agora42 04/2010 - ICH

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RT U B E AUSG RKTES? MA S E D

04/2010 • 7,90 € (D)


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Altgriechisch ĮȖȠȡĮ Im antiken Griechenland Versammlungsplatz oder Markt im Zentrum einer Stadt Politische, juristische und philosophische Versammlungsstätte freier Bürger Kultisches Zentrum der Polisgemeinschaft Bedeutender Schritt in der Entwicklungsgeschichte der attischen Demokratie

Im ersten Buch von Douglas Adams The Hitchhiker‘s Guide to the Galaxy wird folgende Geschichte erzählt: • Eine weit fortgeschrittene außerirdische Kultur sucht die Antwort auf die Frage aller Fragen, nämlich jene nach „life, the universe and everything“ • Dazu entwickelt und baut sie den Supercomputer Deep Thought • Nach einer Rechenzeit von 7,5 Millionen Jahren erbringt Deep Thought die Antwort „42“ • Auf die Ratlosigkeit der Erbauer hin entgegnet Deep Thought, dass die Frage nicht präzise gestellt worden sei und schlägt vor, einen von ihm erdachten, noch größeren Computer zu bauen, der fähig ist, die zur Antwort passende Frage zu finden • Dieser Computer wird gebaut und das Programm zur Suche der Frage auf die Antwort wird gestartet • Es stellt sich heraus, dass dieser noch größere Computer der Planet Erde ist


I N H A LT agora42

Personen

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Editorial

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Prolog

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Parallaxe individualität – aber bitte kollektiv!

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Ökonomische Theorien willst du gelten, kauf, was ist selten

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Philosophische Perspektive was ist ich?

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Grundannahmen der Ökonomie das bedürfnis ist unstillbar

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was nützt mir?

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Jörn Klare was bin ich wert?

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Thomas Gutknecht es gibt kein wahres ich im falschen

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Alexandra Hildebrandt/Ina Schmidt das „ich“ als marke

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Bernhard H. F. Taureck egoismus: dämonie oder banalität?

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Birger P. Priddat das verteilte ich – neue akteure in der ökonomie

Interview • Hanna Poddig Man muss an die Köpfe ran

88

Interview • Götz Werner Individualität überwindet den Egoismus

100

Portrait sigmund freud

106

Gedankenspiele

108

Zahlenspiele

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Auf dem Marktplatz

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Zu Gast bei der Frankfurt School Conference

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Plutos Schatten

70

Auf dem linken/rechten Auge blind

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Impressum

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P h i l o s o p h i s c h e Pe r s p e k t i v e

WA S I ST

IC H ? gibt es so etwas wie ein ich, etwas, das bei aller veränderung gleich bleibt? und wenn ja, wie ist es beschaffen?

Wer bin ich? Was macht mich eigentlich aus? Man könnte auch fragen: Was hält mich im Innersten zusammen? Was ist das für ein Raum, in dem all die unterschiedlichen Erfahrungen, in dem das Vergangene und das Zukünftige gleichermaßen Platz haben? Gibt es einen festen inneren Kern des Menschen, eine Art IchSubstanz, oder ist das Ich vielleicht doch eher strukturiert wie eine Zwiebel – nur Schalen, kein Kern? „Cogito, ergo sum“ – „Ich denke, also bin ich“ – schrieb René Descartes (1596–1650) und grenzte damit eine Ich-Substanz (res cogitans) von der Welt materieller Objekte (res extensa) ab. Diese Ich-Substanz zeichnet

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agora42 • Philosophische Perspektive • WAS IST ICH?


sich Descartes zufolge dadurch aus, dass sie zwar an den Inhalten ihres Denkens zweifeln kann, nicht jedoch daran, dass sie als Denkendes existiert. So wäre es möglich, dass ich mich in all meinen Sinneswahrnehmungen täusche und insofern keinerlei Wissen über die Dinge der Welt erlangen kann. Aber nicht nur in Bezug auf die Beschaffenheit der Dinge kann ich mich täuschen, sondern auch darin, dass Dinge überhaupt existieren. Ich könnte mir ja auch nur einbilden, dass sie existieren. Denn auch in Träumen bin ich fest davon überzeugt, dass Dinge da sind. Selbst über die Existenz meines eigenen Körpers könnte ich mich demzufolge im Irrtum befinden. Und damit nicht genug: Ich kann mich sogar in Bezug auf zunächst ganz einleuchtende Sachverhalte täuschen: „Wäre es nicht möglich, dass ich mich irre, sooft ich zwei und drei addiere?“, fragt Descartes. Denn man könne nicht ausschließen, dass ein böser Geist oder ein Gott uns mit einer betrügerischen Vernunft ausgestattet hat – eine Vernunft, die dazu neigt, ihre Einsichten und Ergebnisse für überzeugend zu halten. aber muss man dann nicht alles bezweifeln? Nein, sagt Descartes, denn bei alledem sei es immer ich, der sich da täuscht, irrt oder der da zweifelt. Auch im Zweifel muss ein Ich vorausgesetzt werden: „Indem wir so alles nur irgend Zweifelhafte zurückweisen und für falsch gelten lassen, können wir leicht annehmen, dass es keinen Gott, keinen Himmel, keinen Körper gibt; dass wir selbst weder Hände noch Fusse, überhaupt keinen Körper haben; aber wir können nicht annehmen, dass wir, die wir solches denken, nichts sind; denn es ist ein Widerspruch, dass das, was denkt, in dem Zeitpunkt, wo es denkt, nicht bestehe. Deshalb ist die Erkenntnis: ‚Ich denke, also bin ich‘ von allen die erste und gewisseste, welche bei einem ordnungs-mäßigen Philosophiren hervortritt.“ Was bleibt also bei Descartes gleich? Streng genommen das Denken als solches. Denn man kann an den Inhalten des Denkens zweifeln, nicht aber daran, dass diese Inhalte gedacht sind. Auch das Zweifeln selbst bewegt sich im Rahmen des Denkens, ist eine Form des

Denkens. Doch wo findet sich dann das „Ich“, welches Descartes mit diesem Denken verbindet, wo ist das Bewusstsein? Nirgends. Wenn bei allem, was gedacht wird, immer ein Ich mitgedacht würde, dann wäre dieses Ich absolut selbstverständlich. Anders gesagt: Wir könnten dann gar keinen Standpunkt einnehmen, der „Nicht-Ich“ wäre, das heißt es gäbe die Möglichkeit überhaupt nicht, das Ich zu thematisieren. Das Ich ist also ein bedeutungsloser Zusatz – es könnte bei Descartes genauso gut heißen „es denkt“ oder „es zweifelt“, so wie man sagt „es schneit“ oder „es regnet“.

