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Musik von Ozan Ata Canani: Lieder zwischen den Welten
Lieder zwischen den Welten
Der Saz-Virtuose Ozan Ata Canani hat in den 1970er Jahren als Erster die Erfahrungen der Migrant_innen in Deutschland musikalisch verarbeitet – auf Deutsch. Erst jetzt ist sein Debütalbum erschienen. Von Thomas Winkler
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Es war einmal, lang ist es her, da schrieb ein junger Mann in Liedern auf, was ihn bewegte in dem Land, in dem er lebte. Er nahm das Instrument, das er aus einem anderen Land mitgebracht hatte, gab sich selbst den Ehren titel Ozan (»Dichter«) und spielte und sang seine Lieder. Die handelten davon, wie es ist, als Fremder in Deutschland zu leben, als einer, der damals »Gastarbeiter« genannt wurde. Sie handelten davon, dass alle Menschen glücklich sein wollen und dass man nicht allein von Brot satt wird. Davon, wie es ist, härter arbeiten zu müssen für weniger Lohn als die deutschen Kol leg_in nen, und wie es sich anfühlt, zwischen zwei Welten zu le-
ben. Heute ist Ata Canani 57 Jahre alt und sagt: »Ich bin stolz, dass meine Lieder immer noch so aktuell sind – und ich fürchte, sie werden auch in hundert Jahren noch aktuell sein.« Ata Canani war der erste Migrant, der in den 1970er Jahren die Lebensrealität der Neuankömmlinge in Songs verarbeitete – und das in deutscher Sprache. Ein Novum, das aber kaum wahrgenommen wurde. Es gab zwar ein paar TV-Auftritte, unter anderem bei Alfred Biolek, doch spielte Canani seine Songs vor allem bei türkischen Hochzeiten, bei denen er allerdings eher als Virtuose mit der Saz, der Langhalslaute, gefragt war. »Die Gastarbeiter haben mich nicht verstanden, weil sie der deutschen Sprache nicht mächtig waren, und den Deutschen war meine Musik zu orientalisch«, erinnert er sich. Umso wichtiger, dass diese verloren gegangenen Lieder nun endlich wieder zu hören sind. Alle Stücke auf dem Album »Warte mein Land, warte«, die neu geschriebenen sowieso, aber auch die jahrzehntealten, mussten von Canani und seiner Band neu eingespielt werden. Dass die alten Bänder verloren gegangen waren, dass es keine Originalaufnahmen mehr gab, macht deutlich, wie sehr Cananis historische Leistung in Vergessenheit geraten war. Als Bülent Kullukcu und Imran Ayata im Jahr 2013 die Compilation »Songs of Gastarbeiter« herausbrachten und Cananis vergessenen Klassiker »Deutsche Freunde« an den Anfang stellten, bekam er zumindest einen Teil der Anerkennung, die er verdient. Trotzdem dauerte es noch einmal acht Jahre, bis nun endlich ein ganzes Album erscheint. Leben konnte Canani nie von seiner Musik. Mit elf Jahren kam er nach Deutschland, sein Vater wollte das musikalische Talent des Sohnes nie fördern, obwohl er die Saz spielen konnte wie kaum ein anderer. Also ging Canani 36 Jahre Der Klang der Integration. Ozan Ata Canani konnte nie von seiner Musik leben. lang harter körperlicher Arbeit nach, ebenso wie die anderen »Drecks- und Müllarbeiter, Stahlbau- und Bahnarbeiter« aus der »Türkei, aus Italien, aus Portugal, Spanien, Griechenland, Jugoslawien«, deren Schicksal er in »Deutsche Freunde« besingt. In dieser Zeit erlebte er, wie aus Gastarbeiter_innen zumindest offiziell doch noch Migrant_innen wurden, aber auch wie der NSU in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe zündete – Canani lebte ganz in der Nähe. Vor fünf Jahren hatte er einen Herzinfarkt, seitdem lebt er von Hartz IV, mittlerweile in einer kleinen Wohnung in Lever kusen. An der Wand des Wohnzimmers hängen alte Bilder und mehrere Exemplare seines Instruments, der Saz. Vor ein paar Jahren hat jemand ein Hakenkreuz auf die Wand des Mietshauses gesprüht, doch das Verfahren wurde eingestellt. »Meine Lieder sind ein Teil der Geschichte der Gastarbeiter in Deutschland«, sagt Ata Canani. Nun sind sie zum Glück auch ein Teil der Gegenwart des Einwanderungslandes Deutschland. Ozan Ata Canani: »Warte mein Land, warte« (Fun In The Church/Bertus)
BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN
Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzu prangern und zu beenden.
Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.
ACHTUNG! Wegen der Verbreitung des Corona- Virus ist die weltweite Briefzustellung momentan eingeschränkt. Deshalb bitten wir Sie, Ihre Appell schreiben per E-Mail oder Fax bzw. an die Botschaft des jeweiligen Ziellandes zu schicken.
NIGERIA JAAFAR JAAFAR
Im Oktober 2018 veröffentlichte Jaafar Jaafar Videoclips, um zu belegen, dass der Gouverneur des Bundesstaates Kano Bestechungsgelder angenommen hat. Seitdem wird der Journalist verfolgt. Zunächst reichte der Gouverneur eine Verleumdungsklage gegen ihn ein, nun behaupten die Behörden, dass sie im Zuge ihrer Ermittlungen Hinweise auf kriminelles Verhalten gefunden hätten. Unbekannte Männer beobachteten sein Haus und suchten offenbar nach ihm. Außerdem erhielt er Morddrohungen.
Am 20.April 2021 erschien eine Polizeieinheit im Büro von Jaafar Jaafar und nahm ihn zum Verhör mit: Er stachele zur Gewalt auf und verbreite schädigende Unwahrheiten über den Generalinspektor der Polizei. Im Mai 2021 floh Jaafar Jaafar schließlich aus Nigeria, da er um seine Sicherheit und die seiner Familie fürchtete.
Bitte schreiben Sie bis 31.August 2021
höflich formulierte Briefe an den Gouverneur des Bundesstaates Kano und fordern Sie ihn auf, dafür zu sorgen, dass alle Anklagen gegen Jaafar Jaafar sofort fallen gelassen werden. Bitten Sie ihn außerdem, die Schikanen gegen Jaafar Jaafar und andere Journalist_innen umgehend zu beenden und sicherzustellen, dass ihre Rechte geachtet werden. Sie müssen zukünftig vor Repressalien, Einschüchterung und Schikanen geschützt werden.
Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an:
Governor of Kano State H. E. Abdullahi Umar Ganduje The Executive Governor of Kano State Governor’s Office Kano, NIGERIA E-Mail: info@kanostate.gov.ng Twitter: @GovUmarGanduje (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an:
Botschaft der Bundesrepublik Nigeria S. E. Herrn Yusuf Maitame Tuggar Neue Jakobstraße 4, 10179 Berlin Fax: 030-21230212 E-Mail: info@nigeriaembassygermany.org (Standardbrief: 0,80 €)
Beteiligen Sie sich an der Solidaritätsaktion für Jaafar Jaafar und schreiben Sie ihm eine
Twitternachricht auf Englisch. Zum Beispiel: @JaafarSJaafar We admire your bravery and stand with you! oder @JaafarSJaafar Continue to inspire people with your bravery and good work
SAUDI-ARABIEN ABDULRAHMAN AL-SADHAN
Abdulrahman al-Sadhan wurde am 5.April 2021 vom Sonderstrafgericht (SCC) in Riad zu 20 Jahren Haft verurteilt, denen ein 20-jähriges Reiseverbot folgen soll. Dabei übte der 37-jährige Mitarbeiter des Roten Halbmonds nur friedlich sein Recht auf freie Meinungsäußerung aus. Dem Urteil war ein unfairer Prozess vorausgegangen, das »Geständnis« soll unter Folter erpresst worden sein.
