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DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE
AMNESTY JOURNAL VIELFALT IN GEFAHR DISKRIMINIERUNG IN INDIEN
DAS GRAUEN AUS DER LUFT Türkischer Drohnenkrieg gegen Kurd_innen im Nordirak
COVID-19 IN BRASILIEN Ein Stadtteil von Salvador kämpft ums Überleben
MUSTER DER GEWALT Parastou Forouhar und die Kunst des zweiten Blicks
04 2021
JULI / AUGUST
INHALT
Der Kampf um Indien. Politiker_innen, die dem Hindu-Nationalismus verbunden sind, hetzen, ordnen Repression an und erlassen diskriminierende Gesetze. Der Druck auf Muslim_innen wird immer größer.
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TITEL: DISKRIMINIERUNG IN INDIEN Hindu-Nationalismus: Muslim_innen werden schikaniert
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Kastenlose: Wer hat Angst vor selbstbewussten Dalits?
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Transgeschlechtliche Menschen: Zuflucht in Kochi
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Einsatz für Menschenrechte: Staatsfeind Amnesty
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Bauernproteste: Indiens größte Demonstrationen
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Feminismus und Bildung: Manasi Pradhan
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Feminismus und Medien: Japleen Pasricha
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Aufstand vom Land. Die indische Regierung will den Agrarmarkt liberalisieren. Die Bäuer_innen wehren sich gegen die Gesetze, die Mindestpreise für Agrarprodukte abschaffen sollen. Sie fürchten um ihre Existenz.
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POLITIK & GESELLSCHAFT Türkischer Drohnenkrieg im Nordirak: Tod per Knopfdruck
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Graphic Report Belarus: Frauen ganz vorn
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Brasilien: Selbsthilfe in der Corona-Pandemie
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Kolumbien: Menschenrechtlerin Jani Silva im Porträt
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Tansania: Verstorbener Präsident Magufuli
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Madagaskar: Handy mit Gesundheitsspardose
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Das Grauen aus der Luft. Seit Jahren führt die Türkei einen Drohnenkrieg gegen kurdische Milizen im Nordirak. Immer öfter werden dabei Zivilpersonen getötet. Im Frühjahr hat die Türkei eine neue Offensive gestartet.
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KULTUR Bildende Kunst: Parastou Forouhars Ornamente
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Queerer Rap: Mc Nill aus Italien
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Science-Fiction-Literatur: Wahre Kunst aus China
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Postkoloniale Sprache: Der kenianische Schriftsteller Ngūgī wa Thiong’o
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Guantánamo im Kino: Mohamedu Ould Slahi über den neuen Hollywood-Thriller »The Mauritanian«
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Sachbuch über Populismus: Rechte Eliten
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Musik von Ozan Ata Canani: Lieder zwischen den Welten
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RUBRIKEN Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 06 Markus N. Beeko fragt: Warum sind wir noch bei WhatsApp? 07 Spotlight: Repression in Russland 08 Interview: Margareta Mommsen 09 Was tun 46 Porträt: Toshihiko Tanaka 52 Dranbleiben: Täter_innen keine Bühne bieten 53 Rezensionen: Bücher 67 Rezensionen: Film & Musik 68 Briefe gegen das Vergessen 70 Aktiv für Amnesty: Jahresversammlung, Jugendaktionswoche 74 Impressum 75
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Muster der Gewalt. Die aus dem Iran stammende Künstlerin Parastou Forouhar setzt mit ihren Werken auf den zweiten Blick. Zunächst pittoresk wirkende Ornamente zeugen bei genauerer Betrachtung von Unrecht und Unmenschlichkeit.
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54 »Ich bin ich selbst und das reicht.« Menschen, die nicht in die sexuelle Norm passen, haben in Italien mit großen Vorurteilen zu kämpfen. Rapper_in Mc Nill kann ein Lied davon singen.
AMNESTY JOURNAL | 04/2021
Hoffnung für manche. In Indien werden transgeschlechtliche Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen diskriminiert. Bundesstaaten wie Kerala akzeptieren das nicht länger.
SICHTBARE UND UNSICHTBARE ARBEIT »Mit Menschlichkeit für die Menschenrechte« – unter diesem Motto feiert Amnesty International dieser Tage fast überall auf der Welt den 60. Geburtstag. Es gibt zahlreiche Veranstaltungen, online und offline, immer unter Beachtung der Corona-Regeln. Amnesty in Deutschland richtet zum Jubiläum den Blick insbesondere auf Menschen, die in Gefahr sind, und auf Menschenrechtsverteidiger_innen, die sich für andere einsetzen. In dieser Ausgabe des Amnesty Journals porträtieren wir Jani Silva, eine kolumbianische Menschenrechts- und Umweltaktivistin, die für Gerechtigkeit im Amazonasgebiet kämpft und deshalb von Paramilitärs bedroht wird (Seiten 42 und 43).
18 Laptop als Waffe. Mit ihrer Online-Plattform Feminism in India macht sich Japleen Pasricha für Geschlechtergerechtigkeit stark – mit Texten auf Hindi und Englisch.
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Allein gegen Corona. Rassismus und eine prekäre Infrastruktur verschärfen die Lage der Bewohner_innen im Viertel Uruguai in der brasilianischen Stadt Salvador. Der Staat hilft wenig – und das nicht erst seit der Covid-19-Krise.
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Wächterin des Regenwaldes. Seit mehr als 40 Jahren engagiert sich Jani Silva für nachhaltige Landwirtschaft in der Amazonasregion Kolumbiens. Paramilitärs drohen der international bekannten Umweltschützerin mit dem Tod. Der Staat hat sie lange im Stich gelassen.
Rafael Martins | Parastou Forouhar | Nubia Acosta | Gaetano Massa
EDITORIAL
Foto: Gordon Welters
Das 60-jährige Jubiläum und der Kampf gegen die Repression in Indien gehören zu den sichtbaren Aspekten unserer Arbeit. Unsichtbar bleiben oft all jene, die unsere journalistische Arbeit regelmäßig unterstützen. Sei es durch ihr ehrenamtliches Engagement für Amnesty in sogenannten Länder- und Themenkoordinationsgruppen, sei es durch ihre hauptamtliche Tätigkeit für Amnesty.
Fotos oben: Ern Jones (2) | Oscar Espinosa | André Gottschalk | Daniela Sala
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Hindu-Nationalisten, die das Land und einzelne Bundesstaaten regieren, versuchen seit Jahren, all jene zu unterdrücken und mundtot zu machen, die ihr Weltbild stören (Seiten 12 bis 17). Auch Amnesty International kann in Indien derzeit nicht mehr arbeiten, da die Behörden sämtliche Konten der Organisation eingefroren haben. Doch der Vorstandssprecher von Amnesty in Indien, Aakar Patel, gibt nicht auf: »Gerade in dieser Zeit braucht es Organisationen wie Amnesty, die denen eine Stimme verleihen, die oft nicht gehört werden.« (Seiten 22 und 23)
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Titelbild: Protest gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz in Mumbai, 23. Februar 2020. Foto: Prashant Waydande / Reuters
INHALT
Unser Schwerpunkt rückt Indien in den Mittelpunkt. Lange sah es so aus, als bekäme das Land die CoronaPandemie nicht in den Griff, mehr als 30 Millionen Menschen waren an Covid-19 erkrankt, fast 400.000 sind an oder mit dem Virus gestorben. Doch zum Glück sinken die Fallzahlen nun wieder. Die Pandemie ist jedoch nicht das einzige Problem Indiens.
Wir haben bei dieser Ausgabe mit vielen von ihnen eng zusammengearbeitet. Wenn Sie nach der Lektüre denken, das ist mir gar nicht aufgefallen, dann haben wir unsere Arbeit gut gemacht. Vielen Dank an dieser Stelle an all die unsichtbaren Helfer_innen. Maik Söhler ist verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals.
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PANORAMA
Foto: Omar Marques / Anadolu Agency / pa
NICHT MAL IM HIMMEL ÜBER BELARUS SICHER Selbst der Luftraum über Belarus schützt nicht vor Repression. Diese Erfahrung musste der regierungskritische Blogger Roman Protasewitsch am 23. Mai machen, als ein Kampfjet des belarussischen Militärs eine zivile Linienmaschine auf dem Weg nach Litauen zur Landung in Minsk zwang. Dort wurden Protasewitsch und seine Freundin Sofia Sapega von Sicherheitskräften festgenommen. Dem Blogger wird wegen seines regierungskritischen Engagements unter anderem »Anstiftung zu Unruhen« vorgeworfen. Ihm drohen bis zu 15 Jahre Haft. Seit August 2020 protestieren Hunderttausende in Belarus gegen den Präsidenten Alexander Lukaschenko, dem sie Wahlbetrug vorwerfen. Die Sicherheitsbehörden gehen brutal gegen Demonstrierende vor. 30.000 Personen wurden Schätzungen zufolge festgenommen, Tausende zu mehrjährigen Strafen verurteilt. Viele der Inhaftierten berichten von psychischer und physischer Gewalt. Unzählige belarussische Regimegegner_innen haben Zuflucht in Litauen und Polen gesucht. Das Bild zeigt eine Frau bei einer Demonstration für die belarussische Opposition in Warschau (25. Mai 2021).
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AMNESTY JOURNAL | 04/2021
ZIVILBEVÖLKERUNG IN ISRAEL UND GAZA SCHÜTZEN Immerhin: Seit dem 21. Mai wird kaum noch geschossen. Ein von Ägypten vermitteltes Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und der Hamas hat seither Bestand. Vom 10. Mai 2021 an feuerten bewaffnete palästinensische Gruppen Tausende Raketen auf zivile Gebiete im Zentrum Israels und auf Städte nahe der Grenze zum Gazastreifen. Mehrere Menschen wurden verletzt oder getötet. Die israelischen Streitkräfte flogen Luftangriffe, bei denen zahlreiche Zivilpersonen im Gazastreifen verletzt oder getötet wurden. Dabei steht fest: Alle Konfliktparteien sind nach dem humanitären Völkerrecht verpflichtet, die Zivilbevölkerung sowie ziviles Eigentum und die zivile Infrastruktur zu schützen. Jedoch wird diese völkerrechtliche Verpflichtung sträflich missachtet. Amnesty International hat die internationale Gemeinschaft und die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates aufgefordert, solche Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht öffentlich zu verurteilen und Druck auf alle Konfliktparteien auszuüben, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Im Bild: Das israelische Abfangsystem »Iron Dome« zerstört nahe Ashkelon in Gaza abgefeuerte Raketen (10. Mai 2021). Foto: Amir Cohen / Reuters
PANORAMA
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EINSATZ MIT ERFOLG
UNGARN Das Parlament hat im Mai das NGOGesetz von 2017 aufgehoben, das zivilgesellschaftliches Engagement einschränkte. Es reagierte damit auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, wonach das ungarische NGOGesetz gegen den Grundsatz des freien Kapitalverkehrs verstieß und die Rechte auf Achtung des Privatlebens, Schutz personenbezogener Daten und Vereinigungsfreiheit verletzte. Gleichzeitig verabschiedete das Parlament ein neues Gesetz, das die Arbeit von NGOs erneut bedroht. Es verpflichtet den staatlichen Rechnungshof, jährlich über den finanziellen Status von NGOs zu berichten, die »die Öffentlichkeit beeinflussen«. Dies ermöglicht der Behörde eine gezielte Überprüfung bestimmter Organisationen.
Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schützt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge
KOLUMBIEN Seit Anfang März 2021 haben die Behörden die Schutzmaßnahmen für Luis Alberto González López und weitere Mitglieder der Umweltschutzorganisation FEDEPESAN verstärkt. Am 8. Februar hatten Unbekannte in der Nähe seiner Wohnung in Barrancabermeja Flugblätter mit Drohungen gegen den Umweltschützer verteilt. Die Flugblätter waren von der Guerillagruppe ELN unterzeichnet. López ist Vizepräsident der FEDEPESAN, einer Organisation in der zentralkolumbianischen Region Magdalena Medio. Seit September 2020 schickten bewaffnete Gruppen mindestens fünf Drohbriefe an Mitglieder von FEDEPESAN, darunter drei Morddrohungen. Daraufhin forderte Amnesty International gemeinsam mit anderen Organisationen Schutzmaßnahmen.
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BURUNDI Wie im April bekannt wurde, sind die vier Journalist_innen Agnès Ndirubusa, Christine Kamikazi, Egide Harerimana und Térence Mpozenzi bereits im Dezember 2020 freigelassen worden. Der Präsident von Burundi hatte sie nach 14 Monaten Haft begnadigt. Die vier Reporter_innen des unabhängigen Nachrichtenportals Iwacu waren im Oktober 2019 in der Provinz Bubanza zusammen mit ihrem Fahrer festgenommen worden, als sie über Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und einer bewaffneten Gruppe berichten wollten. Der Fahrer wurde im Januar 2020 freigesprochen, die Journalist_innen wurden zu zweieinhalb Jahren Haft und einer Geldstrafe verurteilt. Amnesty International hatte sie mit einer Eilaktion unterstützt und ihre sofortige Freilassung gefordert.
MALAWI Das Oberste Berufungsgericht hat Ende April die Todesstrafe für verfassungswidrig erklärt. Ein 2003 wegen Mordes verurteilter Mann hatte gegen sein Todesurteil geklagt und bekam nach jahrelangem juristischen Streit nun Recht. Das Gericht befand, dass das Recht auf Leben das höchste aller Rechte sei, von dem die Verfassung keine Abweichung erlaube. Mit der Todesstrafe werde dieses Recht nicht nur missachtet, sondern quasi außer Kraft gesetzt. Als Höchststrafe kann in Zukunft noch lebenslange Haft verhängt werden. Der Amnesty-Regionaldirektor für das östliche und südliche Afrika, Deprose Muchena, sprach von einem »entscheidenden Sieg«.
AMNESTY JOURNAL | 04/2021
SRI LANKA Mindestens 41 Arbeitsmigrantinnen konnten Ende Mai nach Sri Lanka zurückkehren, nachdem sie teilweise 18 Monate lang in Saudi-Arabien festgehalten worden waren. Die Frauen waren als Hausangestellte nach Saudi-Arabien gekommen und saßen zuletzt in Riad in Abschiebehaft. Alles deutet darauf hin, dass sich viele von ihnen wegen des berüchtigten Kafala-Systems in Haft befanden: Arbeitsmigrant_innen können demnach inhaftiert werden, wenn ihre Arbeitsgenehmigung ausläuft, ihre Arbeitgeber_innen ihnen keine Ausreiseerlaubnis ausstellen oder wenn sie vor Misshandlung am Arbeitsplatz fliehen. Nachdem Amnesty International eine Pressemitteilung veröffentlicht und eine Eilaktion gestartet hatte, berichteten zahlreiche Medien in Sri Lanka über den Fall.
EINSATZ MIT ERFOLG
MARKUS N. BEEKO FRAGT
Foto: Bernd Hartung / Amnesty
PAKISTAN Der gewaltlose politische Gefangene Muhammad Ismail wurde am 12. April auf Anordnung eines Gerichts in Peschawar gegen Kaution aus der Haft entlassen. Die konstruierte Anklage wegen »Terrorismus-Finanzierung« besteht weiterhin, im Falle einer Verurteilung droht ihm eine lange Haftstrafe. Ismail ist 66 Jahre alt und hat ein schweres Herzleiden. Weil er die Armee kritisiert und seine Tochter, die Frauenrechtlerin Gulalai Ismail, unterstützt hatte, werden er und seine Familie seit 2019 überwacht. Anfang Juni sprach ein Gericht in Lahore Shafqat Emmanuel und Shagufta Kausar frei. Sie waren 2014 zum Tode verurteilt worden, weil sie »blasphemische« Textnachrichten verschickt haben sollen. Das Ehepaar musste sieben Jahre in Haft verbringen, bis die Berufungsverhandlung stattfand.
WARUM SIND WIR NOCH BEI WHATSAPP? Eigentlich mag ich Elternabende. Es sind Gelegenheiten, wiedergutzumachen, dass ich mich zu wenig mit Lehrer_innen und anderen Eltern über den Schulalltag austausche. Zugegeben, als langjähriges Mitglied einer demokratisch verfassten Mitgliederorganisation wie Amnesty und als Teilnehmer von Sitzungen mit Behörden bin ich abgehärtet gegen die oft »erstaunlichen« Diskussionen auf Elternabenden, bei denen ich mich auch nur punktuell einmische. Bei einer Frage aber fällt mir Zurückhaltung schwer: die Nutzung von Messengerdiensten, Videokonferenzen usw. in Schule oder Verein. Da muss ich einfach die ketzerische Frage stellen: »Warum sind wir noch bei WhatsApp?« Bei diesem Thema bin ich Querulant, seit die Berliner Datenschutzbeauftrage die Behörden aufforderte, die Nutzung von WhatsApp in Schulen zu unterlassen. Amnesty beschäftigt sich intensiv mit den Geschäftsmodellen von Facebook, Google & Co. Diese Firmen haben weitreichenden Einfluss auf die demokratische Willensbildung bis hin zu Wahlen, auf die Debattenkultur und auf Hassrede und Gewalt. Sie verletzen die Menschenrechte auf Informationsfreiheit, Privatsphäre, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, informationelle Selbstbestimmung und den Datenschutz. Diese Firmen erstellen nicht nur von Nutzer_innen ihrer Dienste umfangreiche Datenprofile, sondern von allen, die Apps, digitale Dienstleistungen oder Webseiten nutzen. Milliarden WhatsApp-Nutzer_innen übermitteln nicht nur ihre Kontakt- und Verbindungsdaten, sondern gleich ihr gesamtes Adressbuch. So besitzt Mark Zuckerberg ein weltweites Telefonbuch von Menschen, die diese Dienste gar nicht selbst nutzen und nie ihre Zustimmung zur Datenerfassung erteilt haben. Viele Menschen verknüpfen mit Diensten wie WhatsApp zu Recht ein Unbehagen, obwohl sie aus ihrem Leben nicht wegzudenken sind. Knapp die Hälfte der Teilnehmer_innen einer Umfrage erklärte sich bereit, Geld zu zahlen, falls Facebook & Co. keine personalisierten Daten mehr sammelten. Seit WhatsApp die Zustimmung zu neuen Geschäftsbestimmungen verlangt, denken viele über einen Wechsel nach. Aber nur wenige wechseln tatsächlich zu alternativen verschlüsselten Messengerdiensten wie Signal, Threema oder Wire. Als Grund wird meist der »Netzwerkeffekt« angegeben. 75 Prozent sagen, dass »halt alle dort seien«. Damit manifestiert sich Machtlosigkeit bei Menschen, die als Verbraucher_innen und Bürger_innen unabhängig und selbstbestimmt über ihre Daten entscheiden sollten. Der »Netzwerkeffekt« kann aber auch als »Netzwerkhebel« zur Befreiung genutzt werden. Wenn wir gemeinsam handeln, anstatt uns ohnmächtig zu fühlen. Da kommen Schule, Jugendarbeit und Vereine ins Spiel. Wenn wir uns entscheiden, in unseren Netzwerken unabhängige und menschenrechtskonforme Dienste zu nutzen, entfällt der Gruppenzwang zu WhatsApp. Wenn alle Schüler_innen und ihre Freund_innen, Eltern, Großeltern, Lehrer_innen und Trainer_innen bei Alternativmessenger XYZ sind – dann ist das »the place to be«. Wir könnten damit den Digitalkonzernen, die bislang wenig Respekt für die Menschenrechte gezeigt haben, beweisen, dass eine freie Gesellschaft unabhängiger, selbstbestimmter Menschen noch handlungsfähig ist. Warum sind Sie immer noch bei WhatsApp? Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.
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NAWALNY IST WIEDER »GEWALTLOSER POLITISCHER GEFANGENER« Gegen die Unterstützer_innen Nawalnys. Polizeieinsatz am 21. April 2021 in Moskau.
Im Februar 2021 sorgte die Entscheidung von Amnesty International, den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny künftig nicht mehr als »gewaltlosen politischen Gefangenen« zu bezeichnen, für Irritationen in der Öffentlichkeit. Auch innerhalb der Organisation hat dies zu einer intensiven Diskussion geführt. Nach einer sorgfältigen Überprüfung wurde die im Februar getroffene Entscheidung korrigiert. Nawalny gilt nun wieder als »gewaltloser politischer Gefangener«. An der Einschätzung von Amnesty, dass diskriminierende Aussagen, die Nawalny 2007 und 2008 machte, möglicherweise als »Hassreden« betrachtet werden können, die der Einstufung als
ALEXEJ NAWALNY MUSS EINE FREIHEITSSTRAFE VON NOCH
ZWEI JAHREN UND SECHS MONATEN IN HAFT VERBRINGEN.
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»gewaltloser politischer Gefangener« entgegenstehen, hat sich nichts geändert. Doch liegen diese Äußerungen mehr als zehn Jahre zurück und stehen nicht in Zusammenhang mit seiner jetzigen Inhaftierung. Zudem hat Nawalny später sein Engagement für Nichtdiskriminierung und Vielfalt betont. Mit der Einstufung als »gewaltloser politischer Gefangener« ist keine Aussage im Hinblick auf Nawalnys politische Agenda verbunden. Auch wenn die beteiligten Personen ihre Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen getroffen haben, hat sich Amnesty International im Februar falsch entschieden und dadurch Schutzpflichten gegenüber Alexej Nawalny verletzt. In
»Nawalny muss sofort und bedingungslos freigelassen werden.« MARKUS N. BEEKO, GENERALSEKRETÄR VON AMNESTY INTERNATIONAL DEUTSCHLAND
einer öffentlichen Erklärung vom 7. Mai 2021 hat sich die Organisation entschuldigt – für die aus der Fehlentscheidung resultierenden negativen Auswirkungen auf ihn und all jene, die sich in Russland für seine Freilassung einsetzen und dafür Repressionen in Kauf nehmen. Die Überprüfung hat ergeben, dass interne Richtlinien inkonsistent ausgelegt und im Lauf der Zeit inkonsequent angewandt wurden. Amnesty hat deshalb mit einer Überprüfung des Begriffs des »gewaltlosen politischen Gefangenen« begonnen. Im Rahmen dieses Prozesses wird auch die Frage zu klären sein, ob dieser Begriff in Zukunft überhaupt noch verwendet werden sollte.
ALEXEJ NAWALNYS POLITISCHE ORGANISATIONEN SIND IM JUNI
ENDGÜLTIG VERBOTEN
WORDEN. DAS MOSKAUER STADTGERICHT STUFTE SIE ALS »EXTREMISTISCH« EIN.