Kein Ich: David Hume David Hume (1711–1776) würde dem sofort zustimmen. Für ihn ergibt ein Begriff des Ich, wie Descartes ihn verwendet, keinen Sinn. Denn es sei unmöglich, dass man eine Ich-Substanz erfahren könne. Hume zufolge beginnt der Erkenntnisprozess mit empirischer Erfahrung. Empirismus (von griechisch empeiria: Erfahrung): Lehre, derzufolge alles Wissen und alle Vorstellungen über die Wirklichkeit nur durch die sinnliche Wahrnehmung vermittelt sind. Der Verstand beziehungsweise die Vernunft sind der Sinneserfahrung nachgeschaltet.

Das heißt, mithilfe von Wahrnehmung und Erinnerung eignet sich der Mensch Wirklichkeit erkennend an. Hume hält alle nicht durch Erfahrung ausgewiesenen Grundsätze für falsch. Aber auch auf Erfahrung gründende Erkenntnisse berechtigen nicht dazu, diese endgültig für wahr zu halten. Auch Letztere bleiben im Prinzip widerlegbar. Hume geht zunächst von Wahrnehmungen aus, die ganz einfach oder auch komplexer sein können. Diese Wahrnehmungen sind quasi die Grundbausteine der Erfahrung. Ausgehend von diesen Grundbausteinen unterscheidet er diese in Eindrücke (impressions) und Vorstellungen (ideas).

agora42 • Philosophische Perspektive • WAS IST ICH?

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Gr und annahmen der Ökonomie

DA S BEDÜRFNI S I ST UN ST ILLB AR VON MOR ALPHILOSOPHEN, B ANKVOR STÄNDEN UND JUNGEN BR AHM ANEN

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agora42 • Grundannahmen der Ökonomie • DAS BEDÜRFNIS IST UNSTILLBAR


I l l u st rat io n: Da n iel a S che il agora42 • Grundannahmen der Ökonomie • DAS BEDÜRFNIS IST UNSTILLBAR

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häufig wird das menschliche handeln damit erklärt, dass der mensch von bedürfnissen, die er zu befriedigen sucht, angetrieben wird. die ökonomie hat sich dieses bild des menschen einverleibt und in wirtschaftliche strategien umgesetzt.

Der von vielen als Begründer der klassischen Volkswirtschaftslehre angesehene schottische Moralphilosoph Adam Smith beschrieb im zweiten Band seines Werks Wohlstand der Nationen die Motivation, die jeden Menschen zum Handeln antreibt, wie folgt: „Das Princip hingegen, welches uns antreibt zum Sparen, ist die Begierde, unseren Zustand dauerhaft zu verbessern, eine Begierde, die zwar gemeiniglich ruhig und nicht leidenschaftlich ist, aber uns vom Mutterleibe bis in das Grab beiwohnt. In dem Zwischenraume aber zwischen diesen beiden Zeitpunkten, giebt es vielleicht keinen Augenblick, wo der Mensch mit seinem Zustande so vollkommen und gänzlich zufrieden wäre, dass er nicht die mindeste Verbesserung irgend einer Art wünschte.“ Smith zufolge strebt der Mensch also stets nach einer Verbesserung seiner Gesamtsituation. Diese Verbesserung erreiche er dadurch, dass er spart und dadurch ein

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größeres Vermögen anhäuft. Aber kann man tatsächlich behaupten, dass der Grund, warum wir jeden Morgen aufs Neue unser gemütliches Bett verlassen, darin bestehe, unseren Zustand dauerhaft verbessern zu wollen? Und wenn dem so ist, liegt dann das Geheimnis eines erfüllten Lebens im angehäuften Vermögen? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, werfen wir zunächst einen Blick in die tiefsten Abgründe menschlicher Skrupellosigkeit, die für einen Moralphilosophen wie Adam Smith wohl keine andere Strafe als den Tod verdient hätten. Denn was so mancher Banker in den vergangenen Monaten im Zuge einer Verbesserung seiner Lebensumstände angerichtet hat, hätte Smith wohl nicht zu träumen gewagt. Nicht nur, dass diese Personen die Gesellschaft mit ihrem Verhalten an den Rand des totalen Zusammenbruchs geführt haben, nein, sie fühlen sich auch noch im Recht. So besitzt beispielsweise

agora42 • Grundannahmen der Ökonomie • DAS BEDÜRFNIS IST UNSTILLBAR


der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Hypo Real Estate, Georg Funke, die Dreistigkeit, Abfindungen einzuklagen, obwohl der Staat gezwungen war, das durch die Hypo Real Estate angerichtete Desaster auszubaden. Hypo Real Estate und Georg Funke: Georg Funke war Vorstandsvorsitzender der Hypo Real Estate, die im Zuge der Finanzkrise mit über 100 Milliarden Euro vom Staat gerettet werden musste und verstaatlicht wurde. Im Rahmen der Verstaatlichung wurde Funke vom neuen Eigentümer, dem Staat, entlassen. Kurz darauf hat er Klage gegen seine Kündigung eingereicht und fordert zudem noch ausstehendes Gehalt und Pensionszahlungen in Millionenhöhe.

Oder wenden wir unseren Blick gen Norden, wo sich mit Dirk Jens Nonnenmacher, dem Vorstandsvorsitzenden der Landesbank von Hamburg und Schleswig-Holstein (HSH Nordbank), ebenfalls eine Person findet, die bei ihrem Streben nach Zufriedenheit anscheinend jeden Anstand verloren hat. HSH Nordbank und Dirk Jens Nonnenmacher: Die HSH Nordbank musste 2008 von den Ländern Hamburg und SchleswigHolstein durch Milliardenhilfen vor der Insolvenz gerettet werden. Herr Nonnenmacher geriet in die Kritik, weil er im Jahr 2008, trotz der miserablen finanziellen Lage der Bank, Bonuszahlungen in Höhe von 2,9 Millionen Euro erhielt. Gleichzeitig ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen die HSH Nordbank sowie gegen Herrn Nonnenmacher „in Richtung Untreue und Bilanzfälschung“, die dazu führten, dass die Bank mehrere Hundert Millionen Euro als Verluste abschreiben musste.

