Das philosophische Wirtschaftsmagazin
AUSGABE 01/2013
KEIN ENTKOMMEN AUS DER KRISE?
A G O R A 4 2 Ausgabe 01/2013 | Deutschland 8,90 EUR Österreich 8,90 EUR | Schweiz 13,90 CHF
Wirtschaft im Widerspruch – Lösung in Sicht oder Anfang vom Ende? ■ Zur Krise verdammt, in die Freiheit geworfen? ■ Was ist die Krise und wer sind wir danach? ■ Bloß ein weiteres Krisenheft?
INHALT
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TERRAIN
T E R R A I N
In diesem Teil der agora42 sondieren wir das Terrain, auf dem wir uns bewegen. Wir stellen ökonomische Begriffe, Theorien und Phänomene vor, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind. —3 EDITORIAL
—8 DIE AUTOREN
—4 INHALT
—9 Jan-Otmar Hesse
— 37 Gerd B. Achenbach
— 19 Wolfram Bernhardt
— 44 PORTRAIT
— 25 Dieter Schnaas
Krise? Welche Krise?
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Game Over
Welcher Krisen Kind die Krise ist – Die Wirtschaftskrise im Spiegel ihrer Vorläufer
Tina – Königin der Krise
TITEL Jonas Burgert: Stück Luft, 2011. Öl auf Leinwand. 220 x 200 cm Foto: Lepkowski Studios
— 31 Edward Hugh Claus Vistesen
Zeit der Krisen. Krisenzeit
von Frank Romeike: Hyman P. Minsky und die Hypothese der finanziellen Instabilität
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Inhalt
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INTERVIEW
HORIZONT
— 64 Fabian Lindner
Warum Deutschland Europa retten muss — 50 Wenn die Lösung zum Problem wird
Interview mit Bazon Brock
— 70 ohne Autor
Aufruf
— 84 WEITWINKEL
Jonas Burgert
— 92 FRISCHLUFT
T E R R A I N
In diesem Teil der agora42 brechen wir auf zu neuen Ufern. Wie lässt sich eine andere ökonomische, eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen? — 96 LAND IN SICHT
Mundraub.org Arbeit Zuerst eG Innovestment.de Premium Social Angels Stiftung — 104 GEDANKENSPIELE
von Kai Jannek — 106 IMPRESSUM
Mikrokredite Social Entrepreneurship Freiheitsindex Deutschland Emissionshandel/Lobbyismus
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In diesem Teil der agora42 sondieren wir das Terrain, auf dem wir uns bewegen. Wir stellen ökonomische Begriffe, Theorien und Phänomene vor, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.
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DIE AUTOREN
© Foto: Janusch Tschech
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Jan-Otmar Hesse
Wolfram Bernhardt
Dieter Schnaas
Jan-Otmar Hesse ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bielefeld.
Wolfram Bernhardt studierte BWL mit dem Schwerpunkt auf Finanz- und Kapitalmärkte. Er ist Mitherausgeber der agora42.
Dieter Schnaas ist Chefreporter der WirtschaftsWoche und Autor des Buches Kleine Kulturgeschichte des Geldes (Wilhelm Fink Verlag, München 2010).
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— Seite 25
Edward Hugh
Claus Vistesen
Gerd B. Achenbach
Edward Hugh ist Makroökonom mit Fokus auf Wachstums- und Produktivitätstheorie sowie demografische Prozesse. Er betreibt unter fistfulofeuros.net einen Ökonomieblog und lädt auf seiner Facebookseite zum Debattieren ein.
Claus Vistesen ist Makroökonom und auf Demografie, Ökonometrie sowie Finanz märkte spezialisiert. Er arbeitet als Analyst beim Londoner Research-Unternehmen Variant Perception und betreibt einen privaten Blog:
Dr. Gerd B. Achenbach, Vorstand der Gesellschaft für Philosophische Praxis, gründete im Jahr 1981 die weltweit erste Philosophische Praxis. Zuletzt von ihm erschienen: Das kleine Buch der inneren Ruhe (Verlag Herder, Freiburg 2010).
clausvistesen.squarespace.com
www.achenbach-pp.de
— Seite 31
— Seite 31
— Seite 37
© Foto: Foxfoto; Uwe Völkner
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Welcher Krisen Kind die Krise ist — T E R R A I N
Die Wirtschaftskrise im Spiegel ihrer Vorläufer
Text: Jan-Otmar Hesse
Ohne die schlimmen Folgen der aktuellen Wirtschaftskrise für viele Familien herunterspielen zu wollen, die ihre Arbeit und vielleicht auch ihr Haus und ihre Sozialversicherung verloren haben: Die gegenwärtige Wirtschaftskrise ist im historischen Vergleich doch undramatisch. Noch in der Großen Weltwirtschaftskrise der frühen 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts starben selbst in den am weitesten entwickelten Volkswirtschaften zahlreiche Menschen. Von solch dramatischen Zuständen sind wir heute weit entfernt. Vielfach ist es eher die Befürchtung, die Krise könne eskalieren, die für Dramatik sorgt und Unsicherheit entstehen lässt. In solche Befürchtungen mischen sich immer wieder auch Rückbezüge zu vergangenen Wirtschaftskrisen. 9
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inige der historischen Wirtschaftskrisen sollen im Folgenden vorgestellt werden. Sie können aufgrund ihres Auslösers und ihres Verlaufs in verschiedene Krisentypen untergliedert werden. Dabei konzentrieren wir uns auf die „modernen“ Wirtschaftskrisen, das heißt solche Krisen, die von der Wirtschaft selbst erzeugt werden. In der vorindustriellen Wirtschaft stellten dagegen Naturkatastrophen, Ernteausfälle und Seuchen die größte Bedrohung der überwiegend noch durch landwirtschaftliche Produktion geprägten Wirtschaft dar, was häufig als Krise „alten Typs“ bezeichnet wird (obwohl solche Hungerkatastrophen auch heute noch vorkommen). Ein weiteres Merkmal der Krisen alten Typs ist, dass sich Krisenimpulse nicht schnell auf andere Bereiche der globalen Wirtschaft ausbreiteten (der sogenannte Dominoeffekt), weil in der „vormodernen“ Wirtschaft die globalen Verflechtungen bei Weitem nicht so komplex waren wie in der „modernen“ Wirtschaft. Diese Komplexität kennzeichnet auch die jüngste Wirtschaftskrise, in der ganz unterschiedliche Krisentypen verflochten sind. Im Folgenden möchte ich diese Einzelkrisen aus dem gegenwärtigen Krisengeschehen herausschälen und sie jeweils mit historischen Beispielen in Beziehung setzen.
Wirtschaftskrisen der Weltgeschichte Ausgewählt von Andreas Jurowich
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Immobilienkrisen
Das gegenwärtige Krisengeschehen begann im Jahr 2007 mit dem Zusammenbruch des amerikanischen Immobilienmarktes, also als eine klassische Immobilienkrise. Der Krise war allerdings ein gewaltiger, mindestens zehn Jahre währender Immobilienboom in den USA vorausgegangen. Niedrige Zinsen führten dabei zu günstigen Hypothekenkrediten, sodass sich das Wohnen im Eigentum gegenüber dem Wohnen zur Miete immer weiter verbilligte. Dies wiederum ließ die Nachfrage nach Häusern und mithin deren Preise steigen. Hausbesitzer begannen, ihren Lebensstandard dadurch zu heben, dass sie auf ihren im Wert steigenden Immobilienbesitz immer neue Kredite aufnahmen. Als die Nachfrage nach Häusern gesättigt zu sein schien, begannen Banken, Kreditangebote an Familien zu formulieren, die sich aufgrund ihres Einkommens eigentlich keine Häuser hätten leisten können – der „subprime“-Markt entstand, also ein Markt für Immobilienkredite, die nicht ausreichend abgesichert waren. Als die Wertsteigerungen für Häuser immer geringer ausfielen und die ersten Kredite nicht mehr bedient werden konnten, begann eine Abwärtsspirale, die sehr schnell die Banken in Mitleidenschaft zog.