AMNESTY JOURNAL | 04/2021
Foto: Sergey Ponomarev / The New York Times / Redux / laif
SPOTLIGHT: REPRESSION IN RUSSLAND
MARGARETA MOMMSEN
»ANGST VOR DEM ZERFALL RUSSLANDS« Foto: Björn Marquart / Verlag C.H. Beck
Der Fall von Alexej Nawalny legt offen, wie Oppositionelle in Russland politisch ausgeschaltet werden. Wie reagieren nun Staat und Gesellschaft? Die emeritierte Professorin für Politkwissenschaft Margareta Mommsen erwartet kurzfristig keine großen Änderungen, zu stark sei die Propaganda für Wladimir Putin. Die 83-Jährige hat das politische System der Sowjetunion und Russlands jahrzehntelang erforscht. Interview: Barbara Oertel
Wie würden Sie das derzeitige politische System in Russland charakterisieren? Es ist ein autoritäres Regime, das stark auf die Person Wladimir Putin ausgerichtet ist. Man kann von Putinismus sprechen, von einem System, das auch anderen attraktiv erscheint, wie Viktor Orbán in Ungarn. In Russland gibt es keine Alleinherrschaft, kein One-Man-Regime. Aber eine One-Man-Show. Wie funktioniert diese One-Man-Show? Die Propaganda, die vor allem das russische Fernsehen betreibt, ist ein entscheidendes Element. Ihre zentrale Aufgabe ist es, den nationalen Führer positiv darzustellen, um im Land Zustimmung zu erzeugen. Das gelingt bislang sehr erfolgreich. Die Menschen unterliegen seit Jahrzehnten dieser Gehirnwäsche. Sie geht mit der Vorstellung einher, Russland sei eine belagerte Festung und werde ständig von außen bedroht. Der Konformismus ist immer noch sehr stark ausgeprägt. Der Fall des kremlkritischen Bloggers Alexej Nawalny ist eine Chiffre für die Politik in Russland geworden … Ja, kritische oppositionelle Stimmen, die vor allem bei Jüngeren Zustimmung finden, werden mundtot gemacht. Nawalny ist seit vielen Jahren konsequent vorgegangen. Er sagt offen, dass er dieses Regime aufbrechen will. Dafür legt er den Finger in die größte Wunde des Regimes, die Korruption. Das tut dem Kreml weh. Deshalb muss Nawalny politisch vernichtet werden. In den 1990er Jahren gab es Hoffnungen, Russland werde sich demokratisieren. Warum hat das nicht funktioniert? Die entscheidende Frage ist, warum die liberale Verfassung von 1993 gescheitert ist. Die Antwort ist: Die damaligen politi-
SPOTLIGHT: REPRESSION IN RUSSLAND
schen Akteure haben diese Verfassung schlicht nicht verstanden. So war ihnen zum Beispiel das Prinzip der Gewaltenteilung zu riskant. Danach bekamen diese Prinzipien nie wieder eine Chance. Den Höhepunkt haben wir 2020 erlebt mit dem Verfassungsputsch, mit dem sich Putin seine Präsidentschaft verlängert hat. Dahinter steckt die Vorstellung, es brauche Stabilität. Das heißt, es darf keinen Machtwechsel und keinen Pluralismus geben. Hinzu kommt die Angst vor dem Zerfall Russlands. Welche Entwicklungen erwarten Sie in nächster Zukunft? Ich sehe in absehbarer Zeit keine großen Änderungen. Die Duma-Wahl im September wird nach einer festgelegten Choreografie ablaufen, und die sogenannte Regierungspartei Einiges Russland wird eine Mehrheit erhalten. Daran wird intensiv gearbeitet, vor allem in den staatlichen Medien. Und die Oppositionsbewegung? Ein Szenario wie in Belarus ist so wenig vorstellbar wie ein ukrainisches Maidan-Szenario. Angesichts der Zustimmungsraten zu Putin wird es keinen Dammbruch geben. Auch bei vielen jüngeren Menschen gibt es keine Sehnsucht nach Demokratie, starker Gegenmacht und Opposition. Das alles ist von der Propaganda abgetötet worden. Aber wir haben es mit Menschenrechtsverletzungen zu tun. Das reicht für eine Mobilisierung offenkundig nicht aus. Ja, es gibt Bewegungen von unten, aber die sind apolitisch. Es geht ihnen vor allem um soziale Themen oder Natur- und Denkmalschutz. Darauf geht der Kreml sogar ein. Aber Unruhe zu stiften, öffentliche Auftritte, alles was die etablierte Macht infrage stellen könnte, gilt es unter allen Umständen zu unterbinden.
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Diskriminierung in Indien Vielfalt in Gefahr! Der Hindu-Nationalismus versucht, unterschiedliche Lebensweisen, Sprachen, Kulturen und Religionen zu seinen Gunsten zu vereinheitlichen und den Hindus Vorteile zu sichern. Gegner_innen geraten unter Druck. Muslim_innen und Kastenlose bekommen das ebenso zu spüren wie transgeschlechtliche Menschen. Amnesty International musste die Arbeit im Land sogar einstellen. Wo Unrecht ist, da gibt es auch Widerstand. Demonstrationen gegen diskriminierende Gesetze und eine Liberalisierung des Agrarmarktes prägen den Alltag. All das inmitten der Corona-Pandemie, die den Subkontinent hart getroffen hat.
Lassen sich ihr Recht auf Widerspruch nicht nehmen. Frauen und Transpersonen demonstrieren für Gleichheit und Freiheit, Kolkata, April 2019. Foto: Avishek Das / Zumapress / pa
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Der Kampf um Indien Politiker, die dem Hindu-Nationalismus verbunden sind, hetzen, ordnen Repression an und erlassen diskriminierende Gesetze. Der Druck auf Muslim_innen wird immer größer. Von Neha Dixit (Text) und Ern Jones (Fotos)
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wei Frauen mit Hijab stellen sich mutig vor ihren Freund, der am Boden liegt, und schützen ihn vor den Schlägen und Tritten einer Gruppe von Polizisten – das Video dieser Szene fand am 15. Dezember 2019 in den sozialen Medien weite Verbreitung. Ladeeda Sakhaloon und Aysha Renna, die beiden 22-jährigen muslimischen Studentinnen aus Neu-Delhi, wurden damit über Nacht zu den prominentesten Gesichtern der Bürgerrechtsproteste in Indien. Gemeinsam mit vielen anderen Studierenden demonstrierten sie an diesem Tag friedlich auf dem Campus ihrer Universität, bis die Polizei die Ausgänge verbarrikadierte und mit Tränengas und Schlagstöcken angriff. Auslöser für ihren Protest war das Staatsbürgerschaftsgesetz, das am 11. Dezember 2019 vom indischen Parlament verabschiedet worden war. Es ermöglicht Angehörigen religiöser Minderheiten aus Afghanistan, Bangladesch und Pakistan, die indische Staatsbürgerschaft anzunehmen – aber nur, wenn sie Hindus, Sikhs, Buddhist_innen, Jains, Parsis oder Christ_innen sind und vor Ende 2014 nach Indien kamen. Muslim_innen aus diesen Ländern wird dieses Recht nicht gewährt. Damit wurde in Indien zum ersten Mal ein Gesetz verabschiedet, das die Religionszugehörigkeit unverhohlen zum
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Kriterium für die Staatsbürgerschaft macht. Die Proteste dagegen breiteten sich schnell im ganzen Land aus und wurden meist von muslimischen Frauen angeführt.
Die BJP- und RSS-Ideologie Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Klima, das vom HinduNationalismus geprägt ist, fühlen sich Muslim_innen in Indien bedroht und dämonisiert, obwohl sie mit 14 Prozent Bevölkerungsanteil die größte Minderheit im Land bilden. Sie werden Opfer von Polizeigewalt und Hassverbrechen. Muslimische Personen, die eine Gebetsmütze, einen Bart oder eine Burka tragen, müssen fürchten, auf der Straße angegriffen zu werden. Die Regierungspartei Bhartiya Janta Party (BJP) unterstützt eine Kultur der Straffreiheit für die Täter_innen und befeuert die strukturelle Diskriminierung der Muslim_innen im Land. Um zu verstehen, wie es im pluralistischen Indien, der größten Demokratie der Welt, zu dieser Situation kommen konnte, muss man einen Blick zurückwerfen: Im Jahr 2014 kam die von Narendra Modi geführte BJP in Indien an die Macht. Modi war zuvor 17 Jahre lang Ministerpräsident von Gujarat. Unter seiner Führung erlebte der westindische Bundesstaat ein groß angelegtes antimuslimisches Pogrom, bei dem mehr als 2.000 Men-
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Frauen schauen ins Innere einer Moschee, die nach antimuslimischen Ausschreitungen ausgebrannt ist. Neu-Delhi im Februar 2020.
»Niemand kehrt je aus den Haftanstalten zurück.« Abdul, Inder aus Assam ohne Papiere
schen, die meisten davon Muslim_innen, von Mitgliedern der BJP und ihr nahestehender Gruppen getötet wurden. Eine dieser Gruppen ist Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), der auch Premierminister Modi angehört. Die 1925 gegründete Organisation wurde von Adolf Hitlers Ideologie der »Rassenreinheit« inspiriert und gibt der BJP die ideologische Richtung vor. Ihr erklärtes Ziel ist die Errichtung einer Hindu-Nation (Hindu Rashtra), eines Landes ausschließlich für Hindus. Die Organisation folgt der Ideologie des politischen Hinduismus (Hindutva), eines ihrer früheren Mitglieder war Nathuram Godse, der Mörder Mahatma Gandhis. Vinayak Damodar Savarkar, der Stammvater der Hindutva-Ideologie, sagte 1944 in einem Interview mit dem US-Journalisten Tom Treanor, Muslime würden »die Position von N*** in Ihrem Land« einnehmen. Savarkars Porträt hängt heute im indischen Parlament. Indien ist ein Land mit einer großen Vielfalt an Religionen, Kulturen und Sprachen, die nebeneinander existieren. Im letzten Jahrhundert verfolgte der RSS hartnäckig sein Ziel, die nationale Identität mit der religiösen Identität zu verschmelzen und Indien zu homogenisieren. Die einflussreiche Gruppe strebt danach, in Indien (Hindustan) eine Sprache (Hindi) und eine Religion (Hinduismus) festzulegen. Narendra Modi treibt diese Agenda mithilfe seines Vertrauten Amit Shah voran, der mittlerweile Innenminister ist.
Abduls Eltern waren landlose Arbeiter_innen und starben bei einem Unfall, als er neun Jahre alt war. Er hat keine Hoffnung auf eine Entlassung, sein Cousin Ali hat sich vor zwei Monaten in einem anderen Internierungslager im Bezirk Tezpur in Assam das Leben genommen. Die Hafteinrichtungen gehen auf eine Idee von Amit Shah zurück: Während des Wahlkampfs für die Parlamentswahlen 2019 rief er zur Vertreibung der »Termiten« auf und versprach, die BJP werde »eine landesweite Kampagne durchführen, um die Eindringlinge zurückzuschicken«. Gemeint waren muslimische Migrant_innen aus Bangladesch, die sich ohne gültige Papiere in Indien aufhielten. Kurz nach der Wahl teilte das Innenministerium am 31. Juli 2019 mit, man werde das Bevölkerungsregister (NRC) aktualisieren. Dafür musste jede Person schriftlich nachweisen, dass sie selbst, ihre Eltern oder Großeltern vor dem 24. März 1971 in Indien wohnten. Fehlt dieser Nachweis, werden die Betroffenen zu illegalen Einwander_innen erklärt. Fünf Monate später, im Dezember 2019, wurde zudem das eingangs erwähnte Staatsbürgerschaftsgesetz verabschiedet. Ein Effekt dieses Gesetzes ist, dass die Angehörigen der sechs größten Religionsgemeinschaften die Staatsbürgerschaft einfach neu beantragen können, falls sie wegen des neuen Bevölkerungsregisters für illegal erklärt worden waren – mit Ausnahme der Muslim_innen.
Muslim_innen in Internierungslagern Der 22-jährige Abdul arbeitet als Bauarbeiter in einer Hafteinrichtung für »illegale Einwanderer« im Bezirk Goalpara im nordindischen Bundesstaat Assam. Das Internierungslager befindet sich in einer abgelegenen Gegend und erstreckt sich über 2,8 Hektar. Abdul wurde zum »illegalen muslimischen Einwanderer« erklärt und dort interniert, weil er keine Dokumente vorlegen konnte, die seine indische Staatsbürgerschaft bestätigt hätten. Dabei sind er und seine Eltern in Indien geboren und haben stets dort gelebt. Um sich in der ineffizienten Bürokratie offizielle Dokumente zu besorgen, fehlt es den sozioökonomisch Schlechtergestellten an Zeit und Geld.
DISKRIMINIERUNG IN INDIEN
Von Hindu-Nationalist_innen demoliertes Ladengeschäft. Neu-Delhi im Februar 2020.
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»Ich werde diesen Ort erst verlassen, wenn Indiens Pluralität sicher ist.« Bilkis (82) über Protest Das Zusammenspiel dieser beiden Vorgänge zielt auf die Gruppe der Muslim_innen und sorgt dafür, dass viele von ihnen zu illegalen Einwander_innen erklärt werden werden können. So wie Abdul. Wer die Anforderungen zur Aktualisierung des Bevölkerungsregisters nicht erfüllt, wird abgeschoben oder interniert. Das Innenministerium gab bekannt, dass weitere Internierungslager in Assam im Bau sind. Häftlinge wie Abdul werden dafür als Arbeitskräfte eingesetzt. »Niemand kehrt jemals aus den Haftanstalten zurück«, sagt Abdul. »Ich werde hier sterben.« Mit Stöcken für Ruhe sorgen. Polizeieinsatz auf einer Kreuzung in Neu-Delhi, Februar
Wenn Ministerpräsidenten hetzen Der 30-jährige Aslam war Fastfood-Straßenverkäufer im Dorf Bunta im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh und verdiente damit weniger als 100 Euro im Monat. Am 9. Dezember 2017 wurde er in Dadri, Noida, von der Polizei erschossen. Nach Angaben der Polizei hatte er »ein großes Verbrechen geplant« und starb bei einem »Schusswechsel«. »Sein Schädel war gebrochen, seine Beine bluteten, als seine Leiche gefunden wurde«, sagt Wareesa, seine Mutter, und gibt deutlich zu verstehen, dass es sich nicht um eine zufällige Schießerei, sondern um eine geplante Tötung durch die Polizei handelte. Es ist zu vermuten, dass die Polizei mit dem muslimischen Mann »kurzen Prozess machen« wollte. Als Aslam 16 Jahre alt war, hatte er die Goldkette einer Nachbarin im Wert von 100 Euro gestohlen. Weil die Mühlen der indischen Justiz sehr langsam mahlen, wurde der Fall fast eineinhalb Jahrzehnte lang
Essen fassen. Protestcamp in Neu-Delhi, März 2020.
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nicht verhandelt. »Wir wussten nicht, dass Aslam für eine Goldkette, die er als Teenager gestohlen hatte, mit seinem Leben bezahlen würde«, klagt seine Mutter. Und sein Fall ist keine Seltenheit im Bundesstaat Uttar Pradesh. Dessen derzeitiger Ministerpräsident ist ein Mönch namens Yogi Adityanath, ein Vertreter der BJP, der Muslim_innen als gefährliche Kriminelle bezeichnet, sie als Teil einer systematischen islamischen Verschwörung sieht und behauptet, sie befänden sich im Krieg gegen den indischen Staat und die Hindus. Bevor er im Februar 2017 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, war er als der Mann hinter Hindu Yuva Vahini bekannt – einer Jugend-organisation, die immer wieder beschuldigt wird, religiöse Gewalt zu provozieren und sich daran zu beteiligen. Adityanath, gegen den mehrere Strafverfahren anhängig sind, ist für antimuslimische Äußerungen bekannt. Er sagte einmal: »Wenn ein Hindu-Mädchen einen muslimischen Mann heiratet, dann werden wir im Gegenzug hundert muslimische Mädchen nehmen. (…) Wenn sie einen Hindu-Mann töten, dann werden wir hundert muslimische Männer töten.« Kürzlich forderte er ein Einreiseverbot für Muslim_innen. Doch Adityanath belässt es nicht bei der Hetze gegen Minderheiten. Zwischen 2000 und 2017 wurden in Indien 1.782 Fälle registriert, bei denen die Polizei auf angebliche Kriminelle schoss. Seit dem Amtsantritt von Adityanath 2017 gab es nach Recherchen von Medien und Nichtregierungsorganisationen allein in seinem Bundesstaat knapp 6.500 zweifelhafte Polizeieinsätze. Mindestens 125 hatten Todesopfer zur Folge. Die meisten Opfer waren Menschen mit laufenden Verfahren – wie Aslam. Muslim_innen sind überproportional häufig betroffen. Die Regionalregierung und die BJP feiern diese Polizeiaktionen als Erfolge. Die beteiligten Polizist_innen erhalten zur Belohnung Geld oder wer-
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Muslimische Frauen gegen Gesetze der Hindu-Nationalist_innen. Protest in Neu-Delhi im März 2020.
den befördert. Die Rechtmäßigkeit des Vorgehens wird in aller Regel nicht untersucht. Die Nationale Menschenrechtskommission spricht davon, dass die Polizei in Uttar Pradesh »ihre Macht missbraucht«. Sie hat die Regierung aufgefordert, das Vorgehen zu untersuchen. Im Januar 2019 äußerte auch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte »extreme Besorgnis« über diese Polizeieinsätze. Die Regierung von Uttar Pradesh tat dies als »böswillig« ab. Bei seinen Anhänger_innen gilt Adityanath als ideologischer Nachfolger Modis.
Landesweit wächst der Widerstand Während die indischen Mainstream-Medien Adityanath ein gutes Zeugnis ausstellen, sorgte die hohe Zahl der Corona-Todesfälle zuletzt für große Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Das schlechte Krisenmanagement und die unzureichende staatliche Gesundheitsvorsorge könnten sich auf die Wahl 2022 in Uttar Pradesh auswirken. Unmittelbar nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie versuchten Hindu-Nationalist_innen und regierungstreue Medien eine muslimische Versammlung mit rund 9.000 Teilnehmer_innen für die Verbreitung des Virus verantwortlich zu machen. Wenig später tauchten aber Bilder mehrerer nichtmuslimischer Massenveranstaltungen ohne jeden Infektionsschutz auf – darunter Modis große »Namaste Trump«-Show, mit der er den damaligen US-Präsidenten empfing, und das für Hindus heilige Mahakumbh-Fest, das mit Millionen von Teilnehmer_innen Anfang 2021 zum größten »Superspreader-Event« des Subkontinents wurde. Seit Narendra Modi 2014 an die Macht kam, sind die Proteste gegen die indische Regierung ein Staffellauf, bei dem eine Gruppe von Demonstrierenden den Stab an die nächste weiterreicht. Als Lynchmorde und Hassverbrechen gegen Muslim_innen zunahmen, gaben zudem mehrere Künstler_innen und Intellektuelle ihre staatlichen Auszeichnungen aus Protest zurück. Die landesweite Sitzblockade gegen das neue Staatsbürger-
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schaftsgesetz endete zwar coronabedingt im März 2020, doch schon im Oktober gingen Bäuer_innen gegen die neuen Landwirtschaftsgesetze der Regierung Modi auf die Straße. Die Proteste gehen ineinander über, verschwinden nie ganz, vereinen die Kritiker_innen und machen den Widerstand mit jedem Schritt größer und mächtiger. Eines der prominentesten Gesichter dieses Widerstandes ist die 82-jährige Bilkis, die von Dezember 2019 an vier Monate lang in Shaheen Bagh kampierte, einem wichtigen Protestort in Neu-Delhi. »Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich an einer politischen Bewegung beteiligt habe. Davor war ich Hausfrau und habe das Haus nie verlassen. Aber wie kann ich jetzt zu Hause sitzen, wenn ich weiß, dass meine Kinder vielleicht aus diesem Land, das ihre Heimat ist, hinausgeworfen werden und ins Gefängnis müssen? Ich werde diesen Ort erst verlassen, wenn das Leben meiner Kinder sicher ist, wenn die Pluralität Indiens sicher ist. Wir sind mächtig, und es ist an der Zeit, Modi das Fürchten zu lehren.« Aus dem Englischen übersetzt von Julia Lauter. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
DIE AUTORIN Neha Dixit, 35, ist eine indische Journalistin und Autorin. Sie ist bekannt für ihre investigativen Recherchen, hat über systematischen Menschenhandel und sexuelle Gewalt geschrieben und berichtete als eine der ersten über die illegalen Polizeiaktionen in Uttar Pradesh. Für ihre Arbeit wurde Dixit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet – hat aber auch staatliche Repression erfahren. Aktuell arbeitet sie an einem Buch über Arbeitsmigrantinnen in Indien.
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Inhaftiert wegen des Einsatzes für Kastenlose I
n der kleinen Stadt Bhima Koregaon bei Pune im Bundesstaat Maharashtra erinnert ein Obelisk an eine Schlacht aus der Frühzeit der britischen Kolonialherrschaft. Im Verlauf des dritten Marathenkrieges standen sich dort am 1. Januar 1818 die Streitkräfte des regionalen Herrschers Peshwa Baji Rao II. und ein Heer der East India Company gegenüber, das größtenteils aus Mahars (einer Dalit-Gemeinschaft) bestand, die für die Briten kämpften, und den zahlenmäßig überlegenen Marathen eine empfindliche Niederlage bereitete. Die Erinnerung an diese Schlacht ist mit sozialen und politischen Kämpfen in der Gegenwart verknüpft und löst bei Anhänger_innen der regierenden Indischen Volkspartei (BJP) gleichermaßen Beunruhigung wie Repressionsgelüste aus. Hindu-Nationalist_innen empfinden den damaligen Kriegsdienst der Dalits für die East India Company als Schande. Und dass sie diesen Sieg alljährlich in Bhima Koregaon feiern, erscheint ihnen als Provokation und antinationales Verhalten. Aus Sicht der Dalits hingegen repräsentiert die Peshwa-Dynastie die traditionelle Kastenhierarchie, verbunden mit all der Verachtung, Unterdrückung und Ausbeutung, an der sich bis heute wenig geändert hat. Mit den Jahren wurde Bhima Koregaon so zu einem Symbol für das Selbstbewusstsein der Dalits. Und im Januar 2018 wollten sie den 200. Jahrestag des Sieges über die oberen Kasten feiern. Bereits am Vortag des Gedenkens, am 31. Dezember 2017, versammelten sich in Pune Tausende Menschen, vor allem Mitglieder von Dalit-Organisationen, aber auch Angehörige anderer subalterner Kasten und marginalisierter Gruppen sowie Muslim_innen zu einer Elgar Parishad (wörtlich: »Laute Erklärung«). Sie wollten am Sitz der früheren Peshwa-Herrscher das »neue Peshwa-Regime« und die »zunehmende Unterdrückung sozialer Bewegungen, Gräueltaten an unteren Kasten und die Politik gegen die Armen« anprangern. Gemeint war damit die BJP-Regierung von Premierminister Narendra Modi und die hinter ihr stehende Hindutva-Bewegung des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS). Zu den Hauptredner_innen der Kundgebung zählten der Anwalt und Politiker Prakash Ambedkar, der ein Enkel des historischen Dalit-Führers Bhimrao Ramji Ambedkar ist, der Studentenführer Umar Khalid, der junge Politiker Jignesh Mewani aus Gujarat und die Adivasi-Aktivistin Soni Sori aus Chhattisgarh.
