirtschaft und Philosophie an der privaten Universität Witten/Herdecke. Mehr unter www.priddat.de.

studierte Soziologie, Ethnologie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Göttingen und Leipzig. Sie ist Magazinmacherin bei agora42.

— Seite 15

— Seite 23

— Seite 9

Carola Hesse-Marx

Heribert Holzinger

ist Psychoanalytikerin für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.

ist Autor, Vortragender und Seminarleiter im Bereich der praktischen Philosophie, der Lebenskompetenzförderung, der Erziehung, Pädagogik und Prävention.

— Seite 29

— Seite 36

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agora 42

Was ist Natur? —

T E R R A I N

Erkundungen in unübersichtlicher Zeit

Text: Thomas Potthast

Was ist Natur? Einfach das, was nicht vom Menschen gemacht ist? Eine Ordnung, die sowohl das Nichtmenschliche wie auch das Menschliche umfasst? Bloß eine Vorstellung von Zusammenhängen, die nur im Kopf des Menschen existieren? Oder vielleicht doch etwas, das nicht so einfach kategorisierbar und ad acta zu legen ist? 9


Lexikon

Humans & The Extinction Crisis

Human Population (millions)

50000

7000

Extinctions 40000

5000

10000 1000

1800

1850

1900

1950

2000

Year Quelle: Scott, J.M. 2006. Threats to Biological Diversity: Global, Continental, Local. U.S. Geogical Survey, Idaho Cooperative Fish and Wildlife Research Unit. Univerity of Idaho

14

Population

[ˌbiodivɛʁziˈtɛːt]

Während der Arbeit an diesem kurzen Artikel haben uns sechs Arten für immer verlassen. 2018 sind sowohl der Dunkelkopf-Blattspäher als auch der Weißwangen-Kleidervogel ausgestorben. An jedem einzelnen Tag verschwinden so 150 Arten – auf das Jahr gesehen sind das mehr als 58.000 Spezies. Zusätzlich ist mehr als ein Viertel der bekannten Arten vom Aussterben bedroht. Besonders dramatisch ist das Insektensterben: Mehr als 40 Prozent der Arten sind weltweit bedroht und die Biomasse der Insekten sinkt jedes Jahr um 2,5 Prozent. Deshalb prognostizierten Forscherinnen und Forscher Anfang 2019, dass es in 100 Jahren keine Insekten mehr geben wird, sollte dieser Trend anhalten. In Deutschland ist die Biomasse von Fluginsekten in den letzten 30 Jahren laut einer Studie sogar um drei Viertel zurückgegangen. Gründe dafür, dass es so schlecht um die Insekten steht, sind die Ausweitung der Flächen für die industrielle Landwirtschaft und die Nutzung von Düngemitteln und Pestiziden wie Neonikotinoiden sowie die Klimaveränderung (> Klima, S. 33). Dieser Rückgang hat auch auf den Menschen enorme Auswirkungen: Da Insekten etwa 80 Prozent unserer Nutzpflanzen bestäuben, sind sie wichtig für die Land- und Forstwirtschaft. Ein Aussterben der Insekten gefährdet somit direkt den Erhalt unsere Lebensgrundlagen – eine Erkenntnis, die mehr und mehr in die Öffentlichkeit gelangt: In Bayern haben gerade mehr als 18 Prozent der Menschen einen Volksentscheid für den bessern Artenschutz unterschrieben. Biologische Vielfalt umfasst nicht nur die Vielfalt der Arten, sondern auch die genetische Vielfalt innerhalb der Arten und die Vielfalt der Lebensräume. In Deutschland werden über 70 Prozent der Lebensräume als gefährdet eingestuft. Eine verringerte Biodiversität sorgt dafür, dass Ökosysteme sich viel schlechter an die Klimaveränderung (> Klima, S. 33) anpassen können. Denn Vielfalt schafft Resilienz. Je mehr unterschiedliche Arten und je höher die genetische Vielfalt, desto besser ist die Anpassungsfähigkeit, wenn die Bedingungen der Umwelt sich verändern.

Extinctions

BI O DI VE RS IT ÄT

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Lia Polotzek


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T E R R A I N

Ökonomie und Natur

Text: Birger P. Priddat

Wer der modernen Ökonomie vorwirft, sie habe „die Natur vergessen“, übersieht dabei, dass die ökonomische Theorie die Naturvorstellungen entscheidend mitgeprägt hat. Denn bereits im antiken Griechenland entstanden Vorstellungen über das Verhältnis menschlichen Wirtschaftens und natürlicher Umwelt. Manchmal hat man den Eindruck, der alte moralische Verdacht gegen „die Ökonomie“, sie verderbe die Sitten, wird auf ihren Naturumgang erweitert. Dabei stellt sich unausgesprochen und manchmal auch explizit der Glaube ein, „die Natur“ sei selbst eine sittliche Ordnung, an der man sich orientieren könne, um die Welt ausgewogen zu gestalten. 15


Lexikon

BO DE N [ˈboːdn̩]

Lia Polotzek

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Unsere gesamte Erde ist bis auf die Meere, Flüsse und Bergregionen von einer feinporigen, belebten Schicht überzogen – den Böden. Die Qualität der Böden ist jedoch alarmierend. Nur noch 60 Ernten wird die Menschheit einfahren können, bevor es zu einem weltweiten Boden-Burn-out kommt – das war 2015 die schockierende Analyse der Welternährungsorganisation. Da etwa 95 Prozent unserer Nahrungsmittel direkt oder indirekt aus dem Boden kommen, hängt das Überleben der Menschheit von den Böden ab. Und die Entstehung neuer Böden ist denkbar langsam: Es braucht etwa 2.000 Jahre bis zehn Zentimeter Boden entstehen.

Weltweit sind bereits 20 bis 25 Prozent der Böden erodiert und etwa fünf bis zehn Millionen Hektar kommen im Jahr hinzu – eine Fläche so groß wie Ungarn. Die größten Feinde der Böden sind neben der menschengemachten Klimaveränderung die industrielle Landwirtschaft und die Rodung von Wäldern. Aber auch der Flächenfraß für Häuser, Industrieanlagen und Verkehrswege ist enorm. Ein Prozent der weltweiten Böden sind bebaut, ein weiteres Prozent nehmen Minen und Tagebaue ein, die Brennstoffe, Metalle und Mineralien für unsere Industrieanlagen liefern. Den größten Anteil am möglichen Boden-Burn-out trägt jedoch die industrielle Landwirtschaft. Monokulturen, kurze Fruchtfolgen, übermäßige Ausbringung von Düngemitteln und Pestiziden und seltener Zwischenfruchtanbau sorgen weltweit dafür, dass der Boden an Lebewesen verliert und der Humusgehalt sich verringert. Versalzung ist besonders in trockenen Ländern ein Grund für Bodenerosion, künstliche Bewässerung verstärkt das Problem und schweres landwirtschaftliches Gerät führt weltweit zu Bodenverdichtung. Trotzdem ist der Bodenschutz auf internationaler Ebene – anders als der Klimaschutz oder der Schutz der Biodiversität – nicht über ein eigenes Abkommen verankert. Auch eine Europäische Bodenschutzrichtlinie gibt es bis heute nicht, denn Deutschland hat sie auf Druck der Bauernverbände mit verhindert. Das deutsche Bodenschutzgesetz hingegen bezieht sich vorwiegend auf sogenannte Altlasten in Böden. Der Landwirtschaft wird lediglich nahegelegt, „gute fachliche Praxis“ zu leisten. Um die Böden zu schützen, müssten Landwirtschaft, Energiewirtschaft und auch die neue „Bioökonomie“ ganz grundsätzlich transformiert werden. Die Wirtschaft müsste sich ändern, damit unser Boden erhalten bleibt.