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Was ist eine Krise und was nicht? Häufig ist das nicht leicht zu beantworten. Das altgriechische Ursprungswort krisis bedeutet Beurteilung, Entscheidung und auch Zuspitzung. Nicht alle Krisen sind gleichermaßen präsent. Manche blieben als besonders schmerzhaft in Erinnerung, andere wurden kaum wahrgenommen. Die im Folgenden aufgeführten Krisen erlangten eine besondere weltgeschichtliche Bedeutung …
Der englische König Edward III. hatte während des Hundertjährigen Krieges unfassbar hohe Schulden bei den drei florentinischen Großbanken der Familien Bardi, Peruzzi und Acciaiuoli angehäuft. Die Kirche erlaubte es Christen im Mittelalter zwar nicht, Zinsen für verliehenes Geld zu verlangen, jedoch umgingen die Geldverleiher dieses Verbot, indem sie von Herrschern das Recht erlangten, beispielsweise Steuern und Zölle einzutreiben. Schließlich war Edward III. zahlungsunfähig. Daraufhin gingen alle drei Banken Konkurs.
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Bankenkrise in Florenz
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EIGENKAPITAL
Eigenkapital bezeichnet den Teil der gesamten Bilanzsumme einer Bank, den die Bank nicht verleihen darf. Nach den neuesten Richtlinien soll die Eigenkapitalquote bei 8% der Bilanzsumme liegen. Je höher das Eigenkapital einer Bank ist, desto besser ist sie gegen die gleichzeitige Rückforderung vieler Spareinlagen geschützt. Hohe Eigenkapitalquoten der Banken gelten heute unter Experten als die wirksamste Waffe gegen Kettenreaktionen, bei denen der Vertrauensverlust in eine Bank einen „Run“ auf alle Banken auslösen kann.
Immobilienkrisen hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. So war der „Gründerkrise“ (1873) im Deutschen Kaiserreich beispielsweise ein Bauboom (der sowohl den Eisenbahnbau als auch den Wohnungsbau betraf) vorausgegangen, der mit ganz ähnlichen Mechanismen von Wertsteigerung und steigender Kreditnachfrage verbunden war, wie wir sie auch in der jüngsten Immobilienkrise in den USA beobachten konnten. Auch die Weltwirtschaftskrise in den USA war mit einer Immobilienkrise verbunden: Insbesondere amerikanische Landwirte hatten in den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts von staatlichen Banken günstige Kredite zum Kauf von Land und den Ausbau ihrer Farmen erhalten, die sie aufgrund des seit dem Ende der 20er-Jahre anhaltenden Preisverfalls für landwirtschaftliche Produkte immer schlechter bedienen konnten. Bankenkrisen
Banken leben davon, dass sie eigene Mittel und – zu einem wesentlich größeren Teil – die Spareinlagen ihrer Kunden anderen Kunden gegen die Hinterlegung einer Sicherheit verleihen. Weil sie davon ausgehen, dass nie alle Sparer gleichzeitig ihre Sparguthaben zurückfordern, verlei-
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Schinderling-Krise
hen sie häufig die gesamten Spareinlagen. Fordert ein Sparer sein Sparguthaben zurück, können diese Forderungen mit den Zinseinnahmen aus den verliehenen Geldbeträgen oder mit einem nicht verliehenen Sparguthaben eines anderen Sparers beglichen werden. Wenn die Zinszahlungen an eine Bank aber ausbleiben und jene Sparer, deren Sparguthaben noch nicht verliehen waren, gleichzeitig ihr Sparguthaben auflösen wollen, ist die betreffende Bank zahlungsunfähig. In einem modernen zweistufigen Bankensystem, das sich im 19. Jahrhundert in den wichtigsten Industrieländern durchsetzte, kann sich die Bank in einer solchen Situation unter bestimmten Bedingungen bei der zentralen Notenbank selbst verschulden. Ist diese Möglichkeit aber bereits ausgeschöpft, muss die Bank ihre Zahlungen einstellen und alle Sparer verlieren ihre Sparguthaben. Das Risiko für einen solchen Verlust ist umso größer, je geringer das Eigenkapital der Bank ist. Viele „moderne“ Wirtschaftskrisen waren mit Bankenkrisen verbunden. Die Weltwirtschaftskrise eskalierte in Deutschland überhaupt erst durch die Bankenkrise vom Sommer 1931. Die deutschen Banken hatten in den 20er-Jahren große Teile ihres Eigenkapitals eingebüßt. Das fehlende Kapital beschafften sie sich daraufhin im
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Florenz: Konkurs der Medici-Bank
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Welcher Krisen Kind die Krise ist
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Krise? Welche Krise?
Text: Dieter Schnaas
Vor fast vier Jahrzehnten, im November 1975, legte die britische Prog-Rock-Band Supertramp ihr viertes Studioalbum vor. Die zehn Songs sind heute nicht ganz zu Unrecht beinahe vergessen, aber der Titel der Platte und das Cover, die sind zeitlos gültig, bleibend, legendär. „Crisis? What Crisis?“ stand da geschrieben; und vor der Kulisse einer sagenhaft trostlosen Industrielandschaft mit anderthalb Dutzend rauchenden Schloten entspannte sich, den Deckchair trotzig aufgespannt im grauen Schotter, ein zufriedener, junger Mann in Badehose – beschallt von einem Kofferradio, beschirmt von einem knallorangen Sonnenschirm, ein Erfrischungsgetränk in Reichweite. Der Mann in der Badehose sonnte sich, keine Frage, stoisch, störrisch, ein Symbol des Trotzes und des Eigensinns. Allein, was ihn so hell beschien, darüber gab das Cover keinen Aufschluss. Nur der Mittagsstern? Oder doch ein Atomblitz? Darüber wurde damals heftig diskutiert: Handelt es sich bei dem Mann um einen modernen Diogenes, der den herrschenden Industriekapitalismus bittet, ihm aus der Sonne zu gehen? Oder um das Sinnbild einer Sorglosigkeit, die die Apokalypse herannahen weiß und sich bis dahin einen möglichst schlanken Fuß macht? 25
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Dieter Schnaas
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rise? Welche Krise? – Siebenunddreißigeinhalb Jahre nach dem Supertramp-Album klingt die Doppelbödigkeit der Doppelfrage boshafter denn je. Denn einerseits ist die Krise – hierzulande – beinahe unsichtbar geworden. Andererseits versichern uns Politiker, Ökonomen, Leitartikler und andere Weltweise täglich, dass sich die Krise dramatisch verschärft. Womit also haben wir es zu tun, wenn wir heute von der „Krise“ reden? Mit der fortschreitenden Zuspitzung zahlreicher Gefahrenlagen – und mit einer proportional fortschreitenden Verstumpfung unseres Krisenbewusstseins? Fast scheint es so. Jeder weiß heute informierter denn je: Es gibt sie, die Krise. Die Zeit drängt. Wir können nicht so weitermachen wie bisher. Und doch ist die Krise heute weniger denn je der Zeitpunkt der Entscheidung, die günstige Gelegenheit zur Umkehr – der kairos, der entweder genutzt oder verpasst wird. Die westlichen Industrienationen haben fast alles, was Schmutz und Lärm macht, in Schwellenländer ausgelagert. Der moderne Wirtschaftsstandort trainiert für seine atomkraftfreie Zukunft. Die Deutschen filtern Feinstaub, teilen Autos, kaufen Bio. Die Zahl der Beschäftigten ist so hoch wie nie. Die Wirtschaft wächst. Und seit Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank, Geld druckt, ist der Euro gerettet und mit ihm Europa, unser Wohlstand, unsere Zukunft. Krise? Welche Krise? Es geht ums Ganze
Wie widersprüchlich die Problemlagen heute wirklich sind, davon erzählt beispielhaft die gegenwärtige Banken-, Finanz-, Währungs-, Schulden-, Geld- und Wirtschaftskrise. Dass all diese Bezeichnungen von den meisten Kommentatoren wie Synonyme verwendet werden, ist vor allem 26
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konsequent, denn das eine – die Bankenkrise – hängt mit dem anderen – der Schuldenkrise – zusammen, und das andere wiederum hat stark mit dem Dritten – der Geldkrise – und Vierten – der Wirtschaftskrise – zu tun … Fragt sich nur, warum die Regierenden aus der Offensichtlichkeit eines systemischen Defekts nicht auch die Schlussfolgerung ziehen, wir hätten es mit einer Systemkrise zu tun. Tatsächlich ist genau das der Fall. Denn erstens handelt es sich bei „der Politik“ und „der Wirtschaft“ nicht um zwei getrennte Funktionssphären, von deren Stärkung oder Schwächung auf Kosten des einen oder anderen sich „der Steuerzahler“ eine Verbesserung erhoffen dürfte: Wenn Staaten heute mit Steuergeldern Banken kapitalisieren, haben wir es mit verschuldeten Staaten zu tun, die durch Banken kapitalisiert werden – und die nur deshalb vom Staat kapitalisiert werden müssen, weil sie zuvor Staaten kapitalisiert haben. Zweitens sind alle Maßnahmen, die die Krise (kurzfristig) beheben – Zinsen senken, Schulden machen, Geld drucken – dieselben Maßnahmen, die die Krise (langfristig) verschärfen. Woraus drittens folgt, dass es bei dieser Krise nicht wirklich um die Frage geht, ob wir jetzt besser kräftig sparen oder kräftig investieren, sondern dass es diesmal tatsächlich ums Ganze geht, genauer: um den Kollaps des finanzmarktliberalen Staatsschuldenkapitalismus – und darum, was auf ihn folgt. Um aber die Krise des Finanzmarktkapitalismus zu verstehen, müssen wir zunächst einmal verstehen, welchen Gesetzen der Kapitalismus unterliegt, was überhaupt (heute) Geld ist und welcher Logik die Märkte folgen. Die Antworten auf alle nachgeordneten Fragen ergeben sich dann praktisch von allein. Zunächst also: Auf welchen Gesetzen fußt der Kapitalismus?
