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Postkoloniale Sprache: Der kenianische Schriftsteller Ngūgī wa Thiong’o

Widerstand ist eine Novelle auf Toilettenpapier geschrieben

Die Dekolonialisierung des Denkens ist das Lebensthema von Ngu¯ gı¯ wa Thiong’o. Das macht den kenianischen Schriftsteller zu einer zentralen Stimme im gegenwärtigen Diskurs. Von Bettina Rühl

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Mitte März lud die renommierte US-amerikanische Yale-Universität zu einer Diskussion über die Dekolonialisierung der Universitäten ein. Ihr Wunsch redner: Der 83-jährige kenianische Schriftsteller Ngūgī wa Thiong’o.

Die Englisch-Professorin Stephanie Newell, die die Veranstaltung organisierte, schrieb: »Wir glauben, dass es keinen Intellektuellen gibt, der besser als Sie über die drängende Frage der Dekolonialisierung der amerikanischen Universitäten sprechen könnte. Und zwar einerseits aus der Innenperspektive, da Sie ein afrikanischer Professor sind, der über jahrzehntelange Lebens- und Arbeitserfahrung in Amerika verfügt, inklusive einer Lehrtätigkeit an der Yale-Universität. Darüber hinaus bringen Sie die Außenperspektive mit, als ein postkolonialer Intellektueller, der den Rassismus im globalen Norden versteht, weil er ein Verständnis des kolonialen Rassismus mitbringt, der Literatur, Kultur und die Bildungsinstitutionen durchdringt.«

Die Sensibilität für verschiedene Erscheinungsformen des Rassismus im Alltag, für das Überdauern kolonialer Denkmuster, Sprachfiguren, Bezeichnungen und Besitzverhältnisse prägt seit einigen Jahren den gesellschaftlichen Diskurs in den USA und wird auch in Deutschland immer öfter gefordert. Dass die aus Rassismus und Neokolonialismus resultierenden Haltungen für »People of Colour« immer noch tödlich sein können, macht die transnationale Bewegung #BlackLivesMatter bewusst, die 2013 in den Vereinigten Staaten begann. Die Bewegung organisiert regelmäßig Protestveranstaltungen: gegen die Tötung Schwarzer durch Polizeibeamte, gegen das Agieren von Staatsangestellten wegen äußerlicher oder ethnischer Stereotypen, zusammengefasst also gegen Polizeigewalt und Rassismus.

Die Dekolonialisierung des Denkens und die Befreiung der menschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen von Macht sind das Lebensthema Ngūgī wa Thiong’os – und ein zentrales Motiv seiner Literatur. Einschlägige Essays dazu hat er bereits 1986 in dem Sammelband »Dekolonisierung des Denkens« veröffentlicht. Sie beeinflussen bis heute die Diskussion über die anhaltenden Folgen der Kolonisierung Afrikas. Wie aktuell seine Literatur ist, zeigt Ngūgīs Aufnahme in die Longlist des diesjährigen Booker-Preises, des wichtigsten britischen Buchpreises.

Geboren wurde Ngūgī wa Thiong’o 1938 im Dorf Kamirithiiu in Limuru, unweit der Hauptstadt Nairobi, als Sohn von Bauern. Seinen Geburtsnamen James Thiong’o Ngūgī änderte er später in Ngūgī wa Thiong’o, auf Deutsch: Sohn des Thiong’o – eine bewusste Entscheidung gegen das britische »James« und für den muttersprachlichen Namen.

Der Befreiungskampf prägte ihn

Ngūgī wurde in die Zeit der britischen Kolonialherrschaft hi neingeboren. Seine Kindheit wurde nicht nur durch die Kultur der Bevölkerungsgruppe der Kikuyu geprägt, sondern auch von Machtverhältnissen in der kolonialen Gesellschaft. Ein Bruder schloss sich der Aufstandsbewegung gegen die Briten an, die Ngūgī Kenianische Armee für Land und Freiheit (KLFA) nennt. Der gebräuchliche Name Mau Mau sei falsch, sagt er, weil dieser Begriff von den britischen Kolonialherren stamme. Dass er den Befreiungskampf gegen die Kolonialherrschaft miterleben durfte, bezeichnete er 2020 im Gespräch mit dem kenianischen Schriftsteller Billy Kahora als das Ereignis, das ihn und sein Schreiben mehr als alle anderen sozialen und politischen Veränderungen geprägt habe – mehr als die Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten und ihre politische Entwicklung, mehr als die Globalisierung, die Corona-Pandemie, die globale #BlackLivesMatter-Bewegung oder das Entstehen des Populismus in den westlichen Gesellschaften. Der Kampf der KLFA habe »dem britischen Empire das Rückgrat gebrochen«, sagt Ngūgī. Und Kenia der schwarzen Bevölkerung zurückgegeben.