Andererseits können wir als Außenstehende weder über die Motivation von Herrn Funke noch über die von Herrn Nonnenmacher urteilen. Vielleicht aber beobachten wir bei beiden Herren lediglich eine unglückliche Transformationsphase auf dem Weg hin zur Selbstverwirklichung, zur Erlangung des vollkommenen Nirwanas. Nonnenmacher und Funke wären jedenfalls nicht die Ersten, die auf dem Weg dorthin über die Niederungen und Versuchungen des Irdischen stolpern. So erzählt schon der deutsche Autor Hermann Hesse von einem jungen Mann, der auf seiner Suche nach dem Sinn des Lebens von einem Missgeschick ins nächste stolpert. Siddhartha ist sein Name. Er kommt aus dem fernen

Indien und hat mindestens so schönes langes Haar wie Herr Nonnenmacher. Doch ihre Ähnlichkeit geht noch viel weiter. Beide scheinen tiefgläubige Wesen zu sein – Nonnenmacher glaubt, dass er ungeschoren davonkommt, und Siddhartha, irgendwann die irdischen und unstillbaren Begierden überwinden zu können. Als Sohn eines Brahmanen widmet sich Siddhartha zunächst der Pflege seiner Seele, fernab der Niederungen des Alltags, fernab aller Versuchungen der Zivilisation. Doch eines Tages lässt Hesse seinen Protagonisten über die Niederungen des irdischen Lebens stolpern, genauer: über die Kurtisane Kamala. Siddhartha sieht in ihr jedoch keine Niederung, ganz im Gegenteil, mit ihr schwingt sich sein Körper und sein Geist in bisher nicht gekannte Höhen auf. jedoch: umsonst ist dieser aufschwung nicht zu haben. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich nach einer bezahlten Tätigkeit umzuschauen. Er wird schließlich Kaufmann und, wie sich herausstellt, sogar ein ziemlich erfolgreicher. Auch wenn es reizvoll wäre, den Parallelen zwischen der Figur Siddharthas und Investmentbankern weiter nachzugehen, wollen wir über Smith und Kamala hinaus den tatsächlichen Ursprung menschlichen Handelns erforschen. Worin also besteht unser Handlungsantrieb, der gleichzeitig als Grundannahme unseres ökonomischen Verständnisses gelten kann?

Bedürfnisse – geordnet und unstillbar Die wohl berühmteste Antwort auf diese Frage liefert der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow mit seiner Bedürfnispyramide. Er stellt die These auf, dass der Mensch durch – hierarchisch angeordnete – Bedürfnisse bestimmt ist. Bedürfnisse, die wir zu befriedigen suchen, und deren Befriedigung der Antrieb menschlichen Handelns darstellt. Nach Maslow sind wir erst dann „Ich“, können uns erst dann der Selbstverwirklichung annehmen, wenn die „untergeordneten“ Bedürfnisse befriedigt sind.

agora42 • Grundannahmen der Ökonomie • DAS BEDÜRFNIS IST UNSTILLBAR

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Jör n K l are

WA S B I N IC H W E RT ? M e n s ch e n we r t b e re ch n u n g e n h a b e n w i e d e r K on j u n k t u r I l l u s t ra t i o n e n : Joh a n n e s S ch e b l e r

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agora42 • Jörn Klare • WAS BIN ICH WERT?


vor einigen jahren erzählte mir ein mädchen in albanien von ihrer stiefschwester, die vom vater nach italien verkauft worden war. ihr preis: 800 euro. wie viel geld, fragte ich mich da, bin ich wohl wert?

Doch die Tatsache, dass wir selbst nicht auf konkreten oder informellen Marktplätzen gehandelt werden, bedeutet nicht, dass nicht auch unser eigener monetärer Wert längst berechnet wird – beispielsweise, um damit existenzielle Entscheidungen über unser Leben zu treffen. Im Gegenteil: Der Einfluss dieser Art von Berechnungen nimmt zu.

Vom wertvollen zum „wertlosen“ Leben

Erste konkrete Hinweise zu Menschenwertberechnungen stammen aus der knapp 4000 Jahre zurückliegenden babylonischen Zeit. Im Alten Testament, genauer dem dritten Buch Moses, das auf diese Zeit Bezug nimmt, wird einem Mann der siebzehnfache Wert eines Mädchens zugesprochen. Etwa 2000 Jahre später verriet Judas seinen Herrn für 30 Silberlinge, was seinerzeit ungewöhnlich viel Geld für ein Menschenleben gewesen sein soll. Und während ein afrikanischer Sklave in Nordamerika Mitte des 19. Jahrhunderts – auf aktuellen Stand umgerechnet – etwa 40.000 Euro gekostet haben soll, werden heute in vielen Entwicklungsländern Kinder für die sprichwörtliche Handvoll Dollar verkauft. Für uns Bewohner der wohlhabenden industrialisierten Welt liegen derartige Handelsplätze zwar in fernen historischen oder geografischen Gefilden, doch gibt es in deutschen Bordellen Zigtausende Zwangsprostituierte, und deutsche Paare zahlen dubiosen Vermittlern viele Tausend Euro für ein Adoptivkind. Abgesehen davon lassen sich wohl in so gut wie jedem deutschen Haushalt Produkte finden, die in den Schwellenländern unter sklavereiähnlichen Bedingungen hergestellt werden.

Der wegen seiner Bekanntheit wohl umstrittenste Ansatz, den Menschen einen monetären Wert beizumessen, ist die Humankapitaltheorie. „Humankapital“ hat es 2004 sogar zum „Unwort des Jahres“ geschafft, weil es – so die Jury – „nicht nur Arbeitskräfte in Betrieben, sondern Menschen überhaupt zu nur noch ökonomisch interessanten Größen“ degradiere. Die Humankapitaltheorie setzt die Kosten, die durch Investitionen in die Bildung entstehen, in Relation zum gesamtwirtschaftlichen Nutzen, der durch diese Investitionen erreicht wird. Dieser Nutzen entsteht zum Beispiel durch den technologischen Forschritt, der durch ein höheres Ausbildungsniveau erreicht werden kann. Erste derartige Kalkulationen wurden bereits zum Ende des 17. Jahrhunderts von britischen Ärzten und Ökonomen vorgestellt. Das Ziel war eine möglichst große Bevölkerung im Sinne einer expansiven Macht- und Wirtschaftspolitik. Dementsprechend wurde die Menschenbewertung in Deutschland spätestens in der Phase der Hochindustrialisierung populär, als immer mehr leistungsfähige Arbeitskräfte benötigt wurden. Weil man dem Menschen einen monetären Wert zugestand, war es nach ökonomischer Logik opportun, in seine Erhaltung und Entwicklung zu investieren. Gesundheit bekam den Status eines sozialen Guts, und mit der Etablierung der Sozialhygiene Ende des 19. Jahrhunderts entstanden Programme zum gesundheitlichen Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen. Aber bereits Ende des 19. Jahrhunderts meldeten sich Menschenwertberechner, die von einem

agora42 • Jörn Klare • WAS BIN ICH WERT?