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Game over
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Text: Edward Hugh / Claus Vistesen
Was ist die nächste Megakrise, die uns erwartet? Immer noch die Eurokrise? Das „Fiscal Cliff “ der USA? Oder doch die implodierenden Blasen in China? Claus Vistesen und Edward Hugh empfehlen, den Blick nach Japan zu richten: Die Kombination aus alternder Bevölkerung und überbordender Staatsverschuldung wird das Land zum ersten Opfer jener Schocks machen, die die Demografie auch für die anderen OECD-Staaten auf Lager hat. 31
Edward Hugh / Claus Vistesen
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ezession? Deflation? Immer höhere Staatsschuldenberge? Kein Grund zur Panik, sagen viele Analysten. Denn Japan scheint eine Art von wirtschaftlichem Perpetuum mobile erfunden zu haben. Das Land hat einen Leistungsbilanzüberschuss, hohe Ersparnisse, kann sein eigenes Geld drucken und hat kein Problem, seine Staatsanleihen zu verkaufen, und das sogar zu lächerlich niedrigen Zinsen. Und solange das Zinsniveau so niedrig bleibt, ist der Schuldendienst auch bei einer Schuldenquote von 200 Prozent des BIP kein Problem. Selbst wenn sich das einmal ändern sollte, kann die Bank of Japan noch mehr dieser Staatsanleihen kaufen und damit den Zinssatz sogar noch weiter senken. In der Theorie kann Japan sogar dem Beispiel von Ländern wie Deutschland oder der Schweiz folgen, die Renditen in den negativen Bereich bringen und folglich mit seinen Schulden sogar noch Geld verdienen. Aber so richtig mag uns diese Analyse nicht zu überzeugen. Denn weder wird die Frage gestellt, wie es überhaupt dazu kom-
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men konnte, dass Japan mit Rezession, Deflation und immer höheren Schuldenbergen zu kämpfen hat, noch wird irgendeine Art von Fahrplan skizziert, wie das Land jemals wieder zu einer Geld- und Wirtschaftspolitik kommen kann, wie sie einst weithin als „normal“ gegolten hat.
LEISTUNGSBILANZ
Die Leistungsbilanz umfasst alle Ausgaben und Einnahmen einer Volkswirtschaft, das heißt nicht nur die Handelsbilanz, sondern unter anderem auch den Bereich der Dienstleistungen, die Erwerbs- und Vermögenseinkommen (zum Beispiel Arbeitsentgelte, Kapitalerträge) sowie Heimatüberweisungen
Weltmarktführer für Alterung
Tatsächlich scheint es eine Rückkehr zu einer wie auch immer gearteten Normalität für Japan nicht zu geben. So hat das Land nicht, wie es einst häufig hieß, ein verlorenes Jahrzehnt hinter sich, sondern bereits zwei – und schon Oscar Wilde sagte: „Einen Elternteil zu verlieren, mag als Unglück gelten; beide zu verlieren, ist fast Schlamperei.“ Wie es derzeit aussieht, wird auch noch ein drittes verlorenes Jahrzehnt folgen. Und das ist schon eine optimistische Prognose, weil unterstellt wird, dass Märkte und Natur es der japanischen Regierung weiterhin erlauben, ihre Schulden zu finanzieren. Bewahren wir uns die Schuldenfrage für später auf und beginnen mit der Demogra-
im Ausland tätiger Arbeitnehmer und Entwicklungshilfezahlungen.
Portrait
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Hy m a n P. M i n s k y u nd d i e Hy p ot he s e d e r f i n a n z i e l le n I n s t a bi l it ät
Text: Frank Romeike
In der realen Welt entgleisen die Märkte und drinnen, im Elfenbeinturm, orakeln Ökonomen über Martingaltheorie oder Gleichgewichtstheorie und erzählen Märchen von brownschen Agenten, unsichtbaren Händen und effizienten Märkten. Für viele Theoretiker dürfte es die Krisen der vergangenen Jahrhunderte nicht gegeben haben. Der US-amerikanische Ökonom Hyman Minsky jedoch sah die Welt anders: Wenn etwas funktioniert, dann gehe man nach und nach immer größere Risiken ein – so lange, bis es schließlich nicht mehr funktioniert. Stabilität führe damit notwendig zu Instabilität. 44
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Hyman P. Minsky und die Hypothese der finanziellen Instabilit채t
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Interview
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Wenn die Lösung zum Problem wird – Inter view mit Bazon Broc k
Fotos: Janusch Tschech Herr Brock, 2011 haben Sie in Berlin die Denkerei gegründet und bezeichnen diese als „Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen und Maßnahmen der hohen Hand“. Was kann man sich darunter vorstellen?
Bei der Arbeit des Institutes geht es vorrangig darum, einen intelligenten Umgang mit prinzipiell unlösbaren Problemen zu entwickeln. Zum Beispiel ist das Wetter eine solche Gegebenheit, auf die wir keinen Einfluss haben. Wir können also das Problem des Wetters nicht lösen, sondern uns nur auf das jeweilige Wetter einstellen. Ein wenig intelligenter Umgang wäre beispielsweise, zu versuchen, das Wetter durch Wetterzauber oder durch den Einsatz von Chemikalien zu beeinflussen. Was wäre ein intelligenter Umgang? Ganz einfach: Kümmere dich nicht ums Wetter, schaff ’ dir anständige Kleidung an! Dann ist es egal, ob es regnet, schneit etc.
DENKEREI
In der Denkerei soll mithilfe unterschiedlicher Kunst- und Kommunikationsformate die gesellschaftliche Diskussion komplexer Problemstellungen (wie zum Beispiel Euro-Krise oder Atommüllendlager) aufgegriffen werden. In der Pressemitteilung zur Eröffnung der Denkerei heißt es: „Spätestens seit der Finanzkrise 2008, dem FukushimaGAU und dem Zusammenbruch der Euro-Vision muss jedem klar sein, dass Probleme dann bedeutsam sind, wenn
Es geht Ihnen aber nicht nur darum, intelligentere Umgangsformen mit prinzipiell unlösbaren Problemen zu fördern, sondern auch darum, den Menschen bewusst zu machen, dass das Lösen von Problemen zu neuen Problemen führen kann.