Abdulrahman al-Sadhan reichte am 6.Mai Rechtsmittel beim Berufungsgericht ein, aber das Gericht hat noch nicht darüber entschieden. Darüber hinaus werden Abdulrahman al-Sadhan jegliche Familienbesuche oder -anrufe verwehrt, sodass seine Angehörigen befürchten, dass er gefoltert wird.
Bitte schreiben Sie bis 31.August 2021
höflich formulierte Briefe an den saudischen König, in denen sie die sofortige und bedingungslose Freilassung von Abdulrahman al-Sadhan fordern. Bitten Sie ihn außerdem, dafür zu sorgen, dass Abdulrahman al-Sadhan bis zu seiner Freilassung Besuche und anderweitigen Kontakt zu seiner Familie haben kann. Zudem muss sichergestellt werden, dass er nicht gefoltert oder misshandelt wird.
Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an:
His Majesty King Salman bin Abdul Aziz Al Saud Office of His Majesty the King Royal Court Riyad, SAUDI-ARABIEN Fax: 00966-114033125 Twitter: @KingSalman (Anrede: Your Majesty / Eure Majestät) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an:
Botschaft des Königreichs Saudi-Arabien S. E. Herrn Essam Ibrahim H. Baitalmal Tiergartenstraße 33–34, 10785 Berlin Fax: 030-88925176 E-Mail: deemb@mofa.gov.sa (Standardbrief: 0,80 €)
Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de
AMNESTY INTERNATIONAL
Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030-420248-0, Fax: 030-420248-488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de
CHILE DIE UMWELTSCHÜTZERINNEN VON MODATIMA
Die Aktivist_innen der Umweltschutzorganisation MODATIMA sind seit Jahren Drohungen, Stigmatisierungen und Schikanen ausgesetzt. Dabei stehen die drei Sprecherinnen der Organisation, Verónica Vilches, Lorena Donaire und Carolina Vilches besonders im Fokus: Am 13.Februar 2021 erhielt Verónica Vilches eine erste Morddrohung, am 6.Juni die zweite. In beiden Fällen weigerte sich die Polizei (Policía de Investigaciones de Chile – PDI) »aufgrund unerfüllter administrativer Auflagen«, zu ermitteln. Erst nachdem sich Amnesty International bei der Staatsanwaltschaft einsetzte, wurde eine Untersuchung eingeleitet.
Bitte schreiben Sie bis 31.August 2021
höflich formulierte Briefe an die regionale Staatsanwältin von Valparaíso und fordern Sie sie auf, zügige Beschwerdewege für Menschenrechtsverteidiger_innen einzurichten. Die Aktivist_innen von MODATIMA müssen dabei im Fokus stehen, da sie bereits mehrmals angegriffen wurden. Fordern Sie außerdem, die Staatsanwältin möge dafür sorgen, dass die Aktionen der PDI und der Carabineros koordiniert, zeitnah und nicht einschüchternd sind.
Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an:
Valparaíso Regional Prosecutor’s Office Señora Fiscal Regional de Valparaíso Claudia Perivancich Hoyuelos Blanco 937 Piso 4, Edificio Tecno Pacifico Valparaíso, CHILE E-Mail: murrutia@minpublico.cl (Anrede: Dear Prosecutor / Estimada Señora Fiscal / Sehr geehrte Frau Staatsanwältin) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an:
Botschaft der Republik Chile I. E. Frau Cecilia Mackenna Echaurren Mohrenstraße 42, 10117 Berlin Fax: 030-726203603 E-Mail: echile.alemania@minrel.gob.cl (Standardbrief: 0,80 €)
In jedem Amnesty Journal veröffentlichen wir drei Einzel schicksale, verbunden mit dem Appell, einen Brief zu schreiben, um Menschenrechtsverletzungen zu beenden. In regelmäßigen Abständen informieren wir darüber, wie sich die Situation der Betroffenen weiterentwickelt hat. Hier nun neue Informationen zu den »Briefen gegen das Vergessen« von Januar 2020 bis Januar 2021.