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„Nullwert“ oder gar negativen Wert bestimmter Menschen oder ganzer Bevölkerungsgruppen ausgingen. Als fataler Ableger der Sozialhygiene entwickelte sich die Rassenhygiene, die schon lange vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus auf die Zwangssterilisation bestimmter Gruppen oder Euthanasiemaßnahmen für „wertloses Leben“ drängte. Ungeachtet dieser Entwicklungen, die im Rassen- und Vernichtungswahn der Nationalsozialisten endeten, erlebte die Humankapitaltheorie Mitte des letzten Jahr-

nal vergleichenden Studien zum Bildungserfolg – Stichwort „Pisa“ – als Hinweis auf massive Probleme bei der nationalen Humanvermögensbildung verstehen. Im Jahr 2002 veröffentlichte dazu die von der Deutschen Bank gegründete Alfred-Herrhausen-Gesellschaft eine bemerkenswerte Studie. Unter dem Titel Wie viel Bildung brauchen wir? Humankapital in Deutschland und seine Erträge wurde errechnet, dass das Humankapital hierzulande – Stand 2002 – bei 230.000 Euro pro Person liegt. Womit immerhin der „Durchschnittsbürger mehr Humankapital besitzt als andere Vermögensgegenstände“. Die Durchschnittssumme ergab sich aus den Beträgen, die – von den Eltern, dem Staat und jedem selbst – in Bildung investiert werden, wobei die „ersten 20 Jahre des Lebens der Akkumulation von Humankapital dienen“. Ein Hochschulstudium lohnt sich der Studie zufolge nur bedingt. Wer sich zum Beispiel für Germanistik oder Anglistik entscheidet, bereitet der Volkswirtschaft ein Renditeminus von 6,76 Prozent, wohingegen bei einem Betriebswirtschaftler ein Plus von 4,51 Prozent ermittelt wurde. Schlussfolgerung: „ein studium, dessen ertragsaussichten die investition nicht rechtfertigen, unterbleibt besser.“

Der Durchschnittsbürger besitzt

mehr Humankapital als

andere Vermögensgegenstände.

hunderts vor allem in den USA eine Art Renaissance, die in erster Linie von den Wirtschaftswissenschaftlern und späteren Nobelpreisträgern Gary Becker und Theodore William Schultz geprägt war. Sie legten die Grundlagen der modernen gesamtwirtschaftlichen Humankapitaltheorie, wobei sie gerade die Bedeutung von Bildung und Wissen für das langfristige Wachstum einer Volkswirtschaft und die Notwendigkeit entsprechender Investitionen durchaus auch aus entwicklungspolitischer Perspektive (Schultz) betonten. In diesem Zusammenhang lässt sich das vergleichsweise schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei internatio-

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Der „Wert eines statistischen Lebens“ Der große Gegenentwurf zum Humankapital- oder auch Produktivitätsansatz ist der sogenannte Wert eines statistischen Lebens (WSL). Die Methode wurde in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts in den USA entwickelt. Grundsätzlich geht es darum, was ein Mensch zu zahlen bereit ist, um sein Leben zu erhalten. Zur Veranschaulichung des Grundgedankens ein einfaches Beispiel: In einem Fußballstadion sind 10.000 Menschen versammelt. Sie erfahren, dass einer von ihnen ausgelost wird, der dann sterben soll. Jeder Ein-

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zelne wird gefragt, wie viel er zahlen würde, um dieses Risiko für sich auszuschließen. Da die Chance bei eins zu 10.000 liegt, ist die Zahlungsbereitschaft der Einzelnen noch überschaubar. Einige wenige wären erfahrungsgemäß bereit, sehr viel auszugeben, eine andere kleine Gruppe würde eher wenig zahlen. Angenommen, der Durchschnittswert der Zahlungsbereitschaft beträgt 500 Euro, dann wird diese Summe durch das Todesrisiko dividiert (500 Euro : 1/10.000) und das Ergebnis von fünf Millionen Euro ist dann der entsprechende WSL. In einem großen Teil der ökonomischen Literatur wird er als ein sinnvolles Instrument für Kosten-NutzenRechnungen im öffentlichen Finanzwesen beschrieben. Das US Office of Management and Budget empfiehlt beispielsweise allen Regierungsbehörden den WSL bei Entscheidungen zu nutzen, die Einfluss auf die Gesundheit beziehungsweise das Sterberisiko der Bevölkerung haben. Allerdings legen die verschiedenen Behörden ihren Berechnungen unterschiedliche Werte aus unterschiedlichen Erhebungen zugrunde, wobei die Ergebnisse zwischen 5,8 und 7,4 Millionen Dollar schwanken. Zur Veranschaulichung: Wenn mit einem WSL von sechs Millionen Dollar kalkuliert wird, würde das eine entsprechend hohe Investition in eine Ampel rechtfertigen, wenn sich dadurch mit statistischer Wahrscheinlichkeit ein Menschenleben retten ließe. die installation einer ampel für sieben millionen euro würde sich dementsprechend nicht „lohnen“. Für einen internationalen Vergleich veröffentlichte der „Papst“ der internationalen WSL-Szene, Professor Kip Viscusi von der Vanderbilt University in Nashville, 2008 folgende Zahlen zum statistischen Wert des Lebens in verschiedenen Ländern:

Japan: 9,7 Millionen Dollar USA: 7 Millionen Dollar (ein Mittelwert aus 30 Studien) Schweiz: 6,3 bis 8,6 Millionen Dollar Österreich: 3,9 bis 6,5 Millionen Dollar Indien: 1,2 bis 1,5 Millionen Dollar

Die unterschiedlichen Werte werden mit unterschiedlichen Anwendungen der Methode, kulturellen Differenzen, vor allem aber auch abweichender wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit erklärt. Die jeweils aktuellste für Deutschland ermittelte Zahl veränderte sich während meiner etwa zwölfmonatigen Recherche gleich dreimal: Von etwa 1,65 Millionen ging es rauf auf 3,5 Millionen und wieder runter auf aktuell knapp zwei Millionen Euro. So wurde es zumindest 2009 von Hannes Spengler und Sandra Schaffner ermittelt.