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Doch als sich die Dalits am nächsten Tag von Pune auf den Weg nach Bhima Koregaon machten, wurden sie von Hindu-Schlägertrupps angegriffen. Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, bei denen eine Person getötet wurde. Die polizeilichen Untersuchungen richteten sich zunächst gegen zwei bekannte Hindutva-Aktivisten, Sambhaji Bhide und Milind Ekbote. Doch dann gerieten die Veranstalter_innen der Elgar Parishad in den Fokus. Die Polizei behauptete, Teilnehmer_innen der Versammlung hätten die Gewalt durch aufrührerische Reden ausgelöst. Zudem gebe es Hinweise auf weitere kriminelle Aktivitäten. Als Drahtzieher_innen wurden vor allem Intellektuelle und Aktivist_innen aus den Städten angesehen, sogenannte »städtische Naxaliten«, denen Verbindungen zur verbotenen maoistischen Kommunistischen Partei Indiens vorgeworfen werden. Am Ende hieß es sogar, sie hätten einen Mordanschlag auf Premierminister Modi vorbereitet. Bei mehreren Razzien nahm die Polizei des Bundesstaats Maharashtra im Juni 2018 die Menschenrechtsverteidiger und Aktivistinnen Surendra Gadling, Rona Wilson und Sudhir Dhawale, die Anglistin und Frauenrechtlerin Shoma Sen und den Sozialaktivisten Mahesh Raut fest. Zwei Monate später wurden die Anwältin und Gewerkschafterin Sudha Bharadwaj, die Aktivisten Vernon Gonsalves und Arun Ferreira und der Schriftsteller Varavara Rao festgenommen. Im Januar 2020 übernahm die nationale Antiterroreinheit NIA die Ermittlungen und benannte weitere Personen, die mutmaßlich an den Unruhen beteiligt waren. Am 14. April 2020 stellten sich der Journalist Gautam Navlakha und der Hochschullehrer Anand Teltumbde den Behörden; sie befinden sich
Mit den BK16 steht ein repräsentativer Teil der Zivilgesellschaft unter Anklage. AMNESTY JOURNAL | 04/2021
Foto: Pramod Thakur / Hindustan Times / imago
Wer hat Angst vor selbstbewussten Dalits? Das Selbstverständnis von Indien als Hindu-Nation könnte damit infrage gestellt werden. Auch dank der Bhima Koregaon 16 (BK16). Von Michael Gottlob
Dalits protestieren und fordern die Festnahme zweier Hindutva-Aktivisten. Mumbai im Januar 2018.
seitdem in Haft. Im Juli wurde der Englischprofessor Hany Babu festgenommen, am 8. Oktober der Jesuitenpater Stan Swamy. Der 84-jährige Priester kämpft seit mehr als drei Jahrzehnten für die Rechte von Adivasis in Jharkhand. Am 7. und 8. September inhaftierten die Behörden Sagar Tatyarao Gorkhe, Ramesh Murlidhar Gaichor und Jyoti Jagtap vom Kulturverein Kabir Kala Manch in Pune, der sich mit Theateraufführungen gegen das Kastensystem und Gräueltaten an Dalits wendet. Alle drei waren auch bei der Elgar Parishad aufgetreten.
Ältere Menschen mit Vorerkrankungen in überfüllten Gefängnissen Damit sind bisher 16 Personen in Zusammenhang mit den Ereignissen in Bhima Koregaon inhaftiert, der Fall ist deshalb auch unter der Abkürzung BK16 bekannt. Einige der Inhaftierten sind ältere Menschen mit Vorerkrankungen. Sie werden dennoch in überfüllten Gefängnissen festgehalten, in denen es Corona-Infektionen gibt. So wurde der 80-jährige Schriftsteller Varavara Rao im Juli 2020 positiv auf das Virus getestet, die Gerichte lehnten es jedoch ab, ihn gegen Kaution freizulassen. Die Festnahmen erfolgten auf Basis des drakonischen »Unlawful Activities (Prevention) Act«. Das Gesetz schränkt die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit empfindlich ein. Internationale Beobachter_innen und Organisationen sehen in dem Fall ein Indiz für den Niedergang
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der Demokratie in Indien, denn mit den BK16 steht ein repräsentativer Teil der kritischen indischen Zivilgesellschaft unter Anklage. Die Behörden nutzten die Ausschreitungen von Bhima Koregaon als Vorwand, um gegen diejenigen vorzugehen, die seit vielen Jahren genau diese repressiven Gesetze bekämpft haben, auf deren Grundlage sie nun angeklagt sind. Der inhaftierte Hochschullehrer Anand Teltumbde stellte fest, dass »die Feindseligkeit des Staates« gegenüber denen, die er als Maoist_innen bezeichnet, Ausdruck des »jahrhundertealten Kastenhasses gegen die Unterjochten« sei. Doch trotz der erschreckenden Machtfülle des Staates und seines Strafapparats habe »die Hindutva-Vision der BJP etwas überraschend Sprödes und Zerbrechliches«. Sie rühme sich ständig der Stärke und Einheit einer jahrtausendealten Zivilisation, fühle sich aber schon durch harmlose Tweets jugendlicher Klimaaktivist_innen bedroht. Dem Angriff auf die Zivilgesellschaft und ihre mutigen Akteur_innen liegt die Befürchtung zugrunde, dass die Anerkennung der Rechte der Kastenlosen und anderer marginalisierter Gruppen das Selbstverständnis der »Hindu-Mehrheit«, für die die BJP zu sprechen vorgibt, infrage stellt. Bhima Koregaon ist dafür zum Symbol geworden. Michael Gottlob ist in der Amnesty-Koordinationsgruppe Indien/ Sri Lanka/Malediven aktiv. Infos: amnesty-indien.de
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Endlich in Sicherheit. Archana im Mai 2019 in einer Schutzeinrichtung in Kochi.
Hoffnung für manche In Indien werden transgeschlechtliche Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen diskriminiert. Bundesstaaten wie Kerala akzeptieren das nicht länger. Von Laura Fornell (Text) und Oscar Espinosa (Fotos)
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in graues, unscheinbares Haus bietet transgeschlechtlichen Menschen in der südindischen Stadt Kochi einen Zufluchtsort. Das vierstöckige Gebäude beherbergt eine von drei Schutzeinrichtungen für Transpersonen im Bundesstaat Kerala. In der Zweimillionenstadt Kochi ist es die einzige Anlaufstelle, und sie reicht nicht aus. »Wir können 25 Menschen aufnehmen, aber allein in Kochi gibt es mehr als 300 Transpersonen«, sagt Aditi Achuth, die Leiterin der Einrichtung. Dennoch sind Schutzeinrichtungen wie diese ein hoffnungsvolles Zeichen. Kerala und einige andere Bundesstaaten haben in den vergangenen Jahren Maßnahmen ergriffen, um transgeschlechtliche Menschen besser zu schützen – wenn auch schleppend. »Das Haus ist ein Ausgangspunkt für Transpersonen, die nach neuen Lebensperspektiven suchen – in einer Gesellschaft, die uns allmählich wieder zu akzeptieren beginnt«, sagt Achuth. 99 Prozent aller transgeschlechtlichen Menschen in Indien haben nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission (NHRC) in ihrem Leben mehr als einmal soziale Ablehnung erlebt. »Die Diskriminierung und Belästigung beginnt oft in der eigenen Familie«, sagt Achuth. Auch viele der Menschen, die in dem Haus in Kochi Zuflucht suchen, hätten diese Erfahrung gemacht: »Einige wurden zu Hause rausgeworfen, anderen wurde ihr Leben unmöglich gemacht, bis sie dem Druck nicht mehr standhalten konnten und gegangen sind. Es gibt auch Fälle, in denen es in der Familie zu physischen Angriffen kam.« Einer Studie der NGO Humsafar Trust zufolge hat mehr als die Hälfte aller transgeschlechtlichen Menschen physische Gewalt erlitten. Nicht selten geht diese von Partner_innen oder Familienmitgliedern aus. »Meine Familie hat mich abgelehnt, und ich bin auf der Straße gelandet«, sagt die 19-jährige Archana, ohne das Lächeln auf ihren Lippen zu verlieren. Sie sitzt in einem kleinen Zimmer, in dem kaum Platz für ihre persönlichen Dinge ist. »Für sie war ich eine Schande. Ich komme aus einer kleinen Stadt, und sie sagten mir, dass sie sich vor der Nachbarschaft und im Freundeskreis schämen würden.« Mit 17 sei ihr deshalb keine andere Wahl geblieben, als zu gehen und ihren Lebensunterhalt allein zu verdienen – in einer anderen Stadt. In Indien werden transgeschlechtliche Menschen in allen Lebensbereichen diskriminiert: in der Schule, bei der Arbeit, bei der Gesundheitsversorgung. Weil Transpersonen häufig von Mitschüler_innen gemobbt und von Lehrer_innen diskriminiert werden, brechen viele den Schulbesuch ab. Auf dem Arbeitsmarkt bieten sich ihnen nur wenig Möglichkeiten. Viele sind gezwungen, schlechtbezahlte Jobs zu verrichten, andere betteln. Schätzungen zufolge verdienen 60 Prozent der transgeschlechtlichen Menschen ihren Lebensunterhalt mit Sexarbeit und sind mit am stärksten von HIV betroffen. Auch von Polizei und Justiz werden sie diskriminiert. Das führt oft dazu, dass sich Betroffene nicht an die Polizei wenden, um Hilfe und Unterstützung zu suchen. »Leider kommt es häufig zu Belästigungen durch die Polizei«, sagt Achuth. »Es gab den
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»Meine Familie hat mich abgelehnt, und ich bin auf der Straße gelandet.« Archana, 19 Jahre alt Fall, dass eine transgeschlechtliche Person fälschlicherweise wegen Prostitution festgenommen und angeklagt wurde. In der Haft hat die Polizei sie gedemütigt, doch wollte sie dies aus Angst nicht melden.« Ein weiteres Problem ist der Zugang zum Wohnungsmarkt. Transgeschlechtliche Menschen leben oft in armen Stadtteilen oder erfahren durch Wohnungseigentümer_innen und Nachbar_innen Gewalt. »Bevor ich in die Schutzeinrichtung kam, habe ich an 20 verschiedenen Orten gelebt, die ich alle verlassen musste«, erzählt die 27-jährige Gowri, während sie sich in einem der größten Räume auf einem Bett ausruht. »Manchmal, weil ich nicht genügend Geld für die Miete hatte, meistens aber wegen Beschwerden der Nachbarschaft.«
Hijras sollen Glück bringen Dass Transpersonen in Indien soziale Ablehnung erfahren, war nicht immer so. In der indischen Kultur gibt es sogenannte Hijras, die ihre Ursprünge in der hinduistischen Mythologie haben. Sie ordnen sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zu, tragen Frauenkleider und genossen jahrhundertelang großen Respekt. Im Mogulreich ab dem frühen 16. Jahrhundert spielten Hijras eine bedeutende Rolle an königlichen Höfen und besetzten teils hohe politische Posten. Erst in der Kolonialzeit verloren die Hijras ihren sozialen Status. Die britischen Kolonialherren betrachteten sie als Bedrohung für die Moral und starteten eine Kampagne, um die Hijras aus dem öffentlichen Bewusstsein zu drängen. Sie wurden zu
DIE SCHUTZEINRICHTUNG IN KOCHI Das Zentrum bietet Menschen, die sich in einer Notsituation befinden oder einer Geschlechtsangleichung unterzogen haben, vorübergehend Schutz. In der Unterkunft, die im Zuge des Mazhavillu-Programms gegründet wurde und von der Wohlfahrtsorganisation Mudhra Charitable Society unterstützt wird, können 25 Menschen leben – für drei Monate. Je nach Situation kann die Dauer jedoch ausgeweitet werden. Ziel ist es, Transpersonen zu unterstützen, bis sie einen Job und eine Bleibe finden. Die Bewohner_innen bekommen Essen, Unterkunft, rechtliche Unterstützung und psychologische Beratung. Außerdem werden sie während ihres Aufenthalts ermutigt, an staatlichen Bildungs- und Ausbildungsprogrammen teilzunehmen. Kerala will neben den drei bestehenden Einrichtungen in dem Bundesstaat noch zwei weitere eröffnen. Doch wegen der Corona-Pandemie wird das noch dauern.
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einer der Gruppen, die gesellschaftlich am meisten stigmatisiert wurden. 1871 klassifizierte sie ein Gesetz als Kriminelle. Heute wird der Begriff Hijra im alltäglichen Sprachgebrauch für alle Personen verwendet, die als transgeschlechtlich wahrgenommen werden. Doch viele wehren sich gegen diese Bezeichnung. Auch Achuth und die anderen Menschen in der Schutzeinrichtung wollen nicht so genannt werden. »Wir sind alle Transgeschlechtliche, aber nicht alle von uns sind Hijras«, sagt Achuth. »Wir kämpfen denselben Kampf, und wir sind uns in vielen Aspekten einig, aber wir sind nicht alle gleich.«
ZUR RECHTLICHEN SITUATION VON LGBTI 2014 erkannte Indiens Oberster Gerichtshof Transgeschlechtliche und Intersexuelle als drittes Geschlecht an. Seitdem sollen für sie dieselben Rechte gelten wie für andere Minderheiten. Außerdem müssen sie sich auf offiziellen Dokumenten nicht mehr für die Kategorien männlich oder weiblich entscheiden. 2019 verabschiedete das indische Parlament ein Gesetz (Transgender Persons (Protection of Rights) Act), um das Urteil umzusetzen und die Diskriminierung in den Bereichen Bildung, Gesundheitsversorgung und Arbeitsmarkt zu beenden. Das Gesetz entspricht jedoch insofern nicht dem Urteil des Obersten Gerichtshofs, als es die Rechte auf Gleichheit, Selbstbestimmung und Freiheit nicht garantiert. Kritisiert wurde unter anderem, dass bei sexuellem Missbrauch von Transpersonen nur eine Haftstrafe von maximal zwei Jahren vorgesehen ist, während sexuelle Übergriffe auf andere Personen sogar eine lebenslängliche Haftstrafe nach sich ziehen können. 2018 wurde Paragraf 377 abgeschafft, der aus der Kolonialzeit stammte und gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivitäten unter Strafe gestellt hatte. Auch wenn sich insgesamt viel getan hat, gibt es doch nach wie vor Lücken in der Gesetzgebung – so ist zum Beispiel die gleichgeschlechtliche Ehe bis heute nicht erlaubt.
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Obwohl das stigmatisierende Gesetz nach der indischen Unabhängigkeit abgeschafft wurde, erlangten die Hijras ihren alten Status nicht wieder. Sie waren weiterhin marginalisiert und lebten hauptsächlich von Bettelei und Prostitution. Heute lösen Hijras bei einigen Menschen Bewunderung aus, bei anderen Angst. Weitverbreitet ist die Idee, sie könnten Menschen segnen oder verfluchen, ihre Fruchtbarkeit fördern oder mindern. Oft tanzen und singen Hijras bei Hochzeiten und Geburtstagen, denn das soll Glück bringen. Als Gegenleistung erhalten sie Opfergaben oder Geld. 2014 hat Indiens Oberster Gerichtshof transgeschlechtliche Menschen und intersexuelle Personen als drittes Geschlecht anerkannt. Zugleich forderte er die Regierung auf, sie wie andere Minderheiten zu behandeln, Quotenregelungen in den Bereichen Bildung und Beschäftigung einzuführen und ihnen Zugang zum Gesundheitssystem zu gewähren. »Transgeschlechtliche sind auch Bürger_innen Indiens und müssen die Möglichkeiten haben, sich zu entwickeln«, hieß es in dem Urteil.
Kostenlose Geschlechtsangleichungen Das Gericht riet der Zentralregierung und den Bundesstaaten, eine wirksame Sozialfürsorge und Sensibilisierungskampagnen zu entwickeln, um der Stigmatisierung von Transpersonen entgegenzuwirken. Der südindische Bundesstaat Kerala war einer der ersten, der reagierte. Er ergriff sozialpolitische Maßnahmen für Transpersonen und entschied 2019 außerdem, dass Operationen zur Geschlechtsangleichung in staatlichen Krankenhäusern kostenlos vorgenommen werden können. Zuvor hatte bereits der Bundesstaat Tamil Nadu kostenlose Operationen zur Geschlechtsangleichung eingeführt sowie staatliche Bildungsstipendien für transgeschlechtliche Menschen, um ihnen Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen. Auch in anderen Bundesstaaten gab es Initiativen, um ihre Lage zu verbessern. So erhalten sie in Bihar beispielsweise finanzielle
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In der Gesellschaft weiter stigmatisiert. Adithi (Bild links, Mitte) sowie Gowri (Bild rechts, im gelben Kleid) und Archana.
Unterstützung für eine Geschlechtsangleichung. Sowohl in Maharashtra als auch in Gujarat gibt es Gesundheitsund Bildungsprogramme sowie öffentliche Kampagnen, um für das Thema zu sensibilisieren. Und die Regierung von Jammu und Kashmir bietet Transpersonen über 60 Jahren eine Altersrente an. »Das wachsende Vertrauen und die Sichtbarkeit, die die Community in den vergangenen Jahren gewonnen hat, sind ein hoffnungsvoller Fortschritt«, sagt Thomas Isaac, der Finanzminister von Kerala. »Wir müssen uns dafür einsetzen, dass sich Transpersonen als Teil der Gesellschaft fühlen.« 2020 gab der Bundesstaat 50 Millionen Rupien (umgerechnet etwa 570.000 Euro) für das sogenannte Mazhavillu-Programm aus, das transgeschlechtliche Menschen unter anderem in den Bereichen Berufsausbildung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung unterstützt. Für das Jahr 2021 hatte der Finanzminister die gleiche Summe zur Fortsetzung des Programms versprochen. Das war jedoch noch vor Ausbruch der Corona-Krise. »Jetzt gibt es andere Prioritäten«, sagt Achuth. »Und wir bekommen das Geld nicht, um unsere Projekte durchzuführen.« Die Zentralregierung kündigte mit dem landesweiten Lockdown zwar ein Konjunkturpa-
Konnte länger in der Schutzeinrichtung bleiben. Ameya (2. v. l.).
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Die Regierung von Jammu und Kaschmir bietet Transpersonen über 60 eine Rente an. ket an, das spezifische Maßnahmen für schutzbedürftige Gruppen umfasst, Transgeschlechtliche wurden dabei jedoch nicht berücksichtigt. Der Bundesstaat Kerala beschloss allerdings, Hilfsgüter an 1.000 registrierte Transpersonen zu verteilen, 127 wurden durch die Schutzeinrichtung in Kochi mit Hilfsgütern versorgt. »Das löst zwar nicht das Problem, weil es nur eine kleine Hilfe ist, aber im Moment ist es das einzige, was wir tun können«, sagt Achuth. Zu den geplanten Projekten der Schutzeinrichtung zählt ein Restaurant, in dem Transpersonen ausgebildet werden, um ihnen berufliche Perspektiven zu ermöglichen. Wegen fehlender Finanzierung konnte es allerdings noch nicht starten. »Wir wollen Gerichte aus der traditionellen Küche servieren – aus BioGemüse, Fisch, Fleisch und hausgemachten Gewürzen«, erklärt Archana. Sie ist eine der fünf Bewohner_innen, die auch in der Unterkunft arbeiten. »Ich bin glücklich, hier eine dauerhafte Beschäftigung zu haben«, sagt Archana. Denn die anderen können nur drei Monate in der Unterkunft bleiben. »Ich hätte im März 2020 gehen sollen«, berichtet die 22-jährige Ameya, die im Dezember 2019 in die Einrichtung kam. »Aber dann kam der Lockdown, und ich konnte noch ein paar Monate länger bleiben.« Im Juni 2019 hatte sie ihre Hormontherapie begonnen, und danach war die Situation in ihrer Familie unerträglich geworden. »Ich bin dabei, mein Wirtschaftsstudium abzuschließen, erzählt sie. »Ich hoffe, anschließend einen Job in einem Büro zu finden. Aber mir ist klar, dass das nicht einfach wird, da die Gesellschaft uns weiterhin stigmatisiert und uns nicht vertraut.«
Gehörte zu den ersten, die Schutz in Kochi fanden. Mikhashe.
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Staatsfeind Amnesty Eine spezielle Maßnahme der indischen Regierung hat dazu geführt, dass Amnesty International die Arbeit in Indien im vergangenen Jahr einstellen musste. Fragen und Antworten zum Menschenrechtsengagement unter widrigen Bedingungen. Von Theresa Bergmann
Was macht Amnesty in Indien? »Die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und das Eintreten für Menschenrechtsstandards sind das Herzstück unserer Arbeit«, sagt der Vorstandssprecher von Amnesty Indien Aakar Patel. Die Organisation ist seit den 1970er Jahren in dem Land aktiv und widmet sich vielen Themen: den Rechten der indigenen Adivasi-Bevölkerung, der neuen Macht der Sicherheitskräfte durch das Gesetz über besondere Befugnisse der Streitkräfte im Bundesstaat Jammu und Kaschmir, dem Vorgehen gegen regierungskritische Stimmen auf Grundlage des Gesetzes zur Verhinderung rechtswidriger Aktivitäten sowie Hass und Belästigung von Politiker_innen auf Twitter, um nur einige zu nennen. Neben großen Rechercheprojekten hat ein kleines Team von Mitarbeitenden immer wieder auch kurzfristig auf akute Menschenrechtsverletzungen reagiert, so zum Beispiel auf Lynchmorde, denen seit 2015 vermehrt Menschen zum Opfer fielen, die mit Rindfleisch gehandelt oder Kühe geschlachtet hatten. Kurz vor der Schließung der Organisation hatte die indische Amnesty-Sektion einen Bericht über Polizeigewalt während der
»Wir begreifen uns nicht als Gegner des Staates.« Aakar Patel, Amnesty Indien 22
Proteste gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz und einen Bericht über die miserable Menschenrechtslage in Jammu und Kaschmir veröffentlicht.
Wie kam es zur Schließung von Amnesty? Das Einfrieren der Konten war offenbar ein gezielter Vergeltungsschlag gegen die Organisation. Die indische Regierung bewertete die beiden Amnesty-Publikationen wohl als einen solchen Affront, dass sie beschloss, der Organisation Geldwäsche vorzuwerfen und sie komplett zu schließen. Bis heute liegt Amnesty Indien keine offizielle Anklageschrift vor. Amnesty war bereits in den Jahren zuvor Repressionen der Regierung ausgesetzt. So wurden im Oktober 2018 die Büros der Organisation in Bengaluru durchsucht, Mitarbeitende stundenlang verhört und wie Kriminelle behandelt. Schon damals froren die Behörden Bankkonten von Amnesty ein. Sie wurden später unter strengen Auflagen teilweise wieder zugänglich gemacht, bevor die Behörden 2019 erneut Büroräume durchsuchen ließen. Selbst der private Wohnsitz eines Amnesty-Direktors war von den Razzien in den Jahren 2018 und 2019 betroffen. In beiden Fällen hatte Amnesty zuvor kritische Berichte veröffentlicht.
Was sagt Amnesty Indien dazu? »Wir begreifen uns nicht als Gegner des indischen Staats, sondern versuchen, mit den staatlichen Behörden in einen Dialog zu treten. Das ist allerdings schwierig, wenn der Staat die Menschenrechte als Gefahr betrachtet und denen, die sich dafür einsetzen, feindliche Absichten unterstellt«, sagt Aakar Patel. Diese Haltung habe sich im Laufe der Jahre verhärtet, während gleichzeitig Bemühungen der Regierung, die Menschenrechtslage zu verbessern, abnahmen. Regierungsnahe Medien beteiligten sich an Verleumdungskampagnen gegen Amnesty. Bereits 2015 torpedierte die BJP-nahe Studierendenorganisation Akhil Bharatiya Vidyarthi Parishad eine Amnesty-Veranstaltung zu Kaschmir und zeigte die Organisation wegen »Volksverhetzung« an. Außerdem fanden vor den Büroräumen in Bengaluru gewalttätige Demonstrationen statt. Das Strafverfahren wurde zwar wegen Mangel an Beweisen eingestellt, die Konsequenzen für Amnesty waren jedoch verheerend: »Die Art und Weise, wie dies in den Medien dargestellt wurde, führte dazu, dass einige Insti-
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Fotos: Oliver Wolff
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mnesty International ist seit rund 50 Jahren in Indien aktiv. Doch seit Narendra Modi im Jahr 2014 Premierminister wurde, legte seine Regierung die Arbeit der Organisation immer wieder lahm. Im September 2020 kam sie vollends zum Erliegen: Eine dem indischen Finanzministerium unterstellte Behörde fror die Bankkonten von Amnesty Indien ein. 140 Mitarbeiter_innen verloren mitten in der Corona-Pandemie ihre Jobs und damit auch ihre Krankenversicherungen.
Öffentliche Solidarisierung hilft. Aakar Patel, Vorstandssprecher von Amnesty Indien (links), Amnesty-Büro in Bangalore, 2015 (rechts).
tutionen und Unternehmen nicht mehr mit uns zusammenarbeiten wollten«, berichtet Aakar Patel.
