Amnesty Journal Juli/August 2021

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Foto: Evan Vucci / AP / pa

Rechte Eliten

Die Verlockung »anderer Tatsachen«. Anhänger_innen lauschen einer Wahlkampfrede des damaligen US-Präsidenten Donald Trump, September 2020.

Weltweit sorgen populistische Politiker_innen für die Aushöhlung von Demokratien. Doch wer verbreitet ihre Lügenbotschaften? In »Die Verlockung des Autoritären« sucht Anne Applebaum Antworten. Von Wera Reusch

A

nne Applebaum war eine der US-Intellektuellen, die während der Trump-Präsidentschaft immer wieder düstere Vorhersagen machte, die früher oder später exakt so eingetroffen sind. Die Historikerin und Publizistin hat sich intensiv mit Diktaturen beschäftigt, insbesondere mit dem Stalinismus, und kennt die Vorzeichen und Mechanismen autoritärer Herrschaft sehr genau. In ihrem neuen Buch untersucht sie die Rolle einer ganz bestimmten Gruppe: Autor_innen, Intellektuelle, Blogger_innen und Meinungsmacher_innen, mit ihren Worten: »Leute, die Missstände in Worte fassen, Unzufriedenheit manipulieren, Wut und Angst schüren.« Diese Bildungselite ist ihrer Ansicht nach unabdingbar für die Aushöhlung der Demokratie. Bemerkenswert an Applebaums Essay ist ihre Perspektive: Die 56-Jährige machte in den USA als Journalistin Karriere, unterrichtete an britischen Hochschulen und lebt seit Jahren in Polen. Sie bezeichnet sich selbst als konservativ und hat in den vergangenen Jahren erlebt, wie viele ihrer einstigen Freund_innen, Bekannten und Kolleg_innen mit einem »altmodischen Konservatismus« brachen und der »Verlockung des Autoritären« erlagen: »Sie wollen bestehende Einrichtungen stürzen, umgehen oder aushöhlen und alles Bestehende zerschlagen.« Beispiele dafür findet Applebaum in Polen und Ungarn, den USA und Großbritannien, aber auch in einem Land wie Spanien. Bemerkenswert an dieser Gruppe ist, dass sie weder arm noch unterprivilegiert ist, kein Opfer politischer Umwälzungen

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wurde, geschweige denn ihre Jobs an Zuwanderer_innen verlor. Woher kommen also der Hass, die Wut und der Zynismus der autoritären Intellektuellen, wenn es dafür ganz offensichtlich keine wirtschaftlichen Gründe gibt? Applebaum verweist auf die Verhaltensökonomin Karen Stenner, der zufolge »rund ein Drittel der Bevölkerung jedes beliebigen Landes eine autoritäre Veranlagung habe« und keine Komplexität aushalte. Auch die Angst vor dem Verlust von Privilegien spiele eine Rolle und schwelende Ressentiments: »Wer glaubt, er habe einen Platz an den Schalthebeln der Macht verdient, spürt oft ein starkes Bedürfnis, Eliten zu attackieren, Gerichte mit Gesinnungsgenossen zu besetzen und die Presse zu manipulieren, um seine Ziele zu erreichen.« Dass die Lügen und Verschwörungstheorien Widerhall finden, liegt laut Applebaum daran, dass es kein »homogenes nationales Gespräch« mehr gibt: »Menschen hatten immer unterschiedliche Ansichten. Heute haben sie unterschiedliche Tatsachen.« Die Autorin will keine allumfassende Theorie für die extreme Lagerbildung und die autoritäre Unterwanderung von Demokratien durch Figuren wie Kaczyński, Orbán, Trump und auch Johnson sowie deren Lakaien liefern. Ihr Essay spiegelt vielmehr persönliche Erfahrungen und Überlegungen wider, verweist auf historische Parallelen, sucht nach Antworten, wie sich der Gefahr begegnen ließe. Es ist Applebaums Verdienst, den Blick auf die geistigen Brandstifter zu lenken, zu kurz kommen in ihrer Analyse allerdings die Wähler_innen, die ebenso der »Verlockung des Autoritären« erliegen. Denn Wahlerfolge autoritärer Potentaten lassen sich nicht allein mit ideologischer Manipulation durch reaktionäre Spindoctors erklären. Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer. Siedler Verlag, München 2021, 208 Seiten, 22 Euro

AMNESTY JOURNAL | 04/2021


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