A G O R A
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INHALT
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—3 EDITORIAL
1 Kapitel
—4 INHALT
Prolog
Wo kommen wir her? Was ist die Aufklärung? / Die Entzauberung der Welt / Die kopernikanische Wende / Was war die Aufklärung? / Total aufgeklärt? / Die Schattenseiten der Rationalität
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Interview mit
Kai Jannek
— 98 IMPRESSUM
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Interview mit
Philippe Merz
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Inhalt
Kapitel
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Kapitel
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Wo liegt das Problem?
Warum ändern wir uns nicht?
Was werden wir ändern?
Krise? Welche Krise? / Vom Kapitalismus zum Geldismus / Das Automobil im Widerspruch / Make Capitalism great again? / Alles im Widerspruch
Kapitel
Realismus und Verzweiflung / Angst verhindert Veränderung / Das Sinnlose / Ausgeliefert oder handlungsmächtig?
— 48
— 74
Interview mit
Peggy Hetmank-Breitenstein
Interview mit
Ariadne von Schirach Interview mit
Georg Monjoie
Für eine Welt anderer Selbstverständlichkeiten
Silke Helfrich
— 32
Das Buch NUR
Hans E. Widmer
Politik, verzweifelt gesucht …
Interview mit
Ralf Damitz
Interview mit
Thomas Vogel
Gestatten, Müll – Der lange Schatten des Menschen
Christian Unverzagt
The European Balcony Project
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Prolog – P R O L O G
Hin und wieder wird uns die Frage gestellt, was es mit der 42 im Magazintitel auf sich habe. Das wollen wir gerne verraten: Als die agora42 gegründet wurde, stand der erste Teil des Titels schnell fest. Wir wollten ein Marktplatz sein, eine agora, auf der sich unterschiedlichste Stimmen versammeln; wir fanden, dass die in den Medien angebotenen Erklärungen für die globale Finanz- und Wirtschaftskrise eintönig und unzureichend waren; wir wollten verstehen, was sich da wirklich abspielte. Auf der altgriechischen agora fand nicht nur der Handel statt, sondern es wurde auch trefflich über philosophische und politische Fragen disputiert – sie war der Geburtsort unserer heutigen Demokratie, die seit jeher über den Handel eng mit der Oikonomia zusammenhängt. Heute leben wir nicht mehr in einer Zeit, in der das bessere Argument zählt, sondern in einer Zeit, in der die Zahl sticht. Der Glaube, dass alles berechenbar sei und die Tatsache, dass Zahlen mehr vertraut wird als Worten – wird doch auch die heutige Wirtschaft vornehmlich durch Zahlen dargestellt –, ließ uns nach einer geeigneten Zahl für den Titel suchen. Schnell war klar, dass es nur eine Zahl gibt, die einerseits für das „große Ganze“ steht, andererseits aber auch eine gewisse Selbstkritik und Ironie transportiert:
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P R O L O G
Auch diese Zahl hat eine Geschichte, nur spielt diese Geschichte nicht in der griechischen Antike, sondern in den unendlichen Weiten des Universums. Es ist die Geschichte, die in dem Science-Fiction-Roman Per Anhalter durch die Galaxis des britischen Schriftstellers Douglas Adams erzählt wird: Vor langer Zeit gab es irgendwo im Universum eine Zivilisation, die sich die Frage nach Life, the universe and everything – also die Frage nach dem Leben, dem Universum und allem anderen stellte. Kurz: Die Angehörigen dieser Zivilisation wollten wissen, was der Sinn des Ganzen ist. Da sie uns Menschen in technologischer Hinsicht voraus waren, bauten sie einen Computer mit dem bedeutungsschweren Namen Deep Thought, der ihnen die Antwort auf diese Frage geben sollte. Doch der Supercomputer musste seine Erbauer zunächst vertrösten: Er brauche exakt 7,5 Millionen Jahren, um die Antwort zu berechnen. Die Außerirdischen machten lange Gesichter, waren aber 7,5 Millionen Jahre später wieder zur Stelle. Endlich würden sie eine eindeutige Antwort auf ihre Frage erhalten. Und was war die Antwort von Deep Thought? Richtig, 42. „Hm“, machte da die versammelte Volksmenge und war etwas ratlos, aber Deep Thought fuhr fort: „Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ihr die Antwort nicht versteht, aber ich wäre ja kein Supercomputer, wenn ich das nicht geahnt hätte. Euer Problem ist, dass ihr die Frage noch nicht kennt, mittels derer sich euch die Antwort erschließen würde. Ich habe parallel zur Berechnung der Antwort auch noch die Baupläne für einen neuen Supercomputer erstellt, der euch die Frage erbringen kann, mit deren Hilfe ihr dann auch die Antwort verstehen werdet.“ Dieser Supercomputer ist der Planet Erde. Einziger Sinn und Zweck der Erde ist es, die richtige Frage zu generieren, mit der man die Antwort 42 verstehen kann. Leider wird in dem Roman die Erde zehn Minuten vor Ablauf des Programms von den Vogonen, einer anderen außerirdischen Spezies, in die Luft gesprengt, weil diese Platz für eine Hyperraumumgehungsstraße brauchen … 42, das ist also die Antwort auf alle Fragen, die keine Antwort ist. Das ist die eindeutige Zahl, die alles im Unklaren belässt. Das ist gar nicht so unsinnig, wie es zunächst scheinen mag. Diese Zahl steht für den typisch menschlichen Versuch, einen Sinn zu finden – und ist doch gleichzeitig Ausdruck der Tatsache, dass dieser nicht gefunden werden kann. Zum Glück! Sonst wäre alles sinnlos.
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P R O L O G
Los geht’s Vor neun Jahren gründeten wir die agora42. Wir taten dies aus einem großen Staunen heraus, denn wir erlebten gerade die größte Wirtschaftskrise nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und es war offensichtlich, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann – und doch schien sich nichts zu verändern. Natürlich hätte man die Krise einfach nur auf die Verbriefung von Immobilienkrediten in den USA zurückführen können – oder vielmehr darauf, dass diese Kredite ab 2006 vermehrt nicht mehr zurückgezahlt werden konnten. Aber im Grunde merkten alle, die sich mit dieser Krise beschäftigten, dass sie für viel mehr steht als bloß eine weitere Finanz- beziehungsweise Wirtschaftskrise. Auch in Deutschland, das, verglichen mit anderen Ländern, wie eine Insel der Seligen schien, war der Glaube verflogen, man könne weiterhin durch Fortschritt das Wachstum befeuern und so immer mehr Menschen zu Wohlstand verhelfen. Zwar wurde immer wieder vor den Schattenseiten des Fortschritts, des Wachstums und des Wohlstandes gewarnt, aber die Lebenswirklichkeit schien alle Kassandrarufe der Lüge zu strafen. Doch jetzt fragte man sich plötzlich, ob diese Rufe nicht genau ins Schwarze trafen. Es wurden Fragen laut, die man vorher im Mainstream vergebens suchte. Fragen wie: Was bedeutet heute noch Fortschritt? Was ist Wohlstand? Wie entkommen wir dem Wachstumszwang? Zu offensichtlich wurden angesichts immer düsterer Klimaprognosen, des rapiden Rückgangs der Biodiversität, des Verlusts fruchtbaren Bodens, sauberen Wassers etc. die Auswirkungen unseres Wachstumswahns auf die natürlichen Lebensgrundlagen. Immer drängender stellte sich die Frage nach der Verteilung des Wohlstandes – profitieren doch immer weniger Menschen von den Wohlstandszuwächsen, während andere ihren Wohlstand bröckeln sehen. Seit 42 Ausgaben bewegt uns eine zentrale Frage: Was ist hier eigentlich los? Warum halten Menschen krampfhaft an offensichtlich Sinnlosem fest, wo sie doch so viel Sinnvolleres tun könnten? Was bringt Menschen dazu, Handlungen zu begehen, die offensichtlich der Vorstellung eines aufgeklärten, mündigen Bürgers widersprechen? Wie kommt es, dass sich Menschen, die sich als Frauen oder Herren ihres eigenen Schicksals begreifen, der Alternativlosigkeit beugen? Wie kam es, dass am Ende nur noch das Ökonomische zählt? Um diese Fragen zu beantworten, reicht eine Zahl:
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IDEOLOGIE
P R O L O G
Ideologie, damit wird gemeinhin eine starre Weltanschauung bezeichnet; und zwar zumeist eine solche politischer oder religiöser Art. Übersehen wird dabei, dass sich heimlich, still und leise eine neue Form der Ideologie entwickelt hat, die heute global vorherrscht: eine Weltanschauung, der zufolge alles berechenbar und vergleichbar werden soll – die Welt wird auf Zahlen reduziert. Transportiert wird dieses reduzierte Weltverständnis durch das Medium Geld im Rahmen einer Ökonomisierung aller Lebensbereiche.
Auch das ist die 42: die eine Antwort auf ganz verschiedene Fragen; eine Antwort jedoch, welche die unzähligen Möglichkeiten des Möglichkeitswesens Mensch verdeckt; die unzähligen Möglichkeiten, die vorhanden sind, aber nicht als solche wahrgenommen werden. Sie steht für den dogmatischen Glauben an harte Fakten, an unveränderbare Pfadabhängigkeiten und ausweglose Zwänge. Deshalb steht die 42 in dieser Ausgabe auch für eine Ideologie; für eine Ideologie, die uns der Kreativität und Vitalität beraubt und uns zwar funktionieren, aber nicht leben lässt. Natürlich ist diese Ausgabe auch ein Test für uns selbst: Inwieweit sind wir selbst ideologisch, inwieweit können wir uns dem Sog des scheinbar Normalen, Vernünftigen, Richtigen entziehen? Passend zur agora schreiben wir diese Ausgabe nicht mono-perspektivisch, sondern verwandeln sie in einen bunten Marktplatz, auf dem viele Menschen zu Wort kommen, die uns in den letzten neun Jahren begleitet haben. ■
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Wo kommen wir her? K A P I T E L
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Kapitel 1
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Kapitel 1
B
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K A P I T E L
ENDE DER GESCHICHTE
Diese Formulierung ist bekannt geworden durch das Buch des Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama The End of history and the last man, das 1992 erschienen ist.