Wobei das ja ein alter Hut ist. Eigentlich sollte dies jedem bekannt sein – insbesondere auch, seitdem Medikamente mit folgendem Hinweis versehen werden müssen: „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“ Das heißt letztlich nichts anderes, als dass jedes Medikament in dem Maße schadet, wie es hilft. Mit anderen Worten: Wenn ich ein Herzproblem löse, schaffe ich damit wahrscheinlich ein Nierenoder Leberproblem. Ich glaube auch nicht, dass wir das Problem der Krebserkrankungen irgendwann lösen werden. Solange sich Zellen teilen, wird es Entartungen geben. Anstatt 52
man sie nicht lösen kann. Also gilt es, sich im Denken wie Handeln umzuorientieren auf den Umgang mit prinzipiell unlösbaren Problemen. Wenn Menschen in Zukunft überhaupt noch etwas gemeinsam haben werden, dann sind es nicht Illusionen kultureller Identität – wie gemeinsame Sprache, Religionen, Tischsitten; sondern die Konfrontation aller mit nicht lösbaren Problemen.“
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viel Geld in die Krebsforschung und mithin in die Illusion zu investieren, man könne das Problem lösen, sollte man zum einen in die Vorsorgeuntersuchungen investieren und sich zum anderen auf die kuratorische Anstrengung verpflichten, den Kranken optimal beim Umgang mit seinem Leiden anzuleiten. Sprich, man sollte Möglichkeiten erforschen, wie man das Leiden von Krebskranken mindern und somit die Lebensqualität des Betroffenen erhöhen kann. Leider haben die meisten Menschen nicht einmal in dieser, sie unmittelbar betreffenden Hinsicht ein Verständnis dafür entwickelt, dass die Problem-„Lösung“ zumeist nur ein Verschieben des Problems bedeutet. So ist es auch kein Wunder, dass sie auch in anderen Handlungsfeldern Probleme lieber lösen wollen, anstatt einen intelligenten Umgang mit ihnen zu entwickeln.
Bazon Brock Bazon Brock (geb. 1936) – „Denker im Dienst und Künstler ohne Werk“ – ist emeritierter Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung an der Bergischen Universität Wuppertal. Aktuelle Projekte Seit 2010 leitet er gemeinsam mit Peter Sloterdijk das Studienangebot „Der professionalisierte Bürger“ an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. 2011 gründete er die Denkerei und das „Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen und Maßnahmen der hohen Hand“ mit Sitz in Berlin. Veranstaltungen/Veröffentlichungen Insgesamt über 2500 Veranstaltungen in Museen, Akademien, Hochschulen, Theatern, Galerien und im Fernsehen in Deutschland, in der Schweiz, in Österreich, Dänemark, Italien, Frankreich, Spanien, Holland, Großbritannien, Japan und in den USA. Veröffentlichung zahlreicher Schriften zur Ästhetik sowie Videound Filmdokumentationen und Action Teachings.
Wenn man sich die aktuelle Finanz-/Wirtschafts-/Euro-/Staatsschuldenkrise ansieht und sich die widersprüchlichen Lösungsansätze der zahlreichen Wirtschaftsexperten vor Augen führt, ist man schnell versucht, diese Krise als unlösbares Problem zu deklarieren. Trifft das zu?
Früher konnte man sagen: Wenn das Nachfolgeproblem kleiner ist als das Ausgangsproblem, dann greift die sogenannte pragmatische Sanktion. Das heißt, dann akzeptiere ich das Nachfolgeproblem und sage: „Na ja, das ist wohl unvermeidbar.“ Allerdings sind wir heute in einer Situation, in der die Lösung eines Problems dazu führt, dass das Nachfolgeproblem durch die Interaktion der vielen kleinen Nebenwirkungen größer wird als das Ausgangsproblem. Genau dies haben wir bei der Bankenkrise gesehen. Da hat man ein Gesetz zur Rettung der maroden Banken verabschiedet und ein paar Milliarden in die Banken gesteckt. Dann hat man gesehen, dass das Geld nicht reicht, und hat ein paar Billionen hinterhergeworfen. Inzwischen hat die Finanzkrise weltweit viele Billionen Dollar gekostet. Zur Lösung des Bankenproblems wurden die Staatsschulden geschaffen. Jetzt ist das Staatsschuldenproblem noch viel größer als das Bankenproblem. Handelt es sich bei der Finanzkrise also um ein unlösbares Problem? Oder gibt es einen Ausweg?
Das hängt davon ab, aus welcher Perspektive man das Problem betrachtet. Aus der Perspektive derer, die sich freiwillig einer höheren Macht unterwerfen, die in unserem Falle den Namen „Markt“ trägt, scheint die Situation tatsächlich aussichtslos. Schließlich kann es dann passieren, dass der Markt plötzlich anfängt, Forderungen zu stellen. Woraufhin man ihm dann eigene Tempel baut, wo man ihm huldigen kann und anfängt, ihm zu Ehren tägliche Rituale zu veranstalten. Und jeden Tag lauscht dann die ganze Gesellschaft bei Schließen der Börsen, so gegen 17.30 Uhr, welche Botschaft der Markt zu verkünden hat. War er heute zufrieden? Ist er wieder nervös? Das ist natürlich Blödsinn, da auch die Börse von Menschen gemacht ist. Aber in dem Moment, in dem ich als letzte Autorität für die Begründung meiner Entscheidung etwas angebe, was ohne substanzielle Begründbarkeit auskommt, kann ich tun und lassen, was ich will. Zugleich kann ich mich immer, wenn ich Mist baue, auf den Markt berufen und somit jegliche Verantwortung von mir weisen. 53
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Interview
deren, die ähnlich denken, um sich nicht abnormal vorzukommen. Und zwar – das ist die Schwierigkeit – von denjenigen, die sich illusionslos den Problemen stellen; die sich also nicht zur Bekämpfung der vorherrschenden Ideologie selbst wieder auf eine Ideologie berufen, die sie dann notfalls mit der Kalaschnikow durchzusetzen gewillt sind. Insofern geht es mir darum, solche Menschen zu suchen und zusammenzubringen. Wenn man das begriffen hat, kommt der Rest von alleine. Denn wenn das Politische die Bedingungen definiert, unter denen man leben muss, man diesen Bedingungen aber nicht zustimmt, wird man zwangsläufig politisch werden. Ist dann das Ziel des Studienlehrgangs „Der professionalisierte Bürger“, den Bürger im Sinne Gandhis hervorzubringen: „Sei selbst die Veränderung, die du in der Welt sehen willst“?
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Zugegeben, diese Erkenntnis ist nichts Neues. Sie bildet gewissermaßen das Fundament aller großen Weltreligionen. Und Sigmund Freud hätte dies vielleicht „erwachsen werden“ genannt. Jedenfalls ist das die einzige Möglichkeit, angemessen auf die ökonomische und gesellschaftliche Krise zu reagieren. Man flieht nicht mehr vor der Wirklichkeit, sondern akzeptiert sie so, wie sie ist, und lernt damit umzugehen, anstatt sich zu verstecken. Leider sehen wir gerade überall das Gegenteil. Die Politik der Bundeskanzlerin stellt nichts anderes als ein Angebot an alle dar, sich von der Wirklichkeit vollkommen fernzuhalten und sich der Illusion hinzugeben, Mutti wird das alles regeln. Schlimm, dass das so hingenommen wird, dachte man doch, die Deutschen hätten nach den Erfahrungen im letzten Jahrhundert begriffen, dass man sich der Wirklichkeit stellen muss. So kann Frau Merkel damit fortfahren, das rechtsstaatliche Prinzip auszuhöhlen – mit dem Vorwand, es retten zu wollen. Wie oft hat sie gesagt: „Das ist die rote Linie, die dürfen wir nicht überschreiten.“ Dann wurde die rote Linie überschritten, es kam die nächste rote Linie etc. Ein pausenloses Überschreiten von roten Linien! An ihrer Seite Finanzminister Wolfgang Schäuble, der ja nun wirklich alles tut, um die ganzen Ausnahmen, Regelbrüche und Grenzüberschreitungen im Nachhinein akzeptabel erscheinen zu lassen. Wenn man das sieht, kommt man nicht umhin, an die Propaganda der 30er-Jahre zu denken, die von Joseph Goebbels sehr intelligent betrieben wurde. Der deutsche Finanzminister muss sich mit seiner Propaganda keineswegs hinter Goebbels verstecken. Je mehr die Merkel kriminell agiert – also objektiv legale Kriminalität betreibt – desto mehr huldigen ihr die Leute. Sie nehmen an, dass die Kanzlerin über höhere Einsichten verfügen würde – sie weiß schon, was sie tut, sie kann das viel besser als jeder andere, sie rettet unsere Zukunft etc. Das ist ein psychologischer Zwang: Es kann doch nicht sein, dass unsere gute Mutti eine Dirne ist, die mit den Kapitalinteressen ins Bett geht und uns verkauft. Nein, unsere Mutti, die würde uns nie verkaufen! Ebensowenig konnten Deutsche sich vorstellen, daß der heißgeliebte Führer die Welt durch Vernichtung retten wollte. Nun kann man nicht von der Hand weisen, dass es viele Personen gibt, die das Spiel nicht mitspielen wollen; die sich in Initiativen zusammenfinden und in gesellschaftlicher, ökonomischer oder ökologischer Hinsicht etwas verändern wollen. Aber häufig laufen diese Anstrengungen ins Leere und zurück bleibt Enttäuschung. Werden da taktische Fehler gemacht oder kann man in der momentanen Situation einfach nicht mehr erreichen?