RUSSLAND – ANASTASIA SHEVCHENKO (JANUAR 2020)
Anastasia Shevchenko wurde im Februar 2021 zu vier Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Das Urteil erfolgte im Zuge einer Einschüchterungskampagne vor den Duma-Wahlen im Herbst. Man warf ihr Verbindungen zu einer »unerwünschten ausländischen Organisation« vor. Shevchenko ist die erste Menschenrechtsverteidigerin, gegen die auf Grundlage des Gesetzes über »ausländische unerwünschte Organisationen« eine Freiheitsstrafe verhängt wurde. Amnesty International sieht in dem Urteil einen erneuAnastasia Shevchenko. ten Angriff auf unabhängiges zivilgesellschaftliches Engagement in Russland. Anastasia Shevchenko war im Januar 2019 festgenommen worden, weil sie als Koordinatorin der Bewegung »Offenes Russland« an Aktivitäten zweier in Großbritannien registrierter Organisationen mit ähnlichem Namen beteiligt gewesen sein soll. Sie stand seitdem unter Hausarrest. Amnesty International erklärte sie zur gewaltlosen politischen Gefangenen und forderte ihre bedingungslose Freilassung.
MYANMAR – KÜNSTLER_INNEN DER PEACOCK GENERATION
(APRIL 2020)
Paing Phyo Min und zwei weitere Mitglieder der Künstler_innengruppe Peacock Generation wurden im April 2021 im Rahmen einer Generalamnestie vorzeitig aus der Haft entlassen. Im April und Mai 2019 waren sieben Mitglieder der Gruppe festgenommen worden, nachdem sie eine Thangyat-Aufführung dargeboten hatten – eine traditionelle Kunstform, die dem PoetrySlam ähnelt. Sie trugen Uniformen und kritisierten das Militär, das keine Kritik ertragen könne, sich verzweifelt an die Macht klammere und das Land ausplündere, während die Generäle Reichtum anhäuften. Paing Phyo Min und zwei weitere Mitglieder der Gruppe wurden außerdem wegen »Onlinediffamierung« schuldig gesprochen, nachdem sie Aufnahmen des Auftrittes ins Internet gestellt hatten. Paing Phyo Min war zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die Haftstrafen gegen ihn und die anderen Satiriker_innen wurden allein deshalb verhängt, weil sie friedlich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahr genommen haben. Amnesty hatte daher ihre umgehende und bedingungslose Freilassung gefordert.
BANGLADESCH – SHAFIQUL ISLAM KAJOL (OKTOBER 2020)
Der Fotojournalist Shafiqul Islam Kajol wurde im Dezember 2020 aus dem Gefängnis entlassen. Der gewaltlose politische Gefangene war allein wegen der Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung inhaftiert. Die Behörden klagten ihn wegen einiger Facebook-Posts auf Grundlage des repressiven Gesetzes über digitale Sicherheit (Digital Security Act) an. Er befand sich in unbefristeter Untersuchungshaft. Zuvor war er 53 Tage »verschwunden«. Drei unbekannte Männer sollen am 10.März 2020 das Motorrad von Shafiqul Islam Kajol manipuliert haben, kurz bevor er damit losfuhr. Danach war er nicht mehr gesehen worden. Das Zentralgefängnis von Dhaka in Keraniganj, wo er inhaftiert war, war maßlos überfüllt. Es befanden sich dort 10.000 Gefangene, obwohl es nur für 4.097 Menschen ausgelegt ist. Nach Angaben der Gefängnisbehörden konnten neue Häftlinge, die möglicherweise an Covid-19 erkrankt waren, nicht unter Quarantäne gestellt werden.
Wieder frei. Shafiqul Islam Kajol.