Was ist die Aufklärung? Es ist erstaunlich, dass Francis Fukuyama meinte, das Ende der Geschichte erst 1992 gesehen zu haben, wo doch die Geschichte bereits 1774 geendet hat. Denn noch bevor Immanuel Kant im Jahr 1784 mit dem berühmten Essay Beantwortung der Frage: Was ist die Aufklärung? die Moderne endgültig einleitete, starb die wohl bekannteste Figur der Romantik – jener kulturgeschichtlichen Strömung, die sich als Reaktion auf die vernunftgerichtete Aufklärung verstand: Es war der Tod des jungen Werthers, nicht der Sowjetunion, der das Ende der Geschichte einleitete. In dem Briefroman Die Leiden des jungen Werther beschrieb Johann Wolfgang von Goethe das Leben des Rechtspraktikanten Werther, der sich unsterblich in die anmutige Lotte verliebte und sich, da er sie nicht heiraten kann, das Leben nahm. Alles, was nach Werther kam, war Produkt der Aufklärung, oder präziser: der Vernunft. Und so, wie Werther für eine Zeit des Sich-Wunderns stand, steht die Geschichte der Aufklärung für eine Zeit voller wunderbarer Erklärungen. Diese Geschichte handelt davon, wie wir vieles um uns herum und in uns selbst zu erkennen lernten. Vieles lernten wir klarer zu sehen, wie der Begriff Aufklärung nahelegt.
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evor wir uns der Frage annehmen, was hier eigentlich los ist, sollten wir einen Blick zurückwerfen. Wie konnte die Idee der Aufklärung, die uns von der Unmündigkeit zu befreien versprach, in eine neue Unfreiheit führen? Warum sind wir heute wieder in der Situation, über das eigene Leben nicht frei zu verfügen, es nicht gestalten zu können? Wie kam es dazu, dass nicht mehr die emanzipatorischen Ideen alternativlos sind, sondern die Unterordnung unter Zwänge, die genau jenen Idealen zuwiderlaufen, welche mit der Aufklärung aufkamen? Diese Fragen sind zentral, wenn man die heutige Zeit verstehen will. Also werden wir uns etwas Zeit nehmen, um zu verstehen, was die Faszination der Aufklärung ausgemacht hat und wie wir in die Situation kamen, in der wir heute sind.
Wo kommen wir her?
So wundert es auch nicht, dass selbst so schreckliche Erfahrungen wie die beiden Weltkriege des letzten Jahrhunderts diesen Glauben zwar erschüttert haben, aber nicht zu Fall bringen konnten. Im Gegenteil: Der Glaube an den Fortschritt boomte, man denke dabei insbesondere an die technischen Entwicklungen (Mondrakete oder Computer) und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, die ein Garant dafür sein sollte, dass solch schreckliche Ereignisse nie mehr geschehen konnten. Die dergestalt in Stein gemeißelten Überzeugungen sollten fortan als Richtschnur des menschlichen Handelns dienen – wie einst die Steintafeln von Moses. Allerdings, und dies markiert den großen Unterschied zu den Zehn Geboten, wurden diese modernen Gebote nicht von Gott, sondern von den Menschen formuliert und belegten so ein weiteres Mal den schon vom Philosophen Friedrich Nietzsche diagnostizierten Tod Gottes. Das Erstaunliche dabei war, dass dieser Erklärung kein Aufschrei der Kirchen folgte. Was wiederum so erstaunlich gar nicht ist, schließlich finden sich in den Menschenrechten viele ethische Imperative, wie sie von den großen Weltreligionen schon lange proklamiert wurden. So konnten selbst die Religionen hinsichtlich der Erklärung der Menschenrechte den säkularen Sieg ihrer Ethik feiern.
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Mit der Aufklärung kam die Idee auf, man könne die Welt systematisch besser verstehen und so auch systematisch verbessern.
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Kapitel 1
© Foto: Janusch Tschech
Herr Precht, was charakterisiert die heutige Gesellschaft? Was war es, das die Menschen in der Moderne getragen hat? Der Glaube an die Vernunft?
Richard David Precht, Beirat der agora42
Was unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält, ist der Wohlstand. Die bürgerliche Gesellschaft, entstanden durch die Erste Industrielle Revolution, stabilisierte sich in dem Maße, in dem mehr und mehr Menschen von ihren Segnungen profitierten. Der Prozess war allerdings ein Schlinger-
kurs, wie die bewegte Geschichte der Industriestaaten zeigt. Die "Vernunft", der "Überbau", mit dem sich die bürgerliche Gesellschaft legitimierte, verhinderte weder zwei Weltkriege noch den Holocaust. Wenn wir heute fürchten, dass der Affekt die Vernunft ersetzt – so muss man ehrlicherweise sagen: Das war nie anders. Die sozialen Medien machen die Macht des Affektes nur sichtbarer. Gleichwohl ist es nicht umsonst, die „Vernunft“ als Korrektiv zu beschwören – und sei es auch oft nur als „normative Kraft des Fiktiven“.
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Total aufgeklärt? Mit dem Zusammenbruch der Sowjetstaaten, nach dem sich der Liberalismus, als Synthese der vernunftgeleiteten Praxis in der Politik (Demokratie) wie in der Wirtschaft (Marktwirtschaft), global durchzusetzen schien, stellte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama fest, was sich Kant noch nicht getraut hat: Wir leben nicht nur im Zeitalter der Aufklärung, sondern wir leben in einer aufgeklärten Welt. Dabei muss man wissen, dass der Liberalismus in seiner ursprünglichen Idee die konsequente Anwendung sämtlicher aufklärerischen Ideen in gesellschaftlicher Hinsicht darstellt. Steht er doch für ein Verständnis, demzufolge die individuelle Freiheit der Person das oberste Gut darstellt. Im Politischen bedeutete er die Abwendung von der Idee, dass Fürsten oder Monarchen über andere Menschen herrschen dürfen – hin zu der Idee, man könne als freier Bürger selbst einem Vertrag zustimmen, der Rechte und Pflichten in einer Gesellschaft definiert; einem Vertrag, aus dem hervorgeht, dass die Herrschaft bei den Individuen beziehungsweise bei der Gesamtheit dieser Individuen, also beim Volk liegt. Auch die Marktwirtschaft beruht auf der Überzeugung, dass jeder Marktakteur – und das ist per se jeder – Verträgen frei und nach eigenem Ermessen zustimmen kann. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Wenn die Praxis sich so weit der Theorie angenähert hatte, lässt sich dann nicht zu Recht annehmen – wie Fukuyama es tat –, dass wir in einer aufgeklärten Gesellschaft leben? Auch die Tatsache, dass die Religionen sich in letzter Instanz den modernen Wissenschaften in Erkenntnisfragen beugen müssen, scheint diese These zu stützen: War es Adam oder ein Affe, von dem wir abstammen? Man könnte also zusammenfassen, dass mit der Aufklärung die Idee, man könne die Welt systematisch besser verstehen und so auch systematisch verbessern, nicht nur in die Welt kam, sondern auch gleichzeitig allumfassend umgesetzt wurde. Aber kann das wirklich gut gehen? Ist das nicht Hybris? Wo führt das hin? Als wir gerade über diese Fragen nachgrübelten, besuchte uns an einem warmen Sommertag Philippe Merz in der Redaktion. Er gründete gemeinsam mit dem Schwarzwälder Familienunternehmer Frank Obergfell die Thales-Akademie für Wirtschaft und Philosophie in Freiburg, die Seminare und Weiterbildungen zur Wirtschaftsphilosophie, Unternehmensethik und Medizinethik anbietet und die er seit ihrer Gründung leitet. Wir sprachen mit ihm darüber, wie es um die Vernunft, die Mündigkeit und die fortschreitende Erkenntnis bestellt ist. 23
Wo kommen wir her?
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Interview mit Philippe Merz —
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Herr Merz, man hat das Gefühl, dass die Antworten, die seitens der Politik auf die Probleme in der real erlebten Welt gegeben werden, immer mehr am wahren Kern der Probleme vorbeigehen. Die Widersprüche nehmen zu, aber es wird nicht gegengesteuert. Schlimmstenfalls nährt dies das überall verbreitete Gefühl der Angst und Nervosität. Bestenfalls aber führt dies dazu, dass man innehält, sich verwundert die Augen reibt und sich fragt: Was ist hier eigentlich los?
1 Philippe Merz führt die Geschäfte der Thales-Akademie, leitet die Inhouse-Veranstaltungen und ist Dozent in der Weiterbildung Wirtschaftsethik.
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Aber das ist doch die philosophische Urerfahrung überhaupt: das Staunen, das wir erleben, wenn das bislang Selbstverständliche aufhört selbstverständlich zu sein – und wir dabei auch mit der Frage konfrontiert werden, ob unsere eigenen Überzeugungen und Lebensentwürfe tatsächlich so überzeugend sind, wie wir bis eben noch geglaubt haben. Angst und Nervosität sind zwei typische Reaktionsmuster, um mit tiefgreifenden kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen unserer Lebenswelt umzugehen. Sie speisen sich daraus, dass es vielen Menschen offenbar leichter fällt, sich im Angesicht verunsichernder Veränderungen eine irgendwie düstere Zukunft vorzustellen, als ein wünschenswertes Bild von morgen zu entwerfen. Dafür sprechen zwar oft nicht die besten Indizien, aber es erscheint vielen intuitiv plausibler. Außerdem speisen sich Angst und Nervosität in solchen Umbruchsphasen meines Erachtens daraus, dass wir spüren, dass hier gerade unsere Normalitätsvorstellungen infrage gestellt werden und wir damit aufgerufen sind, unsere Denkgewohnheiten und Vorurteile auf den Prüfstand zu stellen. Genau das scheint weiten Teilen der Gesellschaft aber immer schwerer zu fallen, egal aus welchem sozialen Milieu oder politischen Lager. Man könnte auch sagen: Philosophie als leicht konsumierbare intellektuelle Schonkost blüht derzeit allerorten, aber echte Philosophie, also das konsequente Überprüfen unserer Werte und Lebensstile sowie der aufrichtige Austausch hierüber fallen uns nach wie vor schwer.