Wie geht es den Mitarbeiter_innen von Amnesty? Die knapp 140 Angestellten verloren ihre Beschäftigung. Während der Corona-Pandemie einen neuen Job zu finden, ist überall auf der Welt eine Herausforderung. In Indien ist es aufgrund der dramatischen Infektionslage besonders schwierig. Die meisten Mitarbeiter_innen haben noch keine neue Arbeit gefunden und stehen vor großen finanziellen Herausforderungen. Einige haben gesundheitliche Krisen erlebt.
Warum wird der Spielraum für Nichtregierungsorganisationen in Indien immer enger? Um die Arbeit von unliebsamen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu behindern, nutzt die Regierung das Gesetz über Finanzierung aus dem Ausland (Foreign Contribution [Regulation] Act). »Das Gesetz wurde vor 45 Jahren erlassen, um eine Finanzierung politischer Parteien aus dem Ausland zu verhindern«, erklärt Aakar Patel. »Im Laufe der Jahre wurde es jedoch zu einem Instrument, um die Zivilgesellschaft in Indien ins Visier zu nehmen, indem die ausländische Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen eingeschränkt wurde.« Das Gesetz wurde 2016 und 2018 geändert, nachdem bekannt geworden war, dass die Regierungspartei BJP und die Kongresspartei Geld der ausländischen Bergbaufirma Vedanta angenommen hatten. Diese Reform ermöglichte es politischen Parteien, der Strafverfolgung zu entkommen, während die Tätigkeit von NGOs erschwert wurde. »2020 wurde eine weitere Änderung verabschiedet, die zur Folge hatte, dass alle NGOs, die ausländisches Geld erhalten, ihre Bankgeschäfte nur noch über
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eine einzige Bank in Neu-Delhi abwickeln dürfen«, berichtet Aakar Patel. »Außerdem müssen sie ihre sogenannten Verwaltungskosten auf 20 Prozent beschränken. Dies ist für viele Organisationen, die hohe Personalkosten haben, nicht möglich.« Zudem verbietet das Gesetz, dass größere NGOs kleinere finanziell unterstützen. All dies erschwerte die Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft ungemein und führte zu einer Flut von Anschuldigungen, NGOs hätten gegen das Gesetz verstoßen. Davon betroffen war auch die Organisation People’s Watch von Henri Tiphagne, der 2016 den Menschenrechtspreis der deutschen Amnesty-Sektion erhielt.
Was passiert jetzt mit Amnesty in Indien? »Die Regierung zwingt uns, die Menschenrechtsarbeit vorerst einzustellen. Das bedeutet jedoch nicht das Ende unseres Engagements für die Menschenrechte in Indien«, sagte Julie Verhaar, die zum Zeitpunkt der Schließung Internationale Generalsekretärin von Amnesty International war. Auch Aakar Patel will nicht aufgeben: »Gerade in dieser Zeit braucht es Organisationen wie Amnesty, die Themen aufgreifen, die oft vernachlässigt werden, und denen eine Stimme verleihen, die oft nicht gehört werden.« Er hofft auf eine baldige Wiederbelebung der indischen Sektion: »Das wird durch einen Kampf im Gerichtssaal und auch dank internationaler Lobbyarbeit geschehen.« Hoffnungsvoll stimmt ihn, dass die EU auf die Schließung von Amnesty Indien reagierte und entsprechende Kritik gegenüber Premierminister Modi äußerte. Jede Form von öffentlicher Solidarisierung sei sehr wichtig, um Druck auf die indische Regierung auszuüben, sagt der Vorstandssprecher. Theresa Bergmann ist Amnesty-Fachreferentin für Asien.
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Nationalfeiertag, ja und? Bäuerinnen und Bauern protestieren am 26. Januar 2021 in Neu-Delhi.
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Aufstand vom Land Die indische Regierung will den Agrarmarkt liberalisieren. Die Bäuer_innen wehren sich gegen die Gesetze, die Mindestpreise für Agrarprodukte abschaffen sollen. Sie fürchten um ihre Existenz. Ern Jones hat den Protest in Bildern festgehalten.
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ie waren laut, sie waren viele, und sie kamen auf Traktoren. Tausende indische Bäuer_innen fuhren im Herbst 2020 bis vor die Tore Neu-Delhis, um ihre Stimme zu erheben gegen eine geplante Agrarreform. Nur ein Großaufgebot der Polizei konnte sie davon abhalten, bis ins Zentrum der Hauptstadt weiterzufahren. Doch auch Tränengas, Wasserwerfer und Schlagstöcke schüchterten sie nicht ein. Die Bäuer_innen protestierten in den Randbezirken weiter, blockierten mit Sitzstreiks friedlich Zufahrtsstraßen. »Dharna« nennen sie das. Die Protestcamps an den Straßen Neu-Delhis lösten landesweit Solidaritätskundgebungen aus. Dutzende Gewerkschaften mobilisierten bis zu einer halben Million Bäuer_innen und Landarbeiter_innen. Andere Berufsgruppen schlossen sich an. Es waren die größten Proteste gegen die Politik von Premierminister Narendra Modi seit seiner Amtsübernahme 2014. Entzündet hatte sich der Konflikt an der geplanten Agrarreform der Regierungspartei BJP, die das bisherige System der landwirtschaftlichen Vermarktung liberalisieren will. Statt auf staatlich regulierten Märkten sollen Firmen landwirtschaftliche Produkte direkt bei den Bäuer_innen kaufen. Diese fürchten um ihre Existenz. Denn ihrer Meinung nach stärkt die Abschaffung staatlich garantierter Mindestpreise für Grundnahrungsmittel die Großkonzerne. Diese würden künftig den Markt dominieren und die Preise bestimmen. Die Bäuer_innen befürchten, dass es für sie noch schwieriger wird, ihr Land zu behalten und ihren bescheidenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Schätzungen zufolge arbeiten mehr als die Hälfte der 1,3 Milliarden Inder_innen in der Landwirtschaft, die kleinteilig strukturiert ist. Mehr als 80 Prozent der Bäuer_innen besitzen weniger als zwei Hektar Land. Sie sind gerade mal in der Lage, ihre Produkte auf lokalen Märkten anzubieten. Die Agrarwirtschaft steckt seit Jahren in der Krise, denn während die Kosten für Saatgut und Dünger steigen, stagnieren die Erträge. Viele Bäuer_innen sind hoch verschuldet, ein Fünftel lebt unter der Armutsgrenze, die Suizidrate ist hoch. Indiens Landwirtschaft hat eine Reform nötig, Expert_innen teilen jedoch die Befürchtungen der Bäuer_innen und warnen vor einer weiteren Verschlechterung ihrer Lebenssituation. Erfahrungen in Bihar geben ihnen recht: In dem Bundesstaat, der seinen Agrarmarkt bereits weitgehend liberalisiert hat, erhalten Bäuer_innen im Schnitt 25 bis 30 Prozent weniger für ihre Waren als vor der Reform.
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Doch trotz aller Proteste verabschiedete das indische Parlament das umstrittene Gesetzespaket im September 2020. Mitte Januar 2021 setzte eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs die drei Gesetze allerdings vorläufig außer Kraft. Aufgehoben ist die Reform damit jedoch nicht: Die Regierung verschob sie lediglich um 18 Monate. Ob sie in den Verhandlungen mit den Bäuer_innen einlenken wird, bleibt ungewiss. Die Proteste gehen jedenfalls weiter. Der indische Nationalfeiertag am 26. Januar stellte einen vorläufigen traurigen Höhepunkt dar. Die Bäuer_innen organisierten eine Traktorparade im Stadtzentrum von Delhi und stürmten das Rote Fort, das Wahrzeichen der Stadt. Die Behörden gingen gewaltsam gegen die Demonstrationen vor. Es kam zu Ausschreitungen mit zahlreichen Festnahmen, Verletzten und auch Todesfällen. Die Regierung erließ Internetsperren und unterdrückte kritische Berichte von Journalist_innen. Ein Ende der Massenproteste ist nicht in Sicht – trotz Repression, trotz Pandemie. Ende Mai wurden in Indien rund 400.000 Corona-Neuinfektionen und mehr als 4.000 Todesfälle pro Tag gezählt. Aber viele Bäuer_innen fürchten die Agrarreform mehr als das Virus. Text: Tobias Oellig
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Ein langer Weg
Zeichnung: André Gottschalk
Manasi Pradhan musste kämpfen, um als Mädchen im ländlichen Indien eine höhere Schulbildung zu erhalten. Heute hilft sie anderen dabei – und engagiert sich auch gegen sexualisierte Gewalt. Von Lea De Gregorio
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ünfzehn Kilometer musste Manasi Pradhan als Mädchen gehen, um zur nächsten weiterführenden Schule zu gelangen. Es war ein gefährlicher Weg. »Ich musste mehrere Flüsse überqueren«, sagt sie. Pradhan hatte keine Schuhe und lief barfuß durch den Wald. Die 58-Jährige wuchs in einem Dorf bei Banapur im Bundesstaat Odisha auf, in dem die Infrastruktur schlecht war und es kaum ausgebaute Straßen gab. Doch Pradhan ließ sich davon nicht abhalten. »Ich war das einzige Mädchen aus meinem Dorf, das auf eine weiterführende Schule ging«, berichtet sie. Auf ihre Bildung ist sie stolz. Doch nicht alle im Dorf unterstützten sie. »In unserer Region gehört es nicht zur Tradition, dass Mädchen zur Schule gehen.« Ihre Mutter ermutigte Pradhan, obgleich sie selbst keine Bildung genossen hatte und Hausfrau war. Ihr Vater arbeitete als Bauer.
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»In den ländlichen Gegenden sind viele Frauen ungebildet und arbeiten als Hausfrauen«, sagt Pradhan. Für viele von ihnen endet die Ausbildung nach der 5. Klasse oder früher. Pradhan beschloss, auch andere Mädchen zu ermutigen, auf weiterführende Schulen zu gehen und zu studieren. »Bildung ist wichtig, um die eigenen Rechte zu kennen und auf eigenen Füßen zu stehen«, sagt sie. 1987 gründete sie die Organisation OYSS Women, die Aufklärungsarbeit leistet und Frauen auf ihrem Bildungsweg bestärkt. Pradhan studierte Literatur, Ökonomie und Jura. Sie gründete ein Literaturmagazin und veröffentlichte Gedichte. Eine Zeit lang arbeitete sie in einer Bank. Ihr Vater war damals schon sehr alt, und ihre Mutter litt an einer Krebserkrankung. »Ich hatte die Pflicht, für meine Familie da zu sein.« Dank ihrer Ausbildung konnte sie alle ernähren. Doch Bildung ist nicht das einzige Ziel, für das sich Pradhan stark macht. »Ich möchte für eine Gesellschaft kämpfen, die Frauen mit Respekt begegnet.« Mit ihrer Organisation setzt sie sich auch gegen sexualisierte Gewalt ein. In unterschiedlichen Einrichtungen finden Betroffene Schutz. Häufig würden sie von ihren Familien verstoßen: Viele geben den Frauen die Schuld an den Verbrechen, die sie erleben. In ihrem Engagement bestärkt wurde Pradhan von den Demonstrationen nach einer über die Grenzen Indiens hinweg bekannt gewordenen Massenvergewaltigung in Neu-Delhi vor neun Jahren. Pradhan gründete 2014 Nirbhaya Vahini, einen Zusammenschluss aus 10.000 Ehrenamtlichen, die sich dafür einsetzen, Gewalt an Frauen zu beenden. 2009 hatte sie bereits eine landesweite Bewegung gestartet, aus der Nirbhaya Vahini hervorging. Für ihr Engagement wurde die Feministin mehrfach ausgezeichnet. Ihre Organisation OYSS Women mit Sitz in Neu-Delhi hat Außenstellen in unterschiedlichen Regionen Indiens. Besonders wichtig ist Pradhan nach wie vor das Engagement für Frauen auf dem Land. Während Frauen in den Städten es leichter haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, sieht es in ländlichen Regionen bis heute anders aus. Doch auch dort hat sich etwas getan: »Inzwischen haben zwei weitere Frauen aus meinem Dorf einen Universitätsabschluss«, erzählt Pradhan. »Das macht mich sehr glücklich.« Es seien aber immer noch zu wenige. Pradhan spricht von einem langen Weg. Doch ihr eigener Werdegang zeigt, was möglich ist. »Man kann alles schaffen«, sagt sie mit lauter Stimme. Wichtig sei, die Hoffnung nicht zu verlieren und stark zu bleiben. Dies gelte nicht nur für Frauen in Indien, sondern auf der ganzen Welt.
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Laptop als Waffe Mit ihrer Online-Plattform Feminism in India macht sich Japleen Pasricha für Geschlechtergerechtigkeit stark – mit Texten auf Hindi und Englisch. Von Natalie Mayroth, Mumbai
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Verhütung von Straftaten angezeigt. »Unvoreingenommene Medien geraten zunehmend unter Druck«, erklärt Pasricha in einem Youtube-Video, bei dem sie ein neues Unterstützer_innen-Abo vorstellt. Die Artikel auf ihrer Plattform FII sollen frei zugänglich bleiben. Mit ihren Beiträgen auf Englisch und seit 2019 auch auf Hindi erreichen Pasricha und ihre Mitarbeiterinnen monatlich eine Million Menschen. Derzeit werden sie von der Stiftung für unabhängige und öffentlichkeitswirksame Medien (The Independent and Public-Spirited Media Foundation, IPSMF) gefördert und testen verschiedene Finanzierungsmodelle. Pasricha plant außerdem einen Beirat zu gründen, um mit FII weitere Diskriminierungsformen in den Blick zu nehmen. Der Kampf gegen das Patriarchat betrifft schließlich nicht nur die Mittelschicht.
Zeichnung: André Gottschalk
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ch brauche Feminismus, weil ich in der Metro von Delhi sexuell belästigt wurde und Angst hatte, es zur Sprache zu bringen«, steht auf einem Zettel, den Japleen Pasricha auf einem Foto in der Hand hält. Zu sehen ist es in einem ihrer ersten Artikel auf ihrer Internetplattform Feminism in India (FII). Als sie 2010 an der Jawaharlal Nehru-Universität in NeuDelhi Germanistik studierte, erfuhr sie in einem öffentlichen Verkehrsmittel sexuelle Belästigung. Der sonst so lauten Frau fehlten die Worte, sich zu wehren. Es dauerte vier Jahre, bis sie mit einem Artikel auf ihrer Plattform FII das Schweigen brach – nicht nur für sich selbst, sondern »für alle, die unter dem Patriarchat leiden«, wie sie in einem Text über den Vorfall schrieb. Später widmete sie sich in ihren Beiträgen Menstruationstabus, weiblicher Genitalkosmetik, Protesten gegen einen rechten Verein sowie der Pride-Parade in Neu-Delhi. Mit der 31-Jährigen bekam die feministische Bewegung Indiens ein weiteres Gesicht aus der städtischen Mittelschicht. Ihr Laptop ist ihre Waffe im Kampf gegen die Ungleichbehandlung von Frauen und Geschlechterrollen. Auf Feminism In India, in Wikipedia-Artikeln und bei Online-Vorträgen tritt Pasricha für Gerechtigkeit ein. »Für mich war es wichtig, Ressourcen zu schaffen, die Chancengleichheit und Frauenrechte erklären«, sagt sie während des Videogesprächs. Heute arbeiten bei ihrer Online-Plattform zehn Frauen: Sie schreiben Texte, produzieren Podcasts und Videos und veröffentlichen Comics. In den Beiträgen geht es um sexuelle und reproduktive Rechte, Partner_innenwahl jenseits von Religion und Kaste und die Diskriminierung von transgeschlechtlichen Menschen. In Indien über Feminismus zu sprechen, ist eine Kampfansage, denn Pasricha und ihre Mitarbeiterinnen hinterfragen männliche Privilegien. Und sie bekommen Gegenwind zu spüren in Form von Hass im Netz. »Das ist extrem belastend und kostet eine Menge mentale Energie«, sagt Pasricha. »Tatsächlich habe ich vor Kurzem meine persönlichen Social-Media-Accounts deaktiviert, weil ich wieder einmal mit Online-Belästigung konfrontiert war und schon einmal gestalkt wurde.« Auch über Corona-Mythen will Pasricha mit ihrem Team aufklären. FII stellt die wichtigsten Nachrichten über das Virus zusammen und veröffentlicht Hinweise zu Hilfsaktionen. Wegen der Pandemie haben die Feministinnen ihren Aktivismus ganz auf das Digitale verlegt. Ihr Büro hat Pasricha aufgegeben. Die Kosten für das Medienunternehmen sind gestiegen und die Zeiten unsicher. Vermehrt werden kritische Medienschaffende auf Grundlage des Gesetzes zur
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© Amnesty International / Joanna Demarco, 2020
IHNEN DROHT LEBENSLÄNGLICH, WEIL SIE LEBEN GERETTET HABEN Bevor sie als die „El Hiblu 3“ bekannt wurden, waren sie Jugendliche, die sich für Fußball und Basketball begeisterten. Sie waren damals 15, 16 und 19 Jahre alt und wollten das, was wir alle wollen: eine sichere Zukunftsperspektive. Dieses gemeinsame Ziel führte sie von Guinea und Côte d’Ivoire nach Libyen. Weil sie unbedingt der Gewalt und Folter in den Haftlagern entkommen wollten, die dort für Flüchtlinge und Migrant_innen vorgesehen sind, gingen sie mit mehr als 100 anderen Menschen an Bord eines Schlauchboots, das sie nach Europa bringen sollte. Das Boot geriet schon bald in Schwierigkeiten und wurde vom Öltanker „El Hiblu“ gerettet. Die Besatzung des Schiffs versuchte die Geretteten – rechtswidrig – nach Libyen zurückzubringen, obwohl sie versprochen hatte, dies nicht zu tun. Es kam auf dem Schiff zu Protesten, und man bat die drei Jugendlichen um Mithilfe, um die Situation zu beruhigen. Sie dolmetschten und verteidigten das Recht der Geretteten, nicht erneut Gewalt und Folter in Libyen ausgesetzt zu sein. Daraufhin änderte die Schiffsbesatzung den Kurs in Richtung Europa. Als der Tanker jedoch in maltesisches Gewässer einfuhr, stürmten die maltesischen Behörden das Schiff und behaupteten, die drei Jugendlichen hätten es mit Gewalt unter ihre Kontrolle gebracht. Bei ihrer Ankunft in Malta am 28. März 2019 wurden die drei inhaftiert. Seitdem gehen die maltesischen Behörden juristisch gegen sie vor. Es wurden so schwerwiegende Anklagen, darunter der Vorwurf des Terrorismus sowie der Vorwurf, das Schiff „entführt“ zu haben, gegen sie erhoben, dass ihnen lebenslange Haftstrafen drohen. Und dies, obwohl die Polizei bestätigt hatte,
dass die Crew die Kontrolle über das Schiff hatte, es keine Verletzten gab und nichts zu Schaden gekommen war. Die drei Jugendlichen hatten schlicht versucht, ihre Sicherheit zu verteidigen und die übrigen Geretteten vor erneuter Folter und Gewalt in Libyen zu schützen. Im November 2019 wurden sie auf Bewährung aus der Haft entlassen. Alle haben in Malta Asyl beantragt. Doch angesichts des Gerichtsverfahrens fällt es den Jugendlichen schwer, optimistisch zu bleiben, Zwar werden im Moment zumindest Zeugenaussagen Doch wann die maltesische Justiz zu einem Urteil kommen will, ist nicht absehbar – für die Jugendlichen eine äußerst belastende Situation. Täglich müssen sie sich bei der Polizei melden. „Ich bin entmutigt und verzweifelt, denn dieses Gerichtsverfahren zieht sich hin. Es wirkt, als würden die Behörden sich weigern, die Wahrheit zu sehen“, sagte einer der Jugendlichen gegenüber Amnesty. Fordere Gerechtigkeit für die „El Hiblu 3“ und beteilige dich an unserer Online-Aktion an den maltesischen Generalstaatsanwalt. Alle Anklagen gegen die drei Jugendliche müssen fallengelassen und das Verfahren eingestellt werden! Jetzt mitmachen unter amnesty.de/60Jahre
POLITIK & GESELLSCHAFT
Türkischer Drohnenkrieg im Nordirak
Das Grauen aus der Luft
Splitter und Trümmer einer Bombe, die per türkischer Drohne kam. In Kuna Masi wurde im Juni 2020 ein Mann getötet, drei Menschen wurden verletzt.
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Peyman Talib (2. v. l.) verlor beim Drohnenangriff ein Bein, alle Familienmitglieder wurden verletzt. Wohnzimmer in Kuna Masi.
Seit Jahren führt die Türkei einen Drohnenkrieg gegen kurdische Milizen im Nordirak. Immer öfter werden dabei Zivilpersonen getötet. Im Frühjahr hat die Türkei eine neue Offensive gestartet. Von Bartholomäus von Laffert (Text) und Daniela Sala (Fotos) Ein Jahr ist vergangen, seit der Krieg nach Kuna Masi kam. Der Himmel ist wieder still. Der Krater ist zugeschüttet neben der kleinen Brücke, die über den Fluss führt. In der Auslage des Dorfladens hängen bunte Gummifußbälle, Grillroste und Badetücher. Alles soll gut aussehen, wenn es Sommer wird und die Touristen in die kurdische Autonomieregion im Nordirak kommen. Doch hinter der Fassade sind die Spuren des Angriffs vom 15. Juni 2020 um 17:40 Uhr noch frisch. Kaiwan Kawa, 31 Jahre alt, steht in seinem Laden, hat die Ärmel hochgekrempelt und blickt zur Decke, die teilweise weggebrochen ist. Er ruft seinen siebenjährigen Sohn Hezhwan und fährt ihm vorsichtig über den Kopf: »Sehen sie diesen Granatsplitter hier? Der liegt so nah an seinem Gehirn, dass er nicht operiert werden kann.« Seine Tochter hat einen Gehörschaden davongetragen. Seine Frau hat ihr linkes Bein verloren und schwere Verbrennungen an den Armen erlitten, die roten Narben sind noch immer zu sehen. Kaiwan Kawa kann jedes Detail nacherzählen: Wie die Touristen an jenem Tag nach Kuna Masi kamen und die Kinder im Fluss plantschten. Wie es plötzlich einen Knall gab, als würde die Welt untergehen. Wie er eine dunkle Wolke aufsteigen sah und in den Rauchschwaden seine Frau entdeckte, die fast verblutete. Und dann den zerfetzten Körper eines Mannes vor seinem Laden.
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Damals wusste er noch nicht, dass es sich bei dem Mann um einen Kämpfer der Partei für ein freies Leben in Kurdistan (PJAK) handelt, einer Schwesterpartei der Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Er wusste nicht, dass eine türkische Drohne eine mit Splittern gefüllte Gleitbombe abgefeuert hatte. »In einer Sekunde hat die Türkei unser Leben komplett zerstört, aber niemand schert sich darum«, stellt Kaiwan Kawa fest.
