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Madagaskar: Handy mit Gesundheits spardose

Handy mit Gesundheits spardose

Die medizinische Versorgung in Madagaskar ist schlecht – auf mehreren Ebenen. Längst nicht alle können sich Behandlungen leisten. Eine Software soll das ändern. Von Heike Haarhoff

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Wenn verunreinigtes Wasser und Mangelernährung zu Seuchen und lebensbedrohlichen Krankheiten führen, wenn ein simpler Beinbruch zum Risiko wird für eine bleibende körperliche Behinderung, dann gibt es »handfeste Probleme im Gesundheitssystem«, sagt der Arzt Julius Emmrich von der Berliner Charité. Das gilt zweifellos für Madagaskar, den zweitgrößten Inselstaat der Welt und eines der ärmsten Länder Afrikas.

Auf 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner kamen im Jahr 2014 etwa zwei Ärztinnen und Ärzte. Zum Vergleich: In Deutschland waren es im selben Jahr etwa 20 Mal so viele. Die Fruchtbarkeitsrate liegt bei vier Kindern pro Frau, entsprechend jung ist die Bevölkerung. Und die Lebenserwartung ist mit durchschnittlich 67,5 Jahren weit geringer als in westlichen Industrienationen. »Die medizinische Versorgung im Lande ist mit Europa nicht zu vergleichen und ist vielfach personell, technisch, apparativ und hygienisch hoch problematisch«, schreibt das Auswärtige Amt.

Dass nur zehn Prozent der madagassischen Bevölkerung krankenversichert sei, kommt erschwerend hinzu. »Wem es gelingt, trotz der widrigen Bedingungen einen Arzt zu finden, der kann sich häufig dennoch nicht behandeln lassen«, sagt Julius Emmrich. Vielen fehlen finanzielle Rücklagen. Das Geld, das etwa Bäuerinnen und Bauern in den entlegenen Regionen verdienen, reicht oft nicht für die alltäglichen Besorgungen. Manche Familien nehmen ihre Kinder aus der Schule, um von den eingesparten Schulgebühren die Geburtshilfe für das nächste Baby zu finanzieren. Es ist ein Teufelskreis. Doch Emmrich weigert sich, »in herausfordernden Situationen einzig die Defizite wahrzunehmen«. Er befasst sich seit Jahren mit der Entwicklung und dem Einsatz digitaler Methoden in der Entwicklungszusammenarbeit. Gemeinsam mit seinem Kollegen Samuel Knauss hat er eine Lösung entwickelt.

Boomender »mobile money«-Markt

Vor einigen Jahren, als er mit Knauss durch das Land reiste, fiel den beiden Medizinern auf, wie allgegenwärtig Handys im Alltag der Madagassen sind: Vor allem der »mobile money«-Markt boomt bei Jungen wie Alten, ganz unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status. Vielerorts sind Telefongesellschaften auf dem besten Weg, die Banken als Zahlungsdienstleister abzulösen. »Kein Wunder«, sagt Samuel Knauss, »die Bevölkerung ist extrem jung, das Durchschnittsalter liegt bei nicht einmal 20 Jahren.« Und der Einstieg in das Bezahlgeschäft via Handy ist sehr viel einfacher als bei traditionellen Bankgeschäften. In einem Land, in dem jeder Dritte weder lesen noch schreiben kann, ist das ein wichtiges Argument.

Knauss, der bereits während seines Studiums in Berlin und an der Harvard Medical School ein Digital Health-Startup gründete, erkannte das Potenzial hinter der Mobilfunknutzung selbst in entlegenen Gebieten der Insel und hatte die Idee, sowohl das Ansparen als auch das Bezahlen von Gesundheitsdienstleistungen über das Handy abzuwickeln. Die beiden Mediziner nannten ihre mobile Gesundheitsspardose »mTOMADY«, das madagassische Wort heißt so viel wie »stark« oder »gesund«. Damit können Nutzerinnen und Nutzer zweckgebunden Geld ansparen, das sie später ausschließlich für Arztbesuche, Klinikaufenthalte und Medikamente ausgeben dürfen. »Die Vorteile liegen auf der Hand«, sagt Julius Emmrich: Anders als ein herkömmlicher Sparstrumpf sei die mobile Spardose nicht zu knacken.