Dank der Befreiungskämpfer_innen habe er gelernt, stolz auf »Blackness« zu sein, sagt Ngūgī, und er habe die Existenz sozialer Klassen entdeckt. »›Blackness‹ muss in allen Aspekten begriffen werden: wirtschaftlich, politisch, kulturell und psychologisch«, sagte er im Gespräch mit Kahora. Auch die Frage von Geschlechterrollen beschäftige ihn seit damals: Das Patriarchat sei Ursprung auch aller Klassenunterschiede. »Befreie die schwarze Arbeiterin, und alle Menschen werden frei sein.«

Wegen eines Theaterstücks wurde er inhaftiert

Nach der Unabhängigkeit Kenias von Großbritannien 1963 erkannte Ngūgī bald, dass die Freiheit ein Traum blieb: Kenia entwickelte sich zu einer Diktatur. Nach seinem Studium an der Makerere-Universität in der ugandischen Hauptstadt Kampala und an der Universität von Leeds in Großbritannien schrieb Ngūgī in den 1970er Jahren zunächst Theaterstücke und Kurzgeschichten. 1977 führte er sein Stück »Ngaahika Ndeenda« (»Ich werde heiraten, wenn ich will«) auf, in dem er die Ungerechtigkeit und soziale Ungleichheit in der kenianischen Gesellschaft kritisierte. Wegen der Aufführung wurde er festgenommen und für mehr als ein Jahr in einem Hochsicherheitsgefängnis in Haft gehalten. Seine Befreiung verdankte er Amnesty International, die Menschenrechtsorganisation hatte sich für den gewaltlosen politischen Gefangenen eingesetzt.

Später betonte er immer wieder die große Bedeutung der Haftzeit für ihn und sein Schreiben. Dort habe er den Widerstand als beste Überlebenshilfe entdeckt. Dieser äußerte sich nicht zuletzt darin, dass er auf dem rauen Toilettenpapier des Gefängnisses in seiner Herkunftssprache Kikuyu eine Novelle schrieb, die 1981 veröffentlicht wurde: »Caitani Mutharabaini«. Ein Jahr später erschien sie auf Englisch: »Devil on the Cross« (deutsch: »Der gekreuzigte Teufel«).

Seit 1984 schreibt Ngūgī seine literarischen Texte nur noch in seiner Muttersprache Kikuyu und übersetzt sie anschließend ins Englische. Für ihn ist das ein entscheidender Schritt im Dekolonialisieren des Denkens. Denn in der Sprache seien die Mythen, die Denkweisen, die gesamte Kultur und die Mentalität der Menschen verankert, die diese Sprache sprechen. Eine Gleichberechtigung der Sprachen sei nötig, um die postkolonialen Machtverhältnisse in den Ländern Afrikas zu überwinden und sich der eigenen Identität bewusst zu werden. Ngūgī sieht einen grundsätzlichen Unterschied zwischen afrikanischer Literatur, in einer afrikanischen Sprache geschrieben, und Literatur afrikanischer Autor_innen in einer europäischen Sprache. Diese bezeichnet er nicht als afrikanische, sondern als »Europhonic literature«. 1982 wurde Ngūgī ins Exil gezwungen, zog erst nach Großbritannien, dann in die USA, wo er an mehreren Universitäten lehrte und weiter schrieb. Sein lebenslanger Einsatz für die umfassende, auch kulturelle Befreiung der Menschen ist heute so aktuell wie je. Die Forderung nach der Rückgabe materieller Kulturgüter gehört dazu.

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