Fläche weltweit, in Millionen Hecktar

3900 4300

Wald

unbebautes Land

200 bebautes Land

5000 Landwirtschaftliche Fläche

3550 Weideland

1450 Ackerland

1030 Tiernahrung

55 260

Quelle: FAO, Umwelt Bundesamt

22

Bioenergie

100


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T E R R A I N

In Wüsten (über-)leben — Die Ausbreitung von Wüstengebieten und die innere Verwüstung

Text: Tanja Will

Zwei Arten von Wüsten breiten sich aus: Während weite Landstriche da draußen veröden, bekämpft der Mensch seine innere Leere, die ihm den Antrieb zu nehmen scheint. Was haben diese beiden wachsenden Wüsten miteinander zu tun? Und wie kommen wir da raus? 23


Lexikon

TIE R HA LT UN G [ˈtiːɐ̯haltʊŋ]

Lia Polotzek

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Im Durchschnitt isst jeder Mensch auf der Welt etwa 43 Kilo Fleisch im Jahr. Global gesehen hat sich die Fleischproduktion in den letzten 50 Jahren fast vervierfacht. Wurden 1965 noch 84 Millionen Tonnen produziert, waren es 2018 schon 335 Millionen Tonnen. Die Welternährungsorganisation geht davon aus, dass diese Zahlen sich bis 2050 auf 450 Millionen Tonnen erhöhen. Keine anderen Nahrungsmittel brauchen so viel Fläche wie Fleisch, Milch und Eier (>Boden, S. 22): Etwa 77 Prozent des weltweiten Agrarlands wird hierfür benötigt. Das ist denkbar ineffizient, denn von 100 Kalorien, die in Pflanzen enthalten sind, gehen 70 bis 83 Kalorien (je nach Fleisch) bei der Fleischproduktion verloren. Die deutsche Fleischproduktion ist beim Tierfutter auf Importe angewiesen: Rund 17 Prozent der Futtermittel werden importiert, beim Soja sind es sogar 65 Prozent. Deshalb benötigt die deutsche Tiermast weltweit rund drei Millionen Hektar Fläche für den Anbau von Futtermitteln – eine Fläche so groß wie Belgien. Mehr als die Hälfte des Sojas in deutschen Futtertrögen kommt dabei aus Brasilien. Für die Felder wurden häufig Regenwälder gerodet (>Wald, S. 68), zudem ist Soja meist gentechnisch verändert und wird oft mit dem wahrscheinlich krebserregenden Pestizid Glyphosat behandelt. Große Teile der deutschen Fleischproduktion, vor allem Schweinefleisch und Geflügel, werden anschließend exportiert. Für einige wenige große Mastbetriebe ist das ein sehr lukratives Geschäftsmodell, das selbst dann wächst, wenn die Deutschen weniger Fleisch essen. Dabei entstehen in Deutschland durch die vielen Masttiere schon heute mehr als 200 Millionen Kubikmeter Gülle pro Jahr und verschmutzen das Grundwasser mit Nitrat (>Wasser, S. 75). Inzwischen ist die Belastung so stark, dass die Aufbereitung von Trinkwasser in Zukunft sehr teuer wird – laut Umweltbundesamt könnten sich für einen VierPersonen-Haushalt Mehrkosten von bis zu 134 Euro im Jahr ergeben. Die industrielle Fleischproduktion trägt außerdem ganz wesentlich zur Klimaveränderung (> Klima, S. 33) und zum Verlust der Artenvielfalt (>Biodiversität, S. 14) bei. Durch die Tierhaltung entstehen einerseits Treibhausgase wie Methan oder Lachgas, andererseits führt die Umwandlung von Flächen für den Anbau von Futtermitteln indirekt zu einem Anstieg von Treibhausgasen (>Wald, S. 68). Die fünf größten Fleisch- und Milchkonzerne auf der Welt stoßen in etwa so viele Treibhausgase aus wie das Ölunternehmen Exxon. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen schätzt, dass die Nahrungsmittelproduktion und vor allem die Produktion von Fleisch und Futtermitteln für etwa 60 Prozent des weltweiten Biodiversitätsverlusts verantwortlich ist.

Quelle: FAOSTAT

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Rettet uns künstliche Intelligenz vor dem Klimawandel? Von der Autorin empfohlen:

ROMAN

Wenn dafür in der Phase der Neugründung einer Hochschule nur Zeit bliebe! Also lieber noch ein Sachbuch: Lesen Sie unbedingt Public Opinion von Walter Lippmann (1921)! Erscheint im Herbst dieses Jahres in einer neuen deutschen Übersetzung beim Westend Verlag.

Text: Carola Hesse-Marx

Zunächst scheint es, als haben Klimakatastrophe und künstliche Intelligenz nichts gemein. Doch sind beide Entwicklungen – sowohl die Ausbeutung und Zerstörung der Natur als auch die künstliche Intelligenz – das Resultat menschlicher Hybris. Und letztlich bergen künstliche Intelligenz und Naturzerstörung in sich die Degradierung, möglicherweise sogar die Auslöschung des menschlichen Denkens. Es gilt jetzt, eine Grundsatzdiskussion über die Neubewertung unseres Fortschrittsglaubens zu führen. 29

T E R R A I N

SACH-/FACHBUCH

Stereotype Bilder prägen auch jede Art populistischen Denkens. Wie man dagegen Widerstand leisten kann, zeigen eindrucksvoll Walter O. Ötsch und Nina Horaczek in: Populismus für Anfänger. Anleitung zur Volksverführung (Westend Verlag, 2017).


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T E R R A I N

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Portrait

T E R R A I N

Werner Heisenberg und die Melodie der Atome

— Text: Heribert Holzinger

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Heribert Holzinger

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Wie alles sich zum Ganzen webt, Eins in dem andern wirkt und lebt! Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen Und sich die goldnen Eimer reichen! Mit segenduftenden Schwingen Vom Himmel durch die Erde dringen, Harmonisch all das All durchklingen! Aus Goethes Faust

T E R R A I N

In Heisenbergs Jugend war die Wissenschaft geprägt von der newtonschen Mechanik: Die Welt ist eine seelenlose Maschine. Werner Heisenberg fühlt sich hingegen eingewoben in eine Natur, die er im Sinne seines geliebten Goethe als Ganzheit erlebt; in der Geistiges und Materielles sich organisch durchdringen und befruchten. Die Erkenntnisse und Entdeckungen Heisenbergs und anderer Quantenphysiker führen im 20. Jahrhundert zu einem Durchbruch im Verständnis unserer Realität. Heisenberg leitet aus den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ein Bild der Ganzheit und Verbundenheit von allem ab, das uns im 21. Jahrhundert helfen kann, eine zukunftsfähige Gesellschaft zu gestalten. Schon in der frühen Kindheit zeigt der 1901 geborene Heisenberg große Begeisterung für die Physik und eine große mathematische Begabung. Seine Passion ist die Musik, im Klavierspiel ist er sogar hochbegabt. Deshalb ist Heisenberg lange Zeit unentschlossen, ob er Musik oder lieber Mathematik und Naturwissenschaft studieren soll. Seine Liebe zur Natur lebt Heisenberg mit seinen Freunden von der Jugendbewegung aus. Bei ausgedehnten Wanderungen durch ganz Deutschland lesen sie sich die Werke der klassischen und romantischen Literatur vor und führen lange Diskussionen über philosophische Themen. In den Werken Goethes, dessen Faust er auswendig lernt, entdeckt Heisenberg eine göttliche Ordnung der Natur. In dieser Natur hat er auch manch inspirierendes oder mystisches Erlebnis. So auch bei einer Übernachtung in der Burgruine Pappenheim in Mittelfranken. Er beschreibt, wie er dabei die Natur in ihrer Ganzheit und Verwobenheit erlebt hat. 38


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Portrait: Werner Heisenberg

Revolution in der Physik

In Heisenbergs Jugendzeit fallen auch jene physikalischen Entdeckungen, die sich nicht mehr in das mechanistische Weltbild einordnen lassen. Max Planck und Albert Einstein beginnen, mit der Quantentheorie und der Relativitätstheorie die Fundamente der newtonschen Mechanik ins Wanken zu bringen. Was ist Raum, was Zeit, was Materie? Und was ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält? Schon früh begeistert Heisenberg sich für diese Fragen, die im Lichte dieser Entdeckungen und Theorien neu beantwortet werden müssen. Bald nach Beginn seines Studiums zählt Heisenberg zum Kreis jener hochbegabten Quantenphysiker, die mit neuen Theorien und einer neuen Sicht auf die Welt aufhorchen lassen. Damals stellte sich die Frage, wie ein Atom beschaffen ist. Niels Bohr und Arnold Sommerfeld, Heisenbergs Lehrer an der Universität in München, stellen es sich wie ein kleines Sonnensystem vor: mit einem Kern, den die Elektronen wie Planeten umkreisen. Nach den Berechnungen der klassischen Physik hätten die Elektronen jedoch in den Kern fallen müssen. Und so stellte sich die Frage, warum sie das nicht taten. Gemeinsam beginnen Physiker wie Heisenberg, Niels Bohr, Louis de Broglie, Wolfgang Pauli, Max Born und einige andere nun zu verstehen, dass Elektronen keine Dinge sind, sondern so etwas wie eine stationäre Schwingung. Oder um es für unseren Alltagsverstand noch verwirrender auszudrücken: dass ein Elektron gleichzeitig ein Teilchen und eine Welle ist.