Erweitertes Einsatzgebiet Seine Geschichte ist nicht nur die einer Familie, die innerhalb weniger Sekunden alles verloren hat. Es ist die Geschichte eines zähen, kaum beachteten Krieges, den die Türkei seit zwei Jahrzehnten gegen Milizen der marxistischen PKK führt, die von der Türkei, der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Ein Krieg, der aus der Luft mit Drohnen geführt wird und unter dem vor allem die Zivilbevölkerung leidet. Nach Angaben der im Nordirak ansässigen Menschenrechtsorganisation Christian Peacemaker Team (CPT) wurden zwischen 2015 und Februar 2021 bei Luftangriffen durch die Türkei mindestens 99 Zivilpersonen getötet und 109 verletzt. »Man sollte meinen, dass Drohnen dazu führen, zivile Schäden zu begrenzen«, sagt Chris Woods von der NGO Airwars, die Daten zu Luftkriegen auswertet. »Doch sind die Zwischenfälle, bei denen Zivilpersonen betroffen waren, im vergangenen Jahr um 31 Prozent gestiegen.« Mindestens 27 Zivilpersonen wurden dabei getötet. Der Konflikt ist nicht neu. Anfang der 1990er Jahre hatte die PKK ihr Hauptquartier in die Kandil-Berge im Norden des Irak verlegt. Im Jahr 1992 gestattete der irakische Diktator Saddam Hussein der Türkei, die PKK auf irakischem Territorium zu bekämpfen. Unter Vermittlung der USA wurde 1998 das Washing-
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ton-Abkommen geschlossen, in dem sich die beiden größten kurdischen Parteien im Nordirak (PUK und DPK) verpflichteten, die Türkei im Kampf gegen die PKK zu unterstützen. Dem türkischen Militär wurde erlaubt, aus Gründen der Selbstverteidigung 40 Kilometer tief ins Landesinnere des Iraks vorzustoßen. Im Zuge der Friedensgespräche zwischen der Türkei und der PKK waren die Guerillakämpfer 2013 bereit, sich komplett aus der Türkei in die Kandil-Berge zurückzuziehen. Doch nach dem Abbruch der Gespräche flammte der Kampf 2015 erneut auf. Am 23. April 2021 startete die Türkei im Nordirak ihre jüngste Offensive gegen die PKK und griff die Regionen Metîna, Avaşîn und Zap aus der Luft an: »Mehrere Terroristen wurden neutralisiert«, erklärte Präsident Recep Tayyip Erdoğan kurz darauf in einer Videobotschaft. Ziel der Offensive sei es, die »Terrorbedrohung« entlang der türkischen Südgrenze »vollständig zu beenden«.
37 türkische Militärbasen im Nordirak Einer, der die neue Eskalation der Gewalt besonders fürchtet, ist Bakr Baiz Ali. Wir treffen ihn Anfang April in seinem Haus in Qaladize, einer Stadt mit 80.000 Einwohner_innen im Nordosten des Irak. »Diese Angriffe sind das Resultat eines innenpolitischen Konflikts in der Türkei, und doch sind wir es, die den Preis dafür zahlen müssen«, sagt der 56-Jährige. Er ist Bürgermeister der Region Pshdar, in der knapp 150.000 Menschen leben. Elf Mal sei die Region im vergangenen Jahr angegriffen worden, 3.399 Menschen seien vertrieben worden, 48 Dörfer hätten evakuiert werden müssen. 2019 sei auch die Universität in Qaladize Ziel eines Angriffs geworden. Man wisse nie, wann die türkischen Drohnen zum Einsatz kämen: »Wir wissen nicht, ob wir unsere Kinder heute zur Schule schicken oder ob wir morgen unsere Felder bestellen können. All das hängt von der Stimmung der türkischen Piloten an der Fernsteuerung ab«, sagt Bakr Baiz. Er fühle sich hilflos und könne selbst als Bürgermeister die Betroffenen nicht einmal entschädigen. Zwar schicke er
»Ob wir unsere Felder bestellen können, hängt von den Piloten ab.« Bürgermeister Bakr Baiz nach jedem Drohnenangriff einen Bericht nach Erbil, die Hauptstadt der Autonomieregion, doch die Regierung ignoriere meist seine Forderungen nach Schadenersatz. Ein Grund dafür ist, dass die regierende Partei in Erbil, die Demokratische Partei Kurdistans (PDK), seit den 1990er Jahren eng mit der Türkei zusammenarbeitet. Mittlerweile betreibt die Türkei 37 Militärbasen auf irakischem Territorium. Laut Recherchen der Menschenrechtsorganisation CPT werden von dort aus die Bayraktar-TB2-Drohnen gesteuert, die bei einem Großteil der Angriffe im Nordirak zum Einsatz kommen. Vermutlich auch jene, die zu den schweren Verletzungen in Kaiwan Kawas Familie geführt haben. Wie viele zivile Opfer es bei allen Drohnenangriffen gegeben hat, will das türkische Verteidigungsministerium auf Anfrage nicht sagen und beruft sich auf »Sicherheitsmaßnahmen«. Die Regierung veröffentlicht lieber Videos, die zeigen, wie vermeintliche Terroristen aus der Luft getötet werden, wie etwa das hochrangige PKK-Mitglied Ismail Özden, dessen Auto im August 2018 im Nordirak von einer Drohne in die Luft gejagt wurde. Insgesamt sollen seit 2015 rund 2.500 Guerilla-Kämpfer im Nordirak getötet worden sein. Diese Zahl liefert zumindest der Pressesprecher der PKK.
Dort haben türkische Drohnen im Februar 2021 angegriffen. Mina Abdullah zeigt Bombenreste in Shenie.
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NORDIRAK TÜRKEI IRAN
Erbil
Shenie
Kuna Masi
tungsfirma Baykar Makina, die von Selcuk Bayraktar geführt wird, dem Schwiegersohn des türkischen Präsidenten Erdoğan. Doch den Erfolg verdanken die Drohnen auch den Präzisionsraketen des quasi-staatlichen Herstellers Roketsan. Auch wenn die Türkei immer wieder betont, dass die Raketen in der Türkei produziert werden, hat das ARD-Magazin Monitor im vergangenen Jahr aufgedeckt, dass deutsche Firmen mit ihrem Know-how zu deren Entwicklung beigetragen haben. Die bayerische Firma TDW soll »Bauteile, Gefechtsköpfe und Technologie« für die »Panzerabwehrlenkwaffen« geliefert haben, die in der Türkei später womöglich weiterentwickelt wurden.
IRAK
»Bombardieren sie uns wieder?«
Nicht nur im Nordirak, auch in anderen Weltteilen ist die türkische Drohnenflotte in Konflikte involviert: In Libyen hat sie dazu beigetragen, den Vormarsch der Truppen von Chalifa Haftar auf Tripolis zu stoppen. Bei einem groß angelegten Drohnenangriff im syrischen Idlib im März 2020 sollen nach Angaben der türkischen Regierung in wenigen Tagen mehr als 100 Panzer zerstört und mehr als 2.000 syrische Kämpfer getötet worden sein. In Bergkarabach will die Türkei mit ihren Drohnen armenische Stellungen zerstört und den Krieg zugunsten Aserbaidschans entschieden haben. »Türkische Drohnen sind zum ›game changer‹ in internationalen Konflikten geworden«, stellt auch Chris Woods von der NGO Airwars fest. In der Türkei werden diese Waffen bei Militärparaden gefeiert. Vor allem Drohnen vom Typ Bayraktar-TB2, die auch im Nordirak eingesetzt werden. Entwickelt wurden sie von der Rüs-
Die Unterstützung des türkischen Militärs ist einer der Gründe, warum Mina Abdullah auf den Westen wütend ist. Wir treffen den 57-Jährigen auf einer Anhöhe, wenige Kilometer entfernt von seinem Heimatdorf Shenie, weil uns die irakischen Soldaten am Checkpoint wegen Sicherheitsbedenken nicht zum Dorf selbst durchlassen wollen. Erst im Februar hatte das türkische Militär Shenie am Fuß des Kandil-Gebirges mit Drohnen angegriffen. Abdullah hat die Überreste zweier Raketen mitgebracht, die er nach dem Angriff vor seinem Haus gefunden hat. »Fast jeden Tag fliegen die Drohnen über dem Dorf, und immer, wenn es donnert, zucken die Kinder zusammen und rufen: Bombardieren sie uns wieder?«, erzählt er. Zwei Drittel der Bewohner_innen hätten das Dorf seit dem Angriff verlassen, er selbst habe seine zwölf Kühe verkauft, denn es sei zu gefährlich, die Tiere hinauf in die Berge zu treiben. Warum aber bleibt er in Shenie? »Wir sind es gewohnt, Widerstand zu leisten. Wir haben keine andere Wahl«, sagt Abdullah. In den 1980er Jahren gegen Saddam Hussein, dann gegen die Türkei, später gegen den Iran. Ab 2014 hat er als Peshmerga-Kämpfer in den Streitkräften der Autonomen Region Kurdistan Seite an Seite mit der PKK gegen den IS gekämpft,
Nirgendwo sicher. Nahe der Staße von Kuna Masi nach Safra ist das Gelände teilweise vermint.
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zweimal sei er dabei verwundet worden. Wie viele Kurdinnen und Kurden ist er vom Westen enttäuscht und fühlt sich ausgenutzt. Sie seien gut genug gewesen, um gegen den IS zu kämpfen – aber vor den türkischen Drohnen beschütze sie niemand. »Wenn wir jetzt aufgeben, dann wird die Türkei dieses Gebiet besetzen. Ihr einziges Ziel ist es doch, uns Kurden zu vertreiben.« Dass es bald Frieden geben wird im Nordirak, daran glaubt derzeit niemand. Erdoğan hat mit Blick auf die PKK angekündigt, die Türkei werde »kämpfen, bis wir diese Mörderbanden beseitigt haben«. Die PKK gibt sich ebenfalls kämpferisch. »Das ist kein Krieg zwischen zwei Ländern, das ist der Freiheitskampf unseres Volkes gegen eine Kolonialmacht, die eine Reihe von Massakern gegen unser Volk verübt und ihren faschistischen Staat auf unserem Land errichtet hat«, sagt Zagros Hiwa, der PKK-Sprecher im Nordirak. Fragen beantwortet er mit Sprachnachrichten. »Dieser Feind kennt keine Gnade mit den Kurden, ganz egal, ob Freiheitskämpfer oder nicht. Für die Türkei ist nur ein toter Kurde ein guter Kurde.« Peyman Talib, die Frau von Kaiwan Kawa, sitzt auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer in Kuna Masi. Neben ihr steht ein Glas mit süßem Schwarztee, an der Wand lehnt ihre Beinprothese. Aus dem Fenster kann die 31-Jährige den zugeschütteten Krater neben der Brücke sehen und Kaiwan Kawa, wie er versucht, den Laden zu renovieren. »Sehen Sie, wie schön mein Leben früher einmal war?«, fragt Talib. Die Hoffnung, dass ihr eines Tages Gerechtigkeit widerfährt und die Verantwortlichen für den Angriff auf Kuna Masi zur Rechenschaft gezogen werden, hat Peyman Talib aufgegeben. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
Noch mehr Schrapnelle. Kaiwan Kawa in Kuna Masi.
»Das ist schwer nachzuweisen« Interview mit Mathias John, Rüstungsexperte von Amnesty International Deutschland, über die türkische Drohnentechnologie und mögliche Exporte aus Deutschland. Wie konnte die Türkei in den vergangenen Jahren zu einer Drohnenmacht aufsteigen, die die Konflikte in Libyen, Syrien und zuletzt in Bergkarabach entscheidend beeinflusst hat? Die Türkei hat in den vergangenen Jahren ein Programm geschaffen, mit dem sie Drohnen relativ billig fertigen kann, mit Bauteilen, die weitgehend auf dem freien Markt verfügbar und somit nicht in erster Linie für militärische Zwecke ausgelegt sind. Etwa Motoren für Kleinflugzeuge, GPS-Leitsysteme von der Schweizer Firma Garmin, die normalerweise für Autos produziert werden, Kamerasysteme, die zwar hochauflösend sind, aber keinen Exportbeschränkungen unterliegen. Das ist unglaublich effizient, und so hat die Türkei es geschafft, mit diesen Drohnen in asymmetrischen Kriegen wie in Bergkarabach oder Syrien unvorbereitete Gegner zu überraschen. Inwieweit haben auch deutsche Firmen daran mitgewirkt? Es gibt eine lange Liste von verschiedenen Produkten, deren Ausfuhr die Bundesregierung von Anfang der 2000er Jahre bis 2018 genehmigt hat. Zwar in geringen Mengen, doch waren darunter bestimmte Technologie- und Munitionsteile, die in der
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Türkei weiterentwickelt wurden und so das Drohnenprogramm und auch eine für Drohnen ausgelegte Bewaffnung unterstützt haben. Allerdings ist das schwer nachzuweisen, denn die Transparenz ist quasi gleich null. Wir wissen zwar sehr grob, was geliefert wurde, aber nicht, wer an wen geliefert hat. Damit rückt die Bundesregierung nicht raus, angeblich um Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse zu schützen. Welche Verantwortung trägt die deutsche Bundesregierung? Wenn ich mir diese Exportlisten anschaue, hätte aus menschenrechtlicher Sicht nie eine Genehmigung erteilt werden dürfen. Es war zu jedem Zeitpunkt klar, wie die Türkei solche Waffensysteme verwenden würde. Es ist bekannt, dass die Türkei damit wahrscheinlich Völkerrechtsverstöße im eigenen Land und in anderen Staaten wie im Nordirak begeht und Zivilist_innen darunter leiden. Das ist wieder einmal ein klassisches Beispiel dafür, dass die Bundesregierung bei der Entscheidung über die Rüstungsexportgenehmigungen nur außen- und sicherheitspolitische Kriterien berücksichtigt, Menschenrechte aber völlig unter den Tisch fallen.
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Frauen ganz vorn
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Schlechten Bedingungen zum Trotz gut gelaunt. Bewohnerinnen des Viertels Uruguai in Salvador.
Allein gegen die Krankheit Rassismus und eine prekäre Infrastruktur verschärfen die Lage der Bewohner_innen des Viertels Uruguai in der brasilianischen Stadt Salvador. Der Staat hilft wenig – und das nicht erst seit der Covid-19-Krise. Von Christine Wollowski (Text) und Rafael Martins (Fotos) Luana da Conceição Souza hat ihren jüngsten Sohn mitten in der Pandemie auf einem öffentlichen Platz geboren. Die 23-Jährige lebt mit ihrer Mutter, ihren drei Geschwistern, ihrem Partner und ihren beiden Söhnen im Stadtviertel Uruguai in Salvador im Bundesstaat Bahia. Das Haus der Familie liegt am Ende einer langen schmalen Gasse, die auf beiden Seiten von Hausmauern begrenzt ist, an denen Wäscheleinen hängen. Für Fenster ist in dem engen Haus kein Platz, die schmale Eingangstür ist die einzige Lüftungsmöglichkeit.
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Die junge Mutter sitzt in dem winzigen Wohnzimmer auf einem Sofa, das kaum in den Raum hineinpasst. »Wir haben über Stunden versucht, ein Taxi zu bekommen, aber alle hatten Angst, nachts in unser Viertel zu kommen«, erinnert sie sich an die Geburt. Öffentliche Verkehrsmittel gibt es in diesem Teil des Viertels nicht. Ihr Sohn Gaél Henrique erblickte schließlich auf einer Betonbank das Straßenlicht der Welt. Eine Polizistin beobachtete die Geburt von einem Polizeiposten aus und fuhr die Mutter und das Neugeborene im Streifenwagen ins Krankenhaus. Während Luana da Conceição Souza erzählt, kommen weitere Familienmitglieder nach Hause und verschwinden diskret hinter einem geblümten Vorhang, der den Wohnraum vom Bad und vom Schlafplatz trennt. Die Grundfläche des Hauses misst vielleicht 20 Quadratmeter. Es ist kaum vorstellbar, dass dort
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acht Menschen Platz zum Schlafen finden. Tagsüber verlassen alle Familienmitglieder zumindest zeitweise das Haus, um als Putzfrau und Maniküre zu arbeiten, einzukaufen, zu spielen oder einfach Luft zu schnappen. Die Corona-Fälle im Viertel steigen, und viele Menschen sind schon gestorben, doch in der Familie ist noch niemand erkrankt. Das Viertel Uruguai ist Teil einer der ältesten Favelas der Millionenstadt Salvador im Nordosten Brasiliens. Die ersten Bewohner_innen kamen in den 1950er Jahren aus dem Hinterland, in der Hoffnung, in der Großstadt bessere Lebensbedingungen zu finden. Da sie keine Miete bezahlen konnten, bauten sie Hütten auf Stelzen in den Mangroven der Halbinsel Itapagipe in der Unterstadt von Salvador, die sogenannten Alagados. Viele Jahre lang versuchte die Regierung immer wieder, die Zuwander_innen durch Räumungen zu verdrängen. In den 1980er Jahren gab sie auf. Die Stadt legte das Gebiet trocken und errichtete eine Handvoll einfacher Sozialbauten. Mangelnder Wohnraum, Armut, Gewalt und die Abwesenheit staatlicher Sozial- und Bildungspolitik prägen die Alagados bis heute.
Kaum staatliche Unterstützung
Die Pandemie hat den Rassismus und die Ungleichheit besonders deutlich gemacht. gung. 2014 hat er es als Sekretär für Gleichstellung in die Stadtverwaltung von Salvador geschafft. Nascimento hat die Nichtregierungsorganisation CAMA (Centro de Arte e Meio Ambiente) 1995 mit ins Leben gerufen, die ein Recyclingprojekt, berufsbildende Kurse und künstlerische Aktivitäten organisiert. Während der Pandemie initiierte die Organisation Solidaritätsaktionen zum Sammeln von Lebensmitteln und veröffentlichte die offiziellen Zahlen zu Neuerkrankungen und Todesfällen.
Mehrere der Erziehungs- und Bildungseinrichtungen im Viertel beruhen auf dem Engagement der Bevölkerung: Nonnen führen Krankheit auf engem Raum ehrenamtlich die öffentliche Kinderkrippe. Die Stadt liefert nur Im Vergleich zu besseren Wohnvierteln lagen die Corona-Zahlen Lunchpakete. Frauen des Viertels haben die Gemeinschaftshier stets deutlich höher. »Die einen bekommen Leistungen grundschule Luiza Mahin vor mehr als 30 Jahren gegründet, vom Staat, die anderen nicht«, sagt Nascimento. Er wirkt müde, weil die vorhandenen öffentlichen Schulen nicht genügend aber nicht besiegt. Den Kampf um menschenwürdigen WohnPlätze für ihre Kinder boten. Sie sammelten Geld, schleppten raum führt er, seit er denken kann. Die ersten Sozialbauten hätSteine und zogen in dem Gebäude Zwischendecken ein. Die ten nur einen Raum und eine Außentoilette gehabt. Inzwischen ersten zwei Jahre finanzierten sie die Schule über Spenden. Erst seien es immerhin zwei Zimmer. dann begann die Stadt, die Lehrkräfte zu bezahlen. All das wirke sich auch in der Pandemie aus. »Wir haben ja Inzwischen hat die US-amerikanische Organisation Ashoka nicht einmal eine Sozialarbeiterin, um die Krankheitsfälle zu die Grundschule als »Changemaker« ausgezeichnet. Der Unterbegleiten«, sagt der 57-Jährige. »Hier gab es Familien, in denen richt ist darauf ausgerichtet, afrobrasilianische Kultur wertzugleich drei, vier Mitglieder an Covid gestorben sind. Oft benutschätzen. Alle Klassenräume tragen Namen schwarzer Ikonen: zen sechs oder mehr Menschen das gleiche WC, viele Häuser »Die Kinder müssen spüren, dass sie ein Recht auf Leben habestehen überhaupt nur aus einem Raum.« ben«, sagt die 61-jährige Maria de Lourdes Conceição Nascimento, eine der Gründerinnen der Schule. Zwei ihrer Brüder hat sie an den Drogenkrieg verloren. »Wir müssen uns selbst unterstützen, sonst ist niemand da.« Auch während der Pandemie müssen sich die Bewohner_innen größtenteils selbst helfen. Manche schreiben es der Schule zu, dass es in Uruguai eine Anwohnervereinigung und sogar eine Lokalwährung mit eigener Bank gibt. In den ersten Pandemiemonaten zahlte die Vereinigung umgerechnet 50 Euro an junge Kleinunternehmer_innen aus, um deren Unternehmen zu retten. »Wir werden in der Pandemie von der Stadt weitgehend alleingelassen«, sagt auch Raimundo Nascimento. Er ist in den Alagados geboren und aufgewachsen und kämpft seit vielen Jahren gegen Rassismus und für Menschenrechte, vor allem für das Recht auf Wohnraum und SanitärversorWenig Platz. Luana da Conceição Souza mit ihrem jüngsten Sohn.
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cken«, sagt sie. Vor der Pandemie hatte sie einen kleinen Imbissstand, dieser wurde jedoch im Zuge einer städtebaulichen Maßnahme abgerissen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu ihrem damaligen Lebensgefährten zu ziehen und vom Gehalt seiner Festanstellung zu leben. Die Stimme der 37-Jährigen klingt resigniert, ihr Blick ist gesenkt. Das Zusammenleben ging nicht lange gut. Geldknappheit und die ständige Anwesenheit ihres Sohns führten zu Spannungen. Ihr Partner wurde erst arbeitslos und dann immer eifersüchtiger, sah in jedem Passanten einen Konkurrenten, bedrohte sie. Trank er zu viel Bier, wurde er handgreiflich, warf ihr Handy an die Wand oder ging auf sie los. Nach einem halben Jahr gelang es ihr endlich, eine eigene Bleibe zu finden. »Egal, wieviel Covid-Fälle es gibt, wenn jemand frisiert werden möchte, Fördert in ihrer Schule afrobrasilianische Kultur. Maria de Lourdes Conceição Nascimento. komme ich immer«, sagt sie. »Ich Der strukturelle Rassismus und die soziale Ungleichheit sind brauche das Geld zum Überleben.« Taise de Assis trägt Maske, wenn sie aus dem Haus geht. »Immer«, betont sie, und erzählt, in der Pandemie in Brasiliens Großstädten besonders offendass in der vergangenen Woche zwei Bekannte von ihr an Covid sichtlich. Isolation ist in beengten Wohnverhältnissen nicht möglich, Zugang zu sauberem Wasser längst nicht in allen Haus- gestorben seien. In Uruguai, wo rund 70.000 Menschen leben, gibt es keine halten selbstverständlich. Hausmädchen, Putzfrauen, BauarbeiGesundheitsstation. Eine Zeitlang haben die Bewohner_innen ter und Straßenhändler_innen können nicht im Homeoffice ardes Viertels selbst eine unterhalten. »Aber das ist Aufgabe des beiten. Gut 41 Prozent der Bewohner_innen Salvadors leben in »sub- Staates, das konnten wir nicht dauerhaft machen«, sagt Raimundo Nascimento. »Seit 2020 haben wir eine Notaufnahme, von normalen Agglomerationen«, wie Favelas in den Statistiken heißen. Mehr als die Hälfte ihrer Bewohner_innen sind schwarz, 70 der aus Patient_innen weitergeleitet werden, aber niemanden, um die Menschen hier zu versorgen.« Prozent aller schwarzen Brasilianer_innen traf die Pandemie »Uns hat die Stadt immerhin Spenden mit Masken, mediziohne jegliche finanzielle Reserve. Eine Studie des Instituto Locomotiva ergab, dass mehr Schwarze als Weiße die zwischen April und Dezember 2020 gewährte staatliche Nothilfe beantragt hatten. Ihren Anträgen wurde allerdings seltener stattgegeben. Die Gesundheitsorganisation Vital Strategies zeigte in einer Untersuchung auf, dass Schwarze in Brasilien seit der Pandemie im Schnitt umgerechnet mehr als 200 Euro weniger Lohn erhalten als Weiße – so groß war der Unterschied zuletzt im Jahr 2012.
Knapper Lebensunterhalt Taise de Assis verdient den Lebensunterhalt für sich und ihren achtjährigen Sohn damit, dass sie ihren Kundinnen bei Hausbesuchen Braids, Cornrows und andere Flechtfrisuren macht. »Im ersten halben Jahr der Pandemie habe ich fast gar nicht gearbeitet, weil ich Angst hatte, mich und meinen Sohn anzuste-
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Selbsthilfe statt Staat. Raimundo Nascimento zeigt Maßnahmen der Gemeinde zum Corona-Schutz.
