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Sachbuch über Populismus: Rechte Eliten
Rechte Eliten
Die Verlockung »anderer Tatsachen«. Anhänger_innen lauschen einer Wahlkampfrede des damaligen US-Präsidenten Donald Trump, September 2020.
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Weltweit sorgen populistische Politiker_innen für die Aushöhlung von Demokratien. Doch wer verbreitet ihre Lügenbotschaften? In »Die Verlockung des Autoritären« sucht Anne Applebaum Antworten. Von Wera Reusch
Anne Applebaum war eine der US-Intellektuellen, die während der Trump-Präsidentschaft immer wieder düstere Vorhersagen machte, die früher oder später exakt so eingetroffen sind. Die Historikerin und Publizistin hat sich intensiv mit Diktaturen beschäftigt, insbesondere mit dem Stalinismus, und kennt die Vorzeichen und Mechanismen autoritärer Herrschaft sehr genau. In ihrem neuen Buch untersucht sie die Rolle einer ganz bestimmten Gruppe: Autor_innen, Intellektuelle, Blogger_innen und Meinungsmacher_innen, mit ihren Worten: »Leute, die Missstände in Worte fassen, Unzufriedenheit manipulieren, Wut und Angst schüren.« Diese Bildungselite ist ihrer Ansicht nach unabdingbar für die Aushöhlung der Demokratie.
Bemerkenswert an Applebaums Essay ist ihre Perspektive: Die 56-Jährige machte in den USA als Journalistin Karriere, unterrichtete an britischen Hochschulen und lebt seit Jahren in Polen. Sie bezeichnet sich selbst als konservativ und hat in den vergangenen Jahren erlebt, wie viele ihrer einstigen Freund_innen, Bekannten und Kolleg_innen mit einem »altmodischen Konservatismus« brachen und der »Verlockung des Autoritären« erlagen: »Sie wollen bestehende Einrichtungen stürzen, umgehen oder aushöhlen und alles Bestehende zerschlagen.« Beispiele dafür findet Applebaum in Polen und Ungarn, den USA und Großbritannien, aber auch in einem Land wie Spanien.
Bemerkenswert an dieser Gruppe ist, dass sie weder arm noch unterprivilegiert ist, kein Opfer politischer Umwälzungen wurde, geschweige denn ihre Jobs an Zuwanderer_innen verlor. Woher kommen also der Hass, die Wut und der Zynismus der autoritären Intellektuellen, wenn es dafür ganz offensichtlich keine wirtschaftlichen Gründe gibt? Applebaum verweist auf die Verhaltensökonomin Karen Stenner, der zufolge »rund ein Drittel der Bevölkerung jedes beliebigen Landes eine autoritäre Veranlagung habe« und keine Komplexität aushalte. Auch die Angst vor dem Verlust von Privilegien spiele eine Rolle und schwelende Ressentiments: »Wer glaubt, er habe einen Platz an den Schalthebeln der Macht verdient, spürt oft ein starkes Bedürfnis, Eliten zu attackieren, Gerichte mit Gesinnungsgenossen zu besetzen und die Presse zu manipulieren, um seine Ziele zu erreichen.« Dass die Lügen und Verschwörungstheorien Widerhall finden, liegt laut Applebaum daran, dass es kein »homogenes nationales Gespräch« mehr gibt: »Menschen hatten immer unterschiedliche Ansichten. Heute haben sie unterschiedliche Tatsachen.«
Die Autorin will keine allumfassende Theorie für die extreme Lagerbildung und die autoritäre Unterwanderung von Demokratien durch Figuren wie Kaczyński, Orbán, Trump und auch Johnson sowie deren Lakaien liefern. Ihr Essay spiegelt vielmehr persönliche Erfahrungen und Überlegungen wider, verweist auf historische Parallelen, sucht nach Antworten, wie sich der Gefahr begegnen ließe.
Es ist Applebaums Verdienst, den Blick auf die geistigen Brandstifter zu lenken, zu kurz kommen in ihrer Analyse allerdings die Wähler_innen, die ebenso der »Verlockung des Autoritären« erliegen. Denn Wahlerfolge autoritärer Potentaten lassen sich nicht allein mit ideologischer Manipulation durch reaktionäre Spindoctors erklären.
Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer. Siedler Verlag, München 2021, 208 Seiten, 22 Euro
»Der Brand von Moria war real und zugleich hoch symbolisch«, schreibt Helge-Ulrike Hyams. Wer verstehen will, warum Europas größtes Flüchtlingslager im September 2020 in Flammen aufging, sollte dieses Buch lesen. Die Psychoanalytikerin und Pädagogin ging im Herbst 2019 nach Lesbos und arbeitete dort ein halbes Jahr für eine Schweizer Hilfsorganisation. Mit ihren 77 Jahren war sie eine Ausnahmeerscheinung unter den Freiwilligen aus aller Welt. Außergewöhnlich ist auch ihr Bericht über Moria: In kurzen Kapiteln zu Stichworten wie Kinder, Trauma, Husten, Müll, Regen, Handys oder Resilienz schildert sie die unerträgliche Situation der Geflüchteten, nimmt aber auch die Helfer_innen und die Bevölkerung der Insel in den Blick. Als teilnehmende Beobachterin gleicht Hyams einer Ethnologin, und die vielen Facetten des Buchs fügen sich zu einer Art Ethnografie des Lagers. Die Autorin verzichtet auf billige Skandalisierung, vielmehr enthüllt sie durch ihre so persönliche und lebenskluge wie professionelle und sachliche Darstellung, »zu welchem Ausmaß an Menschenverachtung unsere Gesellschaft fähig ist, wenn sie Lager wie dieses toleriert«. Ihr Fazit: »Moria brannte nicht, weil ein paar junge Männer gezündelt haben. Moria brannte, weil das Leben der Lagerbewohner in eine Sackgasse geraten war. Eine Sackgasse, die symbolisch für die gesamte Flüchtlingspolitik steht.«
Helge-Ulrike Hyams: Denk ich an Moria. Ein Winter auf Lesbos. Berenberg Verlag, Berlin 2021, 160 Seiten, 16 Euro
Einblick in die UNO
Andreas Zumach war mehr als 30 Jahre lang UNO-Korrespondent in Genf und berichtete für die taz und andere Medien. Im Gegensatz zu vielen anderen, die der UNO stets Versagen und Machtlosigkeit vorwerfen, ist Zumach kein Zyniker, doch sieht auch er deutlichen Reformbedarf. Er weist darauf hin, dass es dafür durchaus Spielräume gibt – auch jenseits des Sicherheitsrats, den er derzeit für nicht reformierbar hält. Wenig zielführend sei die Politik der Bundesregierung, der es vor allem um einen ständigen Sitz in diesem Gremium gehe. Zumach untersucht die Rolle der UNO in zahlreichen Konflikten – von Syrien über Israel/Palästina bis hin zur Ukraine. Neben traditionellen Politikbereichen wie Friedenssicherung und Rüstungskontrolle beschäftigt er sich mit aktuellen und künftigen Herausforderungen wie Klimapolitik, Gesundheitspolitik, Wirtschaft und Menschenrechte. Nicht zuletzt kritisiert er den zunehmenden und hoch problematischen Einfluss internationaler Unternehmen und anderer Akteur_innen. So zählt etwa die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung mittlerweile zu den größten Geldgebern der WHO. Zwar fehlen wichtige Aspekte wie Frauenpolitik, dennoch bietet das Buch exzellente Einblicke in das UNO-System. Zumach ist es gelungen, komplizierte Sachverhalte verständlich und ohne Englisch-Kauderwelsch zu erklären, was bei diesem Thema eine große Herausforderung ist.
Andreas Zumach: Reform oder Blockade – welche Zukunft hat die UNO? Rotpunktverlag, Zürich 2021, 360 Seiten, 25 Euro Wer wissen will, wo das Erdgas herkommt, das bei uns für mollige Wärme sorgt, der sollte diesen Roman lesen. Die größten Gasvorkommen Russlands liegen dort, wo die Nenzen leben – noch leben. Denn der Klimawandel begünstigt die Gasförderung und bedroht den arktischen Lebensraum der Indigenen. Anna Nerkagi gehört zu dieser westsibirischen Bevölkerungsgruppe und hat ihr mit »Weiße Rentierflechte« ein Denkmal gesetzt. Ihr im Original bereits 1996 erschienenes Buch handelt von einer weiteren Gefahr: der Entfremdung der Kinder von ihren Familien. Denn die nenzischen Kinder werden mit Hubschraubern in russische Internate gebracht und verlieren so den Bezug zu ihrer Heimat. »Weiße Rentierflechte« ist ein zutiefst wehmütiger Roman – erzählt aus Sicht der Alten, die am nomadischen Leben festhalten und jahrelang vergeblich auf die Rückkehr ihrer Kinder warten. Nerkagi beschreibt das traditionelle Leben der Rentierzüchter_innen, ihren Alltag, ihre Mythologie und Weisheit. Sie schildert aber auch die Konflikte in einer Ge sellschaft, die von Frauen völlige Unterordnung verlangt, obwohl sie ohne deren harte Arbeit nicht überleben kann. Eindrucksvolle Fotos von Sebastião Salgado vermitteln eine Vorstellung von den harten Lebensbedingungen der Nomad_innen, ein »Kleines ABC des nenzinschen Lebens« bietet Hintergrundinformationen zu diesem berührenden Roman.