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T E R R A I N

Was sind die Bausteine der Materie?

Seit dem Beginn der Neuzeit war die westliche Welt der Ansicht, dass unsere Welt, also die Materie, aus kleinsten Teilchen zusammengesetzt ist. Der griechische Naturphilosoph Demokrit (460–370 v. Chr.) nannte sie Atome, und nachdem die Naturwissenschaft die Teilbarkeit der Atome entdeckte, vermutete man, dass Protonen, Elektronen und Neutronen nun jene kleinsten Teilchen wären. Mittlerweile hat die Physik mehr als 100 Elementarteilchen entdeckt. Die Schwierigkeit dabei ist, dass diese Teilchen nicht dem entsprechen, wie wir uns materielle Dinge vorstellen. Viele




Interview

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I N T E R V I E W

Natur, Kapitalismus und das Neue

–

Interview mit Reinhard Loske

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Reinhard Loske Jahrgang 1959, absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Bankkaufmann, bevor er 1980 mit dem Studium Wirtschafts- und Politikwissenschaften an den Universitäten Paderborn, Nottingham und Bonn begann. Von 1992 bis 1998 arbeitete am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. 1996 promovierte er am Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Kassel mit einer Arbeit über „Klimapolitik im Spannungsfeld von Kurzzeitinteressen und Langzeiterfordernissen“. 1999 erfolgte die Habilitation in Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über „Nachhaltigkeit als Politik“. Er war von 1998 bis 2007 Mitglied des Deutschen Bundestages und dort unter anderem stellvertretender Fraktionsvorsitzender und umweltpolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen. Von 2007 bis 2011 war er Senator für Umwelt, Bau, Verkehr und Europa der Freien Hansestadt Bremen. Seit 2013 hat er eine Professur für Politik, Nachhaltigkeit und Transformationsdynamik an der Universität Witten/ Herdecke inne. Seit Februar 2019 ist er Präsident der Cusanus Hochschule. Zuletzt von ihm erschienen: Politik der Zukunftsfähigkeit. Konturen einer Nachhaltigkeitswende (Fischer Taschenbuch, 2015), The Good Society without Growth. Why Green Growth ist not Enough (Basilisken-Presse, 2013)

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Herr Loske, welche Bedeutung hat die Natur in der Wirtschaft?

In der Ideengeschichte der Ökonomie gibt es ganz verschiedene Naturvorstellungen. Die Physiokraten waren der Meinung, dass die Natur der einzige produktive Faktor ist: Nur Grund und Boden können der Ursprung des Reichtums eines Landes sein. Demgegenüber ist die Natur im Marxismus wie auch im Kapitalismus auf die Funktion der Quelle und der Senke reduziert, wird also bloß als Ressource oder als Aufnahmemedium für Abwässer, Abgase und Abfälle begriffen. Der Gedanke, dass die Wirtschaft auf die physischen Grundlagen bezogen ist, ist also bei den Physiokraten viel stärker ausgeprägt. Der Marxismus und der Kapitalismus neigen systematisch dazu, die Rolle der Natur bei der Wertschöpfung zu reduzieren oder gar auszublenden. Man kann also von einer Naturvergessenheit der ökonomischen Theorie der Moderne sprechen. Ist es dann zu begrüßen, wenn die ökonomische Bewertung der Natur immer mehr an Bedeutung gewinnt?

Das ist ein schmaler Grat. Auf der einen Seite ist es zu begrüßen, wenn man sich bewusst macht, dass die Natur uns zahlreiche Güter und Dienstleistungen gratis zur Verfügung stellt – stabiles Klima, gutes Wasser, saubere Luft, produktive Böden, biologische Vielfalt etc. Doch man läuft auch Gefahr, dass man sich in diese instrumentelle beziehungsweise utilitaristische Sichtweise verrennt. Dann geht das Unwägbare in der Natur verloren, all das, was eine besondere Saite in uns zum Schwingen bringt. Das ist ein echtes Defizit. Insofern braucht es eine umfassendere Ökonomie, die auch dieses Unwägbare miteinbezieht, ohne es direkt in Wert zu setzen oder ihm eine Dienstleistungsfunktion zuzuschreiben. Wie würden Sie den heutigen Umgang mit Natur beschreiben?

Hier gibt es zwei Konzepte. Dem ersten Konzept zufolge stellt Ökonomie nun einmal einen Eingriff in die Natur dar, der unvermeidlich und prinzipiell zu akzeptieren sei. Dementsprechend ist es vollkommen legitim, der Natur so viel wie möglich an Wildnis zu entziehen, um die Welt nach unserem Bild zu formen. Dann weist man – aus nostalgischen Gründen – zehn oder 20 Prozent der Fläche als Naturschutzgebiete aus, auf denen der Mensch bestenfalls als Wanderer oder Tourist etwas zu suchen hat, und bewirtschaftet dafür die restlichen 80 Prozent der Fläche umso intensiver und effizienter. Das ist das amerikanische Konzept. Stellt allerdings Effizienz das höchste Kriterium dar, läuft man Gefahr, langfristige Stabilität zugunsten kurzfristiger Renditeoptimierung zu opfern.

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I N T E R V I E W

Reinhard Loske


DIE AUTOREN

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H O R I Z O N T

Christoph Sanders

Martin Krobath

Eduard Kaeser

ist Teil des Bildungsteams des Konzeptwerk Neue Ökonomie. Er schreibt über sozialökologische Transformationen und das gute Leben für alle und beschäftigt sich insbesondere mit Bildungsprozessen, Mensch-Natur-Verhältnissen, sozialer Beschleunigung und sozialen Bewegungen.

hat Soziologie an der Universität Jena studiert und arbeitet beim Konzeptwerk Neue Ökonomie in der Bildungsarbeit.

hat theoretische Physik und Philosophie studiert und ist als freier Publizist tätig. Auf seinem Blog „Philosofaxen“ finden sich alle seine bisherigen Publikationen. Zuletzt von ihm erschienen: Die Welträtsel sind nicht gelöst. Die Wissenschaft, das Unbekannte und das Geheimnis (Die Graue Edition, 2017). Trojanische Pferde unserer Zeit. Kritische Essays zur Digitalisierung (Schwabe Verlag, 2018).

— Seite 59

— Seite 59

Blog: www.kaeser-technotopia.blogspot.de

— Seite 64

Niko Paech

Kai Jannek

lehrt an der Universität Siegen als außerplanmäßiger Professor im Studiengang Plurale Ökonomik. Zum Thema von ihm erschienen: Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie (oekom Verlag, 2012)

ist Director Foresight Consulting bei Z_punkt. Seit der Ausgabe 01/2011 wirft er für agora42 einen Blick in die Zukunft.