Mein Eindruck ist, dass dieses Wundern in zunehmend abgeschlossenen Blasen stattfindet – in unserem Fall ist das vielleicht eine eher linksliberale Blase, aber bei der AfD wundert man sich nicht weniger. Dieses Wundern hat jedoch wenig bis nichts mit philosophischem Staunen zu tun. Denn philosophisches Staunen wird von einem echten Erkenntnisinteresse angetrieben und zudem von der Bereitschaft, das eigene Denken und Handeln zu verändern, wo immer die besten Fakten und Argumente dafürsprechen. Davon unterscheidet sich das Wundern in den gegenwärtigen Blasen grundsätzlich. Hier empört man sich eher notorisch darüber, dass Politiker, Journalisten oder Wirtschaftsvertreter nicht so denken wie man selbst. Wir lassen damit zu, dass unsere Fähigkeit, mit Besonnenheit, Neugier und Empathie auf die Lebensentwürfe und Werturteile anderer Menschen zu schauen, noch weiter abnimmt. Und indem wir alles und jeden an unseren eigenen Maßstäben und Meinungen messen, verstärken wir eine Kultur des ständigen Be- und Verurteilens, bei der wir die ausgewogene Urteilsbildung überspringen und stattdessen gleich zur Empörung über vermeintliche Ungerechtig-
keiten oder Skandale übergehen. Dabei sind ausgewogene Urteilsfähigkeit und Verständigungsbereitschaft doch ein Lebenselixier der Demokratie. Jetzt kommt aber eine zusätzliche Crux: Wir können diese Verständigungsbereitschaft von unserem Gegenüber nicht einklagen wie ein formales Recht. Eigentlich können wir sie nicht einmal moralisch einfordern. Wir können nur auf sie hoffen oder sie allenfalls noch motivieren, indem wir den Menschen mit Offenheit und Neugier begegnen. Wenn wir uns an Sokrates als den Gründervater der westlichen Philosophie erinnern, dann zeichnet er sich doch genau dadurch aus, dass er seine Mitbürger auf dem Marktplatz offen fragt: „Was verstehst du unter Gerechtigkeit?“ oder: „Warum lebst du dein Leben so, wie du es lebst?“. Also: Erklär es mir – und dann lass uns deine Überzeugungen gemeinsam auf ihre Stärken, aber auch auf ihre Einseitigkeiten oder Widersprüche abklopfen. Das ist geradezu das Gegenteil der heute verbreiteten Haltung, dass ich es ohnehin besser weiß als du – und ich dir jetzt gnädigerweise noch etwas Nachhilfeunterricht gebe, damit du es auch endlich verstehst. Diese Arroganz, dieser Mangel an echtem gegenseitigem Verstehenwollen zeichnet viele unserer gesellschaftlichen Debatten heute aus. Jeder weiß immer schon vorher, was richtig ist – und lässt sich durch nichts und niemanden davon abbringen. Das ist natürlich richtig, aber wenn man sein Leben damit zubringt, die Meinungen anderer Menschen verstehen zu wollen, deren Inkonsistenzen
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Wie kommen Sie zu dem Eindruck, dass es immer weniger Menschen gibt, die sich über ihr Leben wundern? Erleben wir nicht genau das Gegenteil? Wird nicht die Normalität, für die die Politik der großen Koalition stellvertretend stehen kann, von immer mehr Menschen angezweifelt?
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Kapitel 1
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Wo liegt das Problem? K A P I T E L
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Kapitel 2
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K
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Kapitel 2
rise? Welche Krise?
„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn“, dichtete einst Rainer Maria Rilke und beschreibt damit treffend, was 2007 in den USA begann und sich dann ausweitete – von der Subprime-Krise zur Finanzkrise zur Wirtschaftskrise zur Eurokrise zur Demokratiekrise zur Was-weiß-ich-Krise. Diese Große Krise oder Multiple Krise hat sich inzwischen überall etabliert und präsentiert sich nun abwechselnd in verschiedenen Gestalten: So hatte sie beispielsweise als Eurokrise zwei bemerkenswerte Auftritte, zunächst, als ein möglicher EU-Austritt Italiens debattiert wurde, und dann, als ein unkontrollierter Austritt Großbritanniens aus der EU wahrscheinlich wurde; sie erschien als Demokratiekrise, als eine deutsche Regierung nicht gebildet werden konnte und verschiedene Populisten und populistischen Parteien ihre Macht innerhalb und außerhalb Europas ausweiteten; sie zog als Finanzkrise bedrohlich über den Märkten auf, als von völlig überteuerten Immobilien in deutschen Großstädten und dem Schuldenstand der OECD-Staaten die Rede war, oder lässt als Klima- und Umweltkrise immer mehr Menschen brutal spüren, dass ein Weiter-so auf dem Wachstumskurs irgendwo zwischen durchgeknallter Utopie und kollektivem Suizid anzusiedeln ist. Man kann das alles, wie wir in unzähligen Diskussionen erfahren haben, aber auch ganz anders sehen (oder zumindest behaupten, es zu tun). Manche meinen beispielsweise, es sei alles gar nicht so schlimm und die Rede von einer Krise nichts weiter als Panikmache. Schließlich zeige auch die Erfahrung, dass sich viele Bedrohungsszenarien schlichtweg in Luft auflösen: Das viel beschworene „Waldsterben“ beispielsweise ist ausgeblieben, und vom „Kampf der Kulturen“ spricht heute auch niemand mehr. Sind wir nicht immer noch am Leben, allen Appellen der letzten Jahrzehnte zum Trotz (man denke etwa an den Bericht 33
Wo liegt das Problem?
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Interview mit T h o m a s Vo g e l —
Herr Vogel, in Ihrem neuen Buch mit dem Titel Mäßigung beschreiben Sie, wie Glück und Zufriedenheit mit der Fähigkeit zusammenhängen, sich zu beschränken. Ist die Mäßigung der entscheidende Schritt zur Befreiung von alltäglichen Zwängen und „alternativlosen“ Wirtschaftsweisen?
© Foto: Daniel George
K A P I T E L 2 Thomas Vogel ist Professor für Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Schul- und Berufspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Zuletzt von ihm erschienen: Mäßigung – Was wir von einer alten Tugend lernen können (Oekom-Verlag, 2018).
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www.agora42.de/ maessigung-thomas-vogel
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Die über 2000 Jahre alte Philosophiegeschichte von Mäßigung verweist auf einen engen Zusammenhang zwischen der Bestimmung eines rechten Maßes und einem harmonischen, glücklichen und autonomen Leben. Die alltäglichen Zwänge, denen wir unterworfen sind, sind das Ergebnis der Ausbreitung eines neoliberalen Wirtschaftssystems. Die Menschen werden hierbei von einer „anonymen“ Macht beherrscht, die permanent ihre Bedürfnisse manipuliert, sie zum Streben nach dem „Immer-mehr“ antreibt und weite Teile ihres Lebens steuert. Die „invisible hand“, wie sie Adam Smith bezeichnete, führt aber nicht zum Wohlstand der Nationen, wie von ihm prophezeit. Vielmehr verfehlt dieses Wirtschaftssystem mittlerweile fundamentale Zielsetzungen gesellschaftlichen Zusammenlebens: Es überfordert die Menschen, lässt sie im Zustand permanenter Unzufriedenheit zurück und zerstört gleichzeitig die natürlichen Lebensgrundlagen. Obwohl es uns materiell so gut wie nie zuvor geht, leiden immer mehr Menschen unter Stress und Depressionen. Mäßigung in Form von Suche und Bestimmung eines rechten Maßes ist deshalb ein wichtiger Schritt zur Befreiung der Gesellschaft und Individuen von der Dominanz ökonomischen Denkens und dem Streben nach Immer-mehr hin zu mehr Selbstbestimmung. Frei nach Kant ist es unsere größte Freiheit, uns selbst Gesetze zu geben – gemeinhin verbindet man aber das Fehlen von Vorschriften mit Freiheit. Brauchen wir in Zukunft mehr oder weniger staatliche Reglementierungen?
Es ist nicht nur die größte Freiheit des Menschen, sich selbst Gesetze zu geben, sondern zugleich auch seine größte Verpflichtung. Kant hatte nämlich auch die Forderung aufgestellt, die Menschen mögen nur nach derjenigen Maxime handeln, durch die sie zugleich wollen können, dass sie
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Um elementare Veränderungen in unserer Zeit herbeiführen zu können, müssten wir von vielem befreit werden: Dem Verpackungswahnsinn, dem Transportwahnsinn, dem Arbeitswahnsinn, dem Produktionswahnsinn etc. Ist eine solche Befreiung ohne radikale Eruptionen möglich?