15 Bangladescher = ich Nicht zuletzt deswegen ist der WSL-Ansatz inklusive seiner Weiterentwicklungen umstritten und selbst nach Aussage seiner Befürworter alles andere als ausgreift. Schließlich scheint es höchst fragwürdig, die Zahlungsbereitschaft für eine Risikoreduktion mittels einer einfachen Rechnung zum „Wert eines statistischen Lebens“ zu stilisieren. Als Ergebnis aber bleibt: Wer weniger hat, kann weniger geben. nach der logik des wsl hat ein leben in einem industriestaat somit einen höheren wert als in einem entwicklungsland. Dazu gab es 1995 in einem Bericht des Weltklimarats (IPCC), bei dem es auch um die „ökonomischen und sozialen Kosten des Klimawandels“ ging, eine Fußnote, die für Aufsehen sorgte. Es ging um die Bereitschaft, klimabedingte Umweltschäden durch monetäre Investitionen zu vermeiden. Die lag nach einer entsprechenden Untersuchung in den westlichen Industrieländern im Schnitt 15-mal so hoch wie etwa in dem Entwicklungsland Bangladesch. Der vielfach ausgezeichnete Umweltökonom David Pearce vom University College London zog daraus den Schluss, ein Menschenleben in den westlichen Industrieländern entspreche dem Leben von 15 Bangladeschern. Was sich monetär bewerten lässt, kann miteinander verglichen, gegeneinander aufgerechnet und auch aus-

agora42 • Jörn Klare • WAS BIN ICH WERT?

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B i rger P. Pr idd at

DA S V E R T E ILT E

IC H

Ne u e A k te ure in der Ökonomie

das individuum, wie es bislang den ökonomischen modellen zugrunde gelegt wurde, ist tot. die ökonomie muss ihr menschenbild und damit auch ihr verständnis dessen, was der „markt“ ist, vollständig verändern. I l l u s t ra t i o n e n : Joh a n n e s S ch e b l e r

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agora42 • Birger P. Priddat • DAS VERTEILTE ICH


Waren die wirtschaftlichen Konzeptionen früher daran orientiert, dass Menschen in Familien, Ständen, Zünften sozial gebunden sind, so änderte sich dies im 18. Jahrhundert: Adam Smith sprach jedem einzelnen Menschen die natürliche Neigung zu, sich einen Vorteil zu verschaffen. Demnach basiert das ökonomische System auf der Befriedigung der eigenen Ansprüche. Der Markt wird zu einer eigenen Ordnung der Wirtschaftsbeziehungen, in der sich über den Wettbewerb alle übertriebenen Ansprüche wechselseitig ausbalancieren. Deshalb konnte Smith den freien Markt auch als moralische Institution ausweisen, denn jede egoistische Selbstsucht wird durch die anderen, die auch ihre Vorteile suchen, auf ein Normalmaß reduziert. Seither fußen die ökonomischen Grundannahmen auf rational handelnden Individuen. Die Rationalität, die den Akteuren zugeschrieben wird, besteht allerdings weniger in ihrer individuellen Kompetenz, als vielmehr in der Veranlagung, bei Austauschgeschäften für sich das beste Ergebnis zu erreichen – und das in gegenseitiger Übereinkunft (Transaktionen beruhen auf Verträgen, und Verträge wiederum beruhen auf Kongruenz und Konsens). Es geht nicht um das Beste, was das Individuum will, sondern um das Beste, was unter Wettbewerbsbedingungen erlangt werden kann. In diesem Sinne ist die Neigung, den eigenen Nutzen zu maximieren, begrenzt auf das, was der Markt hergibt. Letztlich sind also nicht die Individuen rational, sondern sie folgen der Rationalität des Systems, das fortlaufend neue Bedingungen setzt. Dennoch werden in den Gleichgewichtsmodellen, mit denen die moderne Ökonomie größtenteils operiert, jedem einzelnen Individuum rationale Entscheidungsmöglichkeiten zugesprochen. Nun hat aber in den letzten 20 Jahren die ökonomische Verhaltensforschung so viele Anomalien, Abweichungen und Irrationalitäten nachweisen können, dass sich dies nicht mehr mit der Annahme von rational entscheidenden Individuen deckt. Nur ein Beispiel: Wirtschaftswissenschaftler wie Ernst Fehr, Armin Falk oder Axel

Gleichgewichtsmodelle: Gleichgewicht bedeutet hier, dass das Angebot an Gütern und Dienstleistungen der Nachfrage entspricht. In den neoklassischen Wirtschaftsmodellen wird davon ausgegangen, dass sich die Wirtschaft in einem ständigen Gleichgewicht befindet beziehungsweise sich immer wieder auf ein Gleichgewicht einpendelt. Die „Rückkehr“ zum Gleichgewicht findet dadurch statt, dass Preise gesenkt beziehungsweise angehoben werden. Dabei geht man erstens davon aus, dass der Mensch nur an seiner Nutzenmaximierung interessiert ist, und zweitens, dass sich dieser Nutzen durch Preise „rational“ fassen lässt.

Ockenfels experimentieren schon seit Längerem an Fairness-Themen. es gilt inzwischen als gesichert, dass individuen unfaires verhalten nicht billigen. Fühlen sie sich übervorteilt, verzichten sie lieber auf die Optimierung des eigenen Nutzens, um die Unfairen zu bestrafen. Die individuelle Nutzenmaximierung wird demnach von anderen Verhaltensweisen begleitet, die wir als Normen (social norms: Kenneth G. Binmore), Regeln oder „informelle Institutionen“ (Douglas C. North, Oliver E. Williamson) bezeichnen können. Falk und Ockenfels sprechen davon, dass der Homo oeconomicus durch einen Homo reciprocans ersetzt worden sei. Homo oeconomicus: In Abwandlung von Homo sapiens (von lateinisch homo = Mensch und sapiens = weise) bezeichnet Homo oeconomicus (Wirtschaftsmensch) in der Wirtschaftstheorie das Modell eines ausschließlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten denkenden und handelnden Menschen. Der Homo oeconomicus handelt rational, ist auf die Maximierung des eigenen Nutzens bedacht und vollständig über das Marktgeschehen informiert. Der Homo reciprocans (von lateinisch reciprocus = aufeinander bezüglich, wechselseitig) bildet den Gegenpol zum Homo oeconomicus. Der Homo reciprocans zieht bei seinen Entscheidungen das Verhalten anderer Akteure in Betracht, beispielsweise indem er, unabhängig von seinem persönlichen Nutzen, faires Verhalten belohnt und unfaires Verhalten bestraft.