Anna Nerkagi: Weiße Rentierflechte. Aus dem Russischen von Rolf Junghanns. Mit Fotos von Sebastião Salgado. Faber & Faber, Leipzig 2021, 192 Seiten, 22 Euro
Aktivist_innen der Erinnerung
Am Ende der Graphic Novel, die Stationen aus dem Leben von Beate und Serge Klarsfeld beleuchtet, hält eine Gesprächspartnerin der beiden treffend fest: »Sie stehen für Mut, Überzeugungskraft, Bescheidenheit, ein Gefühl für Gerechtigkeit, eine Opferbereitschaft, für die Sie sich selbst in Gefahr bringen!« Was das Ehepaar Klarsfeld mit seinem unermüdlichen Kampf gegen das Vergessen geleistet hat und immer noch leistet, inszenieren Pascal Bresson und Sylvain Dorange in einer spannungsgeladenen Biografie, die in ihrer Machart an einen Agententhriller erinnert. Wobei der Stoff dieses Abenteuers eben keine Fiktion ist. Das Handeln der beiden hat seit den späten 1960er Jahren entscheidend zur Aufklärung und Verurteilung von NS-Kriegsverbrechen beigetragen. Beate und Serge Klarsfeld, sie Deutsche, er französischer Jude, verfolgen ihr gemeinsames Ziel mit beeindruckender Vehemenz und Selbstlosigkeit. Mit ihren Aktionen – die spektakulärste war wohl die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld 1968 dem damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger zusammen mit dem Ausruf »Nazi« in aller Öffentlichkeit verpasste – machen sie sich nicht nur Freunde. Doch dieses Risiko nehmen die »Aktivist_innen der Erinnerung« für ihre Mission gegen das Vergessen der Opfer der Shoah gerne in Kauf.
Pascal Bresson, Sylvain Dorange: Beate und Serge Klarsfeld – Die Nazijäger. Aus dem Französischen von Christiane Bartelsen. Carlsen, Hamburg 2021, 208 Seiten, 28 Euro, ab 14 Jahren
Der Mord an Saudi-Arabiens bekanntestem Journalisten wird nun auch filmisch untersucht. Jamal Khashoggi betrat am 2.Oktober 2018 die saudische Botschaft in Istanbul, um Scheidungspapiere abzuholen, und sollte sie nicht mehr lebend verlassen – ein eigens eingeflogenes »Spezialistenteam« ermordete ihn dort. In seinem Film »The Dissident« geht Bryan Fogel den Hintergründen dieses Staatsverbrechens nach. Er hatte Zugang zu Beweismaterial, führte zahlreiche Interviews mit Khashoggis Mitstreiter_innen und türkischen Ermittlern. So entsteht das Bild eines Kampfes zwischen dem Medienprofi und dem saudischen Staat, bei dem es um den Einfluss autoritärer Eliten, den Kampf um Menschenrechte und Pressefreiheit geht. Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman bestreitet jede Verantwortung für den Mord und gibt lapidar zu Protokoll, er könne schlecht wissen, was seine Beamten den ganzen Tag über machten. In einem Prozess wurden einige Helfershelfer verurteilt, die Strafe wurde aber zum Teil ausgesetzt. Fogel erzählt das spannend, aber auch mit einigen Brutalitäten – etwa, wenn es darum geht, wie Khashoggis Leiche verschwand. Dabei entstanden umfangreiche Tonbandprotokolle, die türkische Ermittler freigaben. Dieser recherchestarke und engagierte Film sorgt mit dafür, dass der Fall Khashoggi aktuell bleibt. »Ich hoffe, die Menschen fühlen sich beim Zuschauen in der Verantwortung, selbst aktiv zu werden«, sagt Fogel.