Die fehlende Einsicht in die Zusammenhänge unseres Tuns ist ein kollektiver Wahnsinn, von dem wir uns befreien müssen. Bislang hat sich das kapitalistische Wirtschaftssystem, das diesen Wahn produziert, als ausgesprochen widerstandsfähig erwiesen gegenüber allen Bestrebungen seiner Überwindung. Realistische Alternativen zum Kapitalismus sind gegenwärtig kaum in Sicht. In der griechischen Stoa spielte das Verhältnis von Wahn und Mäßigung eine bedeutende Rolle. Die Stoiker bezeichneten jeden Toren als wahnsinnig, da er über sich selbst und seine Umstände in Unwissenheit sei. Der stoische Philosoph Seneca formulierte, dass wer nach Wahnvorstellungen lebe, niemals reich sein werde; denn die Natur, so seine Überzeugung, fordere nur wenig, der Wahn aber Unermessliches. Als heutige Wahnvorstellung könnte man das durch das ökonomische System determinierte naturwissenschaftliche Erkenntnismonopol bezeichnen, welches in Industriegesellschaften letztlich über die Frage entscheidet, was Natur ist. Diese Wahnvorstellung hatte sich in der Zeit der Aufklärung im Prozess der Formalisie-
rung der Vernunft entwickelt. Der Mensch hat sich in der Epoche der Aufklärung sozusagen als gottgleiches Subjekt der Erdgeschichte eingesetzt und sich selbst zum Maß aller Dinge erklärt. Ihm ging die Anerkennung jeglicher ethischen Maßstäbe verloren, die nicht seinem grenzenlosen Trieb nach Selbstbehauptung und Selbsterhöhung dienten. Allerdings wird ihm diese Überheblichkeit zunehmend zur Selbstgefährdung. Die Frage, ob der Mensch diese Prozesse antizipieren und durch rechtzeitige Mäßigung den Gefahren vorbeugen kann oder ob letztlich eine radikale Eruption ihn zur Umkehr zwingen wird, ist offen. Im Alltag hat die Befreiung bereits ihren Platz: Das Wochenende befreit von den Werktagen, der Urlaub von der Arbeitswelt und die Fußball-WM vom politischen Tagesgeschehen. Befreiung ist für die meisten nur eine Befreiung von etwas – und verweilt damit in der Negation. Ist Ihrer Meinung nach darüber hinaus Freiheit möglich?
In entfremdeten gesellschaftlichen Verhältnissen brauchen die Menschen permanente Kompensation. Sie suchen nach Ablenkung und Zerstreuung bei Fußball-Ereignissen, im Urlaub und anderem. Freiheit im Sinne einer Souveränität über Zeit und Raum besitzen in unserer Kultur nur wenige Privilegierte. Der große Rest hat es schwer, sich aus dem Netzwerk der entfremdeten Verhältnisse zu befreien und wird für sein Leid durch Konsum, Festivitäten etc. entschädigt. Aber unter dem permanenten Triebverzicht, der den Menschen abverlangt wird, tendiert die Kultur zur Selbstzerstörung. Der Irrtum unserer Zeit besteht darin, dass wir unbegrenzte Freiheit und ein glückliches Leben unreflektiert gleichsetzen. Wir betrachten – auch durch den Einfluss neoliberalen Denkens – alle staatlichen Festlegungen als Beschränkung unserer Freiheit. Aber gerade politische Regelungen und Beschränkungen eröffnen Freiheitsräume und sind für ein gelingendes Zusammenleben unverzichtbar. Im Zentrum antiker Mäßigungsphilosophie – besonders bei den Epikureern – stand nicht die Beschränkung, die Beschneidung der Freiheit des Individuums und die Zügelung der Lust, sondern ganz im Gegenteil die Entwicklung und Förderung von Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung, die Freiheit des Menschen im Sinne seiner Unabhängigkeit von den unmittelbaren Verhältnissen sowie die Förderung der wahren Lust. Selbsterkenntnis sollte den Menschen ermöglichen, das rechte Maß in ihrem Leben zu finden und es selbst zu bestimmen, um letztlich und in Vollendung der Person die Herrschaft über sich selbst zu erlangen. Angesichts zunehmender individueller (zum Beispiel Depressionen, Burn-out, Stress etc.) und ökologischer Krisen (Klimawandel, Artensterben etc.) besteht die Hoffnung, dass die Menschen in der Philosophie der Mäßigung eine Alternative zu den falschen Fortschrittsversprechungen kapitalistischer Industriegesellschaft erkennen und sich über die Suche nach dem rechten Maß auf den Weg zur Selbstbefreiung machen. ■
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ein allgemeines Gesetz werde. Der Mensch, der sich nicht durch eigene Gesetze Grenzen setzt, sondern sich von Affekten treiben lässt, ist nicht frei, sondern wird zum Opfer äußerer Strukturen und Manipulationen. Schon Aristoteles rückte deshalb die Maßlosigkeit des Menschen in die Nähe des Tierischen und stufte sie als besonders negativ ein. Es ist ein fataler Irrtum, das Fehlen von Gesetzen, Maßstäben und Vorschriften mit Freiheit gleichzusetzen. Der Neoliberalismus, wie er sich in den letzten Jahrzehnten global ausbreitet, verfolgt eine Befreiung von staatlicher Reglementierung und eine Gestaltung des öffentlichen Lebens nach den Regeln einer ökonomischen Dogmatik (zum Beispiel im Gesundheitswesen, im öffentlichen Nahverkehr, in der Bildung usw.). Die quasireligiöse neoliberale Denkweise hat sich mittlerweile wirkmächtig wie ein feinmaschiges Netz über sämtliche gesellschaftliche Strukturen und politische Entscheidungen bis hinein in zwischenmenschliche Beziehungen und individuelle Denkmuster ausgebreitet. Diese Entwicklung hat zu einer wachsenden Konkurrenz und Entsolidarisierung der Weltgemeinschaft geführt, die angesichts zunehmender globaler (ökologischer) Krisen und Katastrophen kontraproduktiv wirkt. Wir brauchen deshalb eine neue „Kultur der Mäßigung“, in der ein öffentlicher Diskurs über das rechte Maß im Verhältnis von Kultur und Natur geführt wird sowie eine Politik, die – von der vorherrschenden ökonomischen Ideologie befreit – sich verstärkt dem Gemeinwohl sowie dem Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen verpflichtet fühlt.
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Kapitel 2
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Warum ändern wir uns nicht?
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Kapitel 3
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Kapitel 3
Die Unmöglichkeit, das Ganze zu ändern, zeigt sich schon an der Unmöglichkeit, sich selbst zu ändern.
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Adorno wird heute vielfach mit dem Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ verbunden. Was ist in der heutigen Zeit dieses falsche Leben, in dem es sich nicht richtig leben lässt? Ja, dieser Satz aus den Minima Moralia gilt als Adornos berühmtester, und viele, vor allem auch wohlwollende Lesende wünschten, er hätte ihn nie geschrieben. Den einen erscheint er als aporetisch, anderen als ausweg- und hoffnungslos. Oft schon habe ich gehört: „Aber es gibt doch ein ‚richtigeres‘ oder ‚falscheres‘ Leben“ – als seien ‚richtig‘ und ‚falsch‘ graduierbar. Dabei spricht Adorno mit diesem Satz – in der für ihn typischen Geste der Übertreibung freilich – eine Grunderfahrung aus, die bereits Marx als Einsatz und Triebkraft aller ernsthaften Gesellschaftskritik angesehen hatte. Bei Marx findet sich diese Erfahrung in der Rede von der
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ir wissen genug. Wir wissen, dass vieles falsch läuft und geändert werden müsste. Warum ändern wir uns nicht? Alternative Ideen und Modelle sind zuhauf vorhanden, Pilotprojekte zeigen bereits Wege aus der Wachstumsfalle, kaum jemand glaubt mehr daran, dass mit dem Kontostand auch Glück und Zufriedenheit steigen – und doch bleibt das Gefühl eines gierigen Systems, das sich ungebremst und wissentlich gegen die Wand fährt. Nun ist es so, dass eine Gesellschaft nicht so leicht zu ändern ist, weil sie eben nicht wie ein Haus um uns herum gebaut ist, sondern eher wie ein Mobilfunknetz aus uns heraus und durch uns hindurch strahlt und mit all unseren Schlüssen, Erkenntnissen, Gefühlen, Befindlichkeiten und Gedanken verwoben ist. Wir können uns von unserer Kultur nicht frei machen. Wir müssen zumindest ihre Sprache benutzen, um über sie zu sprechen. Diese Kultur ist nicht vom Himmel über uns gekommen oder wie ein Tyrann vor unsere Nase gesetzt worden, sondern wird tagtäglich durch eben unsere Handlungen und Ansichten am Leben gehalten. Ein Teufelskreis. Und die Unmöglichkeit, das Ganze zu ändern, zeigt sich schon an der Unmöglichkeit, sich selbst zu ändern: Wer kann ernsthaft behaupten, dass die Erkenntnis, er müsse sich selbst lieben, um andere lieben zu können, automatisch zu einer empfindsamen Selbstliebe führt? Wer von denen, die es sinnvoll finden, dem Wahn des Wachstums und Fortschritts eine Grenze zu setzen, hört auf, ständig vorankommen und sich verbessern zu wollen? Wir rufen: „Die Gesellschaft soll sich ändern, dann ändere ich mich auch.“ Aber eigentlich wissen wir, dass die Änderung der Gesellschaft genauso hoffnungslos ist wie die Veränderung unser selbst. Es gibt eben kein richtiges Leben im falschen – oder? Die Jenaer Philosophin Peggy Hetmank-Breitenstein sagte dazu in einem Interview mit agora42:
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www.agora42.de/ befreiung-breitenstein
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Friedrich Nietzsche
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(1844-1900) war Philologe und Philosoph.