Ich ist viele Wenn die Individuen aber nicht nur individuell rational handeln, sondern zugleich auch Normen und Regeln folgen, werden in einer Handlung zwei unterschiedlich motivierte Verhaltensweisen offenbar: Regeln zu folgen ist ein völlig anderes Verhalten als individuelle Nutzen-

agora42 • Birger P. Priddat • DAS VERTEILTE ICH

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M A R K TPL ATZ WA S M AC H T E I N E N M E N S C H E N Z U E T WA S B E S ON DE R E M – WA S M AC H T I H N I N DI V I D U E L L ?

»

W I E E R S IC H U N T E R A NDE R E N M E N S C HE N B E W E G T. E R K A N N M I T DE R M A S S E M I T S C HW I M M E N , O DE R E R K A N N AU S DE R M A S S E H E R AU S S T E C H E N . U N D L E T Z T E R E S S OL LT E E IG E N TL IC H J E DE R V E R S UC HE N – IM PO SI T I V E N SINNE , DA S H E I S S T N IC H T D U R C H „ E L LB O G E N R AU S “. Rentner, ehemals Kaufmann im Marketing und Vertrieb, 74

E I N E N M E N S C H E N M AC H T I N DI V I D U E L L , W I E E R DE N S I N N S E I N E S L E B E N S DE F I N I E RT

DIE E R FA H RU N G , DI E J E DE R ME N S C H M AC H T.

Office-Managerin, 36

J E DE R M E N S C H I S T PRO D U K T S E I N E S U M F E L D S – N E B E N DE N G E N E N , DI E E R MI TBEKOMME N HAT. DA S UMF ELD, DIE E R Z I E H U N G , PE R S ON E N U N D E N T S PR E C HE N D U N T E R S C H I E D L IC H E E R FA H RU N G E N FÄ RBE N DIE PE R S ÖNL IC HE SPR AC HE UND N E H M E N E I N F L U S S AU F DA S E IG E N E L EB E N . Unternehmensberater, 30

U N D W I E E R V E R S U C H T, DIE S E N S I N N I M E IG E N E N L E BE N UMZUSE T ZE N .

Physiotherapeut, 53

DE R M E N S C H DE F I N I E RT S IC H VOR A L L E N DIN G E N Ü B E R S EI N E N C O M PU T E R .

Hochschulprofessor, 40

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DI E I N N E R E EINSTELLUNG U N D DA S E IG E N E DE NK E N.

agora42 • Marktplatz

Schüler, 17


IC H H A BE E IN PA A R SK UR R I-

DE R M U T. U N D Z WA R DE R M U T, S IC H T RO T Z O DE R V I E L L E IC H T G E R A DE W E G E N S E I N E R

L I TÄT E N; DIE , S O HOFF E IC H,

PR ÄG U N G E N A B Z U H E B E N U N D F Ü R S E I N E Ü B E R Z E U G U N G E N E I N Z U S T E H E N . DE R W I L L E , IC H S E L B S T Z U S E I N .

Assistentin, 36

H A B E IC H E X K L U S I V.

Pensionär, ehemals Ausbildungsleiter, 65

S E I N E M AC K E N.

W E N N E R S IC H S E L B S T

Kassiererin, 39

R E F L E K T IE R E N K A N N U N D

DI E S AC HE N , G E G E N DI E E R

S E L B S T H I N T E R F R AG E N , A L S O AUC H E IG E N E F E H L E R SEHEN UND EINGESTEHEN KANN.

Schüler, 18

S IC H AU F L E H N T O DE R DI E E R ABL EHN T.

Studentin, 23

DI E AU G E N U N D DA S L AC H E N.

Redakteurin, 27

DI E Z I E L E , F Ü R DI E E R S T E R B E N W Ü R DE .

Betriebswirt, 27

FÜR MIC H I S T INDI VIDUA L I TÄT K R E AT I VI TÄT, W E IL SIE DE R AU SDRUCK DE S E I N Z E L N E N I S T, S IC H T B A R G E M AC H T D U R C H ME T HODE N UND M AT E R I A L IE N. UND IN DIE SE R H I N S IC H T I S T J E DE R M E N S C H E I N KÜN S TL E R . Stiftungsmitarbeiterin, 38

IC H A N T WORT E M A L M I T E I N E R V E R N E I N U N G : M A S S E N MODE M AC HT K E INE N ME N S C H E N I N DI V I D U E L L .

Ehemaliger Zivildienstleistender, wartend auf einen Studienplatz in „Philosophy and Economics“, 20

DA S S E R S IC H N IC H T A L S

S E I N E A RT, S E I N G L Ü C K Z U FINDE N.

Studentin der Agrarwissenschaften, 22

S E I N V E R S TA N D.

M E N S C H E N B E Z E IC H N E T.

Philosoph, 39

DE R NA M E .

«

Volkswirt, 33

DA S S E R E T WA S H AT, WA S DI E A NDE R E N NIC HT HABE N. Selbstständiger, 46

agora42 • Marktplatz

Sicherheitsmitarbeiter, 41

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WA S M AC HT E I N E N M E N S C HE N ZU E T WA S B E S ON DE R E M – WA S M AC HT IHN I N DI V I D U E L L?

K Ü N S T L E R S I N D E X PE RT E N F Ü R I N DI V I D UA L I TÄT. W I E DE F I N I E R E N DI E I L L U S T R AT OR E N DE R VOR L I E G E N DE N AU S G A B E „ I N DI V I D UA L I TÄT “ ? Johannes Schebler, 24, Illustrator & Designer www.johannesschebler.de

Wenn er den Weißraum wirken lässt.

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Marianka Krause, 19, Praktikantin marianka@dumboandgerald.com

Das Erste, das ich mit Besonderheit und Individualität assoziiere, ist Andersartigkeit. Sich von anderen unterscheiden. Aber unterscheidet sich nicht jeder von den anderen? Dementsprechend müssten alle besonders sein. Oder eben gerade das Gegenteil: Niemand ist besonders, denn wenn alle ungleich sind, ist das nichts Besonderes mehr. Irgendwie paradox … Dazu ein Zitat aus Monty Python‘s Life of Brian. Brian: „Ihr seid doch alle Individuen.“ Menge: „Ja! Wir sind alle Individuen!“ Brian: „Und ihr seid alle völlig verschieden!“ Menge: „Ja! Wir sind alle völlig verschieden!“ Dennis: „Ich nicht!“


Juliane Tag, 27, Grafik-Designerin, www.Guckkasten.net

Daniela Scheil, 32, Dipl. Designer Mode www.dumboandgerald.com

Christoph Kaplan, 27, Student am Diplom www.christophkaplan.de

Besonders ist ein Mensch nicht nur, wenn er etwas Besonderes tut, sondern vielleicht auch dann, wenn er es gerade nicht tut. Wenn er nicht den Ehrgeiz hat, jedem gefallen zu müssen, sondern mit sich selbst zufrieden ist und lieber das tut, was gut für ihn ist.