Zugleich sei die Plattform auch ohne Internet und über jedes noch so alte Handy nutzbar. Wie das funktioniert? »Überall im Land verkaufen Händler an sogenannten cash points Rubbelkarten«, sagt Knauss. »Man rubbelt den Code frei, gibt ihn ein und schickt das eingezahlte Geld direkt auf sein Gesundheitskonto.«

Bessere Transparenz

Seit dem Start von mTOMADY im Oktober 2019 haben sich mehr als 100.000 Menschen auf der Plattform registriert – und jede Woche kommen etwa 1.000 weitere dazu. Die Software wird auch von Krankenversicherungen und internationalen Hilfs- und Spendenorganisationen genutzt, um Beiträge elektronisch einzuziehen. Angeschlossene Ärzte und Ärztinnen sowie Gesundheitszentren können ihre Behandlungskosten direkt über die Plattform abrechnen. »Das trägt natürlich auch zu einer besseren Transparenz bei«, sagt Samuel Knauss. Wer Wucherpreise für eine Therapie verlangt, ist vergleichsweise leicht zu identifizieren, denn jede Behandlung, die über mTOMADY abgerechnet wird, ist nachvollziehbar, versichern die Mediziner. Auch Geld internationaler Organisationen, das für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung Madagaskars vorgesehen ist, würde seltener verschwinden oder zweckentfremdet.

Die Plattform wird von mehreren deutschen Institutionen gefördert. Sie will jedoch mehr sein als ein klassisches Entwicklungshilfeprojekt. »Uns geht es vor allem um die Augenhöhe mit unserem Team vor Ort«, sagt Julius Emmrich. Mehrere Ökonom_innen, Softwareentwickler_innen, Ärzte und Ärztinnen sowie Datenwissenschaftler_innen arbeiten in der madagassischen Hauptstadt Antananarivo an der Plattform. »Jeden Morgen um 9 Uhr haben wir eine virtuelle Teambesprechung mit diesen Kolleginnen und Kollegen vor Ort.«

Entsprechend hoch ist die Akzeptanz: Mehr als 30 Krankenhäuser nutzen mTOMADY bereits; das Gesundheitsministerium will die Plattform demnächst in das nationale Gesundheitssystem integrieren. Wenn das geschafft ist, wollen Emmrich und Knauss versuchen, ihr Modell auch in anderen afrikanischen Ländern einzuführen – etwa in Ghana. Aber auch in Madagaskar bleibt noch genug zu tun: Selbst das beste Gesundheitssparbuch kann fehlendes medizinisches und pflegerisches Personal, schwierige hygienische Verhältnisse und andere Probleme nicht wettmachen.

DROHENDE HUNGERSNOT

Mehr als eine Million Menschen sind in Madagaskar nach Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) derzeit von einer Hungersnot bedroht. Grund dafür ist eine verheerende Dürre im Süden des Landes. Seit drei Jahren hat es kaum geregnet. Sand stürme machen viele Felder unfruchtbar. Kinder sind laut WFP am stärksten von der Krise betroffen. Viele hätten die Schule abgebrochen und würden stattdessen um Essen betteln. Der Großteil der Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft. Wirtschaftliche Einbrüche durch die CoronaPandemie verschärfen die Situation im Land.