— Seite 70

58

— Seite 92


agora 42

„We are nature defending itself“ H O R I Z O N T

— Auf dem Weg zu einem neuen Naturverhältnis

Text: Christoph Sanders/Martin Krobath

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Christoph Sanders/Martin Krobath

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D

H O R I Z O N T

ie Kamera wackelt und zoomt näher an eine erschöpfte junge Frau im Wald. Eine Stimme bittet sie: „Magst du erzählen, was gerade passiert ist?“ Winter, so steht ihr Name unter dem Videoclip, ist offensichtlich gerade von Polizisten aus ihrem Baumhaus im Hambacher Forst geräumt worden. In voller Kampfmontur, die Frau an Körpergröße weit überragend, stehen zwei Polizisten neben ihr. Sehr bewegt und mit großer Bestimmtheit erklärt sie in die Kamera, warum sie sich gegen die Rodung des Waldes einsetzt: „Und sie denken wahrscheinlich, sie hätten gewonnen, aber sie können nicht gewinnen, weil sie den Wald genauso brauchen […]. Sie werden nie verstehen, wie es ist, mit Menschen zusammenzuleben, denen es scheißegal ist […], was du für’n Schulabschluss hast, dass wir hier versuchen hierarchiefrei zu leben, uns gegenseitig zu respektieren ohne Geld […]. Dass wir jeden Morgen aufgewacht sind und wissen, dass wir am richtigen Ort sind […] und dass das die schönste Zeit meines Lebens war hier und ich so viel gelernt hab’, alles das, was ich draußen in der Gesellschaft nie hätte lernen können; dass ich die ganze Scheiße, die mir die Gesellschaft eingetrichtert hat, erst wieder vergessen muss – mich mit anderen Menschen zu vergleichen oder zu konkurrieren, was angeblich wichtig ist, wie wir aussehen […].“ (https://youtu.be/uYfW2LogrAs) In diesem Statement wird klar, dass Winter nicht wegen abstrakter Messungen zum Klimawandel einen Baum besetzt hat, sondern dass es ihr vielmehr um die Frage geht, wer wir als Mensch sein wollen und wie wir uns zur Welt und zur Natur in Beziehung setzen. Damit wird ein Aspekt sichtbar, der bislang in der Diskussion um Klima und Natur wenig präsent ist: Wie wir mit Natur umgehen, hat direkt etwas mit uns selbst zu tun, mit unserem Bild von der Welt und unserem zwischenmenschlichen Umgang.

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Wie wir mit Natur umgehen, hat direkt etwas mit uns selbst zu tun, mit unserem Bild von der Welt und unserem zwischenmenschlichen Umgang.

Das Andere muss kontrolliert werden Aber was beschreibt denn der Begriff „Natur“ eigentlich? Für moderne Menschen ist Natur in der Regel das Andere; all das, was nicht Mensch ist und was nicht so weit mit menschlichen Techniken bearbeitet und so verformt wurde, dass es Kultur oder Maschine geworden ist. Natur ist auch ein Sehnsuchtsort der vermeintlichen Gesundheit und Balance. Diese romantische Vorstellung wurde als Gegenentwurf erst durch die Konstruktion von Natur als dem bedrohlichen Anderen möglich, das durch Naturkatastrophen und Krankheiten die Menschen bedrohte. Dieses Andere galt und gilt es folglich zu kontrollieren – ab dem Beginn der Moderne mit wissenschaftlich gestützten Techniken. Der Kern des modernen Naturverhältnisses ist folglich Naturbeherrschung. Dieser liegt eine spezifische Wahrnehmung zugrunde: die radikale Trennung von Körper und Geist. Seit der Erkenntnistheorie von René Déscartes, die die neuzeitliche Beziehung zur Welt maßgeblich prägt, spalten wir die Welt ab dem 17. Jahrhundert in eine rationale, geistige, vernünftige Seite und in eine materielle, körperliche, emotionale, natürliche Seite auf. Der Mensch, in der Moderne meist gedacht als weißer Mann, verfügt demnach über die Fähigkeit zur Selbstreflexion und hat die Möglichkeit, absichtsvoll zu handeln. Die Natur und all jene, die mit ihr assoziiert werden, können das vermeintlich nicht. Ihr Verhalten könne aber vorhergesehen und berechnet werden, da es regelmäßige Naturgesetze gibt. So schwingt sich der Mensch zum Herrscher über die Welt auf. Wie eine Maschine könne sie mithilfe von Bauplä-

nen auseinander und wieder zusammengesetzt werden. Diese Wahrnehmung und die daraus resultierende Weltbeziehung war und ist für privilegierte Menschengruppen mit erheblichen Vorteilen verbunden. Doch die Aufteilung der Welt etabliert Macht- und Ausbeutungsverhältnisse, die mit den großen Krisen unserer Zeit eng verbunden sind. Ausbeutung basiert auf der Ansicht, dass vermeintlich Wertvolles gefördert werden muss und vermeintlich Wertloses dieser Förderung zu dienen hat. Denker aus dem globalen Süden, feministische Theoretikerinnen und Kritiker kolonialer Kontinuitäten weisen darauf hin, dass in der Moderne globales Zentrum/globaler Norden, Öffentlichkeit, Zivilisation, Vernunft und Männlichkeit als wertvoll gelten, während auf der anderen Seite Kolonien/globaler Süden, Privatheit, Natur, Gefühl und Weiblichkeit wertlos erscheinen. Gleich zu Beginn der europäischen Naturwissenschaften formulierten aufklärerische Denker wie Francis Bacon, dass die Geheimnisse der (als weiblich gedachten) Natur ihrem Schoß vom männlichen Forscher mit Gewalt entrissen werden müssten und sich die Natur zum Untertan gemacht und versklavt werden solle. All diejenigen Menschen, die vermeintlich nicht oder unzureichend in der Lage sind, Natur mittels Wissenschaft und Technik zu kontrollieren, werden als primitiv(er) wahrgenommen. Sie seien, so der verbreitete Diskurs, „unterentwickelt(er)“. Sie werden näher an die Natur herangerückt. Sie werden ausgebeutet und verdrängt – oder können sich bestenfalls „entwickeln“.


Werner Rügemer

"We are nature defending itself"

Die ökologische Krise ist eine Beziehungskrise Naturbeherrschung ist auch das Mittel der Wahl zur Bekämpfung des Klimawandels. So beruhen die Strategien zur CO2Reduktion in erster Linie auf Kontrolle und Management von ökologischen Prozessen. Diese Herangehensweise ist fatal, weil übersehen wird, dass der Klimawandel letztlich ein Resultat radikaler Naturausbeutung ist. Viele Menschen glauben immer noch, dass wir ihn mit denselben Mitteln aufhalten können, die ihn verursacht haben. Es handelt sich beim Klimawandel aber nicht um eine ökologischen Krise, die es zu beherrschen gilt, sondern um eine Beziehungskrise, eine Krise unseres Naturverhältnisses. Der Klimawandel ist zu einer Quelle fundamentaler Verunsicherung geworden, indem er uns unsere Abhängigkeit von der Natur wieder bewusst macht. Das moderne Versprechen, durch Naturbeherrschung unabhängig und frei zu werden, trägt immer weniger, stattdessen sind unsere Lebensgrundlagen bedroht: So bringen die Klimaveränderungen letztlich auch unsere tiefliegenden Vorstellungen über die Trennung von Mensch und Natur ins Wanken. Diese Verunsicherung zeigt sich auch in der momentanen regressiven kulturellen Bewegung, die durch Rassismus, Sexismus und Nationalismus versucht, die vermeintlich naturnahen Anderen weiter zu unterdrücken und Privilegien für wenige Menschen zu sichern. Wir werden die grassierende Verunsicherung aber nicht dauerhaft durch ein Gefühl der Sicherheit ersetzen können, wenn wir nicht anfangen, konstruktiv mit anderen Weltund Naturverhältnissen zu experimentieren. Wir brauchen kritische Blicke auf das Selbstverständliche – sei es von außen oder aus dem Repertoire der kulturellen Gegenbewegungen, die es seit der Aufklärung und dem Beginn der Moderne gibt.

Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts Abriss zum Aufstieg der neuen Finanzakteure 978-3-89438-675-7 357 Seiten | € 19,90

Ein neues Beziehungsfundament Unsere wirtschaftlich geprägte Lebensweise und eigennützigen Naturverhältnisse können sich nur ändern, wenn wir Räume schaffen, die neues Denken fördern und mit gemeinschaftlichen Modellen experimentieren. Solche experimentellen Räume gibt es etwa im Bildungsbereich, in sozialen Bewegungen oder alternativen Lebensgemeinschaften. Derzeit ist der Hambacher Wald ein Ort, der Raum bietet, um einen anderen Umgang mit der Natur zu erproben. Der Hambacher Wald ist einerseits ein Raum, in dem kritische Blicke auf das Eigene geworfen werden und mit Alternativen experimentiert wird. Andererseits wird aus ihm politischer Druck für andere Naturverhältnisse erzeugt. Solche Orte sind unbequem, weil sie aufzeigen, dass die Ausbeutung all jener, die als „Natur“ gelten, eine Voraussetzung kapitalistischer Wirtschaft ist. Ungemütlich sind sie auch, weil sie dazu anregen, die Selbstverständlichkeiten unserer Lebensweise neu auszuhandeln. Wie wollen wir Energie im Lichte des Klimawandels gewinnen und nutzen, so dass möglichst alle ein gutes Leben haben? Aktuell werden ökologische, feministische, antirassistische und anti-koloniale Engagements immer mehr zusammengedacht. Das ist sinnvoll, denn sie sind die Stimmen jener „strukturellen Anderen“ der Moderne, die unter den Ausbeutungsverhältnissen leiden. „We are nature defending itself“ – ein bekannter Slogan der Klimagerechtigkeitsbewegung – nutzt diese Ineinssetzung von Andersartigkeit und Natur. „Wir sind die Natur, zu der ihr uns gemacht habt“, könnte dieser Slogan auch gedeutet werden, „und wir kämpfen jetzt gemeinsam für unsere Rechte, für unsere Repräsentation, für ein gutes Leben für alle.“ Unsere These ist, dass dies die enorme Anziehungskraft der Bewegung um den Hambacher Wald ausmacht: Hier fühlen sich Menschen selbstwirksam in ihrer Tätigkeit für eine enkeltaugliche

BlackRock & Co, Hedge- und PrivateEquity-Fonds, Amazon, Google u. a.: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts nutzen Finanzoasen, stützen sich auf zivile Beraterarmeen und kooperieren mit Militär und Geheimdiensten. Ein Vergleich mit dem kommunistisch geführten Kapitalismus Chinas umreißt Alternativen.

Lucas Zeise

Finanzkapital Basiswissen Politik / Geschichte / Ökonomie

978-3-89438-688-7 135 Seiten | € 9,90 Warum befindet sich die Politik unter dem Druck der Finanzmärkte? Wie weit reichen demokratische Regeln noch? Gerade in Krisen zeigt sich, wie die Herrschaft des Finanzkapitals funktioniert. Auch unter historischem Rückgriff geht Lucas Zeise u. a. der Rolle von Geldkapital, Banken, Versicherungen, Hedgefonds und Schattenbanken nach.

Ralf.-M. Marquardt Peter Pulte (Hg.)

Mythos Soziale Marktwirtschaft Arbeit, Soziales und Kapital

978-3-89438-692-4 454 Seiten | € 28,Den neoliberalen Mainstream mit seinen Schwächen zu konfrontieren und für das Soziale zu streiten: danach strebt Heinz-J. Bontrup seit Jahrzehnten. In dem Buch würdigen ihn namhafte Weggefährten wie Frank Bsirske, Christoph Butterwegge, Rudolf Hickel, Axel Troost, Sahra Wagenknecht und Karl Georg Zinn.

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Interview

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Die faule Ameise

— H O R I Z O N T

Versuch über ein Anti-Stereotyp Text: Eduard Kaeser

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Von Aesop bis Tsipras Seit Aesops Fabeln gelten Ameisen als vorbildlich fleißige Tiere. Und aus dem Ameisenhaufen zieht auch ein Bibelspruch eine unmissverständliche Moral für Nichtstuer: „Gehe hin zur Ameise, du Fauler; siehe ihre Weise an und lerne!“ Dieser Lob-und-Tadel-Funktion dient die Ameise bis in die Gegenwart als Musterbeispiel. Erst vor ein paar Jahren, in der europäischen Schuldendebatte, hat Alexis Tsipras vom griechischen Bündnis Syriza der aesopschen Fabel einen Schwenk ins Politische gegeben, als er in einer Rede vom „Märchen über die arbeitsamen und strebsamen Ameisen“ sprach, „die den ganzen Sommer über arbeiten, während die Grillen schlafen. So hat man uns gesagt, dass Europa im Norden von Ameisen und im Süden von Grillen bewohnt wird.“ Themnothorax rugatulus Dass es sich um ein Märchen handelt, ist längst bekannt. Der berühmte Insektenforscher Jean-Henri Fabre ging hart ins wissenschaftliche Gericht mit La Fontaines Version der Fabel von der Ameise und der Grille. Sie sei „von gemeiner Bosheit“, verstoße gegen die Moral wie gegen die Naturgeschichte. Bestätigt wird Fabres Kritik neuerdings von Biologen der University of Arizona, die eine Ameisenart mit ungewöhnlicher Arbeitsteilung entdeckt haben: Themnothorax rugatulus. 40 Prozent dieser Ameisen verbringen die größte Zeit des Tages damit, nichts zu tun. Wenn sie nicht einfach bewegungslos herumstehen, spielen sie vielleicht kurz mit Jungameisen oder wischen einem arbeitsamen Artgenossen halbherzig den Rücken. Aber dann kehren sie umgehend zu ihrer Hauptbeschäftigung, dem Nichtstun, zurück. Die faule Ameise – welch formidables AntiStereotyp! Anlass jedenfalls, sich mit Gründen des Nichtstuns einmal aus der Ameisen-Perspektive zu beschäftigen. Unnötig zu betonen, dass es dabei kräftig menschelt. Die Myrmekologen – die Ameisenforscher – mögen es mir nachsehen.

Die Ruhige-Kugel-Ameise Zunächst ließe sich sagen, dass faule Ameisen eine Entdeckung gemacht haben: Die Mitameisen sind ja über die Maßen fleißig. Warum da selbst noch fleißig werden. Die Ressourcen sind da, ungeachtet, ob man etwas tut oder nicht. Man könnte von Ruhige-KugelAmeisen sprechen. Sie finden sich vor allem in Netzwerken, in denen Anstrengung überflüssig erscheint. Das erinnert an den Leerlauf gewisser administrativer Bürokratien, in denen wenige viel und viele wenig tun, sodass vordergründig der Eindruck großer Effizienz entsteht. Die französische Staatsangestellte Amélie Boullet sorgte 2010 mit ihrem Buch Absolument debordée (unter dem Pseudonym Zoé Shepard) für einen Skandal, als sie die Langeweile des Büroalltags in der Verwaltung beschrieb: „In (meiner) Abteilung besteht das Geheimnis von Ruhm und Erfolg darin, den Eindruck größtmöglichen Arbeitseifers zu erwecken. Also leere ich umgehend meine Tasche aus und breite ihren Inhalt sorgfältig auf meinem Schreibtisch aus (…). Sobald jeder Quadratzentimeter bedeckt ist, bin ich offiziell bereit, mit meiner heutigen Scheinarbeit zu beginnen.“ Die Post-Klimax-Ameise Eng verwandt mit der Ruhige-KugelAmeise ist ein Typus, den man als PostKlimax-Ameise bezeichnen könnte. Dieser Typus arbeitet hart und selbstaufopfernd in einem System, bis er eine bestimmte Position erreicht hat, quasi den von ihm anvisierten Gipfel. Dann befällt ihn die Paralyse. Das Phänomen ist aus akademischen Kreisen bekannt. Der wissenschaftliche Jungspund publiziert erst auf Teufel komm raus, aber mit Festanstellung oder gesichertem Ruf fällt er in den Ruhige-Kugel-Modus. Auch Preise und andere Anerkennungen haben häufig diese Wirkung. Das Phänomen kursiert unter einem eigenen Namen: Depression nach fester Anstellung („post-tenure depression“) oder akademische Midlifekrise. Bei Schriftstellern ist Ähnliches zu beobachten. Kein Geringerer als Leo Tolstoj schreibt in seiner Beichte, dass er nach dem Höhepunkt seiner glanzvollen literarischen Karriere plötzlich von der Frage heimgesucht worden sei: Nun gut, was jetzt? – Man muss kein Tolstoj sein, um sich nach einer durchaus befriedigenden Anzahl erkletterter Stufen diese Frage zu stellen.