»The Dissident«. USA 2020. Regie: Bryan Fogel. Auf allen relevanten Streaming-Diensten
Rassismus auf dem Rasen
Ein besonderes Kapitel in der Geschichte der Fußballnationalmannschaft nimmt der Dokumentarfilmer Torsten Körner in »Schwarze Adler« in den Blick: die People of Color, die es in diese Elitetruppe des deutschen Fußballs geschafft haben. Spieler wie Erwin Kostedde, der in den 1970er Jahren der erste war, und Jimmy Hartwig kommen in diesem Film zu Wort. Sie berichten vom innigen Wunsch, zur Nationalelf zu gehören, und über Diskriminierungserfahrungen: »Ich habe mich drei Stunden am Tag gewaschen, weil ich weiß sein wollte«, berichtet der dreimalige Nationalspieler Kostedde, Sohn eines US-Soldaten und einer deutschen Mutter. In Stadien sei er auch mit Hitler-Gruß empfangen worden. Der Ausnahmespieler litt lebenslang an der Ablehnung. Andere gehen offensiv mit Angriffen um. So konterte etwa Anthony Baffoe vom 1. FC Köln eine rassistische Bemerkung einst öffentlichkeitswirksam mit: »Du kannst auf meiner Plantage arbeiten.« Otto Addo, Shary Reeves, Guy Acolatse äußern sich in dem Film – und natürlich Steffi Jones: Auch die vielmalige Nationalspielerin berichtet über Rassismus auf und neben dem Spielfeld, auch sie musste sich Affenlaute im Stadion anhören. »Schwarze Adler« ist ein spektakulär guter Film über deutschen Sport geworden. Sein einziges Manko ist, dass es ihn gibt. Man wünschte, die Hauptdarsteller_innen hätten die teils traumatischen Erfahrungen nicht machen müssen.
»Schwarze Adler«. D 2021. Regie: Torsten Körner. Prime Video und ZDF-Mediathek Über ein Vierteljahrhundert ist es her, da entdeckten deutsche Jugendliche, dass man nicht nur auf Englisch rappen kann. Die Pioniere dieser Idee nannten sich Die Fantastischen Vier, aber auch Advanced Chemistry, Fresh Familee oder Main Concept. Die einen kennt man heute noch, die anderen sind verschwunden oder immer Underground geblieben. Die einen sind, wahrscheinlich kein Zufall, weiß und sehr deutsch, die anderen hatten schon damals, was man heute einen Migrationshintergrund nennt. Während die Minderheiten ein, zwei Generationen später als Gangster-Rapper dann doch noch die deutschen Charts übernahmen, blieben Main Concept tapfer bei ihrem Konzept vom aufklärerischen, gesellschaftskritischen Rap, den sie nun mit ihrem neuen Album »Main Concept 3.0« zum wiederholten Male aktualisieren. Dabei verzichten die Münchner ganz bewusst darauf, sich musikalisch allen Moden anzudienen, und setzen stattdessen auf das, was zum weltweiten Siegeszug von HipHop geführt hat: die Macht des rhythmisch gesprochenen Wortes. Weil die Zeiten so sind, wie sie sind, aktualisiert Rapper DavidPe seinen Klassiker »Zwischen den Stühlen«, in dem er schon vor 27 Jahren das Gefühl beschrieben hatte, fremd im eigenen Land zu bleiben. In »Der ich bin« stellt er fest, dass sich auch nach einem halben Jahrhundert Einwanderungsland Deutschland nicht viel verändert hat: »Trotz all der Integration bleibst du ein Fremdmolekül.«
Main Concept: »Main Concept 3.0« (Buback/Indigo)
Afro-indigener Mardi Gras
Wenn Second Chief Joseph Boudreaux Jr. seinen Ahnen huldigen möchte, dann trägt er einen quietschgrünen Indianerhäuptling-Anzug und dazu einen ausladenden, noch grüneren Federschmuck. Damit geht er dann zum Fasching, oder genauer: zum Mardi Gras. Der Häuptling trommelt und singt für Cha Wa, eine Band aus New Orleans, die eine alternative Version des weltberühmten Karnevals in der Stadt am Mississippi auf die Bühne bringt. Wenn die prächtigen Paraden über die großen Boulevards ziehen, dann erobern sich die Black Masking Indians die Nebenstraßen von New Orleans – Afroamerikaner_innen verkleiden sich als Native Americans. Was auf den ersten Blick wie kulturelle Aneignung wirken mag, ist historisch begründet. Die Tradition reicht zurück bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Rassentrennung Schwarze von den offiziellen Mardi-Gras-Feierlichkeiten ausschloss. Sie nimmt Bezug darauf, dass Jahrhunderte zuvor geflüchtete Sklav_innen Schutz fanden in den Sümpfen Louisianas bei indigenen Stämmen, die von ihrem Land vertrieben waren. Viele Einwohner_innen von New Orleans können ihren Stammbaum zurückverfolgen bis in diese gemeinsame Vergangenheit von Rot und Schwarz. Deshalb hat der Sound von Cha Wa zwischen Marschmusik, Jazz, Funk und Soul auch schon ohne die Texte über Armut, Rassismus und Polizeigewalt eine soziale und politische Dimension.
Cha Wa: »My People« (Single Lock/Cargo)