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nischem Alkohol und geriatrischen Windeln geschickt«, sagt Célia Maria Lopes da Silva, die in einem Wohnhaus gegenüber der Schule Luiza Mahin das private Altenheim »Lar feliz« (»Glückliches Heim«) führt. In vier karg möblierten Schlafzimmern und einem Aufenthaltsraum leben dort bis zu 15 Senior_innen. Sie werden von vier Angestellten im Schichtdienst rund um die Uhr betreut. Dicht an dicht stehen die Betten, das Gemeinschaftsbad wird gerade gefliest – eine Auflage des Gesundheitsamtes. Die städtischen Angestellten besuchten ihr Heim erst nach mehr als einem halben Jahr Pandemie, um Tests durchzuführen, erzählt da Silva. Elf von 13 Bewohner_innen, zwei von vier Betreuerinnen und die 66-jährige Leiterin wurden im Oktober 2020 positiv auf Covid getestet. »Die Angestellten und ich blieben 14 Tage zu Hause, zum Glück nur mit leichten Symptomen«, sagt sie, »die Alten wurden erst nach Tagen zur Isolation in ein Krankenhaus verlegt.« Zwei erlagen dem Virus, die anderen kehrten nach der Quarantäne zurück ins »Glückliche Heim«. Vier der Betagten sitzen auf dem kleinen Vorplatz vor dem in Rosé gestrichenen Haus und genießen ein paar Sonnenstrahlen. Auf einem winzigen Bildschirm flackert das TV-Programm.
BRASILIEN
BRASILIEN Salvador Brasilia
Rio de Janeiro
Zunehmende Polizeigewalt Plötzlich fällt ganz in der Nähe ein Schuss. Die Alten lassen sich nicht stören. Auch nicht von heulenden Polizeisirenen und gellenden Frauenstimmen. Soeben habe die Polizei drei Jugendliche festgenommen, erklärt eine Eisverkäuferin, die hastig vorbeieilt. »Unter der aktuellen Regierung führen sich die Polizisten auf, als dürften sie alles«, sagt eine andere Passantin. »Wer hier nicht am Corona-Virus stirbt, der stirbt an Schüssen.« Seit der Pandemie habe die Polizeigewalt zugenommen, bestätigen weitere Anwohner. Erst in der vergangenen Woche seien zwei junge Männer erschossen worden, in der vergangenen Nacht drei. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro macht keinen Hehl aus seiner Haltung zu gewalttätigen Polizeieinsätzen in Favelas. »Das sind alles Drogenhändler«, kommentierte er im Mai lakonisch den Tod von 25 Menschen bei einer Polizeiaktion in einer Favela in Rio de Janeiro. Zu den Todeszahlen der Pandemie sagte er im April: »In welchem Land sterben keine Menschen?« Die feministische Organisation schwarzer Frauen Odara fordert von den Regierenden in Salvador Tests und Impfungen für alle Menschen. Doch die Realität sieht bislang anders aus. Die vorerst bis Juli 2021 gewährte neue Auflage der Nothilfe erhalten 22 Millionen Menschen weniger als im vergangenen Jahr. Sie liegt mit umgerechnet bis zu rund 60 Euro monatlich knapp über der Grenze zur absoluten Armut. Mitte Mai waren in Salvador rund 334.000 Menschen mit der zweiten Dosis geimpft, das entspricht etwa zwölf Prozent der Bevölkerung. Zwei Drittel der Geimpften in Brasilien sind weiß.
»Wer hier nicht am Corona-Virus stirbt, der stirbt an Schüssen.« Eine Anwohnerin BRASILIEN
»Wenn jemand frisiert werden möchte, komme ich.« Taise de Assis.
Von Covid-19 hart getroffen. Altenheim »Lar feliz«.
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Die Wächterin des Regenwaldes
Hält der Bedrohung durch Paramilitärs stand. Jani Silva.
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Seit mehr als 40 Jahren engagiert sich Jani Silva für nachhaltige Landwirtschaft in der Amazonasregion Kolumbiens. Paramilitärs drohen der international bekannten Umweltschützerin mit dem Tod. Der Staat hat sie lange im Stich gelassen. Von Knut Henkel Der Blick über den Río Putumayo mit den Bergen am Horizont, über denen die Sonne aufgeht – das ist es, was Jani Silva jeden Morgen vermisst. Früher hat sie auf ihrem Hof den Sonnenaufgang verfolgt und dabei einen dampfenden Kaffee getrunken. Das ist schon seit Monaten vorbei. Silva musste ihr Dorf Bajo Cuembí im Süden Kolumbiens verlassen und lebt nun in Puerto Asís, der größten Stadt in der Region Putumayo. »Ende Oktober war ich zum letzten Mal da, habe unsere 45 Rinder verkauft, die Gänse und die Hühner. Es ging nicht anders, die Morddrohungen wurden immer heftiger«, sagt die 57Jährige. Erst zirkulierten Pamphlete in dem kleinbäuerlichen Schutzgebiet »La Perla Amazónica«. Unterzeichnet waren sie mit »Los Comandos de la Frontera« (Grenzkommandos). Dann tauchten schwerbewaffnete Mitglieder dieser paramilitärischen Organisation in den Dörfern auf. Sie verfolgen das Ziel, das Schutzgebiet aufzulösen, und suchten Jani Silva. In der abgelegenen Amazonasregion wird traditionell Koka angebaut. Die Organisation will den Markt und den Schmuggel der getrockneten oder zu Kokainpaste verarbeiteten Blätter kontrollieren. So haben es Journalist_innen des kolumbianischen Online-Mediums »Las2Orillas« recherchiert. Sie weisen auch darauf hin, dass lokale Organisationen von Bäuerinnen und Bauern für den Ausstieg aus der Kokaproduktion plädieren. Dazu zählt auch ADISPA (Asociación de Desarrollo Integral Sostenible de La Perla Amazónica), eine von Jani Silva mitgegründete Organisation, die für eine nachhaltige Entwicklung des Schutzgebiets eintritt. Sie will die Bäuer_innen in der Amazonasregion davon überzeugen, alternative Produkte anzubauen. Silva, die auch für die Umsetzung des Friedensabkommens von 2016 wirbt, ging mit gutem Beispiel voran, setzte auf Honig, Bananen und andere Produkte und warb in ihrem Dorf und in ihrer Organisation für den Ausstieg aus dem Kokaanbau. Genau das ist einer der Gründe, warum Silva in den Fokus der Paramilitärs geraten ist. Ein weiterer ist, dass sich ADISPA für Umweltschutz in der Region engagiert. Mehrfach hat die Organisation in den vergangenen Jahren die chilenische Erdölfirma GeoPark (vormals Amerisur) angezeigt, weil in der Nähe von Bohrlöchern das Wasser des Amazonas kontaminiert war. »Mit den Anzeigen begannen die Drohungen«, erinnert sich Silva. »Ein Sprecher der Paramilitärs, Leonel, behauptet, sie hätten einen Vertrag mit der Erdölfirma und würden dafür sorgen, dass Amerisur in Ruhe arbeiten könne.«
Foto: Nubia Acosta
Eine gute Lehrerin Für Silva und ihre Organisation bedeutet das nichts Gutes. Zwar hat das Erdölunternehmen jeden Kontakt zu den »Grenzkommandos« bestritten und juristische Schritte gegen die kirchliche Menschenrechtsorganisation CIJP (Comisión Intereclesial de Justicia y Paz) angekündigt, die in einem Bericht schrieb, dass es genau diese Kontakte gibt. CIJP unterstützt die ADISPA seit Jahren. Aber trotz des Dementis stünden die Aussagen der Paramilitärs nun mal im Raum, sagt Danilo Rueda von der CIJP. Jani Silva wurde in der Amazonasstadt Leticia geboren und kam als Zwölfjährige mit ihrer Mutter in die Region von Puerto Asís. Sie wuchs in einem Dorf auf und begann mit 16 Jahren,
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sich in kleinbäuerlichen Organisationen zu engagieren. »Am 18. Dezember 2000 hat das Nationale Institut für ländliche Entwicklung unserem Gebiet den Status einer bäuerlichen Schutzzone verliehen, und wir dachten, wir wären am Ziel unserer Träume«, erinnert sich Jani Silva. Sie habe sich Schutz von der Regierung, Rechtssicherheit und internationale Anerkennung durch den Status versprochen. Doch was folgte, waren jahrelange Auseinandersetzungen mit bewaffneten Gruppen, die in Morddrohungen von Paramilitärs gipfelten. Das Schutzgebiet »La Perla Amazónica« erstreckt sich über 22.000 Hektar, rund 800 kleinbäuerliche Familien leben und arbeiten dort. Um ihre Lebensgrundlagen zu verteidigen, gründeten Aktivist_innen im Jahr 2008 ADISPA. Seither hat die Organisation mit nationaler und internationaler Hilfe Strukturen aufgebaut, nachhaltige Anbaukonzepte erarbeitet und ihre Mitglieder geschult. Sie setzt sich für Umweltschutz, Wiederaufforstung und den Erhalt der Artenvielfalt ein. Silva und ihren Mitstreiter_innen ist es wichtig, der nachwachsenden Generation Perspektiven aufzuzeigen. »Wir haben Workshops zur bäuerlichen Identität organisiert und waren mit den Kindern und Jugendlichen auf den Höfen und in der Natur unterwegs«, erzählt Silva, die selbst vier Kinder hat. Doch seit dem Auftauchen der »Grenzkommandos« sei die Arbeit schwieriger geworden. In Kolumbien hat die Aktivistin den Ruf einer guten Lehrerin, die für Umweltschutz, die Verteidigung kleinbäuerlichen Landbesitzes und den Erhalt der Artenvielfalt in der Amazonasregion eintritt. Dies erkennen sogar ihre bewaffneten Gegner an. Die Paramilitärs bezeichnen die Aktivist_innen von ADISPA als »Schüler«, wenn sie in den Dörfern auftauchen. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission hatte Kolumbien bereits im Dezember 2018 aufgefordert, Jani Silva, ihren Mann Hugo Miramar und andere ADISPA-Aktivist_innen zu schützen. Ungeachtet dessen und trotz zahlreicher Appelle von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International gab es aber über einen langen Zeitraum kaum Hilfe von der Justiz, dem in der Region stationierten Militär oder der Polizei, kritisiert Silva. Im Gegenteil: Die »Grenzkommandos« hätten sich damit gebrüstet, Unterstützer_innen in der Verwaltung und in der Armee zu haben. Erst im Mai 2021 erhielt zumindest Silva von den Behörden endlich den geforderten Individualschutz. Die Bedrohung aber bleibt. »Ich lebe wie eine Gefangene in Puerto Asís. Ich traue mich nicht, das Haus ohne Leibwächter und schusssichere Weste zu verlassen. Ich fühle mich entwurzelt«, klagt Silva. Zum ersten Mal weiß sie nicht weiter, bangt um die Arbeit von Jahrzehnten, die wegen der Corona-Pandemie ohnehin sehr viel schwieriger geworden sei. Es gehe die Angst um, sich zu engagieren, sagt sie niedergeschlagen. Silva hofft auf internationale Unterstützung – die könne vielleicht dafür sorgen, dass sie irgendwann zurückkönne – auf ihren Hof und zum Sonnenaufgang in Bajo Cuembí.
60 JAHRE AMNESTY INTERNATIONAL Im Jubiläumsjahr richtet Amnesty International den Blick besonders auf Menschen in Gefahr und auf Menschenrechtsverteidiger_innen, die sich für andere einsetzen. Mehr dazu: amnesty.de/60jahre
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WAS TUN
Was sagt Amnesty eigentlich zu … Waffenhandel? Deutschland exportiert immer mehr Großwaffen wie Panzer, Kampfflugzeuge und -schiffe. Das geht aus dem jüngsten Bericht des Friedensforschungsinstituts SIPRI hervor. Das Volumen der aus Deutschland gelieferten Großwaffensysteme wuchs zwischen 2016 und 2020 im Vergleich zum vorherigen Fünfjahreszeitraum um 21 Prozent. Damit stammen 5,5 Prozent der weltweit exportierten Großwaffen aus deutschen Rüstungsbetrieben. Der internationale Waffenhandel hat sich auf einem neuen Höchststand nach dem Ende des Kalten Krieges eingependelt. Die USA bleiben mit 37 Prozent Exportanteil weiter der mit Abstand größte Verkäufer. Die weltweit größten Waffenimporteure sind die Staaten des Nahen Ostens mit Saudi-Arabien an der Spitze. Sie steigerten ihre Rüstungskäufe um 25 Prozent. Amnesty hat wiederholt die Rüstungsexporte Deutschlands und anderer Länder kritisiert. »Der internationale Waffenhandelsvertrag, der Arms Trade Treaty, verbietet Rüstungsexporte, die zu Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären
Völkerrechts beitragen können«, sagt Amnesty-Rüstungsexperte Mathias John. Der Vertrag wurde bislang von 110 Staaten ratifiziert. Amnesty bemängelt jedoch, dass dass seine Umsetzung den Ansprüchen hinterherhinke. »Es braucht endlich wirksame Sanktionen bei Verstößen gegen den Waffenhandelsvertrag«, fordert Mathias John. »Außerdem muss die Transparenz deutlich verbessert werden.« Und Deutschland müsse die Menschenrechtskriterien rechtlich verbindlich machen, am besten mit einem einheitlichen Rüstungsexportgesetz für alle Rüstungsgüter. Zuletzt hatte Amnesty kritisiert, dass die Bundesrepublik keinen umfassenden Stopp von Rüstungsexporten an alle Staaten verhängt hat, die der von Saudi-Arabien geführten Militärallianz angehören, die am Krieg im Jemen beteiligt ist. Denn in diesem Krieg sind Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht an der Tagesordnung. Dabei setzen die Konfliktparteien auch Waffensysteme ein, in denen deutsche Komponenten verbaut sind und die von anderen europäischen Staaten dorthin weiterverkauft werden. Uta von Schrenk
Das steckt drin: Pestizide Das deutsche Chemieunternehmen Bayer AG ist mit seiner Übernahme des US-amerikanischen Saatgutherstellers Monsanto groß in das Geschäft mit Pestiziden eingestiegen. Die Gesellschaft für bedrohte Völker wirft dem Konzern vor, Pestizide, die in der EU verboten sind, in Länder wie Brasilien zu exportieren – und damit für Umweltverschmutzung und ihre gesundheitlichen Folgen verantwortlich zu sein.
AgrarBrasilien setzt auf den Export von und ker Zuc s, Mai , produkten wie Soja n Baumwolle, die stark mit Pestizide von en werd e Dies en. werd elt and beh sten Flugzeugen aus versprüht und bela r. ässe Gew und en nachweislich Böd
In unmittelbarer Nähe dieser Anbaugebiete leben viele Indigene, sch warze Menschen und Kleinbäuer_innen. Ihre Nahrungsqualität und Gesundheit leiden unter dem Einsatz der Pestizide.
ikte zunehmende Landkonfl Amnesty beklagt zudem gieRe Die . nen ige und Ind zwischen Agrarkonzernen weltUm o lockert systematisch rung unter Jair Bolsonar ige Ind . rie sten der Agroindust schutzrichtlinien zugun en ihr aus ge Fol der werden in ne Bevölkerungsgruppen altsam vertrieben. gew r ode ngt drä Gebieten ver
Der Bericht der Gesellsc haft für bedrohte Völker beleuchtet sieben Fälle, in denen Pestizide fahrlässig oder sogar abs ichtlich in unmittelbarer Nähe oder direkt auf indigene Siedlungen ausgebracht wurden. Die Bayer AG analysiert nach eigenem Bekunden die Fälle.
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Quelle: www.gfbv.de Foto: Flower Studio / shutterstock.com
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Malen nach Zahlen: Todesstrafe Der Todesstrafen-Bericht 2020 von Amnesty International ist erschienen. Er kann zwei große Erfolge verzeichnen.
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Quelle: Amnesty International 2021 Foto: Mega Pixel / shutterstock.com
Besser machen: Buchstabieren
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WAS TUN
soll auf Städtenamen basieren und Mitte 2022 in Kraft treten. Bis dahin ist zusätzlich zur aktuell noch geltenden Norm die Buchstabiertafel der Weimarer Republik gültig. Diese Fassung enthält wieder die jüdischen Namen. D wie David, Z wie Zacharias heißt es nun für Gegner_innen des Antisemitismus.
Foto: Claas Augner (CC BY-SA 3.0)
A wie Anton, Z wie Zeppelin – Buchstabiertafeln sind international üblich, um sich (fern-)mündlich verständlich machen zu können. Die deutsche Fassung geht auf die Buchstabiertafel aus dem Kaiserreich von 1905 zurück. Kurz nach ihrer Machtübernahme löschten die Nationalsozialist_innen 14 Begriffe aus der Buchstabiertafel, darunter deutsch-jüdische Vornamen wie David, Jacob, Nathan, Samuel oder Zacharias. Derzeit arbeitet das Deutsche Institut für Normung an einer Reform der Buchstabiertafel, weil die bisherige der kulturellen Vielfalt des Landes nicht mehr gerecht werde. Die neue Fassung
FREIHEIT FÜR NASRIN SOTOUDEH! Die iranische Anwältin Nasrin Sotoudeh wurde in unfairen Gerichtsverfahren zu insgesamt 38 Jahren Gefängnis, von denen sie 17 Jahre verbüßen muss, und 148 Peitschenhieben verurteilt. Die Trägerin des Alternativen Nobelpreises engagiert sich für Frauenrechte und gegen die Todesstrafe. Seit Juni 2018 ist sie in Haft. Fordere ihre umgehende, bedingungslose Freilassung und die Aufhebung der Urteile!
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Magufulis langer Schatten Samia Hassan steht gebeugt über einem Motor. Scheinbar willkürlich reißt sie Teile heraus und wirft sie weg. Auf dem Motor steht »Made by JPM« – hergestellt von ihrem Vorgänger, John Pombe Magufuli, der im März überraschend gestorben war. Das alles ist in einer Karikatur zu sehen, die auch aus Hassans Antrittsrede zitiert: »Ich und Magufuli sind ein und dasselbe.« In der Praxis sind die Unterschiede zwischen den beiden jedoch überaus deutlich. Die erste Präsidentin Tansanias hat in den wenigen Wochen ihrer Amtszeit bereits viele Veränderungen angestoßen: Die Presse soll freier werden, es gibt Treffen mit Oppositionspolitiker_innen, die Politik widmet sich der Wirtschaftsförderung. Magufuli stand für das Gegenteil. Besonders deutlich ist der Wandel, was den Umgang mit der Corona-Pandemie betrifft: Hassan arbeitet mit der WHO zusammen, um Covid-19 zu bekämpfen. Magufuli hatte international Schlagzeilen gemacht, als er im April 2020 verkündete, das Virus sei in Tansania besiegt. Danach hatte seine Regierung weder Fallzahlen übermittelt noch sich um Impfstoff bemüht, diesen sogar abgelehnt. Im Januar 2021 gab die katholische Kirche im Land bekannt, es gebe mehr Beerdigungen als je zuvor. Im Februar starb der Vizepräsident von Sansibar, einem Teilstaat Tansanias, nach einer Covid-19-Erkrankung. Auch um Magufulis Tod rankten sich schnell Gerüchte, als offizielle Todesursache gilt, dass sein Herzschrittmacher versagte. Auf internationaler Ebene gab es starke Kritik an dem 2015 erstmals gewählten Präsidenten. Amnesty International stellte fest, dass der Raum für die Zivilgesellschaft immer enger wurde: Aktivitäten der Opposition und Demonstrationen wurden verboten, schwangere Mädchen der Schulen verwiesen, Flüchtlinge aus Burundi zur Rückkehr gezwungen, die freie Berichterstattung war eingeschränkt. Es gab vermehrte Angriffe auf Journalist_innen und Oppositionelle. Einige von ihnen sind bis heute »verschwunden«. Trotz erster Veränderungen kann sich Samia Hassan nicht von Magufuli lösen. Immer wieder betont sie die Einheit mit ihrem Vorgänger. Es wäre zu kurz gegriffen, Magufuli nur mit Repressalien in Verbindung zu bringen. In Tansania war er bei vielen sehr beliebt, wie Bilder seiner Beisetzung bewiesen. Es regnete, als sich im März Zehntausende im Freiheitsstadion in Dar Es Salaam versammelten. Über Stunden gingen sie an Magufulis aufgebahrtem Sarg vorbei, um ihrem Präsidenten die letzte Ehre zu erweisen. Immer wieder fielen Menschen in eine Art Trance, wurden ohnmächtig und von den Sanitäter_in-
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nen eilig zur Seite getragen. Obwohl Armeeangehörige darauf achteten, dass niemand am Sarg verweilte, wurden die Schlangen vor dem Stadion länger und länger. Am Abend sollte der Leichnam nach Dodoma geflogen werden. Als klar wurde, dass es nicht mehr alle ins Stadion schaffen würden, kam es an den Eingängen zu einer Massenpanik, bei der 45 Menschen starben.
Zwei Schwestern für Magufuli »Er war ein Präsident für das Volk, er hörte den Menschen zu«, erzählt Nitoya Joram. Ihre Zwillingschwester Jonatha Joram ergänzt: »Er respektierte und würdigte die weniger Privilegierten.« Die beiden sitzen auf einem Sofa in ihrem Wohnzimmer in Dar Es Salaam. Der Ventilator dreht sich abwechselnd zu Nitoya und Jonatha. Draußen herrscht wie so oft drückende Schwüle. Jonatha Joram sortiert Kleidungsstücke für ihr Geschäft. Einige hat sie selbst aus recyceltem Material entworfen. Nach ihrem Buchhaltungsstudium hat sie sich selbstständig gemacht. »Magufuli legte Wert auf die Selbstverwaltung der Ressourcen Tansanias. Er hatte die Idee, alle Menschen sollten fair am Reichtum des Landes beteiligt werden.« Ihre Schwester sieht das ähnlich: »Im Gegensatz zu anderen ging es ihm um die Menschen. Er war streng und bestimmt, aber auch beschützend und verantwortungsvoll«. Nitoya Joram ist als juristische Beraterin in einer Firma angestellt, die Cashewnüsse exportiert. »Er hat kostenfreie Bildung von der Grund- bis zur weiterführenden Schule ermöglicht, viel in die Infrastruktur investiert und Frauen in der Politik gestärkt.« Magufuli hatte Samia Hassan als Vizepräsidentin eingeFoto: State House of Tanzania / Handout via Xinhua / pa
In Tansania ist mit Samia Hassan seit März erstmals eine Frau Präsidentin. Ihr verstorbener Vorgänger John Pombe Magufuli hat die Freiheitsrechte oft missachtet. Dennoch war er im Land sehr beliebt. Von Bastian Gabrielli
»Er war streng, aber auch beschützend.« Nitoya Joram über Präsident Magufuli AMNESTY JOURNAL | 04/2021
Erste Frau an der Macht in Tansania. Die neue Präsidentin Samia Hassan nach ihrer Vereidigung inmitten einer Ehrengarde des Militärs, März 2021.
setzt, deswegen darf sie die Amtszeit nach seinem Tod bis 2025 verfassungsgemäß weiterführen. Jonatha Joram ergänzt: »Er setzte sich gegen Korruption ein, stand für die Selbstbestimmung Tansanias und stellte sich gegen unfaire Verträge mit westlichen Ländern.« In Tansania ist die Kolonialzeit noch sehr präsent, vor 60 Jahren proklamierte das Land seine Unabhängigkeit von Großbritannien; zuvor starben unter der deutschen Kolonialherrschaft Hunderttausende. Unter anderem wegen eines Vetos Magufulis war 2017 ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Ostafrikanischen Gemeinschaft EAC gestoppt worden.