USA – STEVEN TENDO (NOVEMBER 2020)
Foto: @ELOI Ministries Steven Tendo wurde im Februar 2021 aus humanitären Gründen aus einem US-Gefängnis entlassen – bis über seinen Asylantrag entschieden wird. Amnesty International setzte sich im Rahmen der Kampagne »100 Days« erfolgreich für seine Freilassung ein. Ziel war es, Präsident Joe Biden zur Freilassung von Einzelpersonen und Familien aus der Einwanderungshaft zu bewegen. Steven Tendo kam als Asylsuchender in die Steven Tendo. USA, nachdem er vor Folter und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen aus Uganda fliehen musste. Im Dezember 2018 war der 35-jährige Pastor in Einwanderungshaft genommen worden. Seine geplante Abschiebung konnte im September 2020 durch das Eingreifen von Amnesty und anderen Organisationen verhindert werden, doch sein Gesundheitszustand verschlechterte sich in der Haft. Steven Tendo leidet an Diabetes sowie Taubheit und ständigem Kribbeln in seinen Gliedmaßen. Er ist zudem auf einem Auge erblindet und drohte auch auf dem anderen Auge die Sehkraft zu verlieren, was jedoch durch eine Operation verhindert werden konnte. Tendo beantwortete die vielen Solidaritätsschreiben und kam mit seinen Unterstützer_innen dadurch in Kontakt.
Teil der Künstler_innengruppe Peacock Generation in Myanmar. Paing Phyo Min.
CHINA – YU WENSHENG UND XU YAN (NOVEMBER 2020)
Das Oberste Volksgericht der Provinz Jiangsu wies im Dezember 2020 die Rechtsmittel zurück, die der Menschenrechtsanwalt Yu Wensheng gegen seinen Schuldspruch eingelegt hatte. Yu Wensheng hatte 2015 bei dem beispiellosen Vorgehen der chinesischen Regierung gegen Menschenrechtsverteidiger_innen und Aktivist_innen viele Menschen vertreten. Im Juni 2020 war er wegen »Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt« in einem geheimen Verfahren zu vier Jahren Gefängnis und einem dreijährigen Entzug seiner politischen Rechte verurteilt worden. Die Behörden informierten seine Ehefrau Xu Yan erst, als das Urteil bereits gesprochen war. Xu Yan wird systematisch überwacht und schikaniert. Nach fast drei Jahren ohne Zugang zu seiner Familie konnte Yu Wensheng am 14.Januar 2021 in einem Video-Call mit seiner Frau Xu Yan sprechen. Nach dem Gespräch zeigte sie sich äußerst besorgt über die offensichtliche Verschlechterung des Gesundheitszustands von Yu In schlechter Verfassung. Yu Wensheng. Wensheng.
SAUDI-ARABIEN – NASSIMA AL-SADA (JANUAR 2021)
Im März 2021 bestätigte das Berufungsgericht in Riad das Urteil gegen die saudische Menschenrechtsverteidigerin Nassima alSada: fünf Jahre Haft gefolgt von fünf Jahren Reiseverbot. Sie hatte Rechtsmittel gegen ein Urteil eingelegt, das 2020 wegen »Cyberkriminalität« gegen sie ergangen war. Genauere Vorwürfe waren nie genannt worden. Nassima al-Sada ist eine saudische Menschenrechtsverteidigerin, die sich seit vielen Jahren für bürgerliche und politische Rechte, Frauenrechte sowie die Rechte der schiitischen Minderheit in der Ostprovinz von Saudi-Arabien einsetzt. Gemeinsam mit anderen Frauenrechtlerinnen engagierte sie sich für die Aufhebung des Frauenfahr verbots und das Ende des repressiven männlichen Vormundschaftssystems. Nach jahrelanger Schikane durch die Behörden wurde sie im Juni 2018, einen Monat nach der Aufhebung des Frauenfahrverbots, festgenommen und ohne Anklage inhaftiert. Nassima al-Sada musste zwischen ... ein ganzes Jahr in Einzelhaft verbringen.
Weiter in Haft. Nassima al-Sada.
»Rassismus ist eine Bedrohung für die Welt und für Amnesty.« Agnès Callamard (Archivbild aus dem Jahr 2019).
DEN STATUS QUO STÖREN
Eindrücke von der Amnesty-Jahresversammlung 2021: Die neue Internationale Generalsekretärin Agnès Callamard stellte sich vor, und Amnesty International Deutschland wählte einen neuen Vorstand.