»Japan hat einen langen Weg vor sich«

Als Vorsitzender einer Nichtregierungsorganisation setzt sich Toshihiko Tanaka für Arbeitsmigrant_innen in Japan ein. Menschen aus dem Ausland werden nicht nur zu den Olympischen Spielen dringend gebraucht. Von Felix Lill

Wird sein Job demnächst stressiger? Toshihiko Tanaka überlegt einen Moment. »Ich befürchte, nicht«, sagt der 40-Jährige. Denn die japanischen Einwanderungsbestimmungen sind trotz der Reformen in den vergangenen Jahren weiterhin restriktiv, und so bleibt es bei einer überschaubaren Anzahl von »Fällen«. »Außerdem sind wir nicht mehr die einzige Organisation, die sich dem Thema verpflichtet fühlt.«

Toshihiko Tanaka ist Vorsitzender der Nichtregierungsorganisation MPKEN aus Tokio, die Japan zu einem besseren Ort für Ausländer_innen machen will. »Wir ebnen denen, die zum Arbeiten nach Japan kommen wollen, den Weg ins Land«, so fasst Toshihiko Tanaka die Arbeit seines vor 15 Jahren gegründeten Vereins zusammen. Die 15 Mitarbeiter_innen von MPKEN beraten rund 6.000 Personen pro Jahr. Meist sind es junge Frauen und Männer, die in ihren Herkunftsländern wesentlich schlechtere Einkommensmöglichkeiten haben.

Der Industriestaat Japan müsste sich um sie reißen. Angesichts geringer Geburtenraten und steigender Lebenserwartung altert und schrumpft die japanische Bevölkerung seit Jahrzehnten. Allein im vergangenen Jahr sank die Einwohnerzahl um eine halbe Million Menschen und beträgt jetzt noch gut 126 Millionen. Weil die Arbeitsbevölkerung besonders schnell schrumpft, könnten weitere Lockerungen der strengen Einwanderungspolitik helfen. Kaum zwei Prozent der Bevölkerung haben einen ausländischen Pass. Doch bisher haben verschiedene Regierungen eine allzu deutliche Öffnung des Landes vermieden. »Vor allem Betriebe in ländlichen Regionen suchen dringend nach Arbeitskräften«, sagt Toshihiko Tanaka, der zuvor als Marktforscher und Lehrer gearbeitet hat und vor zehn Jahren bei MPKEN anfing. Vor fünf Jahren begann er damit, Unternehmen in ländlichen Regionen abzuklappern, die unter dem Arbeitskräftemangel besonders leiden. »Wir vermitteln jetzt an Hunderte Betriebe in Japan junge Menschen aus Vietnam, Malaysia, Indonesien oder den Philippinen.« Sie arbeiten auf dem Bau, im IT-Sektor, in der Pflege oder in Dienstleistungsjobs. Für diejenigen, die der japanischen Sprache noch nicht mächtig sind, wird ein Sprachkurs organisiert. Beratung gibt es auch für jene, die nebenher oder im Anschluss an japanischen Universitäten studieren wollen.

Diese Vermittlung hilft beiden Seiten nur dann, wenn sich alle an bestimmte Regeln halten. Immer wieder gibt es Fälle, in denen ausländische Arbeitskräfte mithilfe juristischer Tricks schlechter bezahlt und ausgenutzt werden.

Bei MPKEN beraten Mitarbeiter_innen in verschiedenen asiatischen Sprachen über die Rechte, die ausländische Arbeitskräfte haben. Besonders wichtig ist das bei einer möglichen Verlängerung des Arbeitsvisums, das meist nur für fünf Jahre gilt. Wer länger im Land bleibt, wird womöglich festgenommen und kommt in ein Auffanglager. Die Bedingungen dort sind mit einer liberalen Demokratie kaum vereinbar. In den vergangenen zwei Jahren starben zwei Menschen in diesen Lagern, einer von ihnen im Hungerstreik, weil er gegen seine Abschiebung protestierte. »Japan hat einen langen Weg vor sich«, sagt Toshihiko Tanaka, wenn es um eine gerechte Behandlung der Menschen geht, die nicht nur zu den Olympischen Spielen aus dem Ausland gekommen sind und die in Japan arbeiten wollen. Doch wird das gelingen? Toshihiko Tanaka überlegt wieder einen Moment. »Eine Änderung der Politik steht noch aus.«