Chance zur Einheit Über tausend Kilometer entfernt blickt Steven Revelian über die Täler Karagwes. Es ist Regenzeit im ländlichen Nordwesten, die Hügel rundherum sind grün. Zwischen Bananen und Kaffee blitzen immer wieder Wellblechdächer in der Sonne. Mit seiner NGO Karudeca setzt sich Revelian für Umwelt- und Sozialprojekte in den Dörfern ein. Derzeit arbeitet er an einem Projekt zur Förderung der Selbstbestimmung von Kindern mit Behinderung. Im vergange-
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nen Jahr ist er in die regierende Partei CCM eingetreten. Auch er schätzte Magufuli als kritischen Denker und Panafrikanisten: »Er bestand darauf, dass die afrikanische Entwicklung in den Händen der Afrikaner_innen sein sollte – für ihn war Tansania ein reiches Land.« Die Kritik an Magufuli teilt er nicht: »Menschenrechtsorganisationen haben ihn nicht verstanden. Magufuli konnte sogar seinen besten Freund feuern, wenn er sich falsch verhalten hatte«. Er deutet auf eine Schule im Tal. »Als ländliche Region hat Karagwe von der freien Bildung sehr profitiert. Auch haben wir jetzt ein neues Krankenhaus«, führt Revelian aus. »Er hat sich immer für die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz eingesetzt. Für ihn war die Selbstbestimmung unseres Landes ein hohes Gut.« Der Präsident war im Oktober 2020 mit 84 Prozent der Stimmen wiedergewählt worden. Die Wahl war von Übergriffen und Festnahmen begleitet. Zahlreiche Oppositionspolitiker_innen sahen sich gezwungen, das Land zu verlassen. Die neue Präsidentschaft bietet nun eine Chance zur Einheit. Nitoya Joram ist optimistisch: »Ich bin stolz, mit Samia Hassan erstmals eine Präsidentin zu haben.«
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Handy mit Gesundheitsspardose
Hoffentlich mobil vorgesorgt. Eine Behandlung im Universitätskrankenhaus in Toamasina im Osten Madagaskars kann teuer werden.
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Die medizinische Versorgung in Madagaskar ist schlecht – auf mehreren Ebenen. Längst nicht alle können sich Behandlungen leisten. Eine Software soll das ändern. Von Heike Haarhoff Wenn verunreinigtes Wasser und Mangelernährung zu Seuchen und lebensbedrohlichen Krankheiten führen, wenn ein simpler Beinbruch zum Risiko wird für eine bleibende körperliche Behinderung, dann gibt es »handfeste Probleme im Gesundheitssystem«, sagt der Arzt Julius Emmrich von der Berliner Charité. Das gilt zweifellos für Madagaskar, den zweitgrößten Inselstaat der Welt und eines der ärmsten Länder Afrikas. Auf 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner kamen im Jahr 2014 etwa zwei Ärztinnen und Ärzte. Zum Vergleich: In Deutschland waren es im selben Jahr etwa 20 Mal so viele. Die Fruchtbarkeitsrate liegt bei vier Kindern pro Frau, entsprechend jung ist die Bevölkerung. Und die Lebenserwartung ist mit durchschnittlich 67,5 Jahren weit geringer als in westlichen Industrienationen. »Die medizinische Versorgung im Lande ist mit Europa nicht zu vergleichen und ist vielfach personell, technisch, apparativ und hygienisch hoch problematisch«, schreibt das Auswärtige Amt. Dass nur zehn Prozent der madagassischen Bevölkerung krankenversichert sei, kommt erschwerend hinzu. »Wem es gelingt, trotz der widrigen Bedingungen einen Arzt zu finden, der kann sich häufig dennoch nicht behandeln lassen«, sagt Julius Emmrich. Vielen fehlen finanzielle Rücklagen. Das Geld, das etwa Bäuerinnen und Bauern in den entlegenen Regionen verdienen, reicht oft nicht für die alltäglichen Besorgungen. Manche Familien nehmen ihre Kinder aus der Schule, um von den eingesparten Schulgebühren die Geburtshilfe für das nächste Baby zu finanzieren. Es ist ein Teufelskreis. Doch Emmrich weigert sich, »in herausfordernden Situationen einzig die Defizite wahrzunehmen«. Er befasst sich seit Jahren mit der Entwicklung und dem Einsatz digitaler Methoden in der Entwicklungszusammenarbeit. Gemeinsam mit seinem Kollegen Samuel Knauss hat er eine Lösung entwickelt.
Foto: Juliette Robert / Haytham-REA / laif
Boomender »mobile money«-Markt Vor einigen Jahren, als er mit Knauss durch das Land reiste, fiel den beiden Medizinern auf, wie allgegenwärtig Handys im Alltag der Madagassen sind: Vor allem der »mobile money«-Markt boomt bei Jungen wie Alten, ganz unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status. Vielerorts sind Telefongesellschaften auf dem besten Weg, die Banken als Zahlungsdienstleister abzulösen. »Kein Wunder«, sagt Samuel Knauss, »die Bevölkerung ist extrem jung, das Durchschnittsalter liegt bei nicht einmal 20 Jahren.« Und der Einstieg in das Bezahlgeschäft via Handy ist sehr viel einfacher als bei traditionellen Bankgeschäften. In einem Land, in dem jeder Dritte weder lesen noch schreiben kann, ist das ein wichtiges Argument. Knauss, der bereits während seines Studiums in Berlin und an der Harvard Medical School ein Digital Health-Startup gründete, erkannte das Potenzial hinter der Mobilfunknutzung selbst in entlegenen Gebieten der Insel und hatte die Idee, sowohl das Ansparen als auch das Bezahlen von Gesundheitsdienstleistungen über das Handy abzuwickeln. Die beiden Mediziner nannten ihre mobile Gesundheitsspardose »mTOMADY«, das madagassische Wort heißt so viel wie »stark« oder »gesund«. Damit können Nutzerinnen und Nutzer zweckgebunden Geld ansparen, das sie später ausschließlich für Arztbesuche, Klinikaufenthalte und Medikamente ausgeben dürfen. »Die
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Vorteile liegen auf der Hand«, sagt Julius Emmrich: Anders als ein herkömmlicher Sparstrumpf sei die mobile Spardose nicht zu knacken. Zugleich sei die Plattform auch ohne Internet und über jedes noch so alte Handy nutzbar. Wie das funktioniert? »Überall im Land verkaufen Händler an sogenannten cash points Rubbelkarten«, sagt Knauss. »Man rubbelt den Code frei, gibt ihn ein und schickt das eingezahlte Geld direkt auf sein Gesundheitskonto.«
Bessere Transparenz Seit dem Start von mTOMADY im Oktober 2019 haben sich mehr als 100.000 Menschen auf der Plattform registriert – und jede Woche kommen etwa 1.000 weitere dazu. Die Software wird auch von Krankenversicherungen und internationalen Hilfsund Spendenorganisationen genutzt, um Beiträge elektronisch einzuziehen. Angeschlossene Ärzte und Ärztinnen sowie Gesundheitszentren können ihre Behandlungskosten direkt über die Plattform abrechnen. »Das trägt natürlich auch zu einer besseren Transparenz bei«, sagt Samuel Knauss. Wer Wucherpreise für eine Therapie verlangt, ist vergleichsweise leicht zu identifizieren, denn jede Behandlung, die über mTOMADY abgerechnet wird, ist nachvollziehbar, versichern die Mediziner. Auch Geld internationaler Organisationen, das für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung Madagaskars vorgesehen ist, würde seltener verschwinden oder zweckentfremdet. Die Plattform wird von mehreren deutschen Institutionen gefördert. Sie will jedoch mehr sein als ein klassisches Entwicklungshilfeprojekt. »Uns geht es vor allem um die Augenhöhe mit unserem Team vor Ort«, sagt Julius Emmrich. Mehrere Ökonom_innen, Softwareentwickler_innen, Ärzte und Ärztinnen sowie Datenwissenschaftler_innen arbeiten in der madagassischen Hauptstadt Antananarivo an der Plattform. »Jeden Morgen um 9 Uhr haben wir eine virtuelle Teambesprechung mit diesen Kolleginnen und Kollegen vor Ort.« Entsprechend hoch ist die Akzeptanz: Mehr als 30 Krankenhäuser nutzen mTOMADY bereits; das Gesundheitsministerium will die Plattform demnächst in das nationale Gesundheitssystem integrieren. Wenn das geschafft ist, wollen Emmrich und Knauss versuchen, ihr Modell auch in anderen afrikanischen Ländern einzuführen – etwa in Ghana. Aber auch in Madagaskar bleibt noch genug zu tun: Selbst das beste Gesundheitssparbuch kann fehlendes medizinisches und pflegerisches Personal, schwierige hygienische Verhältnisse und andere Probleme nicht wettmachen.
DROHENDE HUNGERSNOT Mehr als eine Million Menschen sind in Madagaskar nach Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) derzeit von einer Hungersnot bedroht. Grund dafür ist eine verheerende Dürre im Süden des Landes. Seit drei Jahren hat es kaum geregnet. Sandstürme machen viele Felder unfruchtbar. Kinder sind laut WFP am stärksten von der Krise betroffen. Viele hätten die Schule abgebrochen und würden stattdessen um Essen betteln. Der Großteil der Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft. Wirtschaftliche Einbrüche durch die CoronaPandemie verschärfen die Situation im Land.
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PORTRÄT
»Japan hat einen langen Weg vor sich« Wird sein Job demnächst stressiger? Toshihiko Tanaka überlegt einen Moment. »Ich befürchte, nicht«, sagt der 40-Jährige. Denn die japanischen Einwanderungsbestimmungen sind trotz der Reformen in den vergangenen Jahren weiterhin restriktiv, und so bleibt es bei einer überschaubaren Anzahl von »Fällen«. »Außerdem sind wir nicht mehr die einzige Organisation, die sich dem Thema verpflichtet fühlt.« Toshihiko Tanaka ist Vorsitzender der Nichtregierungsorganisation MPKEN aus Tokio, die Japan zu einem besseren Ort für Ausländer_innen machen will. »Wir ebnen denen, die zum Arbeiten nach Japan kommen wollen, den Weg ins Land«, so fasst Toshihiko Tanaka die Arbeit seines vor 15 Jahren gegründeten Vereins zusammen. Die 15 Mitarbeiter_innen von MPKEN beraten rund 6.000 Personen pro Jahr. Meist sind es junge Frauen und Männer, die in ihren Herkunftsländern wesentlich schlechtere Einkommensmöglichkeiten haben. Der Industriestaat Japan müsste sich um sie reißen. Angesichts geringer Geburtenraten und steigender Lebenserwartung altert und schrumpft die japanische Bevölkerung seit Jahrzehnten. Allein im vergangenen Jahr sank die Einwohnerzahl um eine halbe Million Menschen und beträgt jetzt noch gut 126 Millionen. Weil die Arbeitsbevölkerung besonders schnell schrumpft, könnten weitere Lockerungen der strengen Einwanderungspolitik helfen. Kaum zwei Prozent der Bevölkerung haben einen ausländischen Pass. Doch bisher haben verschiedene Regierungen eine allzu deutliche Öffnung des Landes vermieden. »Vor allem Betriebe in ländlichen Regionen suchen dringend nach Arbeitskräften«, sagt Toshihiko Tanaka, der zuvor als Marktforscher und Lehrer gearbeitet hat und vor zehn Jahren
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Als Vorsitzender einer Nichtregierungsorganisation setzt sich Toshihiko Tanaka für Arbeitsmigrant_innen in Japan ein. Menschen aus dem Ausland werden nicht nur zu den Olympischen Spielen dringend gebraucht. Von Felix Lill bei MPKEN anfing. Vor fünf Jahren begann er damit, Unternehmen in ländlichen Regionen abzuklappern, die unter dem Arbeitskräftemangel besonders leiden. »Wir vermitteln jetzt an Hunderte Betriebe in Japan junge Menschen aus Vietnam, Malaysia, Indonesien oder den Philippinen.« Sie arbeiten auf dem Bau, im IT-Sektor, in der Pflege oder in Dienstleistungsjobs. Für diejenigen, die der japanischen Sprache noch nicht mächtig sind, wird ein Sprachkurs organisiert. Beratung gibt es auch für jene, die nebenher oder im Anschluss an japanischen Universitäten studieren wollen. Diese Vermittlung hilft beiden Seiten nur dann, wenn sich alle an bestimmte Regeln halten. Immer wieder gibt es Fälle, in denen ausländische Arbeitskräfte mithilfe juristischer Tricks schlechter bezahlt und ausgenutzt werden. Bei MPKEN beraten Mitarbeiter_innen in verschiedenen asiatischen Sprachen über die Rechte, die ausländische Arbeitskräfte haben. Besonders wichtig ist das bei einer möglichen Verlängerung des Arbeitsvisums, das meist nur für fünf Jahre gilt. Wer länger im Land bleibt, wird womöglich festgenommen und kommt in ein Auffanglager. Die Bedingungen dort sind mit einer liberalen Demokratie kaum vereinbar. In den vergangenen zwei Jahren starben zwei Menschen in diesen Lagern, einer von ihnen im Hungerstreik, weil er gegen seine Abschiebung protestierte. »Japan hat einen langen Weg vor sich«, sagt Toshihiko Tanaka, wenn es um eine gerechte Behandlung der Menschen geht, die nicht nur zu den Olympischen Spielen aus dem Ausland gekommen sind und die in Japan arbeiten wollen. Doch wird das gelingen? Toshihiko Tanaka überlegt wieder einen Moment. »Eine Änderung der Politik steht noch aus.«
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DRANBLEIBEN
Täter_innen keine Bühne bieten
PORTRÄT
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DRANBLEIBEN
nach Publikum, nach einer Bühne für ihren Hass. Dies gilt nicht nur für die rassistischen und antisemitischen Attentäter von Halle oder Hanau, sondern zeigte sich auch bei dem Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch, Neuseeland. Viele kündigen ihre Taten im Internet an oder streamen sie live. Richten Medienberichte zu viel Aufmerksamkeit auf ihre Person, ihre Motive und Hintergründe, werden so unfreiwillig weitere potenzielle Täter_innen motiviert. In unserer Berichterstattung über die Verurteilung des Halle-Attentäters war die Namensnennung nicht nur überflüssig, sie entsprach auch nicht den Zielen von Amnesty. In Fällen von struktureller Diskriminierung und rassistischer Gewalt setzen wir uns für die Betroffenen ein.
Auch im Amnesty Journal wollen wir den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme geben und ihre Anliegen ernstnehmen. Umso mehr bedauern wir, dass unsere Berichterstattung über rassistische und antisemitische Anschläge in der Vergangenheit nicht ausreichend sensibel war. Ein Grund mehr, unsere Arbeit immer wieder kritisch zu prüfen: Gerade bei unserem Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus haben wir noch lange nicht ausgelernt. In Fällen, in denen unbekannte Täter_innen aus gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit Personengruppen in Angst und Schrecken versetzen, verzichten wir in Zukunft auf Namensnennungen. (»Höchststrafe für Halle-Attentäter«, Amnesty Journal 02/2021)
Foto: Lutz Winkler / imago images
In der Ausgabe 02/2021 des Amnesty Journals erschien eine Meldung über die Verurteilung des Täters des antisemitischen, rassistischen und mysogynen Attentats von Halle, in welcher dessen Name genannt wurde. Überlebende des Halle-Attentats und anderer Anschläge lehnen die Nennung der Täternamen jedoch vehement ab. Und das zurecht: Sie wollen nicht, dass dem Täter dadurch eine Plattform geboten wird, die mögliche Nachahmer_innen inspiriert und betonen außerdem, dass Attentäter_innen nicht als Einzeltäter_innen handeln. Mit menschenfeindlichen Anschlägen treffen die Täter_innen nicht nur ihre Opfer häufig tödlich, sie zielen auch darauf ab, ganze Bevölkerungsgruppen in Angst und Schrecken zu versetzen. Umso wichtiger ist es, dass Politik und Medien den Blick darauf richten, wie diese gefährdeten Personengruppen geschützt und gestärkt werden können. Dies gilt insbesondere, da diese Täter_innen sich gegenseitig inspirieren und aufeinander Bezug nehmen. Gleichzeitig ist die strafrechtliche Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen für Amnesty International zentral. Die Organisation setzt sich dafür ein, dass Straftäter_innen vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden. Schwere Menschenrechtsverbrechen können und sollen nach dem Weltrechtsprinzip weltweit verhandelt werden. Für diese Verbrechen sind immer wieder auch Staatsoberhäupter oder staatliche Mitarbeiter_innen verantwortlich, deren Namen schon wegen ihrer Funktion bereits im Blick der Öffentlichkeit stehen. Auch die strafrechtliche Aufarbeitung von Hassverbrechen ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit. Uns war es darum wichtig, im Amnesty Journal über die Verurteilung des Attentäters zu berichten. Allerdings gelten bei diesen Verbrechen Besonderheiten. Rassistische und antisemitische Täter_innen sind vor der Tat meist nicht öffentlich bekannt. Sie sind auf der Suche
Der Opfer gedenken. Demonstration in Halle, 13. Oktober 2019.
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KULTUR
Muster
der Gewalt 54
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Schönheit und Gewalt. »The Time of Butterflies« hat Parastou Forouhar dem Widerstand ihrer Mutter gewidmet.
BILDENDE KUNST
Die aus dem Iran stammende Künstlerin Parastou Forouhar setzt mit ihren Werken auf den zweiten Blick. Zunächst pittoresk wirkende Ornamente zeugen bei genauerer Betrachtung von Unrecht und Unmenschlichkeit. Von Cornelia Wegerhoff
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rei Porträts in Schwarz-Weiß: Vertraute Posen, mal ist der Kopf leicht geneigt, mal ins Profil gedreht. Die Gesichter selbst sind anonyme Schattenrisse. Bei näherem Hinsehen lässt sich erkennen, dass die Konturen, die Augen, Nasen und Münder aus Dutzenden Umrissen menschlicher Körper bestehen. Es sind Digitalzeichnungen schwarzer Gestalten, die fesseln, schlagen, würgen, morden, daneben in Weiß ihre Opfer, die leiden, womöglich gerade sterben – eine ganze Sammlung schockierender Folterszenen. »Ich versuche, die Betrachter_innen meiner Kunstwerke mit sich selbst und ihrer eigenen Wahrnehmung zu konfrontieren«, erklärt Parastou Forouhar, die die Bilder geschaffen hat. Zuerst erkenne man das Gewohnte. Doch beim Blick auf die Details offenbaren sich – quasi im Innenleben der Porträtierten – jene Szenen der Gewalt. »Es sind Gleichzeitigkeiten, die die Welt ausmachen, und für die wir auch in jeweils gleichem Maße verantwortlich sind«, mahnt die Künstlerin. Die drei Schwarz-Weiß-Bilder porträtieren in Wahrheit eine Gesellschaft, die Folter und Mord zulässt. Da soll niemand wegschauen. Parastou Forouhar ist Professorin an der Kunsthochschule Mainz, die zur Johannes-Gutenberg-Universität gehört. Sie lebt
tenblätter heraus. Als die Beamten bei einer der vielen Hausdurchsuchungen sogar den Kühlschrank kontrollierten, habe ihre Mutter schallend gelacht und gespottet, dass sich »verräterische« Schriften gekühlt natürlich länger frisch hielten.
Die Eltern vom Geheimdienst ermordet
»Wenn man in einer Familie aufwächst, in der die Eltern Oppositionelle in einer Diktatur sind, lernt man, mit der Angst umzugehen«, sagt ihre Tochter rückblickend. 1979, nach der iranischen Revolution, war Dariush Forouhar ein Jahr Minister in einem weltlichen Kabinett. Nach der Machtübernahme der Fundamentalisten agierten er und seine Frau dann wieder in der Opposition. Sie erhielt als Journalistin Berufsverbot, er wurde erneut verhaftet. Den Iran zu verlassen, wie so viele das taten, kam für sie nie infrage. Am 21. November 1998 wurde das Ehepaar vom iranischen Geheimdienst ermordet. Die Dutzende Messerstiche sollten offenbar der Abschreckung dienen. Parastou Forouhar wohnt in Deutschland in ländlicher Idylle. Im Arbeitszimmer der Professorin hängen Fotos aus ihrer Kindheit und eines ihrer Kunstwerke: Ein Revolver, ebenfalls eine Digitalzeichnung in Schwarz-Weiß. »He Kills Me, He Kills Me Not«, heißt die Reihe, zu der diese Arbeit gehört. Kunst wird darin zur politischen Waffe erhoben. Die Muster auf dem Revolver sind von alter persischer Ornamentik inspiriert. Und wieder trügt der Schein. Wieder lassen sich auf den zweiten Blick kleinteilige Menschenbildnisse erkennen, auf der Waffe zu einem Muster zusammengepresst. Das Filigrane in solchen Werken sei ihr besonders wichtig, erklärt Parastou Forouhar. Auch der Schmerz bestehe aus vielen, sich bitter wiederholenden Erfahrungen. Das gelte nicht nur im Iran, betont die Künstlerin. Das Muster der Gewalt ist universal. Parastou Forouhar war 18, als sich im Iran Ajatollah Chomeini daran machte, die Gesellschaft umfassend zu islamisieren, und die religiöse »Kulturrevolution« begann. In dem Jahr, in dem sie ihr Abitur machte, wurden die Universitäten geschlossen, weil Flüchtigkeit. »The Grass is Green, the Sky is Blue and she is Black« zeigt geflüchtete Frauen aus Syrien. man auch das Bildungssystem islamisieren wollte. »Für meine Generation ein Schlag ins Geseit 30 Jahren in Deutschland, ist aber gleichwohl eine der prosicht«, sagt Forouhar. Doch dann sei ein Schlag nach dem andeminentesten Stimmen der iranischen Gegenwartskunst. Forouren gekommen, aus der Revolution sei ein totalitäres Regime erhar wurde 1962 in Teheran geboren. Mit der schmerzhaften Diswachsen. Die Wunden wirkten bis in die Gegenwart. Bevormunkussion über Recht und Unrecht, Menschenwürde und Mendung, Religiosität, Diktatur – das alles sei »zementiert worden schenverachtung ist sie aufgewachsen. Ihre Eltern, Dariush und durch brutalste Unterdrückung«. Alle Andersdenkenden, AnParwaneh Forouhar, waren beide politisch aktiv, kämpften für dersgläubigen seien als Feinde der Gesellschaft definiert, aus Demokratisierung und soziale Gerechtigkeit im Iran. Während der Schah-Ära war Dariush Forouhar deshalb insgesamt 14 Jahre dem Land vertrieben, verhaftet oder hingerichtet worden. lang in Haft. »Da ist Papas Haus«, hätte ihr kleiner Bruder nichtsahnend gerufen, wenn sich die Geschwister bei Besuchen dem Die Kunst als Zuflucht Gefängnis näherten. Und auch daheim stand während ihrer Die junge Frau, die in der Schule in Mathematik und Physik Kindheit oft genug der Geheimdienst vor der Tür, erinnert sich glänzte, fand in der Kunst einen Raum für sich. »Ich habe StillParastou Forouhar. Ihre Eltern gaben oppositionelle Nachrichleben gezeichnet und mich mit ganz einfachen Realitäten be-
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Kunst als politische Waffe. Die Revolver mit ihrem gequälten Innenleben stammen aus der Werkreihe »He Kills Me, He Kills Me Not«.