Die Auszeit-Ameise In der unbarmherzigen, oft trostlosen Hektik heutiger Ameisenbauten, in der noch die letzte Tätigkeit eines Häkchens auf dem Kontrollblatt bedarf, fällt der Typus der Auszeit-Ameise immer mehr auf. Die Philosophen unterteilen menschliche Handlungen in telische und atelische, in solche mit einem Ziel (altgriechisch telos) und solche ohne Ziel. Nach der sorglosen atelischen Kindheit stecken wir die meiste Zeit und Energie in telische Aktivitäten, wir „zielen“ auf einen erfüllenden Beruf, auf Partnerschaft, Kinder, gute Gesellschaft, auf das Gemeindepräsidium, eine Sportkarriere, die Expansion der Firma, einen Bestseller – kurz, wir haben Ziele im Leben. Aber es bleibt da stets ein zielloser Rest, der sich meist in der Lebensmitte immer unangenehmer vernehmbar macht in der Frage „War’s das?“. Wir verspüren dann das Bedürfnis, mehr Zeit in atelische Tätigkeiten zu investieren. Schon ein Spaziergang kann eine atelische Qualität aufweisen, dann auch gewisse, nicht explizit auf das Ziel Sieg ausgerichtete Sportarten, das Musizieren, Meditieren, Malen, Sammeln bestimmter Dinge. Diese Aktivitäten befriedigen in der Ausübung, nicht im Erreichen eines Ziels. Ihr Zauber liegt gerade darin, dass man nicht fragen muss „Und was jetzt?“, ja, dass man auf die Frage ein tief befriedigtes „Nichts jetzt!“ antworten kann.

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Die faule Ameise


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Es kommt kein Fressen ohne Moral

— H O R I Z O N T

Die organisierte Unverantwortlichkeit im Ernährungssektor

Text: Niko Paech

Die Ernährungswirtschaft muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Allzu lange wurde sie an den abstrakten Kriterien von Wachstum und ökonomischem Fortschritt ausgerichtet und dadurch jeglicher Verantwortung und Kontrolle entzogen. Nur durch eine Abkehr von der industriellen Arbeitsteilung und eine räumliche Begrenzung der Produktion kann unsere Ernährung in Zukunft gesichert werden.

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Es kommt kein Fressen ohne Moral

„Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Bertolt Brecht

■ Zerstörung ökologischer Ressourcen und Landschaften, ■ Entwertung von Nahrungsmitteln, sodass ein zunehmender Anteil davon entsorgt wird (gemäß aktueller Studien werden etwa 50 Prozent aller Nahrungsprodukte zu Abfall), ■ systematische Abkehr von artgerechter Tierhaltung, ■ zunehmende Störanfälligkeit aufgrund der Abhängigkeit von Trans-

porten, Logistikinfrastrukturen und fossilen Ressourcen; zudem impliziert der hohe Grad an Fremdversorgung, dass Verbraucher die Befähigung zur Selbstversorgung und eigenständigen Nahrungsmittelverarbeitung bzw. -zubereitung verlieren, ■ Plünderung entfernt liegender Ressourcen und Flächen („Landgrabbing“) und ■ ein latentes Risiko vorsätzlicher oder fahrlässiger Verletzungen von Gesundheits-, Hygiene-, Umwelt- oder Verbraucherschutzregelungen. Trotz wiederkehrender Betroffenheitsbekundungen lassen die meisten Reaktionen aus Medien, Politik und Öffentlichkeit ein Muster erkennen, das der Logik des „grünen“ Wachstums entlehnt ist: Die unerwünschten Nebenfolgen einer Modernisierungsepoche sollen durch weitere, noch intensivere Modernisierungsschritte „repariert“ werden. Dabei werden Missstände, die systematisch in der Ernährungswirtschaft angelegt sind, wie Betriebsunfälle behandelt, die sich durch Nachbesserungen wegoptimieren lassen. Diskutiert werden Regulierungen, Anreizsysteme, Genehmigungsverfahren, freiwillige Vereinbarungen, eine Vergesellschaftung der eingesetzten Produktionsmittel, demokratische Entscheidungsprozesse, Qualitätskontrollen, Dokumentationspflichten, Verbraucherschutzinstitutionen oder Kennzeichnungen (wie aktuell von der Landwirtschaftsministerin vorgeschlagen). Weiterhin werden Forschungsanstrengungen angemahnt, um verbesserte Monitoring-Verfahren, nachhaltige Produktdesigns und Herstellungsmethoden zu entwickeln. Das institutionelle und technische Herumdoktern an den Symptomen eines verschlungenen, unkontrollierbaren Versorgungsapparates schlägt indes fehl, weil es die Problemursachen ignoriert.

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Industrielle Arbeitsteilung und Ernährungswirtschaft Seit Beginn des Industriezeitalters dreht sich in der Wirtschaft alles um technischen Fortschritt, Arbeitsproduktivität, Wissensgenerierung, Effizienzeigenschaften des Marktmechanismus und industrielle Spezialisierung. Das Schema ist simpel: Wenn eine bestimmte Versorgungsleistung in möglichst viele isolierte Teilprozesse zerlegt wird, auf die sich einzelne Unternehmen entsprechend ihrer jeweiligen Kompetenzen, Größenvorteile sowie lokaler Ressourcenverfügbarkeit konzentrieren, kann insgesamt mehr produziert werden als in einem Autarkiezustand. Aufgrund der zunehmenden Ortsungebundenheit der verschiedenen Teilprozesse der Produktion wurden diese dann geografisch je nach Kostenoder Qualitätsvorteilen verlagert. Die solchermaßen entgrenzte Industrialisierung hat auch den Ernährungssektor durchdrungen. Darüber kann die parallele Existenz des ökologischen Landbaus nicht hinwegtäuschen. Dieser hat die konventionelle Landwirtschaft nirgends zurückdrängen, geschweige denn an weiteren Industrialisierungsschüben hindern können. Zudem unterliegt die Produktion zertifizierter Bio-Nahrungsmittel selbst einer zunehmenden Tendenz zur räumlich verlagerten Arbeitsteilung. Die schädlichen Folgen der Ernährungsindustrie sind seit Langem bekannt:

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VER ANT WOR TUNG ÜBERNEHMEN

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Manches neu macht der März. Zehn Ausgaben lang stand an dieser Stelle die Reihe VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN, in der Philippe Merz und Frank Obergfell von der Thales-Akademie offene Gespräche mit mittelständischen Unternehmerpersönlichkeiten führten: über persönliche Grundsätze, wichtige Fehler, richtungsweisende Erfahrungen. Solche Gespräche kann es auch in Zukunft geben – nun aber stellen Philippe Merz und Frank Obergfell zudem in eigenen Beiträgen ihre Erkenntnisse und Positionen zur Diskussion. Um dieser Erweiterung Rechnung zu tragen, heißt die Rubrik von nun an VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN. DIE THALES-AKADEMIE

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Die gemeinnützige Thales-Akademie mit Sitz in Freiburg bietet heutigen und zukünftigen Verantwortungsträgern die Möglichkeit, sich offen und praxisnah mit den Grundfragen der Wirtschaftsphilosophie, Unternehmensethik, Medizinethik und Ethik der Digitalisierung zu befassen, um eine eigenständige Haltung zu diesen immer wichtigeren Herausforderungen zu entwickeln. Hierfür bietet die Thales-Akademie Seminare für Unternehmen und Hochschulen sowie – gemeinsam mit der Universität Freiburg und der Hochschule Furtwangen – zwei berufsbegleitende Weiterbildungen zur Wirtschaftsethik und Medizinethik. Beide schließen mit einem international anerkannten Certificate of Advanced Studies (CAS) ab. www.thales-akademie.de

Die Alpen als eingezäunter Freizeitpark: Gruppenbild vor der Mönch-Nordwand (4.107m), Berner Oberland

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Der Berg ruft nicht — Text: Philippe Merz

Trotz hoher Besiedlungsdichte können wir in Deutschland und Europa noch immer einen Rest an zusammenhängender Natur mit Wäldern, Flüssen, Stränden und Bergen erleben, auch wenn der Großteil davon längst kultiviert und ökonomisch verwertet wird. Wann immer wir diese Landschaften besuchen, sind wir nur selten allein: Allerorten treffen wir Spaziergänger, Jogger, Radfahrer, Badefreudige, Wanderer oder Bergsteiger, die die Natur zu genießen scheinen. Ist also nicht alles in bester Ordnung? In den Städten arbeiten wir in unseren mehr oder weniger sinnstiftenden Jobs, und in der Freizeit erholen wir uns eben in der Natur – oder?