Von der Jahresversammlung der Mitglieder von Amnesty International Deutschland an Pfingsten ging eine große Aufbruchsstimmung aus. Die seit Ende März amtierende Internationale Amnesty-Generalsekretärin Agnès Callamard stellte sich und ihre Arbeit vor. Um für Menschenrechte zu kämpfen, gebe es »keinen besseren Platz als Amnesty«. Eine der großen Herausforderungen für die Organisation blieben Staaten, die den Konsens der Menschenrechte zu untergraben versuchten. »Junge Menschen haben das Potenzial, zu hinterfragen und zu drängen. Ich erwarte von euch, genau das zu tun. Amnesty kann die Macht sein, die den Status Quo stört«, antwortete Callamard auf eine online gestellte Frage zur Bedeutung der Jugend für Amnesty. Wichtig sei ihr, zu betonen, dass Amnesty auch im Inneren zu einer antirassistischen, diskriminierungs armen Bewegung werde. »Rassismus ist eine Bedrohung für die Welt und für Amnesty.« Die Stimme von Amnesty International müsse darüber hinaus stark und laut vernehmbar bleiben. »Wir müssen mutig sein«, betonte Callamard.
Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, sprach darüber, was Amnesty in den vergangenen 60 Jahren erreicht hat, wie die Organisation weiterwirken kann und was dafür getan werden muss. Zum Beispiel Taner Kılıç, den Ehrenvorsitzenden der türkischen AmnestySektion, mit allen Kräften zu unterstützen. Denn ihm droht Gefängnis wegen seines Einsatzes für die Menschenrechte. Auch die ehemalige türkische Amnesty-Direktorin İdil Eser sowie zwei langjährige Amnesty-Mitglieder wurden im Juli 2020 zu Haftstrafen verurteilt, ein Berufungsverfahren steht noch aus. »Wie so viele Prozesse in der Türkei ist auch dieser rein politisch motiviert. Die Anklage ist nichts anderes als der Versuch, Menschenrechtsverteidiger und -verteidigerinnen einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen«, sagte Beeko.
Wie schon 2020 fand die Jahresversammlung auch in diesem Jahr auf den Online-Plattformen OpenSlides und AmnestyMeeting statt. Manchmal ruckelten Ton oder Bild, aber insgesamt war die Technik zuverlässig, und die Mitglieder erwiesen sich als technikerprobt und geduldig. Immer wieder zeigten sich jedoch auch Nachteile der digitalen Formate, so hätte etwa die virtuelle Amnesty-Kneipe besser besucht sein können, und oft fehlte schlichtweg ein reales Gegenüber.
Von Aufbruchsstimmung kündet auch die Wahl des neuen Vorstandes. Vergleichsweise viele Mitglieder kandidierten für ein Amt und stellten sich kritischen Fragen. Schließlich wurde ein neuer Vorstand gewählt, bestehend aus: Wassily Nemitz (Vorstandssprecher), Stephan Heffner (stellvertretender Vorstandssprecher), Andreas Schwantner (Finanzen), Wiebke Buth (Menschenrechtsbildung und Training), Lena Wiggers (Öffentlichkeitsarbeit), Lisa Nöth (Länder- und Themenarbeit), Maureen Macoun (ehrenamtliches Engagement) und Wolfgang Grenz (Flüchtlingsschutz).»Im Jahr des 60. Geburtstags stehen wir vor sehr großen menschenrechtlichen Herausforderungen – seien es die Corona-Krise, die Klimakrise, die steigende Bedrohung von Zivilgesellschaften weltweit oder der zunehmend menschenrechtswidrige Umgang mit Geflüchteten«, sagte Vorstands sprecher Nemitz. »Amnesty braucht es daher mehr denn je.«
Mehr zu 60 Jahre Amnesty: amnesty.de/60Jahre
Die Amnesty-Jugendaktionswoche 2021 hat sich dem Thema »Klima(un)gerechtigkeit« zugewandt. Online-Aktivismus war dabei eine sinnvolle Ergänzung zu Aktionen auf der Straße. Von Birte Wulfes
Auch wenn man es mit Blick auf die Nachrichten kaum glauben kann: Die Corona-Pandemie hat die Klimakrise nicht verdrängt. Sie ist präsenter denn je und bedroht das menschliche Überleben, die Umwelt und die Menschenrechte gegenwärtiger und zukünftiger Generationen.