Man kann eben nur tun, was man tun kann. Wenn man sich gut darauf versteht, andere Leute zu motivieren, sich mit den Sachverhalten zu beschäftigen, die alle etwas angehen, dann ist das schon genug getan. Das kann ein Dorfpfarrer sein, der noch in der Lage ist, seine geringe Klientel zusammenzuhalten und davon zu überzeugen, dass man sich gemeinsam für etwas einsetzen muss. Das reicht. Es muss nicht plötzlich alles anders werden. 58
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Wundern Sie sich nicht, dass nicht ein bisschen mehr Widerstand aus der Bevölkerung kommt?
Seltsam ist das schon. Hier in der Bundesrepublik braucht bisher niemand Angst zu haben, dass er gleich ins Gefängnis gesteckt oder getötet wird, wenn er gegen die „Tyrannin“ rebelliert. Trotzdem sind alle völlig apathisch. Dass wir keinen Widerstand sehen, hat wohl vor allem mit der sogenannten Komplexität zu tun. Die Gesetze und Paragraphen sind ja so verklausuliert, dass selbst Fachleute nicht mehr wissen, gegen wen oder was man sich zu wenden hätte. Wenn man in einer Gesellschaft lebt, wo man ständig gesagt bekommt, dass die Probleme mit dem System als solchem zu tun hätten, dass eben alles höchst komplex und wissenschaftlich oder juristisch völlig undurchschaubar sei, dann kann man schon verstehen, dass viele Menschen sich überfordert fühlen und einfach mit dem Strom schwimmen.
»Je mehr die Merkel kriminell agiert – also objektiv legale Kriminalität betreibt – desto mehr huldigen ihr die Leute.«
Auf der anderen Seite wird über das Thema Nachhaltigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen intensiv diskutiert. Zeugt diese Diskussion nicht doch von einem ausgeprägten Bewusstsein dafür, dass sich etwas ändern muss? Sehen Sie im Konzept der Nachhaltigkeit einen möglichen Ausweg aus der Krise?
Na ja, wer wollte in Nachhaltigkeitsvorgaben nichts Vernünftiges sehen? Allerdings stellt sich oft die Frage, was dieser Ansatz im Alltag konkret bedeuten kann. Ein paar meiner Freunde aus Griechenland, die aufgrund der Krise alle keine Arbeit mehr finden, sind jetzt aufs Land gezogen, wo sie ihre eigenen Lebensmittel anbauen. Ihr Ansatz, als Selbstversorger unabhängig von der 59
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Warum Deutschland Europa retten muss —
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Warum Deutschland Europa retten muss
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Text: Fabian Lindner
Der Regierungschef heißt nicht Samaras, Rajoy oder Monti, sondern Heinrich Brüning. Der Kanzler der Weimarer Republik setzt am Volk vorbei per Notdekret eine staatliche Kürzung nach der anderen durch, während das Bruttoinlandsprodukt ins Bodenlose fällt. Wir wissen: Zwei Jahre später wird Hitler die Macht übernehmen, acht Jahre später der Zweite Weltkrieg ausbrechen. Die politischen Verhältnisse in Europa sind heute Gott sei Dank nicht die gleichen, die wirtschaftlichen aber umso mehr. Deutschland hatte 1931 vor allem Schulden im Ausland – wie die Eurokrisenländer heute. Der größte Gläubiger Deutschlands waren die USA. Deutschlands Staat und Wirtschaft hatten sich seit 1924 – wie es der Dawes-Plan vorsah – Dollar in den USA geliehen, vor allem, um die Reparationen gegenüber Frankreich und Großbritannien zu bezahlen. Die Kredite aus dem Ausland finanzierten aber auch den deutschen Aufschwung nach der Hyperinflation der frühen 20er-Jahre: Die berühmten Goldenen Zwanziger waren durch eine Kreditblase finanziert, ganz ähnlich den wirtschaftlichen Aufschwüngen Spaniens, Irlands oder Griechenlands vor der Finanzkrise 2008 ff.
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Ein Land steht vor dem wirtschaftlichen und politischen Abgrund. Der Staat steht vor dem Bankrott und die Regierung spart drakonisch: sie kürzt heftig bei den öffentlichen Bediensteten und erhöht kräftig die Steuern; die Wirtschaft schrumpft dramatisch, und die Arbeitslosigkeit steigt; in den Städten kommt es zu Massendemonstrationen und zu Straßenschlachten; die Banken stehen vor dem Kollaps, weil die internationalen Kapitalgeber ihr Geld aus dem Land abziehen; Banken müssen mit öffentlichen Mitteln vor dem Zusammenbruch gerettet werden. Südeuropa 2013? Nein, Deutschland 1931. REPARATIONEN
(von lateinisch reparare = wiederherstellen) sind Leistungen, die ein im Krieg unterlegener Staat als Entschädigung für die im Krieg entstandenen Kosten und Verluste des Siegers zu erbringen hat. In Artikel 231 des Versailler Vertrags wurde dem Deutschen Reich und seinen Verbündeten die alleinige Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zugeschrieben; entsprechend wurde es zur Wiedergutmachung der den Alliierten entstandenen Kriegsschäden verpflichtet. Mit dem Dawes-Plan (benannt nach dem Finanzexperten Charles Dawes) wurden im Jahr 1924 die Reparationszahlungen Deutschlands an die Siegermächte neu geregelt. Ziel des Plans war es, die deutsche Wirtschaft zu stabilisieren. Im Zuge dieser Neuregelung wurden hohe Kredite gewährt, die in Folgejahren vor allem aus den USA nach Deutschland flossen.
Deutschland in der Dollar-Falle Dann kam der Schwarze Freitag des Jahres 1929, an dem die USAktienmärkte zusammenbrachen. Die Unsicherheit über die weitere wirtschaftliche Entwicklung stieg dramatisch. Immer mehr US-Anleger und Banken durchsuchten panisch ihr Portfolio nach weiteren Risiken und wurden bei ihren Engagements im fragilen Europa fündig. Sie begannen, ihre Gelder aus Europa, vor allem aus Deutschland, abzuziehen. Der transatlantische Kreditfluss versiegte. 65
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Janusz Czech: c-print, 100x100 cm
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Aufruf
Der folgende Text wurde uns von einer Leserin zugeschickt, die ihn eines Tages in Form eines kleinen Büchleins mit dem schlichten Titel „Aufruf“ in ihrem Briefkasten gefunden hat. Es fehlt jeglicher Hinweis auf den Autor beziehungsweise das Autorenkollektiv. Trotz dieser Anonymität und trotz des manchmal gewöhnungsbedürftigen Sprachstils haben wir uns entschieden, den Text zu digitalisieren und (in stark gekürzter Version) im „Horizont“-Teil der agora42 abzudrucken. Die Entschiedenheit, mit der er sich gegen den gesellschaftlichen Status quo wendet, stellt gewissermaßen die logische Reaktion auf die Beliebigkeit, Haltlosigkeit und Unentschlossenheit dar, welche die heutige Zeit kennzeichnen – insofern weist er bereits über diese Zeit hinaus und lässt erahnen, was uns am Horizont erwarten könnte. Der Text ist in sieben „Propositionen“ gegliedert, denen jeweils ein längeres „Scholium“ folgt, das als Erläuterung der knappen Proposition dient. Die ungekürzte Version findet sich in unserem Blog auf der Homepage www.agora42.de, wo Sie auch die Möglichkeit haben, ihn zu kommentieren. H O R I Z O N T Proposition I Nichts fehlt zum Triumph der Zivilisation. Nicht der politische Terror, nicht die affektive Misere. Nicht die allumfassende Sterilität. Die Wüste kann sich nicht mehr ausbreiten: Sie ist überall. Aber sie kann sich noch vertiefen. Vor der Offenkundigkeit der Katastrophe gibt es jene, die sich empören, und jene, die sie zur Kenntnis nehmen; jene, die denunzieren und jene, die sich organisieren. Wir sind an der Seite derer, die sich organisieren. 72
Scholium Dies ist ein Aufruf. Das heißt, dass er sich an jene wendet, die ihn hören. Wir machen uns nicht die Mühe zu beweisen, zu argumentieren, zu überzeugen. Wir reden über das Offenkundige. (…) Und dieses Netz von Offenkundigkeiten, die uns ausmachen, hat MAN uns so gut gelehrt, zu bezweifeln, vor ihm zu fliehen, darüber zu schweigen, es für uns zu behalten. MAN hat uns das so gut gelehrt, dass uns die Worte fehlen, wenn wir schreien wollen. (…)
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Aufruf
Zur Stunde (…) beschreiben Kapitalismus und Antikapitalismus den gleichen abwesenden Horizont, dieselbe beschnittene Perspektive, die Katastrophe zu verwalten. Was sich der vorherrschenden Trostlosigkeit entgegenstellt, ist definitiv nur eine andere, weniger gut ausgestattete Trostlosigkeit. Überall herrscht die gleiche blöde Vorstellung von Glück. Die gleichen erstarrten Machtspiele. Die gleiche entwaffnende Oberflächlichkeit. Der gleiche emotionale Analphabetismus. Die gleiche Wüste. Wir sagen, dass diese Epoche eine Wüste ist, und dass diese Wüste sich ohne Unterlass vertieft. Das (…) ist keine Poesie, das ist offenkundig. Eine Offenkundigkeit, die viele andere beinhaltet. Insbesondere die des Bruchs mit allem, was protestiert und sich über die Katastrophe auslässt. (…) Einige haben versucht, der Wüste einen Namen zu geben. (…) Sie haben vom Spektakel gesprochen, von Biomacht, vom Empire. Aber auch das hat zur bestehenden Verwirrung beigetragen. Das Spektakel ist keine bequeme Abkürzung für das massenmediale System. Es findet sich genauso gut in der Grausamkeit, mit der alles uns ständig auf unser Bild zurückwirft. Die Biomacht ist nicht ein Synonym für Sozialversicherung, Sozialstaat oder die pharmazeutische Industrie, sondern nistet sich bequem in der Sorge ein, die wir uns um unseren hübschen Körper machen, in einer gewissen physischen Fremdheit sich selbst und anderen gegenüber.