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Kapitel 3
Das Sinnlose Der Philosoph Friedrich Nietzsche, der sich eingehend mit dem Menschen und seiner diffusen Angst vor der unerklärlichen Existenz, dem sinnlosen Tod und dem fehlenden Zweck des Lebens auseinandergesetzt hat, notierte einen möglichen gesellschaftlichen Wandel von der Furcht zur Angst stichpunktartig in seinen nachgelassenen Fragmenten. Er bezeichnete den Menschen, der nicht an eine übernatürliche Bestimmung, einen göttlichen Sinn im Leben oder einen Grund dafür, dass er geboren wurde, glaubt, als Nihilisten, also als jemanden, der an das Nichts glaubt (und nicht als Ungläubigen!). Der Mensch, der an das Nichts glaubt, das allem Sein völlig sinnlos und willkürlich zugrunde liegt, gehe mit dieser Leere, auf der er steht, auf zweierlei Weise um: entweder als „aktiver Nihilist“ oder als „passiver Nihilist“. Ersteren sieht er in der westlichen Welt nach der Erosion des Christentums vertreten: Nachdem man sich an keine Zwänge und vermeintliche Existenzbedingungen – Glaubensartikel, moralische Grenzen, Traditionen – mehr gebunden fühlt, gibt es nichts mehr, was dem Hinterfragen standhält. Es beginnt ein aktiver und tatkräftiger Zersetzungsprozess, der in einer „gewalttätigen Kraft der Zerstörung“ gesellschaftlicher, natürlicher und persönlicher Grenzen gipfelt. Diese Tatkraft versage allerdings, so Nietzsche, wenn es darum geht „produktiv sich nun auch wieder ein Ziel, ein Warum?, einen Glauben zu setzen“. Kurzum: Der Glaube an das Nichts offenbart sich in einer grenzenlosen Zerstörung und der Unfähigkeit, noch an etwas zu glauben. Für Nietzsche ist diese Form des Nihilismus ein Zwischenzustand, der mit der Einsicht endet, dass die Zerstörung der sinnlosen Zwänge selbst sinnlos ist. 55
Warum ändern wir uns nicht?
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K A P I T E L
Spannend ist nun für den Philosophen Nietzsche, was im Anschluss an diesen zerstörerischen aktiven Nihilismus folgen kann: Durch Ermüdung und Erschöpfung könne, so Nietzsche, der aktive Nihilismus in einen passiven übergehen, der durch „Niedergang und Rückgang der Macht des Geistes“ gekennzeichnet ist. Im passiven Nihilismus trete „alles, was erquickt, heilt, beruhigt, betäubt, in den Vordergrund“. Diesen passiven Nihilismus sah er damals im Buddhismus verkörpert: „Der Buddhismus ist eine Religion für späte Menschen, für gütige, sanfte, übergeistig gewordne Rassen, die zu leicht Schmerz empfinden (…): er ist eine Rückführung derselben zu Frieden und Heiterkeit, zur Diät im Geistigen, zu einer gewissen Abhärtung im Leiblichen. (…) Der Buddhismus ist eine Religion für den Schluss und die Müdigkeit der Civilisation.“ Und weiter: „Die zwei physiologischen Thatsachen, auf denen er ruht und die er ins Auge fasst, sind: einmal eine übergrosse Reizbarkeit der Sensibilität, welche sich als raffinierte Schmerzfähigkeit ausdrückt, sodann eine Übergeistigung, ein allzulanges Leben in Begriffen und logischen Prozeduren, unter dem der PersonInstinkt zum Vortheil des ,Unpersönlichen‘ Schaden genommen hat (…). Auf Grund dieser physiologischen Bedingungen ist eine Depression entstanden: gegen diese geht Buddha hygienisch vor. Er wendet dagegen das Leben im Freien an, das Wanderleben, die Mässigung und die Wahl der Kost; die Vorsicht gegen alle Spirituosa; die Vorsicht insgleichen gegen alle Affekte, die Galle machen, die das Blut erhitzen; keine Sorge, weder für sich, noch für Andre. Er fordert Vorstellungen, die entweder Ruhe geben oder erheitern – er findet Mittel, die andren sich abzugewöhnen. Er versteht die Güte, das Gütig-sein als gesundheitsfördernd. Gebet ist ausgeschlossen, ebenso wie Askese; kein kategorischer Imperativ, kein Zwang überhaupt, selbst nicht innerhalb der Klostergemeinschaft (– man kann wieder hinaus –). Das Alles wären Mittel, um jene übergrosse Reizbarkeit zu verstärken. Eben darum fordert er auch keinen Kampf gegen Andersdenkende; seine Lehre wehrt sich gegen nichts mehr als gegen das Gefühl der Rache, die Abneigung, das ressentiment (– „nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende“: der rührende Refrain des ganzen Buddhismus …). Und das mit Recht: gerade diese Affekte wären vollkommen ungesund in Hinsicht auf die diätische Hauptabsicht. Die geistige Ermüdung, die er vorfindet, und die sich in einer allzugrossen ,Objektivität‘ (das heisst Schwächung des Individual-Interesses, Verlust an Schwergewicht, an ,Egoismus‘) ausdrückt, bekämpft er mit einer strengen Zurückführung auch der geistigen Interessen auf die Person. In der Lehre Buddha‘s wird der Egoismus Pflicht: das ,Eins ist Noth‘, das ,wie kommst du vom Leiden los‘ reguliert und begrenzt die ganze geistige Diät. (…)
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»Der Buddhismus ist eine Religion für den Schluss und die Müdigkeit der Civilisation.«
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Warum ändern wir uns nicht?
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I N N E H A LT E N — Interview mit Georg Monjoie
K A P I T E L 3 Georg Monjoie ist Maler. Er studierte Germanistik und Philosophie. Mehr unter georgmonjoie.com
Herr Monjoie, die auf uns zurollende Katastrophe, klimatisch als auch gesellschaftlich, wird mittlerweile nicht mehr ernsthaft in Abrede gestellt – trotzdem reißen wir das Ruder nicht herum und fahren sehenden Auges gegen den Eisberg. Ist die Welt nicht mehr zu retten?
Zu sagen, die Welt werde untergehen und überhaupt sei alles schrecklich, ist schlicht albern! Fatalismus ist eher ein Angstreflex, kein Standpunkt. Die Alternative allerdings ist anstrengend: Sie bedeutet langsamer zu werden und auszuatmen. Leben ist nicht Essen. Leben ist Stoffwechsel! Wer nur isst und nicht verdaut platzt einfach. Und ich hoffe doch, dass wir aus all der geistigen Nahrung, all den Dingen und Gedanken, die wir im Kopf haben, nicht nur Fäkalien machen, sondern ein Plus, nämlich uns. Guckt uns nur an mit all den Dingen, die wir um uns herum haben! Was machen wir daraus? Machen wir Glück daraus? Nein, wir sind völlig impotent geworden, wir machen nur Zukunftsangst daraus. Das ist grauenhaft! Wir leben nur noch im Konsumismus und der ist tatsächlich eindimensional und linear. Er braucht keine Lebendigkeit, er braucht Waren und deren Umsatz. In ihm können wir nicht verstoffwechseln, sondern nur verbrauchen. 58
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Kapitel 3
Woran es mangelt, ist also nicht die Freiheit, sich in Gedanken theoretische Lösungen auszudenken, sondern diese auch umzusetzen?
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Der Kapitalismus ist ein Wertevernichter. Es fließen zwar wahnsinnig viel Kapital, Güter und Informationen, aber keine Werte. Stattdessen denken wir nur noch in Relationen von größer, besser, schneller, mehr und suchen ununterbrochen den Vergleich – am besten auf die Zahl genau. Aber Zahlen vernichten Werte, eben weil sie so eindeutig sind. Sie kennen keine Zweideutigkeit, keine Zweifel. Wirkliche Werte, ethische Werte, ergeben sich stets aus Zweideutigkeit. Dem eindimensionalen linearen „Mehr“ zu folgen, heißt nicht, Werte zu schaffen, sondern Werte zu vernichten. Das Lineare „Mehr“ steht allein, am besten regulierungsfrei und ohne Begrenzung. Es kennt kein sowohl als auch. So brauchen auch die Akteure des Finanzmarktes gar kein Gewissen: „Was redet ihr denn, die Umsätze steigen doch, die Unternehmenszahlen sind besser als 2008 – und Ende Gelände.“ Mit dieser Denke ist nichts mehr wertvoll. Sie ist vollkommen systemimmanent. Und deswegen ist für mich allein schon die Idee des Maßhaltens der eigentliche Systemwechsel. Alles andere ist totalitär. Die Planwirtschaft zum Beispiel: Wieder wird in Zahlen gedacht, Umsätze werden gemessen und ein einheitlicher Grenzverbrauch vorgeschrieben. Das ist nicht die Lösung. Maßhalten bedeutet langsamer zu werden, nach innen zu schauen und Ambivalenzen auszuhalten. Es geht darum, Müll zu vermeiden, und nicht darum, Strände von Plastikmüll zu säubern. Das Maßhalten allein hat aber noch keine schöne Gestalt, ist noch keine schöne Erzählung. Jetzt ist der Moment, in dem wir gesellschaftlich politisch werden müssen. Mit meinem Sohn sprach ich neulich über die „visionäre Heimatlosigkeit“, einen Begriff von Harald Welzer: Wir sind voller Visionen, Möglichkeiten und Ideen, aber nichts davon wird umgesetzt. Wir hören uns die netten Ideen an und sagen: „Aha, und jetzt?“
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Heißt das, dass wir den Wert der Dinge nicht mehr erkennen? Das ist doch paradox, wo ständig ein „Mehrwert“ erschaffen werden soll …
Ja genau! Im Internet findet man zahllose Gedanken und Schriften zum Thema Postwachstumsgesellschaft, Postwachstumsökonomie, wachstumsneutrale Unternehmen etc. Die Gedankenwerkstatt ist am dampfen – aber was machen wir daraus? Was uns fehlt, ist tatsächlich so etwas Olles und Altbackenes wie die Kultur und Ästhetik dazu – die Gestalt. Kunst, Architektur, Stadtplanung, Literatur und Musik reagieren noch nicht. Die alternativen Ideen sind alle da! Sie nehmen nur keine Gestalt an. Wir zeigen zwar auf sie und rufen: „Hey, guck mal, es geht auch anders!“ Nur sind wir damit noch systemimmanent, bleiben im selben Sumpf stecken. Wir sitzen noch in der vergeistigten Denkwerkstatt und stellen uns das „anders“ vor. Die Ästhetik müsste sich jetzt darum kümmern, aus den bereits vorhandenen Ideen die praktische Erfahrung zu schaffen und jeden spüren zu lassen „Hey, so ist es viel schöner!“ Verantwortlichkeit, soziale Nähe, lebendige Stadtteilkulturen, Commons, diese ganzen Ideen. Lasst uns keinen Thinktank, sondern einen habitual Tank daraus machen. Von der Machbarkeit zur Schönheit! Auch der Prozess der Transformation muss diesen Weg gehen! Erzählen wir doch eine bildliche Geschichte zum Verzicht, die jeder nachempfinden kann, und zeigen, dass weniger wirklich mehr ist. Winfried Kretschmann hat es vor Jahren gewagt zu sagen, dass weniger Autos mehr Lebensqualität bedeuten. Er hat den Satz im Autoland BadenWürttemberg dann leider nie mehr wiederholt. Das Weniger muss als tatsächliche Option wieder zurückkehren, als eine Möglichkeit zu mehr Lebensqualität: Cool-down, ausatmen, Metabolismus herunterfahren. Weckt dieses Herunterfahren nicht gleich Verlustängste? Was bleibt uns, wenn wir nicht ständig nach mehr streben?