Der Charakter und die innere Einstellung eines Menschen machen ihn besonders und individuell. Das Schwierige daran ist jedoch, beide zu ergründen und die eigenen Besonderheiten beziehungsweise Unterschiede auch zu akzeptieren. Gelingt einem dies, hat man vermutlich eine/n gute/n Freund/in gewonnen.

Niemand ist besonders. Alle sind individuell. Menschen haben verschiedene Voraussetzungen, Erfahrungen, Stärken und Schwächen. Dadurch unterscheidet sich jeder teilweise vom anderen, ist somit individuell. Nur hat nicht jeder den Mut, all seine Eigenheiten zu zeigen – aus Angst vor Nichtakzeptanz, Zweckmäßigkeit oder anderen Gründen. Zu viel Individualität kann aber auch nicht gut sein. Die Mischung macht‘s. Wenn alle total individuell sind und nur einer sich anpasst, ist er dann nicht individueller? Kein Plan.

Es gibt Leute, die auf den ersten Blick so unscheinbar sind, aber das Herz auf dem rechten Fleck tragen. Wenn sie einen dies Stück für Stück entdecken lassen, werden sie zu etwas Besonderem.

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MAN MUSS AN DIE KÖPFE R AN I n te r v i e w m i t Ha n n a Po d d i g

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Personen • Interview mit Hanna Poddig • MAN MUSS AN DIE KÖPFE RAN


Frau Poddig, in Anbetracht von Klimakatastrophe, unfassbarer Staatsverschuldung, zunehmenden sozialen Spannungen, des Niedergangs des gesamten Euroraums, des Wiederaufflammens zwischenstaatlicher Konflikte deutet alles darauf hin, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern. Warum soll man sich da noch engagieren? Kämpfe sind nicht falsch, nur weil die Ziele momentan unrealistisch erscheinen. Im Gegenteil, gerade in solchen Zeiten ist es wichtig, dass man nicht resigniert. Außerdem bieten Phasen, wo sich viel tut, wo das herrschende System an Legitimität verliert – und das passiert ja zurzeit –, Potenzial für Veränderung. Wann, wenn nicht jetzt, kann man radikale Forderungen in den Raum stellen? Wann, wenn nicht jetzt, kann man sagen, dass dieses System, das auf Wachstums- und Konkurrenzlogik sowie Ausbeutung von anderen Ländern basiert, totaler Bullshit ist? Gerade jetzt muss man sich engagieren. Deswegen werde ich auch so wütend, wenn Leute den „Green New Deal“ proklamieren. Das ist ein fauler Kompromiss, der wirkliche Veränderungen verhindert. Auf der einen Seite will man da ganz ökologisch sein, auf der anderen aber auf Wachstum und Kapitalismus nicht verzichten. Das sind für mich Ökokapitalisten, und das hat nichts mit wirklichem Engagement zu tun. Oder wenn manche sagen: „Die Klimakatastrophe, die ist so akut, da müssen wir sofort etwas ändern; aber bitte systemimmanent, weil eine Revolution viel zu aufwendig wäre und wir die Zeit dafür nicht haben.“ Das ist Blödsinn. Wir brauchen eine Revolution, denn durch systemimmanentes Vorgehen wird es nur schlimmer. In Bezug auf die Französische Revolution wird von den meisten die erste Phase noch gutgeheißen. Aber mit dem Terreur ab 1794 ist kaum einer einverstanden. So nach dem Motto: „Die erste Phase hätten wir gerne, die zweite nicht.“ Würden Sie sich auch für eine Revolution aussprechen, wenn notwendigerweise die zweite Phase damit verbunden wäre? Ich will nicht orakeln. Ich kann nicht vorhersehen, wie ein solcher Wandel konkret aussehen würde. Aber dass ein so grundlegender Wandel der Gesellschaftsorganisation auf massiven Widerstand vonseiten des Staates stoßen würde, halte ich für wahrscheinlich. So muss man sich die Frage stellen, wie man agieren muss, um diesen Wandel herbeizuführen. Vielleicht ist auch die Vorstellung von Revolution im Sinne von „Massen gehen auf die Straße“ überholt. Wenn man bedenkt, dass ja auch Kriege heute anders aussehen als vor 200 Jahren, dann kann doch auch Widerstand anders aussehen als vor 200 Jahren – oder auch noch vor 30 Jahren. Und warum sollte nicht auch eine Revolution heute anders ablaufen als früher?

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Vielleicht würde Revolution heute bedeuten, dass sich Menschen einfach nicht mehr regieren lassen. Würde man zum Beispiel das Gewaltmonopol des Staates infrage stellen, dann kann ich mir schon vorstellen, dass sich die Strukturen aufbrechen lassen. Und dafür braucht es dann auch keine Massen auf der Straße. Wenn staatliche Macht einfach ignoriert würde, dann wäre der Staat schließlich handlungsunfähig. Die Gewaltenverteilung ist in den Köpfen verankert. Das würde dagegen sprechen, die direkte Konfrontation beispielsweise mit der Polizei zu suchen. Eine Vorgehensweise, die in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem der linksradikalen Szene zugeschrieben wird. Gibt man staatlicher Macht dadurch nicht automatisch einen gewissen Status, vergleichbar mit dem Vater, dem man gerade dadurch eine wichtige Rolle zubilligt, dass man sich gegen ihn auflehnt? Das ist auch einer der Gründe, weshalb ich solche Probleme habe, mich in Begriffen wie „linksradikal“ wiederzufinden. Was ich mache, ist nicht klassisch links. Ich versuche strategisch zu agieren. Linke Identität hat viel mit gemeinsamem Auftreten, gemeinsamen Codes, interner Grammatik zu tun, und darauf stehe ich nicht. Diese Einstellung „Wir sind cool, weil wir links sind“ finde ich doof. Viele „Linke“ bewegen sich da in einer Scheinwelt, agieren aus einer Nische heraus und erreichen dadurch niemanden außer sich selbst. Zum anderen wird das eigene Handeln auch kaum reflektiert. Da passiert immer das Gleiche. In einer Stadt wie Berlin ist eine autonome Demonstration in den meisten Fällen überflüssig. Natürlich gibt es Momente, in denen eine spontane Demonstration sinnvoll ist. Zum Beispiel gab es als Reaktion auf einige Hausdurchsuchungen nach dem G-8-Gipfel eine nicht angemeldete, spontane Demonstration mit einigen Tausend Menschen in Berlin. Das war schon beeindruckend. Aber die meisten angemeldeten „200 Leute im schwarzen Block laufen durch die Stadt“-Demos halte ich, strategisch gesehen, für vergeudete Energie. Ist das ein Grund, weshalb Sie lieber „einzelaktivistisch“ vorgehen? Neben linksautonomen Gruppen gibt es doch auch noch andere Verbände, Vereine oder Parteien. Es ist nicht so, dass ich immer nur allein agiere. Natürlich kooperiere ich mit anderen. Aber ich habe keine Lust, in Zwangskollektiven zu arbeiten. Ich habe keine Lust, so zu tun, als würde ein gemeinsamer Name, ein gemeinsames Label bereits dazu führen, dass ich mit anderen übereinstimme. Ich