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ir scheint, dass dieses harmonische Bild zwar noch fleißig von Tourismusbehörden und Reiseveranstaltern genährt wird, es in Wahrheit aber weniger zutrifft denn je. Denn wenn wir unser Verhalten in der Natur aufrichtig und selbstkritisch beobachten, offenbart sich, dass wir fast all unsere Bequemlichkeiten und unser Anspruchsdenken, unsere Erwartungen an maximale Erlebnisse bei minimalem Einsatz sowie unsere Sehnsucht nach sozialer Anerkennung längst auf die Natur übertragen haben. Mehr noch: Die Natur scheint diejenige Bühne zu sein, auf der wir diese Bedürfnisse oft am aggressivsten auszuleben versuchen. Besonders markant zeigt sich diese Entwicklung an unserem Umgang mit dem alpinen Raum. Gerade hier können wir daher viel über unser grundsätzliches Verhältnis zur Natur lernen – und zugleich mehr über unsere Sehnsüchte und Widersprüche, als uns lieb sein kann. Ein gewöhnlicher Tag in den Alpen

Mit welchen Haltungen und Gewohnheiten nähern wir uns heute den Bergen? Was tun wir, wenn wir nach den zahlreichen Staus endlich in der lang ersehnten alpinen Umgebung angekommen sind? Nun, meistens stellen wir uns gleich in die nächste Warteschlange. Wir warten an der Gondelkasse, bis die Familien und Seniorenpärchen ihre Tickets gelöst haben und wir endlich auch an die Reihe kommen. Wir warten am Drehkreuz, dass wir bis zur Gondel vorgelassen werden, und hoffen dabei inständig, dass uns der achtjährige Knirps nicht nochmal seinen High-End-Carbon-Wander-

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WEIT W INK EL Niko Paech Niko Paech

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Die Rubrik WEITWINKEL präsentiert plurale und kritische Perspektiven auf aktuelle ökonomische und wirtschaftspolitische Themen. Denkgefängnisse, in denen wir in politischen und alltäglichen Debatten oft unwillkürlich gefangen sind, sollen aufgezeigt und deren Mauern gesprengt werden. So soll sich der Blick auf das Neue, das Ungewöhnliche und durchaus auch Unbequeme weiten. Die Macher der Reihe WEITWINKEL sind Professorinnen und Professoren der Cusanus Hochschule, die Ökonomie im weiten Sinn verstehen – das heißt im Dialog von Wirtschaftswissenschaften, Philosophie, Kulturgeschichte, Soziologie und Politikwissenschaften. Die Cusanus Hochschule ist eine junge, staatlich anerkannte Hochschule in freier Trägerschaft, die sich als institutionelle und politische Alternative zu ökonomisierter Bildung versteht. Sie bietet innovative Studiengänge der Ökonomie (B. A. und M. A.) an, die Denken und Handeln verbinden, das soziale Verantwortungsbewusstsein stärken und auf die Neugestaltung der Gesellschaft vorbereiten.

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Die ökologische Verantwortung der Ökonomik Text: Silja Graupe und Walter Otto Ötsch

Wie denken Ökonomen prinzipiell über das Verhältnis von Natur und Gesellschaft? Welche Lösungen schlagen sie vor, um dem ökologischen Kollaps zu entgehen? Und warum haben diese Lösungsvorschläge (die seit mehreren Jahrzehnten im Vordergrund stehen) bislang wenig Auswirkungen gezeigt? Antworten auf diese Fragen zeigen vor allem, wie Ökonomen direkt zur Verschärfung ökologischer Probleme beigetragen haben und immer noch beitragen. 82


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Lorem Die ökologische Ipsum Verantwortung der Ökonomik

UMWELTZERTIFIKATE

es bestimmte Schadstoffe in der im Zertifikat festgelegten Menge ausstoßen. Sind weniger Zertifikate vorhanden als nachgefragt, wächst ihr Verkaufspreis. Für Unternehmen ist es ab einem gewissen Punkt günstiger, in Umweltschutztechnologien zu investieren und die Zertifikate zu verkaufen – was jene Unternehmen tun werden, denen es besonders leicht fällt, die Emissionen zu reduzieren (was sie ohne die Zertifikate nicht getan hätten). Jene, für die eine Reduktion sehr teuer wäre, haben die Möglichkeit, sich „freizukaufen“. Insgesamt kann auf diese Weise – so jedenfalls die Hoffnung – die gewünschte Reduzierung des Schadstoffausstoßes kosteneffizient erreicht werden.

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ie Umweltfragen in den Wirtschaftswissenschaften in der Regel interpretiert werden, ist hinlänglich bekannt: Umwelt gilt als „freies Gut“. Sie besitzt keinen Preis – und kann deshalb schonungslos ausgebeutet werden. Die Lösung ökologischer Probleme liegt im Rahmen der ökonomischen Logik demnach in der Errichtung eines neuen Markts, auf dem „Umweltgüter“ einen Preis bekommen. Ein Hauptinstrument für die Bepreisung von Umweltgütern bilden Umweltzertifikate. Sie geben dem Benutzer zum Beispiel das Recht, eine bestimmte Menge CO2 in die Luft zu entlassen. Die Zertifikate sollen auf einem Markt gehandelt werden, der vom Staat einzurichten ist. Auf diese Weise, so die Theorie, würde sich das öffentliche und freie Gut Umwelt in ein privates und handelbares Gut verwandeln, mit dem alle sorgsam umgehen würden. Ein solches Arrangement hätte – so die Erwartung vieler Ökonomen – die gewohnten „optimalen“ Wirkungen eines Marktes zur Folge: Der Preis der Zertifikate (ihr Kurswert) würde sich in der Höhe der Grenzkosten der Schadstoffvermehrung einpendeln; oder anders ausgedrückt: Je höher der Preis des Zertifikats ist, desto lohnender ist es, umweltfreundlichere Alternativen einzusetzen. Selbst die Kritik an der herrschenden Lehrbuchökonomie ist oftmals von dieser Sichtweise geprägt. Ein bezeichnendes Beispiel ist das CORE-Lehrbuch (Curriculum Open-access Resources in Economics), das 2015 unter anderem von INET (Institute for New Economic Thinking) publiziert wurde und frei im Internet verfügbar ist. Ökologische Probleme werden hier (im Unterschied zu anderen Lehrbüchern) nicht geleugnet und mit Zahlen und Schaubildern plastisch unterlegt. Sie gelten als unvermeidliche Nebenprodukte der permanenten „technologischen Revolution“, die den Kapitalismus kennzeichnet und für seinen Erfolg verantwortlich ist. Doch verspricht das Lehrbuch auch, dass es in Zukunft für jedes Umweltproblem eine technische Lösung geben werde. Und um diese Techniken zu finden und möglich zu machen, werden insbesondere die oben angesprochenen Umweltzertifikate empfohlen. „Die Politik“ müsse jetzt nur noch – so wird vermittelt – anhand ihrer Präferenzen verschiedene Konstellationen nach ihrem Grenzkalkül „auswählen“. Das Klimaproblem schrumpft in dieser Sichtweise auf ein reines Kalkulationsproblem, das es bloß noch politisch umzusetzen gilt.

Umweltzertifikate sind eine umweltpolitische Maßnahme zur Reduzierung des Schadstoffausstoßes. Emissionen, die ohne solche Umweltzertifikate erfolgen, werden (zumeist) mit Geldstrafen belegt. Zunächst wird eine Obergrenze für bestimmte Emissionen festgelegt. Dann wird die Gesamtmenge der erlaubten Emissionen in Umweltzertifikate aufgeteilt. Dabei entspricht jedes Umweltzertifikat einer bestimmten Menge an Emissionen (beispielsweise einer Tonne CO2). Dann werden die Umweltzertifikate an Unternehmen ausgegeben, die Schadstoffe ausstoßen. Die Unternehmen können nun mit ihnen handeln, sie also kaufen oder verkaufen. Kauft ein Unternehmen Zertifikate, so darf