Bei der diesjährigen bundesweiten Jugendaktionswoche vom 21. bis zum 28.April hat sich die Amnesty-Jugend deshalb mit dem Thema »Klima(un)gerechtigkeit – die Klimakrise menschenrechtskonform angehen« beschäftigt. Wir haben uns überlegt, was es für eine menschenrechtskonforme ökologische Transformation braucht. Gleichzeitig fand am 24. April auch Jugend@Amnesty statt, ein eintägiges Treffen der Amnesty-Jugend.
Müde, aber zufrieden, so fühlen wir uns als Organisationsteam nach der Aktionswoche. Es liegen anstrengende Tage hinter uns: Wir haben eine Podiumsdiskussion, verschiedene Social-Media-Aktivitäten und einen Filmabend organisiert. Zum Earth Day am 22.April konnten die Gruppen Aktionen in ihren Städten durchführen – coronakonform versteht sich.
Bei der Planung gab es einige Hürden zu überwinden. Nach über einem Jahr Pandemie kennen wir uns zwar mit den technischen Möglichkeiten und Chancen des Online-Aktivismus aus, gleichzeitig schwindet das Interesse an solchen Formaten. Das ist verständlich – wer dank Online-Unterricht und Homeoffice den ganzen Tag am Computer verbringen muss, hat nicht unbedingt Lust darauf, abends weitere zwei Stunden vor dem Bildschirm zu sitzen.
Während wir uns also vor einem Jahr noch fragen mussten, wie wir unsere gewohnten Konzepte den neuen Bedingungen anpassen, ist nun die Herausforderung, Veranstaltungen zu organisieren, die so interessant sind, dass Menschen auch nach acht Stunden Online-Universität teilnehmen wollen.
Ein abwechslungsreiches Programm scheint die Lösung zu sein, wie die Jugendaktionswoche und Jugend@Amnesty gezeigt haben. Das diesjährige Jugendtreffen war ein schönes Beispiel dafür, dass Online-Veranstaltungen kein blasser Abklatsch ihrer Präsenzversion sein müssen. Mit einem bewegenden Vortrag über den NSU-Komplex, sechs interessanten Workshops und einem Kneipenabend stellte die Veranstaltung ein Highlight des Jahres dar.
Die Jugendaktionswoche mit ihrem vielseitigen Programm war ebenfalls ein voller Erfolg, wie aus der Rückmeldung der Teilnehmenden ersichtlich wurde. Für unser Empfinden als Organisationsteam hätten noch mehr Menschen teilnehmen können, aber auch wir sind zufrieden.
Online-Aktivismus wird uns weiter begleiten. Auch wenn Präsenzveranstaltungen nie vollständig ersetzt werden können, so hat das vergangene Jahr doch deutlich gezeigt, dass Online-Aktivismus eine sinnvolle Ergänzung zu Demonstrationen, Mahnwachen und Co. darstellt.
Birte Wulfes gehört zum Organisationsteam der Jugendaktionswoche.
Die Jugend bleibt aktiv. Amnesty-Aktionen im Jahr 2021.
IMPRESSUM
Amnesty International Deutschland e.V.
Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030-420248-0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Maik Söhler (V.i.S.d.P.), Lena Wiggers, Lea De Gregorio, Anton Landgraf, Tobias Oellig, Pascal Schlößer, Uta von Schrenk Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Anna-Theresa Bachmann, Theresa Bergmann, Markus N. Beeko, Francesca De Sanctis, Neha Dixit, Laura Fornell, Peter Franck, Bastian Gabrielli, Michael Gottlob, Oliver Grajewski, Heike Haarhoff, Knut Henkel, Jürgen Kiontke, Bartholomäus von Laffert, Julia Lauter, Felix Lee, Felix Lill, Natalie Mayroth, Wera Reusch, Bettina Rühl, Cornelia Wegerhoff, Thomas Winkler, Christine Wollowski, Marlene Zöhrer
Layout und Bildredaktion:
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ISSN: 2199-4587