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möchte Positionen ausdiskutieren, statt sie über ein Parteibuch vorgegeben zu bekommen. Es geht in dem, was ich tue, um Emanzipation, um Selbstorganisation. Ich möchte Leute befähigen, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Ich glaube, dass das in vielen Vereinen und Verbänden untergeht, weil irgendwelche Festangestellten vorgeben, was zu passieren hat. Die sitzen im Büro, erarbeiten einen Kampagnenplan, und dann suchen sie sich Statisten für das Bild, das sie sich vorher ausgedacht haben. Das passt mir nicht. Trotzdem können Verbände eine gute „Einstiegsdroge“ sein. Ich war lange Zeit in Verbänden und Vereinen aktiv – zum Beispiel bei „Robin Wood“ und

»Man erreicht viel mehr, wenn man viele kleine Nadelstiche setzt.«

bei „.ausgestrahlt“. Irgendwann habe ich jedoch gemerkt, dass ich die Dinge zum Teil besser kann und Vereine für mich überflüssig sind. Zum Beispiel haben viele Vereine feste Pressesprecher, die Pressemitteilungen quasi am Fließband produzieren. Wenn ich selbst Pressearbeit mache, funktioniert das besser. Es ist auch authentischer. Erzielt man durch das Vorgehen im Verband aber nicht eine größere Durchschlagskraft? Kämpft man als Individuum nicht gegen Windmühlen? Man erreicht viel mehr, wenn man viele kleine Nadelstiche setzt. Die Proteste gegen den Castor-Transport sind dafür ein gutes Beispiel. Da gibt es nicht eine große Aktion, sondern ein Streckenkonzept. Das heißt, es werden möglichst viele kleine, unberechenbare Aktionen an der gesamten CastorTransportstrecke durchgeführt, vor allem aber am letzten Stück zwischen Lüneburg und Gorleben. Der Widerstand ist deswegen so stark, weil er unberechenbar ist. Und diese Unberechenbarkeit gebe ich auf, wenn ich in einem großen Kollektiv arbeite. Wenn ich große Aktionen durchführe, dann finden diese an einem bestimmten Ort statt – die Polizei weiß, wo ich bin, die Medien wissen, wo ich bin. Es kann nichts wirklich Überraschendes passieren, ich bin planbar. Aber ich will nicht planbar sein. Wenn hingegen alle hundert Meter eine autonome Kleingruppe agiert – die einen machen die

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Schienen kaputt, die Nächsten ketten sich an, wieder andere machen eine Sitzblockade, und kurz darauf fehlt ein Stück Schiene –, dann wird aus dem Protest echter Widerstand. Dann stört es wirklich. Die Proteste gegen den Castor-Transport gibt es nun schon seit einigen Jahren – gerade werden aber sogar wieder längere Laufzeiten von Atomkraftwerken diskutiert. Sind bestimmte Ziele, wie zum Beispiel der Atomausstieg, nur gewaltsam zu erreichen? Müssten Sie radikaler sein? Ich finde die Debatte über Gewalt nicht besonders wichtig. Ich orientiere mich bei meinen Aktionsformen an dem, was mich umgibt. Wenn innerhalb des Rahmens nichts mehr bewirkt werden kann, muss dieser überschritten werden. Ein klassisches Beispiel für eine Rahmenüberschreitung ist die Ohrfeige von Beate Klarsfeld für den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger: Da recherchiert Klarsfeld akribisch die Vergangenheit Kiesingers, zeigt dessen Verstrickungen in den Nationalsozialismus auf, und trotzdem interessiert es die Öffentlichkeit so gut wie gar nicht. Dann denkt sie sich: „Es reicht nicht aus, einfach nur diese Informationen zu streuen – der kriegt jetzt eine Ohrfeige.“ Und plötzlich funktioniert es, Kiesingers Vergangenheit wird in der Öffentlichkeit diskutiert. Das ist so ein klassischer Moment von „Normalität brechen“. Es ist Gewalt, es ist eine Grenzüberschreitung – auf jeden Fall –, aber sie ist strategisch richtig eingesetzt. Das ist so ein Moment, in dem ich Gewalt auf jeden Fall befürworten würde, weil diese Ohrfeige im Rahmen des Machbaren das mildeste effektivste Mittel dargestellt hat. Ich bin sicherlich kein Fan von Prügeleien mit Polizisten, aber würde das auch nicht kategorisch ablehnen. Warum sollte ich mir etwas kategorisch verbieten, das ich vielleicht irgendwann noch benötige? Verhältnisse ändern sich. „Radikal“ bedeutet für mich, nicht die Symptome zu bekämpfen, sondern an die Ursachen heranzukommen. Es bedeutet auch, mir zu überlegen, wie es anders gehen könnte und wie ich in meinem Alltag schon vorleben kann, dass es anders geht. Sie schreiben „Ich bin ich“. Ist das Ich für Sie eine feste, verlässliche, unhinterfragbare Ausgangsgröße? Ganz so klar ist es nicht. Ich glaube aber, dass ich genug weiß, um einen Standpunkt zu beziehen. Wenn man sich seiner selbst nicht sicher ist, dann ist es auch schwierig, politisch zu agieren. Dann lässt man sich dazu verleiten, einmal die eine Richtung zu vertreten und beim nächsten Mal die andere. Das heißt aber nicht, dass ich mir nicht mal eingestehen kann: „Hey, vielleicht

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»Wenn man sich seiner selbst nicht sicher ist, dann ist es auch schwierig, politisch zu agieren.«

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