Das Mensch-Ding-Kalkül Heißt das, Studierende der Ökonomik (Wirtschaftswissenschaft) brauchen über den Klimawandel grundsätzlich nicht beunruhigt zu sein? In der Tat könnte ein solcher Eindruck entstehen. Aber das Entscheidende bleibt bei dieser Herangehensweise ungesagt. Wird die Existenz eines Marktpreismechanismus behauptet (also angenommen, dass mittels eines Marktes Angebot und Nachfrage immer ins Gleichgewicht gebracht werden können), dann wird eine Eigenlogik „der“ Wirtschaft vorausgesetzt, die durchaus bestritten werden kann. Denn eine allgemeine Logik über alle Märkte hinweg gibt es nicht. Märkte können sehr unterschiedlich funktionieren; man muss immer im Detail auf die jeweiligen Güter, das Umfeld, die Machtverhältnisse, nationale Besonderheiten etc. achten. Gleichzeitig wird durch die Behauptung eines Marktpreismechanismus die Tendenz unterstützt, die Logik „des Marktes“ universell anzuwenden, das heißt, ihr keine Grenzen zu setzen. Eine derartige Selbstbegrenzung der ökonomischen Logik kann die Neoklassik, die immer noch die dominante Richtung innerhalb der ökonomischen Lehre darstellt, in der Regel nicht leisten. Denn sie verfügt – im Unterschied zur ökonomischen Theorie von Adam Smith – über kein Konzept der Gesellschaft, in das „die Wirtschaft“ eingebettet werden könnte. Ein sol83


MARK TPL AT Z

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Der Reiz des eigenen Tempos Text: Andrea S. Klahre

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Die Gesellschaft von morgen ist bereits chronisch krank, bevor sie überhaupt erwachsen werden kann: dünne Haut, Risse in der Seele, überreagierende Atem- und Verdauungswege. Und sonst so? Die Welt ist ein härter werdender Ort. Eine Beschreibung der Befindlichkeiten kommt nicht mehr ohne immer schrillere Begrifflichkeiten aus. Hyperaktivität ist ein solches Wort, Optimierungszwang ein anderes. Oder Augenblicksgier. Die Angst etwas zu verpassen, FOMO (Fear of Missing out) soll die erste „Social-Media-Krankheit“ sein, mit Symptomen wie: ständig online, dauernd im Austausch. Und natürlich: machen machen machen. Es ist ein Hetzen und Treiben, im Job, auf den Straßen, selbst im Wochenendkurzurlaub. Und sowieso in Großstädten. Wo sich gefühlt alles pausenlos rasanter dreht, sieht sich das äußere Zwecke erfüllende Ich – das (sich) produzierende und konsumierende Ich – permanent erpresst, die Geschwindigkeit anzupassen. Dieses noch junge Jahrhundert mit aller Mobilität, Flexibilität, Konnektivität hat generationenunabhängig schon eine Mehrheit sehr leidensfähig gemacht; sie hat gelernt, sich in überhitzte Leistungssysteme einzufügen, die von anderen für sie definiert werden. Sicher, Arbeit ist aus vielerlei Gründen das Salz in der Lebenssuppe. Doch vor lauter Abstrampelei wird ganz vergessen, dass es kein Maßstab für Gesundheit ist, sich gut an eine kranke Umwelt anzupassen.

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Ein derartiges Grundrauschen erzeugt große latente Müdigkeit, beobachtet der Philosoph Byung-Chul Han. In dem Band Die Müdigkeitsgesellschaft hat Han bereits 2010 diagnostiziert, dass jedes Zeitalter seine Leitkrankheiten habe, und dieses wäre das der neuronalen Erkrankungen. Der in den Hamsterrädern der Betriebsamkeit trabende Dauergestresste ende in Depressionen, Aufmerksamkeitsdefiziten, Borderline- und Überforderungs-Syndromen. Tatsächlich gewähren Gesundheitsreports seit Jahren regelmäßige Einblicke in die Abgründe des deutschen Arbeitsalltags. Seelische Störungen standen bei 44 Millionen Erwerbstätigen auf Platz 2 der Krankschreibungen, mit rund 110 Millionen Fehltagen im Jahr 2017, nur übertroffen von Rückenschmerzen. Die Lebenswelten dieser Menschen sind durchsetzt von Druck, unangemessener Bezahlung, dem „Pendlersyndrom“, Mobbing, „von einer Erschöpfung, die keine positive Potenz mehr hat“, schreibt Han. „Die neuronale Müdigkeit beginnt, sich auf der Hinterseite der globalen Hyperaktivität der Gegenwart festzusetzen.“ Und: Sie mache unmündig. Wer sich mit seinen Stressoren auseinandersetzen möchte, dem hilft nicht so sehr das Stochern im äußeren Nebel, sondern Kontakt zu sich. Ein Blick auf die eigenen Anteile, Ein- und Vorstellungen kann helfen, sich aus jenen Umständen zu befreien, in denen man sich gern als Opfer sieht – als Opfer eigener Ansprüche an Machbarkeit oder der anderer. Im Gefühl von Fremdbestimmung wird leicht übersehen, dass persönliches Wohl darin liegt, wie man selbst der Welt begegnet. Auf dem Weg zu neuen Ufern und zu Antworten ist es daher hilfreich, sich nicht noch zusätzlich unter Druck zu setzen.


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Der Reiz des eigenen Tempos

Viel zu viele wissen gar nicht, dass sie das haben, ein ureigenes Tempo. Was, wenn sie herausfänden, dass ihre Gangart im Grunde langsam ist? Wenn es ein Ziel sein könnte, persönliche Geschwindigkeit und jeweilige Tätigkeiten anzugleichen? Warum es lohnt, Dingen Zeit zu geben? Forscher sagen: Künftig wird Stress nicht mehr als Zeichen des Zuviel gedeutet, sondern als Unmöglichkeit, eine Balance zwischen Rasanz und Ruhe herzustellen.

© Foto: Andrea S. Klahre

Im griechischen Götterhimmel gab es neben der messbaren, chronologischen Zeit (Kronos) eine qualitative Dimension: Kairos, der Gott des günstigen Augenblicks, steht für den richtigen Zeitpunkt – dafür, etwas zu tun, das als zutiefst sinnvoll erlebt wird.

Was immer das sein mag, zunächst geht es weniger darum Tempo zu drosseln, als das Denken in quantitativen Maßstäben zu verlassen und Spielräume für Gemächlichkeit zuzulassen. Eigentlich geht es überhaupt nicht mehr um Zeitökonomie, sondern darum, sich selbstbewusst und selbstverantwortlich, mit Wissen und Können, Haut und Haar an etwas hinzugeben. Wer Fragen stellt wie: „Kann ich noch selbst entscheiden, was sinnvoll ist, was drängt und was Zeit hat?“, macht sich per se zum Untertan. Es gab schon weniger passende Anlässe für solche Gedanken. Die Stimmung kippt gerade. Hochkonjunktur und Prosperität durch beständige Beschleunigung – diese Formel stimmt nicht mehr. Es entstehen Hohlräume in den Systemen. Der englische Ökonom John Maynard Keynes glaubte, dass die Tragödie der Wohlstandsgesellschaft darin besteht, dass sie mit der freien Zeit, die sie sich immer gewünscht hat, nichts anzufangen weiß. Ein junger Brite, der früher Lehrer war, würde Keynes widersprechen. Er hat Spiegel online 2017 erzählt, wie er heute als Truck-Designer alte Lkw zu originellen Wohnwagen umbaut: „Nichts von dem, was ich vorher gemacht habe, hat sich so gut angefühlt wie das, was ich jetzt tue. Ich kann kreativ sein und es ist extrem befriedigend, fremden Menschen das Leben durch meine Arbeit angenehmer zu machen.“ Dem eigenen Lebensentwurf folgen. Beliebigkeit ausschließen. Momente haben. Sind die größten Geschenke, die man sich machen kann, richtig? Machen wir uns also auf den Weg und widmen uns unseren Themen, konzentriert und konsequent, lassend und wartend, auf unser Herz hörend. ■

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Die ruhige Wachheit Nun gibt es einen mentalen Zustand, der wie „ruhige Wachheit“ funktioniert – wie ein Resonanzraum für heilsame, große oder gar keine Gedanken; wie ein Ort, der einlädt zu einem unaufgeregteren Rhythmus. Das hat nichts mit einem bisschen Trödelness für die gestresste Seele zu tun. Sondern mit Wahrnehmung einer neuen Zeitqualität, die etwas befördern kann, das die amerikanische Psychologin Jane Loevinger als Ich-Entwicklung bezeichnet hat und andere mit einem guten Leben verbinden: Die Entdeckung des eigenen Tempos. Jenseits von Hetzen und Bummeln.

Andrea S. Klahre ist Gesundheitswissenschaftlerin mit Fokus auf ganzheitliche Prävention und mentale Stressregulation, Selbstführung und systemisches Coaching in Hamburg. Sie ist zudem freie Redakteurin und Autorin für medizinische und wissenschaftliche Themen.

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