Im Gegenteil, mit diesem Ausatmen gewinnen wir erst an Lebendigkeit. Das zeigt eindrücklich das fernöstliche Yin und Yang: Lebendigkeit entsteht nicht im Schwarz oder Weiß, sondern dort, wo beides aufeinandertrifft. Wenn diese Grenze aufhört zu sein, dann ist das der Tod. Dann wird alles grau. Die Grenze ist unsere Lebensbedingung – und nicht das Grenzwertig-sein. Das ist ein wichtiger Unterschied! Von der Grenze sieht man nach beiden Seiten und kann den Wechsel erkennen, man scheut die Komplexität nicht und ist deshalb lebendig. Außerdem ist wichtig: Das Yin-und-Yang-Symbol hat eine geschwungene Linie in sich, keine gerade. Damit wird unser schwieriger und vielleicht auch längerer Weg symbolisiert. So sind wir. Wir wandern auf diesem Grat entlang, denn wenn wir keine Auseinandersetzung haben, stürzen wir zusammen. Das ist schön und anstrengend zugleich, braucht Zeit und Behutsamkeit. 59
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Was werden wir ändern?
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Kapitel 4
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Kapitel 4
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m 1. August 2018 wurde auf der Homepage der New York Times der Essay „Losing Earth: The Decade We Almost Stopped Climate Change“ von Nathaniel Rich veröffentlicht. Am Ende des Essays weist der Autor darauf hin, dass seit der Konferenz von Noordwijk am 7. November 1989 mehr CO2 emittiert wurde als von Beginn der Menschheit bis 1989. Der Essay endet mit den Worten: „Die menschliche Natur hat uns dahin gebracht, wo wir jetzt stehen; vielleicht wird uns die menschliche Natur eines Tages einen Ausweg weisen. Das rationale Argument hat versagt. Lasst uns zur Abwechslung auf den irrationalen Optimismus hoffen. Denn auch die Hoffnung gehört zur menschlichen Natur.“ Nun, allein auf die Hoffnung zu vertrauen, ist uns doch zu wenig – auch wenn es derzeit keinen vernünftigen Grund gibt zu glauben, dass sich grundsätzlich etwas ändert. Aber zum Glück gibt es ja die Antwort 42, die eigentlich keine Antwort ist und so immer wieder dazu aufruft, dem Leben einen Sinn zu geben. Und so lassen wir im Folgenden drei Personen zu Wort kommen, die zeigen, dass neue Sinngebungen möglich sind, die sich völlig von den heute gängigen „Sinngebungen“ unterscheiden. Denn wie Georg Christoph Lichtenberg erkannte: „Es muss anders werden, wenn es besser werden soll.“
Herr Precht, was werden wir geändert haben (vorausgesetzt die Katastrophe wird abgewendet)?
© Foto: Janusch Tschech
Wir werden den Sozialstaat nicht länger über Arbeit finanzieren, sondern darüber, wo Geld sich ohne Arbeit akkumuliert, insbesondere in der Geldwirtschaft. Wir werden unser Bildungssystem radikal umbauen, um die Selbstverantwortung zu stärken und die persönliche Neugier. Wir werden die Humanität und das Soziale in den Mittelpunkt unseres Lebens stellen und nicht den Profit, den Konsum und die Technik. Mit einem Satz: Wir werden rechtzeitig auf die Gefahr reagiert haben, unmündig zu werden. Durch eine Aufklärung 2.0!
Richard David Precht, Beirat der agora42
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Was werden wir ändern?
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E R WA C H S E N W E R D E N — Im Gespräch mit Ariadne von Schirach
Ariadne von Schirach wohnte bis kurz vor Drucklegung zum Glück nicht weit von unserer Redaktion entfernt, und so blieb ihr ein Überfall unsererseits nicht erspart. Sie hatte schon für die Risiko-Ausgabe einen Artikel geschrieben, der uns in Erinnerung geblieben ist: „Risiko Zombie – oder warum es sich lohnt, das Leben zu wagen“. Neues wagen – darum geht es doch in diesem Kapitel, oder?
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Frau von Schirach, die Erdenbewohner machen gerade keinen besonders zuversichtlichen Eindruck, es herrschen Orientierungslosigkeit und Sorge um die Zukunft. Was ist hier eigentlich los?
© Foto: Detlef Eden
Wir werden heimgesucht von der Angst, wir selbst seien das Übel der Welt. Stellte man früher die Frage „Lieber Gott, warum lässt du das geschehen?“, so wird uns langsam klar: „Oh Gott, wir lassen das geschehen!“
Ariadne von Schirach ist Philosophin und freie Autorin. Im Frühjahr 2019 erscheint ihr neues Buch Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden
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Dazu passt, dass ein neues Erdzeitalter ausgerufen wurde, das Anthropozän* ...
Ich halte den Gedanken des Anthropozäns für hilfreich, weil er verdeutlicht, dass wir zunehmend unter unseren eigenen Verursachungen leiden. Wir können nicht mehr nach außen deuten und sagen: „Du hast das gemacht, Gott“. Was gerade an Leid und an Schmerz auf der Welt passiert, dafür tragen wir die Verantwortung beziehungsweise das liegt im Verantwortungsbereich derer, die davon wissen. Aber es ist nicht so, dass wir dadurch, dass wir die Verantwortung annehmen, plötzlich haushoch über allem anderen stehen würden. Die Natur ist genauso da. Und die Dinge, die wir in die Welt gesetzt haben, sind genauso da. Zwar ist unsere Freiheit des Schöpferischen einzigartig, aber wir befinden uns immer nur an einem Ende der Kommunikation.
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Der größte Denkfehler des Westens ist es gewesen, den Verlust Gottes mit dem Verlust des Göttlichen gleichzusetzen. Ich denke, dass das Leben selbst uns umfasst und übersteigt, ganz und wahr ist, „whole & holy“, und dass eine Erfahrung von Wert, von Heiligkeit, von Wahrheit im Leben selbst liegt. Das haben manche göttlich genannt, andere sprechen von Geheimnis oder von der Hermeneutik der Existenz. Hinter allen Worten jedoch steht das Gefühl, dass das Leben wertvoll und kostbar ist, auch wenn es keinen Sinn hat, den wir direkt erkennen können. Doch allein diese Sinnlosigkeit gibt jedem einzelnen Menschen die Möglichkeit, selbst einen Sinn zu geben. Also ist das, was viele Menschen verunsichert, dass es nämlich keinen Sinn des Lebens gibt, eigentlich die Voraussetzung dafür, ein sinnvolles Leben führen zu können? Weil jeder Mensch frei darin ist, seinen eigenen Sinn zu bestimmen?
Genau. Die Evolution ist zukunftsblind. Es gibt etwas wunderbar Verspieltes in der Entfaltung des Lebens, ich würde das als Entfaltungslust bezeichnen. Diese Entfaltungslust lädt uns ein, uns selbst mitzuentfalten und so dem Ganzen des Lebens unsere eigenen Auslegungen hinzuzufügen. Als junger Mensch jedoch ist es notwendig, in eine gedeutete Welt zu kommen. Am Anfang des Lebens braucht ein Kind das Gefühl, die Welt sei notwendig so, wie sie ist. Erwachsen zu werden heißt zu begreifen, dass die Welt keinesfalls unabänderlich ist, sondern von Menschen gemacht wird. Wir sind nun mal keine Affen, sondern leben auch
*ANTHROPOZÄN
Der Begriff Anthropozän wurde im Jahr 2000 von Paul Crutzen und Eugene Stoermer vorgeschlagen, um auszudrücken, dass wir in ein erdgeschichtliches Zeitalter eingetreten sind, in dem der Mensch (altgriechisch ànthropos = Mensch) zu einem wesentlichen Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse der Erde geworden ist.
in einer symbolischen Welt. Dadurch geben wir nicht nur das Leben, sondern auch unser Bewusstsein und unsere jeweilige Weltanschauung an die nächste Generation weiter. Die orientieren sich zunächst an dieser Deutung, bis sie wiederum die Freiheit ergreifen, sich ein eigenes ein Bild vom Leben zu machen usw. Diese ewige Dialektik von Setzung und Umdeutung ist nur möglich, weil das Leben vielfältig und geheimnisvoll ist; weil es nicht den einen Sinn hat, unter den sich alles subsummieren lassen würde. Wir sind deshalb in einer paradoxen Lage: Wir müssen eine gewisse Sinnlosigkeit verteidigen, weil nur sie uns den Raum gibt, selbst Sinn zu machen. Aber um eine Weltanschauung – man könnte auch sagen: um Ideologie – kommen wir trotz Sinnvielfalt nicht herum?