Zur Stunde beschreiben Kapitalismus und Antikapitalismus den gleichen abwesenden Horizont.
Das Empire ist keine außerirdische Wesenheit, keine planetarische Verschwörung von Regierungen, von Finanzsystemen, von Technokraten und multinationalen Konzernen. Das Empire ist überall, wo nichts geschieht. Überall, wo alles funktioniert. Dort, wo die normale Situation regiert.
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Dass ein soziales Regime im Todeskampf für seine Willkür keine andere Rechtfertigung mehr hat, als seine absurde Entschlossenheit – seine senile Entschlossenheit – einfach fortzudauern; (…) dass die Zivilisation, tief in ihrem Herzen verletzt, mit dem permanenten Krieg, den sie losgetreten hat, nirgendwo mehr auf etwas anderes trifft als auf ihre eigenen Grenzen; dass diese Flucht nach vorn seit bald hundert Jahren nichts weiter produziert als eine Reihe immer dichter aufeinander folgender Katastrophen; dass sich die Masse der Menschen mit Hilfe von Lügen, Zynismus, Abstumpfung oder Pillen in dieser Ordnung der Dinge einrichtet; niemand kann vorgeben, dies nicht zu wissen. (…)
Wenn wir uns unter dem Feind immer wieder ein Subjekt vorstellen, das uns die Stirn bietet – anstatt ihn als ein Verhältnis zu empfinden, das uns hält –, führt das dazu, dass man sich im Kampf gegen das Einsperren einschließt. Dass unter dem Vorwand der „Alternative“ die schlimmsten Seiten der herrschenden Verhältnisse reproduziert werden. Dass wir beginnen, den Kampf gegen den Handel von Waren als Ware zu handeln. Dass der antiautoritäre Kampf Autoritäten gebiert, der Feminismus mit dicken Eiern daherkommt, antifaschistische Pogrome entstehen. Der in einer Situation eingenommene Standpunkt bestimmt das Bedürfnis, sich zu verbünden, und dafür gewisse Kommunikationswege aufzubauen, eine breitere Zirkulation. (…) Das WIR, das sich hier ausdrückt, ist kein abgrenzbares, isoliertes WIR, kein WIR einer Gruppe. Es ist das WIR einer Position. Diese Position behauptet sich heute als eine doppelte Trennung: Trennung vom Prozess der kapitalistischen 73
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Hier wird das Fernrohr gegen das Kaleidoskop getauscht und gezeigt, dass die Wirklichkeit viele Facetten hat. Fotos: Lepkowski Studios
H O R I Z O N T Der Künstler Jonas Burgert wurde 1969 in Berlin geboren
erzeugen seine teilweise riesigen und farbinten-
Jonas Burgerts Gemälde waren bereits in diver-
und studierte dort Malerei an der Universität der
siven Gemälde ein Spiel mit den Widersprüchen
sen internationalen Institutionen, Galerien und
Künste (UdK). Nach einem Aufenthalt in Ägypten
des 21. Jahrhunderts, die als ein Bühnenbild des
Sammlungen ausgestellt.
initiierte er in Berlin gemeinsam mit dem Künstler
Welttheaters fungieren. Apokalyptische Gedan-
Ingolf Keiner die Ausstellungsreihe: "Fraktale".
ken, Endzeitszenarien, Paradigmen, Phantasmen,
Aktuell sind sie in seiner Ausstellung "Schutt und
Zu den Ausstellungsorten zählte etwa - bis kurz
Grotesken und illusionistische Teile seiner Bilder-
Futter" bis 20. Mai 2013 in der Kestnergesellschaft
vor seinem Abriss - der Palast der Republik.
sprache werfen existenzielle Fragen der Mensch-
Hannover zu sehen.
heit auf und verlangen dem Betrachter Fragen
Zu der Ausstellung ist ein Katalog im Verlag
Inspiriert von einer Massenflut von Bildern der
nach dem Begreifen der komplexen aktuellen Zeit
Buchhandlung Walther König (Köln) erschienen.
Gegenwart und den Einflüssen der Vergangenheit
und sinnlichen Erfahrung ab.
www.jonasburgert.de / www.kestnergesellschaft.de
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Links: Jonas Burgert: Suchter, 2013. テ僕 auf Leinwand. 90 x 80 cm Rechts: Jonas Burgert: Dir die Stunde, 2013. テ僕 auf Leinwand. 220 x 180 cm
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FRISCHLUF T
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Sie befassen sich im Rahmen Ihrer Forschungstätigkeit mit Themen an der Schnittstelle von Ökonomie und Gesellschaft/Politik und loten neue Denkräume aus.
Mikrokredite nicht länger als Objekte von Hilfsleistungen gesehen, sondern als Subjekte, die selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen können – sofern die Rahmenbedingungen stimmen. Dass hier noch einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten ist, zeigt sich immer dann, wenn es zu Problemen bei der (Mikro-)Kreditfinanzierung kommt. Ein Beispiel wird immer wieder angeführt: Im Jahr 2010 konnten in einer Region Indiens zahlreiche Menschen ihre Mikrokredite nicht zurückzahlen. Manch einer sah keinen anderen Ausweg mehr als den Selbstmord. Ein Aufschrei in der Presse war die Folge – Tenor: die Armen müssen zu ihrem eigenen Schutz vom Kreditwesen (hier: den Mikrokrediten) ferngehalten werden. Dabei wurde jedoch übersehen, dass im Vorfeld zahlreiche Mikrokredite an Personen vergeben wurden, die keine Chance hatten, die Kredite zurückzuzahlen. Insofern hatten die Vorfälle nichts mit dem Mikrokredit als solchem zu tun, sondern belegen das Versagen der in dieser Region operierenden Mikrofinanzinstitute. Trotzdem wurden Mikrokredite unter Pauschalverdacht gestellt. Welche verheerenden Auswirkungen solch eine pauschale Verurteilung zur Folge hat, kann man am Beispiel des Mikrofinanzmarktes in Nicaragua beobachten. Dort sorgten populistische Politiker dafür, dass innerhalb kürzester Zeit der ganze Mikrofinanzsektor zum Erliegen kam. Damit waren viele Menschen wieder auf die „guten alten“ Geldverleiher angewiesen, die teilweise das Zehnfache an Zinsen verlangen wie die Mikrofinanzbanken. In ihrer Arbeit kritisiert Nina Holle, dass an einer sinnvollen Armutsbekämpfung nicht auch in schwierigen Zeiten festgehalten wird (wie zum Beispiel in Indien) und plädiert dafür, dass wir unsere historisch gewachsene Einstellung gegenüber Armut ablegen und sie den modernen Gegebenheiten anpassen sollen. Nur so ist eine effizientere Armutsbekämpfung möglich, die tatsächlich das Wohl der Armen ins Zentrum rückt und nicht die Befindlichkeiten der Geberseite.