Täter_innen keine Bühne bieten

In der Ausgabe 02/2021 des Amnesty Journals erschien eine Meldung über die Verurteilung des Täters des antisemitischen, rassistischen und mysogynen Attentats von Halle, in welcher dessen Name genannt wurde. Überlebende des Halle-Attentats und anderer Anschläge lehnen die Nennung der Täternamen jedoch vehement ab. Und das zurecht: Sie wollen nicht, dass dem Täter dadurch eine Plattform geboten wird, die mögliche Nachahmer_innen inspiriert und betonen außerdem, dass Attentäter_innen nicht als Einzeltäter_innen handeln.

Mit menschenfeindlichen Anschlägen treffen die Täter_innen nicht nur ihre Opfer häufig tödlich, sie zielen auch darauf ab, ganze Bevölkerungsgruppen in Angst und Schrecken zu versetzen. Umso wichtiger ist es, dass Politik und Medien den Blick darauf richten, wie diese gefährdeten Personengruppen geschützt und gestärkt werden können. Dies gilt insbesondere, da diese Täter_innen sich gegenseitig inspirieren und aufeinander Bezug nehmen.

Gleichzeitig ist die strafrechtliche Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen für Amnesty International zentral. Die Organisation setzt sich dafür ein, dass Straftäter_innen vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden. Schwere Menschenrechtsverbrechen können und sollen nach dem Weltrechtsprinzip weltweit verhandelt werden. Für diese Verbrechen sind immer wieder auch Staatsoberhäupter oder staatliche Mitarbeiter_innen verantwortlich, deren Namen schon wegen ihrer Funktion bereits im Blick der Öffentlichkeit stehen.

Auch die strafrechtliche Aufarbeitung von Hassverbrechen ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit. Uns war es darum wichtig, im Amnesty Journal über die Verurteilung des Attentäters zu berichten. Allerdings gelten bei diesen Verbrechen Besonderheiten. Rassistische und antisemitische Täter_innen sind vor der Tat meist nicht öffentlich bekannt. Sie sind auf der Suche nach Publikum, nach einer Bühne für ihren Hass.

Dies gilt nicht nur für die rassistischen und antisemitischen Attentäter von Halle oder Hanau, sondern zeigte sich auch bei dem Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch, Neuseeland. Viele kündigen ihre Taten im Internet an oder streamen sie live. Richten Medienberichte zu viel Aufmerksamkeit auf ihre Person, ihre Motive und Hintergründe, werden so unfreiwillig weitere potenzielle Täter_innen motiviert.

In unserer Berichterstattung über die Verurteilung des Halle-Attentäters war die Namensnennung nicht nur überflüssig, sie entsprach auch nicht den Zielen von Amnesty. In Fällen von struktureller Diskriminierung und rassistischer Gewalt setzen wir uns für die Betroffenen ein.

Auch im Amnesty Journal wollen wir den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme geben und ihre Anliegen ernstnehmen. Umso mehr bedauern wir, dass unsere Berichterstattung über rassistische und antisemitische Anschläge in der Vergangenheit nicht ausreichend sensibel war. Ein Grund mehr, unsere Arbeit immer wieder kritisch zu prüfen: Gerade bei unserem Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus haben wir noch lange nicht ausgelernt. In Fällen, in denen unbekannte Täter_innen aus gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit Personengruppen in Angst und Schrecken versetzen, verzichten wir in Zukunft auf Namensnennungen.

(»Höchststrafe für Halle-Attentäter«, Amnesty Journal 02/2021)

Der Opfer gedenken. Demonstration in Halle, 13.Oktober 2019.

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