Nein! Wir müssen uns immer darüber verständigen, was das Allgemeine ist. Sonst sind wir bei Kaspar Hauser, also bei einer asozialen Einsamkeit, die weder sich, noch die Welt versteht. Bei uns Menschen geht das Gedeutete der Deutung voraus, denn nur durch das Gedeutete erlernst du den Gebrauch der Sprache. Es braucht eine Ordnung der Dinge, die allem, was ist, eine bestimmte Bedeutung gibt. Doch ebenso muss immer wieder ausgehandelt werden, wie wir unser Leben und Zusammenleben regeln wollen; bestenfalls auf eine Weise, die sowohl individuelle Freiheit als auch Solidarität stärkt. Was Sie Ideologie nennen, also die Deutung und Gewichtung der Dinge des Lebens, ist so unvermeidbar wie die Sprache. Darin drückt sich die Anerkennung unserer Abhängigkeit von einer symbolischen Welt aus, die zu groß ist, um von einem Einzelnen selbst erzeugt werden zu können. Letztlich geht es darum, ein möglichst geräumiges Haus aus Sprache zu bauen, dem wir unser eigenes Zimmer hinzufügen können.
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Seit dem Beginn der Aufklärung sieht das aber eher nach einem Selbstgespräch aus. Konnte der „Tod Gottes“, also die Tatsache, dass die Idee eines Gottes in der modernen Welt unglaubwürdig scheint, nicht kompensiert werden?
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Erwachsen werden
»Wir sind deshalb in einer paradoxen Lage: Wir müssen eine gewisse Sinnlosigkeit verteidigen, weil nur sie uns den Raum gibt, selbst Sinn zu machen.«
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Was werden wir ändern?
Unsere heutige Weltanschauung hat die Welt allerdings enorm verkleinert, da „Welt“ primär naturwissenschaftlich-ökonomisch begriffen, alles in ein Raster gepresst und mit einer Zahl versehen wird. Für Freiheit und Solidarität ist es da zu eng geworden, oder?
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Klar haben wir gerade eine ziemlich eindimensionale Weltanschauung. Aber es ist immer einfach, sich zu beschweren. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte als Frau in den 50er-Jahren leben müssen, dann kann ich nur sagen: „Danke, liebe Gesellschaft, ich bin ganz o. k. mit dir, so wie du jetzt bist“. Und gerade im Umgang mit dem Kapitalismus bieten sich viele Möglichkeiten, da sind wir jetzt so richtig anthropozänmäßig gefordert: Zum einen gilt es, voll und ganz anzuerkennen, dass wir den Kapitalismus gemacht haben. Der ist nicht vom Himmel gefallen, an dem sind nicht andere Leute schuld und der ist auch nicht das Resultat einer Verschwörung der Reichen, sondern er ist ein kulturelles System; ein System, das trennt und verbindet und Plätze zuweist – und wie alles Kulturelle wird es durch unseren Umgang mit ihm bestimmt. Wolf Lotter hat den Begriff Zivilkapitalismus geprägt, das bedeutet, dass sich der Bürger die Ökonomie aneignet und einen bewussteren und verantwortungsvolleren Umgang mit ihr findet. Und ich denke, gerade beim Kapitalismus ist es besonders wichtig, an der eigenen Verantwortung zu arbeiten. Also zu sagen: „Ich bin ein mündiger Wirtschaftsbürger und wie ich mein Geld ausgebe oder nicht ausgebe, investiere oder nicht investiere, das hat Einfluss auf das Ganze.“ Das wiederum ist auch das Wichtigste, was man jungen Leuten mitteilen kann, nämlich, dass sie wichtig sind, dass sie zählen, dass sie wertvoll sind.
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Wird durch unser kulturelles System, wie es gerade ist, nicht systematisch verhindert, dass der Einzelne mündig werden, Verantwortung übernehmen, Sinn finden und sich wertvoll fühlen kann?
Wenn wir die Welt, genauer gesagt unser symbolisches Begreifen und Bewerten des geheimnisvollen Lebensganzen so einseitig, krämerisch und oberflächlich werden lassen,
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dass wir das Leben aus den Augen verlieren, dann ist das gefährlich. Dann hat man das Gefühl, das Leben ist nichts mehr wert und damit sind wir selber nichts mehr wert; dann muss man es auch nicht bewahren und achten, weder das eigene noch das der anderen. Es liegt auf der Hand, dass das Prinzip der Gewinnmaximierung nicht mit dem planetaren Ökosystem verträglich ist. Ganz einfach. Wie kann ein besseres Zusammenleben erreicht werden, wie können neue Perspektiven entstehen?
Wir haben in unserer Wohlstandsgesellschaft kein „objektives“ Problem, also beispielsweise zu wenig zu essen, sondern ein Sinn-Problem. Wir haben sehr viel „Was“ und sehr wenig „Warum“. Es liegt an uns, das zu ändern. Was wir über die Welt denken, ist entscheidend. Und wenn wir sie verloren geben, dann geht sie auch verloren. Hannah Arendt hat intensiv über das Böse und über totalitäre Herrschaft nachgedacht und kam zu dem Schluss: Der eigentlich Böse ist nicht der glühende Nazi oder glühende Kommunist, sondern der Mensch, der nicht mehr weiß, was Fakt und was Fiktion, was wahr und was falsch ist. Deshalb sagt sie, die wahre Revolte sei, das eigene Leben zu fordern. Man muss bei sich selbst anfangen, bei der Würde, die man sich selbst und dadurch dem Leben gibt. Altruistische Fiktionen führen oft nur dazu, dass man vor seinen eigenen Problemen wegläuft. Wie willst du für gemeinsame Interessen kämpfen, wenn du keine eigenen hast? Was raten Sie den Erdenbewohnern noch, was ist Ihre 42?
Die jetzige Situation hat durchaus etwas Beängstigendes in dem Sinne, dass sich etwas auflöst, dass die Zukunft ungewiss erscheint. Doch zugleich ist sie eine Einladung, die Welt und unsere Rolle in ihr neu und angemessener zu erzählen. Letztlich geht es darum, uns als globalisierte Menschheit zu begreifen und als Spezies in diesem Sinne erwachsen zu werden. Deshalb ist es an der Zeit zu lieben, zu wagen und selbst die Veränderung zu werden, die man sich wünscht für die Welt.
»Wir haben in unserer Wohlstandsgesellschaft kein ‚objektives’ Problem, also beispielsweise zu wenig zu essen, sondern ein Sinn-Problem. Wir haben sehr viel ‚Was’ und sehr wenig ‚Warum’«
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Für eine Welt anderer Selbstverständlichkeiten
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F Ü R E I N E W E LT ANDERER SELBSTVERSTÄNDLICHKEITEN —
© Foto: Jacques Paysan
Silke Helfrich haben wir erstmals im Jahr 2015 kennengelernt, als wir eine Ausgabe zum Thema „Besitz und Eigentum“ konzipierten. Als engagierte Commons-Aktivistin beschäftigt sie sich mit der Frage, wie wir den Umgang mit unserem Hab und Gut anders regeln könnten, so dass daraus ein anderes Miteinander erwächst. Das Spannende am Commons-Ansatz ist, dass es hierbei um durchaus tiefgreifende und grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen geht, für die es jedoch nur geringfügige Verhaltensänderungen braucht. Wir wollten mehr über diese andere Sicht auf die Welt erfahren und trafen Silke Helfrich in ihrer neuen Wahlheimat: einer mittelalterlichen Kleinstadt im Jagsttal. In der Hängematte baumelnd erzählte sie von ihren alltäglichen Erfahrungen mit unsinnigen Besitzansprüchen – und der Möglichkeit, die Welt ganz anders zu sehen.
Text: Silke Helfrich
Wir haben vor kurzem dieses alte Haus an einem wundervollen Marktplatz bezogen. Dieser kleine urige Platz gibt uns das Gefühl, darin aufgehoben zu sein. Hier haben es sich Menschen zur Devise gemacht – bewusst oder unbewusst – dass die Außenwände ihrer Innenräume die Innenwände der Außenräume sind. Man kann sich auf diesen Marktplatz setzen und sich wie im Wohnzimmer fühlen. Die unterschiedlichen Beiträge der Menschen, die diesen Platz über die Jahrhunderte hin geschaffen haben, greifen ineinander und haben einen lebendigen Ort erzeugt, an dem man sich wohl fühlt, an dem man sein darf. Wir hatten das Gefühl, wir müssten uns ganz arg beeilen, dieses wunderbar schiefe und 550 Jahre alte Haus zu kaufen, da wir befürchteten, man würde es uns vor der Nase wegschnappen. Später hat sich herausgestellt, dass der Eigentümer froh war überhaupt jemanden zu finden, der sich dieses alten Hauses annimmt und es zu schätzen weiß. Jetzt bauen wir es um, renovieren fast alles in Eigenleistung und stellen fest, dass die ganzen Erzählungen über den unheimlichen Kostenfaktor eines solchen Unterfangens gar nicht stimmen. Es kommt auf den Umgang mit den auftretenden Problemen an. Will ich alles auf einen Standard bringen, der „modernen Ansprüchen genügt“? Will ich alles begradigen, automatisieren und beheizbar machen oder dürfen die Verhältnisse auch so sein, wie sie sind. Salopp gesagt: im Winter kalt (beziehungsweise nur da beheizt, wo es notwendig ist) und im Sommer etwas wärmer.