Stellen Sie Ihre Arbeit bei uns vor: info@agora42.de
H O R I Z O N T MIKROKREDIT IM GLOBALEN VERGLEICH Die durchschnittliche Kredithöhe schwankt je nach Region deutlich. Quelle: Mix Market Kreditnehmer in Millionen durchschnittliche Kredithöhe in USD
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UNTERNEHMER S TAT T BITTSTELLER — In den letzten Jahren hat ein Ansatz der Armutsbekämpfung an Popularität gewonnen, der ohne das Tamtam von Spendenaufrufen und öffentlichkeitswirksame Gesten auskommt. Durch einen kleinen Startkredit (Mikrokredit) will man das Unternehmertum unter der armen Bevölkerung fördern und somit helfen, Menschen aus der Armut zu führen, anstatt sie zu alimentieren. In ihrer Doktorarbeit zeigt Nina Holle, dass diese Art der Armutsbekämpfung sich grundsätzlich vom bisherigen Vorgehen unterscheidet. Standen bislang die Notfallhilfe aus Barmherzigkeit im Mittelpunkt, werden die Armen im Rahmen des Konzepts der
Nina Holle Nina Holle arbeitet bei der Weltbank im Bereich Mikrofinanzen. Mehr Infos: mail@ninaholle.de oder nholle@worldbank.org
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THE OPPORTUNITY CREATION PROCESS Quelle: nach Dees et al.,2002, S.2
Change Social Needs
Social Assets
Personal Experience
— Promising Ideas
STEP 2: DEVELOPING PROMISING IDEAS INTO ATTRACTIVE OPPORTUNITIES
OPERATING ENVIRONMENT
Social Impact Theory
Operating Model
Resource Strategy
Business Model
Opportunity
Sie sind innovativ, immer auf der Suche nach Neuem, streben nach finanzieller Unabhängigkeit und wollen etwas in der Welt bewirken: Entrepreneurs. Ihr Schaffen ist der Motor unseres materiellen Wohlstands. Solange sie nicht gegen geltendes Recht verstoßen, dient ihr Wirken, unbeabsichtigt oder nicht, dem Gemeinwohl – so jedenfalls die Theorie. Die Frage, ob dieser Mehrwert, den sie mit ihren Unternehmen schaffen, auch tatsächlich besser für die Menschen ist, spielt in der modernen Wirtschaftswissenschaft und der vorherrschenden neoklassischen Theorie kaum eine Rolle. Ein anderer Unternehmertyp, der bisher kaum in den Fokus der Wirtschaftswissenschaft gerückt ist, ist jener des Social Entrepreneurs. Sein Handeln ist nur schwer mit dem neoklassischen Leitbild des instrumentell-rationalen Homo oeconomicus in Einklang zu bringen. Im Gegensatz zum herkömmlichen Unternehmertyp geht es ihm nicht primär um Profitstreben, sondern darum, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Er ordnet sein Handeln aus freiem Willen ethischen Prinzipien unter und geht verantwortlich mit seiner unternehmerischen Freiheit um. Dabei verliert er dennoch wirtschaftliche Effizienzkriterien nicht aus den Augen. Social Entrepreneurs sind aber darauf angewiesen, dass es institutionalisierte Denk- und Handlungsspielräume gibt, damit sie Freiräume und Verwirklichungschancen für benachteiligte Menschen schaffen können. Hier setzt Michael Wihlenda in seiner Dissertation an. Er untersucht die gesetzlichen und ethischen Rahmenbedingungen für globales Social Entrepreneurship. Dabei argumentiert er aus einem humanistischen Wirtschaftsverständnis heraus und bezieht insbeson-
STEP 1: GENERATING PROMISING IDEAS
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MEHR FREIRAUM FÜR UND DURCH SOCIAL ENTREPRENEURSHIP
Social Impact
dere den sogenannten Fähigkeiten-Ansatz des Wirtschaftsnobelpreisträgers Amartya Sen mit ein, demzufolge die Befähigungen, über die der Mensch verfügen muss, damit er sein Leben erfolgreich gestalten kann, gegenüber dem Besitz von materiellen Gütern stärker berücksichtigt werden sollen. Zudem analysiert er, inwiefern (künftige) Social Entrepreneurs selbst neue Rahmenbedingungen für soziales und ökologisches Unternehmertum schaffen können. Ergänzend zu seiner theoretischen Arbeit engagiert er sich am WeltethosInstitut der Universität Tübingen (WEIT).
Das im Jahr 2012 gegründete Institut forscht zu den Themen globale Wirtschaftsethik und interkulturelles Lernen im Kontext des von Hans Küng hervorgebrachten Projekts Weltethos. Durch Social Entrepreneurship Education fördert das WEIT sozialunternehmerisches Denken und Handeln der Studierenden. Michael Wihlenda Michael Wihlenda ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Weltethos-Institut an der Universität Tübingen und derzeit Global Fellow (Europe) von NET IMPACT. Mehr Infos: wihlenda@weltethos-institut.org
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L AND IN SICHT
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Sie haben das Ruder in die Hand genommen und wollen mit Ihrem Unternehmen oder zivilgesellschaftlichen Projekt ökonomisches und gesellschaftliches Neuland betreten. Stellen Sie Ihr Unternehmen/Projekt bei uns vor: info@agora42.de
MUNDRAUB.ORG
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H O R I Z O N T Standorte von Obstbäumen, Beerensträuchern etc. auf mundraub.org
Durch die Aussage des Co-Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank AG, Jürgen Fitschen, dass sein Haus keinen Grund sehe, nicht auch zukünftig Termingeschäfte auf Agrarrohstoffe abzuschließen, ist das Thema der Lebensmittelspekulation wieder in die öffentliche Diskussion eingebracht worden. Dabei erstaunt die Tatsache, dass man mit der Nahrung anderer Leute spekulieren kann, mindestens ebenso sehr, wie die Tatsache, dass es genug Essen auf der Welt gibt und trotzdem nicht alle satt werden. Und in Ländern, wo die Menschen satt werden, wie zum Beispiel in Deutschland, verfaulen jedes Jahr tonnenweise Früchte – und das, obwohl sie ganz umsonst zu haben sind. Dabei sprechen wir hier nicht von den Äpfeln, Birnen & Co., die täglich von Supermärkten weggeworfen werden. Nein, die fauligen Früchte, von denen hier die Rede ist, finden sich ganz woanders: In Deutschland gibt es Tausende Streuobstwiesen, Nussbäume oder Beerensträucher, deren Früchte jedes Jahr verfaulen – schlicht und ergreifend, weil niemand von deren Existenz weiß. Dies beobachtend, hat im Sommer 2009 Kai Gildhorn die Seite mundraub.org online gestellt, wo man auf einer Karte beispielsweise den Standort von Obstbäumen, die zur Ernte freigegeben sind, eintragen kann. So kann sich jeder darüber informieren, wo er Obst, Nüsse, Beeren oder Kräuter findet, die er ohne schlechtes Gewissen verzehren kann. Die Vorteile liegen auf der Hand: Man schont den Geldbeutel, lernt seine Umgebung besser kennen und reduziert die Menge an Obst, die jedes Jahr über die Weltmeere geschippert wird. Nicht zuletzt kommt man beim „Obsteinkauf“ gleichzeitig noch an die frische Luft und leistet einen wichtigen Beitrag zum Erhalt unserer Kulturlandschaft. Seit 2012 kann man auch das Mundräuber Handbuch bei seinen Streifzügen zur Hand nehmen (bestellbar über mundraub.org zum Preis von circa sechs Kilogramm Bio-Äpfeln). Drei Jahre nach dem Start sind – ohne Zutun der Organisatoren – mehrere tausend Orte auf der Landkarte verzeichnet und man überlegt sich, wie die Plattform weiterentwickelt werden kann. Vielversprechende Ideen und Visionen gedeihen bereits in den Köpfen der Mundräuber. Unter anderem überlegt man, wie mit Hilfe der Webseite bestehende Streuobstinitiativen gebündelt werden können, um zum Beispiel die Vermarktung regionaler Obstprodukte anzukurbeln. Über diesen „Lebensmittelhandel“ könnten sich dann die Mundräuber vielleicht sogar einen kleinen Zusatzverdienst ermöglichen – darüber darf gerne spekuliert werden. Mehr zu Mundraub unter: www.mundraub.org
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H O R I Z O N T
FRAGE AN MUNDRAUB.ORG: Die Krise bleibt oft sehr abstrakt. Wo kann man konkret etwas verändern? „Bei allen Blicken über den Tellerrand hinaus sollte der eigene Teller nicht in Vergessenheit geraten. Erst recht nicht, wenn dieser so reich gefüllt ist: Gelbe Edeläpfel, Kaiser Wilhelms, Albrechtsäpfel, Ruhm von Kirchwärder und Peasgoods Sondergleichen. Die Rückbesinnung auf regionale Kreisläufe sehen wir als einen Beitrag, um in die oft undurchschaubaren Handelsströme unserer Zeit etwas Licht zu bringen (Fast wie bei einem Verjüngungsschnitt).“
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Land in Sicht
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I N N O V E S T M E N T. D E — Innovative Start-ups, bankenfrei finanziert
FRAGE AN INNOVESTMENT.DE: Die Krise bleibt oft sehr abstrakt. Wo kann man konkret etwas verändern?
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„Für die Bewältigung volkswirtschaftlicher Krisen sind radikale Innovationen unabdingbar. Durch diese können neue Märkte oder Kundengruppen erschlossen und somit Arbeitsplätze geschaffen werden. 95% aller radikalen Innovationen seit 1945 stammen aus Unternehmen mit weniger als fünf Mitarbeitern. Doch gerade diese Unternehmen haben die größten Finanzierungsprobleme. Mittels Crowdinvesting kann hier Abhilfe geschaffen werden.“
Für die Innovations- und mithin Zukunftsfähigkeit einer Volkswirtschaft sind Unternehmensgründungen von besonderer Bedeutung. Mit 13.000 bis 15.000 technologieorientierten Unternehmensgründungen pro Jahr verfügt Deutschland zwar prinzipiell über eine enorme Innovationsfähigkeit, allerdings kann dieses Potenzial oftmals nicht genutzt werden, da es für rund 70% der Unternehmensgründer sehr problematisch ist, das nötige Kapital aufzutreiben. Kein Wunder, dass sich diese Situation durch die globale Finanzkrise weiter verschärft hat. Als Betreuer zahlreicher Start-up-Unternehmen am Gründerzentrum der RWTH Aachen kamen die Gründer von Innovestment.de tagtäglich mit diesen Problemen in Berührung. Angesichts des Erfolgs der Crowdfunding-Plattformen, über die zahlreiche Projekte im sozialen und kulturellen Bereich finanziert werden konnten, beschlossen sie, das Prinzip des Crowdfundings auf die Finanzierung von Unternehmensgründungen anzuwenden. Crowdfunding bedeutet, dass mehrere Personen („Crowd“) kleinere Geldbeträge über das Internet spenden, um die Realisierung bestimmter Projekte zu ermöglichen – beispielsweise die Produktion einer neuen Musik-CD. Gelingt es dem Musiker, genügend Unterstützer zu finden, kann er seine neue CD produzieren. Typischerweise erhält dann jeder Spender ein kleines Dankeschön, beispielsweise eine handsignierte CD. Im Unterschied zum Crowdfunding geht es den Betreibern der Online-Plattform innovestment.de um Crowdinvesting – das heißt die Geldgeber bekommen statt der CD Unternehmensanteile (Mindestsumme für eine Beteiligung: 1.000 Euro) und mithin die Möglichkeit, von den Erlösen und dem Wertzuwachs der Unternehmen zu profitieren. Dabei geht es vorwiegend um Unternehmen, die im Technologiebereich tätig sind. Die Unternehmensgründer können ihr Projekt inzwischen über 3.500 registrierten Investoren präsentieren. Damit sind sie bei der Verwirklichung ihrer Idee nicht länger nur auf die Gunst der Banken oder einiger weniger Venture-Capital-Gesellschaften angewiesen. Zudem kommen sie in Kontakt mit zahlreichen Personen, die im besten Fall den/die Unternehmensgründer über die finanzielle Beteiligung hinaus unterstützen. Seit der Gründung 2011 wurden bereits 16 Start-ups erfolgreich über Innovestment.de finanziert und damit weit über eine Million Euro an Kapital vermittelt. Mehr zu Innovestment unter: www.innovestment.de
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PREMIUM
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PREMIUM COLA 0,5l (links) und PREMIUM COLA 0,33l (rechts)
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Jenseits ökonomischer „Gesetze“ FRAGE AN UWE LÜBBERMANN Wenn ein Problem unseres ökonomischen Systems die Notwendigkeit der GewinnVON PREMIUM: steigerung darstellt, könnte man das Gewinnstreben doch einfach abschaffen, oder Die Krise bleibt oft sehr abstrakt. nicht? Warum gewährt man großen Firmen (Mengen-)Rabatte, obwohl man doch Wo kann man konkret etwas weiß, dass kleinere Firmen diese Rabatte oftmals viel nötiger hätten – und auch verändern? häufig nicht im gleichen Maße von Privilegien/Subventionen profitieren? Wenn die Menschheit ein Vielfaches von dem konsumiert, was sie zum Leben benötigt und „Ich fordere immer „nur“ einen was die Ressourcen des Planeten hergeben, wäre es dann nicht eine gute Idee, aktive Systemwandel, nicht einen SysWerbung zu unterlassen, damit nicht ständig neue Konsumanreize geschaffen wertemwechsel, weil ich gar nicht den? weiß, wie ein alternatives und Die intuitive Antwort auf diese Fragen lautet wohl: „Das kann doch nicht funktiobesseres System aussehen könnte. nieren!“ Was aber, wenn das einer nicht weiß und es einfach probiert? Wir wollen den Was ich aber weiß: Das vorhanGründern von PREMIUM nicht unterstellen, dass sie keine Ahnung von den ökonodene kann sozialer, stabiler, nachmischen „Gesetzen“ hätten – aber die Tatsache, dass sie gänzlich auf Gewinne verhaltiger gestaltet werden – von zichten (es geht tatsächlich ausschließlich darum, die Kosten zu decken; übersteigen fast jedem Anbieter und fast jedie Einnahmen die Ausgaben, werden kurzerhand die Preise der Produkte gesenkt), dem Konsumenten. Für das Überkeinen Mengenrabatt gewähren, keine Werbung machen und dennoch jeden beleben des gesamten Planeten zahlen, der für PREMIUM arbeitet, belegt, dass ökonomische Gesetze nur in unserer wird das jedoch nicht reichen – zuVorstellung existieren. mal dann nicht, wenn die restliWas ist PREMIUM? Die Gründung von PREMIUM geht zurück auf den Verkauf der chen 5/6 der Weltbevölkerung Markenrechte von afri-cola. Als der neue Eigentümer die Rezeptur änderte, empörte auch nach westlichem Standard dies einige afri-cola-Fans derart, dass sie sich unter dem Label „Premium-Cola“ ihre leben wollen. Da helfen auch Lieblings-Cola nach der Originalrezeptur herstellen ließen. Die Nachfrage stieg und nicht Bio, Fairtrade und grüne man überlegte sich, größere Mengen der Cola herzustellen und zu vertreiben. Da Autos. Aus meiner Sicht bedarf es es nicht um Gewinne ging, hatte man genug Zeit, sich zu überlegen, nach welchen eines richtig fiesen Crashs, um im Prinzipien man wirtschaften wollte. Man sah keinen Anlass, sich in vorlaufendem GeBewusstsein der Menschen welthorsam vermeintlichen „Marktgesetzen“ zu beugen. So traf entscheid man sich daweit etwas zu ändern.“ für, nach den oben genannten Grundsätzen zu wirtschaften und zudem die Firma als Kollektiv zu führen. Heute gibt es unter der Marke PREMIUM neben Cola noch Bier, Limo und Kaffee. Mehr zu PREMIUM unter: www.premium-cola.de
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