Silke Helfrich ist Commons-Aktivistin und Publizistin. Zum Thema von ihr erschienen: Commons - Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat (Transcript Verlag, 2012)
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Politik, verzweifelt gesucht …
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Politik, verzweifelt gesucht … —
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Wenn wir ein anderes Zusammenleben und eine andere Art und Weise des Wirtschaftens wollen, dann müssen wir uns auch Gedanken über Politik machen. Denn Politik ist die Instanz, die legitimiert ist, verbindliche Entscheidungen zu treffen – und dadurch den gesellschaftlichen Rahmen zu gestalten. Aber eine solche Gestaltung sucht man vergebens – obwohl sie angesichts der nicht enden wollenden Krise nötiger wäre denn je. Oder wie es Bernd Ulrich in der ZEIT vom 14. Juni 2018 schreibt: „Die Politik der kleinen Schritte verliert mehr und mehr den Bezug zur Realität der großen Probleme.“ Doch was wäre eine Politik, die nicht ängstlich ist, die nicht bloß Gegebenes verwaltet und Neues meidet wie die Pest? Wir wollen die Ausgabe beschließen mit einigen Gedanken über eine zukunftsfähige Politik, die wir zur Diskussion stellen. Wir möchten Sie, liebe Leserinnen und Leser, dazu einzuladen, mit uns in den Diskurs zu treten. Schreiben Sie uns, was Sie von unseren Überlegungen halten! Schreiben Sie uns auch, was Ihnen noch fehlt und wie wir zusammen daran arbeiten können, dass eine neue Politik gelingen kann; eine Politik, die die Realität nicht abwehrt, sondern annimmt und gestaltet. Wir brauchen einen neuen Politikstil! In den letzten Jahren haben wir mit vielen klugen und engagierten Menschen gesprochen, welche die Probleme der aktuellen Politik präzise analysiert haben. Auf unsere Frage, ob sie selbst politisch aktiv werden wollen, erhielten wir jedoch stets die selbe Antwort: „Völlig ausgeschlossen“. Die Begründung: Der Handlungsspielraum sei zu stark begrenzt und radikale Veränderungen – selbst wenn sie offensichtlich nötig wären – würden die Bevölkerung nur verängstigen und den Rechtspopulisten in die Arme treiben. Zudem verderbe der Gang durch die Institutionen noch den edelsten Charakter … Spontan würden das wahrscheinlich die meisten unterschreiben. Drückt sich hier aber nicht eine Angst aus, die in einer Demokratie nichts verloren hat? Eine Angst, angegriffen werden zu können, sobald man einen Standpunkt vertritt? Eine Angst davor zu scheitern? Eine Angst vor den eigenen Schwächen oder dunklen Seiten der eigenen Persönlichkeit? Die Angst, zum Zyniker zu werden, wenn man die eigenen Vorstellungen nicht umsetzen kann? Auf dieses Phänomen kamen wir auch im Interview mit Ernst Ulrich von Weizsäcker zu sprechen, den wir fragten, ob man nicht trotz der scheinbaren Ausweglosigkeit des eigenen Tuns morgens voller Hoffnung aufstehen sollte, um das Unmögliche zu versuchen, ob es nicht ein starker Ausdruck von Freiheit wäre, 91
Was werden wir ändern?
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wenn man unbeirrt an einer Veränderung zum Besseren festhält. Seine Antwort: „Wenn man das so umwandelt, wenn man eine solche Haltung als Ausdruck der Freiheit versteht, als Möglichkeit, einen engen Utilitarismus und Materialismus als Vergeudung von Chancen und Verrat an der europäischen Zivilisation zu begreifen und hinter sich zu lassen, dann bin ich durchaus bereit, das zu unterschreiben.“ Und in der Tat muss man sich die Frage stellen, woher die Angst rührt, dass es nicht möglich sein soll, politische Entscheidungen zu treffen, die den Willen des Großteils der Bevölkerung widerspiegeln. Beim Ausstieg aus der Atomkraft war das doch auch möglich, oder? Warum soll also nicht auch der Ausstieg aus der Massentierhaltung oder die massive Reduktion von (Plastik-)Müll möglich sein? Warum sollte eine Politik keine breite Unterstützung finden, welche die öffentliche Daseinsvorsorge sichern will? Schließlich ist kaum davon auszugehen, dass jetzige Generationen wünschen, dass es den nachfolgenden schlechter gehen soll. Warum sollten also nicht auch Entscheidungen getroffen werden können, die oft mit „Verzicht“ schlecht geredet werden, die aber eigentlich mit Befreiung vom Überfluss, Zukunftssicherung und mit neuen Perspektiven zu tun haben? Der Politikstil betrifft aber auch die Politikerin oder den Politiker selbst. Warum sollte ein Leben, das man in den Dienst der Gesellschaft stellt, nicht erfüllend sein? Warum sollte es frustrierender sein, sich für die Veränderung der Dinge einzusetzen, als sich jeden Tag aufs Neue über diese Dinge aufzuregen – wohl wissend, dass sich an diesen eh nichts ändert? Und könnte es der persönlichen Weiterentwicklung nicht sehr dienlich sein, sich mit anderen Positionen auseinandersetzen zu müssen? Ist es also nicht umgekehrt so, dass wir uns „den Politiker als glücklichen Menschen vorstellen“ müssen, wie Robert Habeck einmal in Anlehnung an Albert Camus geschrieben hat?
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Voraussetzungen einer realistischen Politik Doch was sind die Voraussetzungen für eine Gesellschaft, in der das gute Leben gelingen kann? Was sind die Voraussetzungen für eine konkrete Agenda? Hier unser Vorschlag: ES WIRD ZUGRUNDE GELEGT, DASS MENSCHEN FREI DARIN SEIN MÜSSEN, IHR LEBEN SINNVOLL ZU GESTALTEN. EINE GESELLSCHAFT, IN DER DIE MENSCHEN DURCH DIESE FREIHEIT VERBUNDEN SIND, NENNEN WIR DEMOKRATIE. DARAUS ERWÄCHST ZUM EINEN DIE PFLICHT ZUM SCHUTZ DIESER FREIHEIT UND ZUM ANDEREN DIE VERANTWORTUNG, DASS DER JEWEILS SELBST GEWÄHLTE LEBENSENTWURF DIE FREIHEIT ANDERER NICHT ÜBER GEBÜHR BESCHRÄNKT. DA SOZIALES MITEINANDER WEDER MIT DEM JE PERSÖNLICHEN TOD NOCH AN POLITISCHEN GRENZEN ENDET, MUSS EIN LEBENSSTIL ANGESTREBT WERDEN, DER NICHT ZU LASTEN NACHFOLGENDER GENERATIONEN BEZIEHUNGSWEISE DER MENSCHEN IN ANDEREN REGIONEN DER WELT GEHT. UM DEMOKRATIE BESTMÖGLICH ZU VERWIRKLICHEN, MUSS MAN FÜR EINE POLITIK DES RECHTEN MASSES EINTRETEN. DIES BEDEUTET HEUTE, DASS DIE EINSEITIGE FIXIERUNG AUF QUANTITATIVE KENNZAHLEN GELÖST WERDEN MUSS. QUANTITATIVE ZIELSETZUNGEN ORIENTIEREN SICH IMMER BLOSS AN EINEM MEHR, DAS ABER OHNE SINN UND WERTE EIN LEERES MEHR BLEIBEN MUSS. GRUNDSÄTZLICH GILT: QUANTITÄT IST IN DEN DIENST DER QUALITÄT ZU STELLEN. 92
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IMPRE SSUM
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DAS COVER ALLER COVER —
MAGAZINMACHER Frank Augustin, Wolfram Bernhardt, Tanja Will REDAKTIONELLE UNTERSTÜTZUNG Janusz Czech, Sebastian Hinderer, Peter Langkau, Lia Polotzek BEIRAT Rudi Blind, Wolfgang Kesselring, Louis Klein, Matthias Maier, Max Pohl, Richard David Precht, Birger P. Priddat, Jan Tomasic agora42 ist Medienpartner des Weltethos-Instituts und des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik. GESTALTUNG & LAYOUT D M B O – Studio für Gestaltung www.dmbo.de Art Direction Janina Schneider, Melissa Gutekunst Gestaltung Melissa Gutekunst FOTOGRAFIE /BILDER S. 3, 23, 62, 75: Janusch Tschech
42 Ausgaben bedeuten 42 Titelbilder. Die Cover-Ideen schlagen manchmal blitzschnell in unsere Köpfe ein, manchmal finden sie über Umwege zu uns. Die Umsetzung geschieht aber stets mit viel Herzblut und Einsatz. So auch diesmal! Besonderheit: Das Cover besteht aus Schnipseln aller bisherigen Titelbilder und wurde mit fleißigen kleinen Helfern kreiert. Herzlichen Dank für euren Einsatz Lucie, Tom und Sara.
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ILLUSTRATIONEN S. 7: Angelo Stitz S. 13-45, 59, 79-82: Melissa Gutekunst S. 55: Max Pulver S. 64-70: Sara Krieg KORREKTORAT Ana Kugli www.wortkultur-online.de DRUCK Bechtle Druck&Service GmbH & Co. KG, Esslingen ANSCHRIFT UND KONTAKT agora42 Verlagsgesellschaft mbH Hasenbergstr. 14a 70178 Stuttgart Tel.: 0711 / 933 248 46 Fax: 0711 / 761 608 64 E-Mail: info@agora42.de www.agora42.de Einzelpreis 9,80 EUR Erscheinungsweise 4-mal jährlich – am 14. Dezember 2018 erscheint die nächste Ausgabe der agora42. Ein weiteres großes Thema der Ökonomie – philosophisch reflektiert, relevant für das Leben. ABONNEMENT Aboservice PressUp GmbH Postfach 70 13 11 22013 Hamburg Tel. 040 38 66 66 – 335 Fax: 040 38 66 66 - 299 E-Mail: agora42@pressup.de Jahresabo 39 Euro Das Jahres-Abonnement umfasst vier Ausgaben der agora42 zum Vorzugspreis von 39 Euro (inkl. MwSt. und Versand). Preise gelten nur im Inland. Auslandspreise auf Anfrage. Erhältlich in den Bahnhofs- und Flughafenbuchhandlungen in Deutschland