»Ich finde es wichtig, dass wir die Menschen im Iran in so einem Notstand nicht alleine lassen.« BILDENDE KUNST
und das Virus.« Die einzige Priorität der iranischen Führung sei der Machterhalt, meint die Künstlerin. Wegen der Wirtschaftsmisere rutsche das Land immer weiter in die Armut. Politisch befinde es sich in einer Sackgasse, und das einzige Mittel, mit dem das Regime der klagenden Bevölkerung begegne, sei wieder einmal Brutalität. »Deshalb finde ich es wichtig, dass wir die Menschen im Iran nicht alleine lassen, in so einem Notstand, der sich immer weiter ausbreitet«, fordert Parastou Forouhar. Sie engagiert sich unter anderem für die Freilassung ihrer Freundin Nasrin Sotoudeh. Die Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin, die auch von Amnesty unterstützt wird, wurde wurde in unfairen Verfahren zu 38 Jahren Haft und 148 Peitschenhieben verurteilt. In Forouhars Werkreihe »The Time of Butterflies« zieht das Wechselspiel von Formen und Farben die Blicke des Betrachters auf sich. Parwaneh, der Name von Parastou Forouhars ermordeter Mutter, bedeutet im Persischen »Schmetterling«. Die großflächige Tapetenkunst suggeriert, dass ganze Schwärme durch die Ausstellungsräume flattern. In den Flügeln wiederholt sich das Muster der Gewalt: Gepeinigte Gestalten sind mit Zielscheiben markiert. Die roten Farbtupfer auf den Flügeln sind Blutflecken. Auch in der persischen Lyrik ist der Schmetterling ein Symbol für die Gleichzeitigkeit: Das schöne Tier fliegt magisch angezogen zum Licht und verbrennt. www.parastou-forouhar.de
Alle Fotos: Parastou Forouhar
schäftigt, die heilsam sein können«, beschreibt Parastou Forouhar die damalige Phase. Sie studierte Kunst an der Universität Teheran. Dort sei es einigen Professoren tatsächlich gelungen, sich ihre Souveränität zu bewahren. Sie verbindet auch schöne Erinnerungen mit dieser Zeit. 1991 zog Parastou Forouhar nach Deutschland, wo sie an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main ein Aufbaustudium absolvierte. »Das war für mich die Tür in das Leben, das ich jetzt führe«, resümiert die Iranerin. Als Konzeptkünstlerin bedient sie sich heute unterschiedlicher Medien, zeichnet, bedruckt Stoffe, schafft Rauminstallationen und fotografiert. Parastou Forouhar macht sich in ihrer künstlerischen Arbeit auch für Frauenrechte stark. »Domestic suicides for all seasons«, lautet der provokante Titel einer ihrer Arbeiten. Auf zwölf Kalenderblättern sind Frauen zu sehen, die sich vor ästhetischer Kulisse das Leben nehmen. Die schockierende Gleichzeitigkeit – das Hauptmotiv in Parastou Forouhars Werken. Als sie den Kalender 2016 im Iran drucken lassen wollte, beschlagnahmte die Polizei die Druckfahnen. 2017 wurde sie bei einem ihrer Heimatbesuche wegen Blasphemie in Teheran vor Gericht gestellt. Das Urteil: Fünf Jahre Haft auf Bewährung. Die Liste der Repressalien ist lang. Parastou Forouhar hält das nicht davon ab, jedes Jahr im November in den Iran zu reisen, um eine Gedenkveranstaltung zu Ehren ihrer ermordeten Eltern zu organisieren. »In der Regel wird sie offiziell verboten«, berichtet sie. Die schmale Gasse zu ihrem Elternhaus in Teheran wird dann abgeriegelt. Überall im Viertel stehen Polizisten, es kommt zu willkürlichen Festnahmen. »Meine Verwandten und ich erhalten Hausarrest«, berichtet Forouhar. 2020 konnte die Mainzer Kunstprofessorin wegen Corona erstmals nicht in den Iran fliegen. Die Pandemie hat das Land hart getroffen. In den Telefonaten mit Familie und Freunden höre sie nun: »Wir haben jetzt zwei tödliche Feinde: Das Regime
Künstlerin und Werk. Parastou Forouhar in einem ihrer »Written Rooms«.
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»Ich bin ich selbst und das reicht« Menschen, die nicht in die sexuelle Norm passen, haben in Italien mit großen Vorurteilen zu kämpfen. Die queere Rapper_in Mc Nill kann davon ein Lied singen.
Giulia Galli, Künstlername Mc Nill, ist eine italienische Rapper_in. Mc Nill rappt über Homo- und Transfeindlichkeit, Gender und Feminismus. 2016 erschien das erste Album »Femminill«, es folgten »Favola« und die Single »Gender«. Galli, 31 Jahre, lebt in Bologna.
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Interview: Francesca De Sanctis
Wann haben Sie gemerkt, dass Sie den Leuten als »anders« auffielen? Ich habe mich immer als anders empfunden, in meinem Kopf, meine ich. Ich hatte eine recht schwierige Kindheit. Jeder, der in einem kleinen Ort aufwächst, hat Probleme. Es reicht, dass du nicht Tanzunterricht nimmst oder Fußball spielst, um anders zu sein. Ich schaffte es nicht, ich selbst zu sein und mich auszudrücken. Dass ich damals auch noch lesbisch war, war nicht gerade hilfreich. Ich betrachtete meine Homosexualität nicht als problematisch. Für mich war es normal, mich zu Mädchen hingezogen zu fühlen, das empfand ich nicht als schlimm. Eines Tages hörte ich dann, dass ein Junge einen anderen Frocio, Schwuchtel, nannte. Ich kannte dieses Wort nicht und fragte deshalb meine Mutter, was es bedeutet. So erfuhr ich, dass dies ein abwertendes Wort war, und Homosexualität nicht so gesehen wurde, wie ich sie sah. In einem Ihrer Stücke heißt es: »Die Leute wollen dich so, wie sie wollen, sonst existierst du nicht.« Als die Beleidigungen sich an Sie richteten, wie haben Sie sich da verteidigt? Mit Worten. Wenn du dich inmitten von Bullys befindest, wirst auch du ein bisschen zum Bully. Ich blieb nicht still, ich antwortete und wurde sauer, und nach einer Weile hörten sie auf, mich zu beleidigen. Als ich dann auf die weiterführende Schule in Assisi kam, wo ich niemanden kannte, war das für mich befreiend. In diesen Jahren begann ich, zur LGBTI-Aktivist_in zu werden. Dann begannen Sie, über die Probleme der italienischen LGBTI-Gemeinschaft zu rappen … Es ging mir darum, diesen Menschen, die selbst nicht genügend Kraft dafür hatten, eine Stimme zu verleihen. Gewisse Dinge mussten ausgesprochen werden. Ich wollte, dass die Leute verstehen. Und haben die Menschen es verstanden? Leider handelt es sich bei Homofeindlichkeit um ein kulturelles Problem. In unserem Land herrscht eine patriarchale Machokultur vor. Es liegt nicht an den einzelnen Personen, sondern vielmehr an der Gesellschaft, aus der wir stammen.
Foto: Gaetano Massa
Die rechtspopulistische Lega blockiert seit Monaten im Senat ein Gesetz gegen Homo- und Transphobie. Hat Italien beim Schutz von LGBTI Nachholbedarf? In Italien gibt es eine sehr große legislative Lücke, die gefüllt werden muss. Es gibt noch kein Gesetz, das Menschen bestraft, die Personen wegen ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität verletzen oder beleidigen. Wie kamen Sie zum Rap? Mit zwölf fing ich an, Texte zu schreiben und mit verschiedenen Bands in Kontakt zu treten. Ich konnte nicht singen. Also fing ich irgendwann an zu rappen. Ich verwandelte das, was ich schrieb, in Musik. Rap ist meist sexistisch. Wie waren Ihre Anfänge in der Szene? Ja, leider ist das Rap-Ambiente sehr frauenfeindlich, und es gibt noch sehr wenige Rapperinnen. Die Produzenten wollen verkaufen, und um das zu erreichen, müssen sie Alben produ-
QUEER RAP
»Ich werde das, was ich zu sagen habe, weiterhin in die Welt hinausschreien.« zieren, die von Männern gemacht wurden und nicht von Frauen. Am Anfang sagte und tat ich alles, was die Gruppe von Männern wollte, die mich umgab. Ich passte mich an, um Teil einer Gruppe zu sein. Dann fing ich an viel zu lesen, insbesondere Bücher von Angela Davis, und verstand, dass es nicht in Ordnung war, auf eine bestimmte Art und Weise behandelt zu werden. Also ist eine andere Inszenierung im Rap möglich? Ja, natürlich ist dies möglich – jedoch nicht einfach. Wenn es Tausende von Jugendlichen gibt, die lieber Stücke hören, in denen Frauen schlecht behandelt oder geschlagen werden, ist es klar, dass die Produzenten genau diese Art von Musik fördern werden. Man müsste mutiger sein. Genau deshalb produziere ich meine Stücke selbst. Ihr erstes Album, »Femminill«, erschien 2016. Womit befasst es sich? Ich bin davon überzeugt, dass jede von uns ihre eigene weibliche Identität haben sollte. Diese kann sich auch im Laufe der Zeit verändern, so wie es bei mir der Fall war. Als mein Album erschien, war meine Weiblichkeit hauptsächlich ein mentaler Zustand. Ich fragte mich: Wie definiere ich mich? »Femminill« war meine Antwort darauf. Inzwischen hat sich dies geändert, ich muss nicht unbedingt einem Geschlecht entsprechen. Ich bin ich selbst und das reicht. In dem Song »Le cose cambiano« (Die Dinge ändern sich) rappen Sie über Homophobie. Wie entstand das Stück? Das Lied bezieht sich auf das Projekt »It get‘s better«, das in den USA seinen Ursprung hat. Es versucht, die Menschen zu sensibilisieren – und zwar bezüglich der hohen Selbstmordrate unter Schwulen und Lesben. Das darf nicht unter den Tisch gekehrt werden. Neben weiteren Alben haben Sie einen Podcast veröffentlicht, der sich Themen der LGBTI-Gemeinschaft widmet. Was steht als nächstes an? Die Pandemie hat mich davon abgehalten, neue Alben aufzunehmen. Aber ich habe weiter geschrieben und hoffe, meine neuen Arbeiten bald veröffentlichen zu können. Das Thema, das mir derzeit besonders wichtig ist, ist das Patriarchat. Deshalb werde ich insbesondere über Frauen und ihre Rechte sprechen. Ich möchte eine Kämpferin wie die Musikerinnen Rebecca Lane oder Princess Nokia sein. Kann Musik im Kampf gegen Diskriminierung helfen? Ich glaube, dass Musik sehr viel kann. Deshalb werde ich das, was ich zu sagen habe, weiterhin in die Welt hinausschreien.
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Science-Fiction aus China wird weltweit immer populärer. Zugleich bewegen sich die Autor_innen ständig am Rande verbotener Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Von Felix Lee
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iftige Dämpfe steigen aus dem Müll auf. Es haben sich längst ganze Berge von alten Monitoren, Virtual-Reality-Brillen und Cyber-Implantaten gebildet, aus denen abgerissene Kabel hängen. Kinder in Lumpen durchsuchen die ölverschmierten Industrieabfälle nach verwertbaren Metallen und Mikrochips. Der Nachschub stockt nie, denn der Elektroschrott der gesamten Welt wird auf dieser Insel recycelt. Diese Vision entwirft der Science-Fiction-Autor Chen Qiufan in seinem Roman »Die Siliziuminsel«, der 2019 auf Deutsch erschienen ist. Die Insel, irgendwo im Südwesten Chinas, ist zwar ausgedacht, für den düsteren Schauplatz gibt es allerdings ein reales Vorbild. Es ist zwar keine Insel, liegt aber ebenfalls im Südwesten Chinas: In der Gemeinde Guiyu in Chens Heimatprovinz Guangdong befindet sich tatsächlich die größte Elektronikschrotthalde der Welt. Science-Fiction aus China wird derzeit weltweit viel gelesen. Das hat auch mit den Ausdrucksmöglichkeiten des Genres zu tun. Die Handlung in Romanen wie dem von Chen Qiufan ist frei erfunden. Doch wie in den meisten Science-Fiction-Geschichten geht es um aktuelle und höchst irdische Probleme. Deren literarische Behandlung wird in China zwar durch die Zensur eingeschränkt. Doch im Kontext der Fantastik lässt sich doch manches thematisieren, was normalerweise nicht durch das Netz der Aufseher_innen käme. Die chinesische Science-Fiction fühlt sich besonders real an, denn das Land mit seinen vielen modernen Städten und technischen Neuerungen ist ein idealer Nährboden für futuristische Geschichten. Zugleich kämpfen viele der Charaktere, die etwa Chen in seinen Romanen beschreibt, mit dem rasanten technologischen Wandel und seinen gesellschaftlichen Folgen. Im Ausland werden diese Werke daher zuweilen auch als »Science-Fic-
Kritische Science-FictionRomane werden auch in der Volksrepublik millionenfach verkauft. 60
tion Reality« bezeichnet, auch wenn einige der Autor_innen dieses Label nicht mögen, weil sie befürchten müssen, ihre Werke könnten in ihrem Heimatland verboten werden. Chen ist nicht der einzige chinesische Science-Fiction-Autor, dessen Werke unter diese Bezeichnung fallen. In Liu Cixins berühmtem Roman »Die Drei Sonnen«, dem ersten Band der »Trisolaris«-Trilogie, geht es vordergründig um eine chinesische Astrophysikerin, die als erster Mensch einem außerirdischen Pazifisten vom Planeten Trisolaris begegnet. Weil dessen Zivilisation vor der Zerstörung steht, will sie die Erde zu seinem neuen Lebensraum machen. Der Hintergrund der Astrophysikerin ist aber äußert real, nämlich eingebettet in die Kulturrevolution in den späten 1960er Jahren. Die Protagonistin muss mit ansehen, wie ihr Vater, ein angesehener Akademiker, von vier Rotgardistinnen zu Tode geprügelt wird und sich sowohl ihre Mutter – aus Angst – wie auch ihre jüngere Schwester – aus Eifer – für seine Hinrichtung aussprechen. Was Autor Liu in seinem Roman beschreibt, hat es in der Volksrepublik so oder ähnlich zehntausendfach gegeben. Nachdem 2014 die englische Übersetzung erschien, erhielt Liu als erster asiatischer Autor überhaupt einen Hugo-Award, einen der wichtigsten Science-Fiction-Literaturpreise. Auch Barack Obama nannte den Roman eines seiner Lieblingsbücher. Liu Cixins Erfolg rückte die Subkultur der chinesischen Sci-FiAutor_innen ins Rampenlicht. Zu diesem Kreis gehört auch Hao Jingfang, die für ihre Erzählung »Peking falten« ebenfalls einen Hugo-Award gewann. Darin ist die chinesische Hauptstadt aus Platznot in drei Sektoren unterteilt, die sich mittels einer raffinierten Konstruktion zusammenfalten und in der Erde versenken lassen. Ein strenger Plan sorgt dafür, dass immer nur ein Sektor entfaltet wird, damit die Menschen darin ihren Tätigkeiten nachgehen können. Kontakte über die Sektorengrenzen hinweg sind streng verboten. Der Protagonist ist ein Müllarbeiter im dritten Sektor, der es wagt, in die abgeschirmte erste Zone – das Peking der Reichen – zu reisen. Ist das eine Anspielung auf die enorm gewachsene Ungleichheit in der Hauptstadt eines Landes, das sich offiziell noch als kommunistisch bezeichnet? Auch Hao Jingfang bringt in ihrem Werk erstaunlich viel Sozialkritik unter. Noch konkreter als Liu Cixin wird Wang Jinkang mit seinem jüngsten Roman »Die Kolonie«. Auch er greift die Zeit der Kulturrevolution auf. In seinem Roman trifft eine Studentin, die zur Umerziehung aufs Land geschickt wurde, erneut auf ihre Jugendliebe. Gemeinsam fassen sie einen Plan: Sie wollen ein Ameisenserum an den Menschen testen, um sie kooperativer zu machen und blutige Wirren zu beenden. Es überrascht, dass diese Science-Fiction-Romane auch in der Volksrepublik millionenfach verkauft werden dürfen. Ins-
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Foto: Patrick Durand / dpa / pa
Wahre Kunst
Die Zukunft ist da. Arbeiter_innen suchen auf einer Müllhalde in Guiyu im Südwesten Chinas nach verwertbarem Elektronikschrott.
besondere unter Xi Jinping als Staats- und Parteichef wird die Literatur so stark zensiert und kontrolliert wie seit Maos Zeiten nicht mehr. Schriftsteller_innen müssen mit Verfolgung und Haft rechnen, wenn sie systemkritische Inhalte veröffentlichen. Und es sind keineswegs nur die sogenannten T-Themen, die Autor_innen in China nicht aufgreifen dürfen: Tibet, Taiwan und die gewaltsam beendeten Demokratieproteste auf dem Tiananmen-Platz 1989 in Peking. Unter Xi werden auch Inhalte und Positionen zensiert, die als zu »westlich« gelten oder das »chinesische Nationalgefühl verletzen«. Die Definitionsmacht liegt bei der mächtigen Propagandaabteilung der Parteiführung. Und darunter fällt immer wieder auch Sozialkritik – die unter Xi Jinpings Vorgänger zumindest bei Teilen der Führung durchaus noch erwünscht war, um die chinesische Gesellschaft zu »stabilisieren«. Doch offenbar steht die Führung nun vor einem Dilemma: Die weltweite Beliebtheit der chinesischen Science-Fiction-Romane ermöglicht ihr ein gewisses Maß an kulturellem Einfluss auf den Rest der Welt, sogenannte Softpower, nach der sich die KP-Führung sehnt. Gerade in den vergangenen Jahren, in denen China sich wegen seines Umgangs mit der Demokratiebewegung in Hongkong, der Unterdrückung der muslimischen Uigur_innen, aber auch seines Vorgehens in Handelsfragen weltweit immer unbeliebter machte, ist dies aus der Sicht Pekings eine wichtige Währung. Die Regierung unterstützt das
SCIENCE-FICTION-LITERATUR
Genre geradezu, die Provinzregierung von Sichuan finanziert sogar ein Forschungszentrum. Dass die Science-Fiction-Autor_innen mit ihren Werken durchkommen, führt der ebenfalls mehrfach mit dem HugoAward ausgezeichnete US-amerikanische Autor und Übersetzer Ken Liu auch darauf zurück, dass die zumeist jungen Autor_innen geschickt lavieren und wissen, wie viel Verfremdung nötig ist, um an der Zensur vorbeizukommen. Wie es ihnen gelinge, unter diesen Bedingungen sozialkritische Plots zu entwickeln, sei »meisterhaft«. Chen Qiufan: Die Siliziuminsel. Aus dem Chinesischen von Marc Hermann. Heyne Verlag, München 2019, 479 Seiten, 16,99 Euro Liu Cixin: Die drei Sonnen. Aus dem Chinesischen von Martina Hasse. Heyne Verlag, München 2016, 592 Seiten, 16,99 Euro Hao Jingfang: Peking falten. Aus dem Chinesischen von Jakob Vandenberg. Elsinor Verlag, Coesfeld 2017, 84 Seiten, 13 Euro Wang Jinkang: Die Kolonie. Aus dem Chinesischen von Karin Betz, Heyne Verlag, München, erscheint im März 2022, 496 Seiten, 16 Euro
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Widerstand ist eine Novelle auf Toilettenpapier geschrieben Die Dekolonialisierung des Denkens ist das Lebensthema von Ngūgı̄ wa Thiong’o. Das macht den kenianischen Schriftsteller zu einer zentralen Stimme im gegenwärtigen Diskurs. Von Bettina Rühl
Für die kulturelle Befreiung. Der Schriftsteller Ngūgī Wa Thiong'o beschäftigt sich mit den Folgen der Kolonisierung Afrikas.
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itte März lud die renommierte US-amerikanische Yale-Universität zu einer Diskussion über die Dekolonialisierung der Universitäten ein. Ihr Wunschredner: Der 83-jährige kenianische Schriftsteller Ngūgī wa Thiong’o. Die Englisch-Professorin Stephanie Newell, die die Veranstaltung organisierte, schrieb: »Wir glauben, dass es keinen Intellektuellen gibt, der besser als Sie über die drängende Frage der Dekolonialisierung der amerikanischen Universitäten sprechen könnte. Und zwar einerseits aus der Innenperspektive, da Sie ein afrikanischer Professor sind, der über jahrzehntelange Lebensund Arbeitserfahrung in Amerika verfügt, inklusive einer Lehrtätigkeit an der Yale-Universität. Darüber hinaus bringen Sie die Außenperspektive mit, als ein postkolonialer Intellektueller, der den Rassismus im globalen Norden versteht, weil er ein Verständnis des kolonialen Rassismus mitbringt, der Literatur, Kultur und die Bildungsinstitutionen durchdringt.« Die Sensibilität für verschiedene Erscheinungsformen des Rassismus im Alltag, für das Überdauern kolonialer Denkmuster, Sprachfiguren, Bezeichnungen und Besitzverhältnisse prägt seit einigen Jahren den gesellschaftlichen Diskurs in den USA und wird auch in Deutschland immer öfter gefordert. Dass die aus Rassismus und Neokolonialismus resultierenden Haltungen für »People of Colour« immer noch tödlich sein können, macht die transnationale Bewegung #BlackLivesMatter bewusst, die 2013 in den Vereinigten Staaten begann. Die Bewegung organisiert regelmäßig Protestveranstaltungen: gegen die Tötung Schwarzer durch Polizeibeamte, gegen das Agieren von Staatsangestellten wegen äußerlicher oder ethnischer Stereotypen, zusammengefasst also gegen Polizeigewalt und Rassismus. Die Dekolonialisierung des Denkens und die Befreiung der menschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen von Macht sind das Lebensthema Ngūgī wa Thiong’os – und ein zentrales Motiv seiner Literatur. Einschlägige Essays dazu hat er bereits 1986 in dem Sammelband »Dekolonisierung des Denkens« veröffentlicht. Sie beeinflussen bis heute die Diskussion über die anhaltenden Folgen der Kolonisierung Afrikas. Wie aktuell seine Literatur ist, zeigt Ngūgīs Aufnahme in die Longlist des diesjährigen Booker-Preises, des wichtigsten britischen Buchpreises. Geboren wurde Ngūgī wa Thiong’o 1938 im Dorf Kamirithiiu in Limuru, unweit der Hauptstadt Nairobi, als Sohn von Bauern. Seinen Geburtsnamen James Thiong’o Ngūgī änderte er später in Ngūgī wa Thiong’o, auf Deutsch: Sohn des Thiong’o – eine bewusste Entscheidung gegen das britische »James« und für den muttersprachlichen Namen.
Foto: Hans Klaus Techt / APA / pa
Der Befreiungskampf prägte ihn Ngūgī wurde in die Zeit der britischen Kolonialherrschaft hineingeboren. Seine Kindheit wurde nicht nur durch die Kultur der Bevölkerungsgruppe der Kikuyu geprägt, sondern auch von Machtverhältnissen in der kolonialen Gesellschaft. Ein Bruder schloss sich der Aufstandsbewegung gegen die Briten an, die Ngūgī Kenianische Armee für Land und Freiheit (KLFA) nennt. Der gebräuchliche Name Mau Mau sei falsch, sagt er, weil dieser Begriff von den britischen Kolonialherren stamme. Dass er den Befreiungskampf gegen die Kolonialherrschaft miterleben durfte, bezeichnete er 2020 im Gespräch mit dem kenianischen Schriftsteller Billy Kahora als das Ereignis, das ihn und sein Schreiben mehr als alle anderen sozialen und politischen Verän-
POSTKOLONIALE SPRACHE
derungen geprägt habe – mehr als die Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten und ihre politische Entwicklung, mehr als die Globalisierung, die Corona-Pandemie, die globale #BlackLivesMatter-Bewegung oder das Entstehen des Populismus in den westlichen Gesellschaften. Der Kampf der KLFA habe »dem britischen Empire das Rückgrat gebrochen«, sagt Ngūgī. Und Kenia der schwarzen Bevölkerung zurückgegeben. Dank der Befreiungskämpfer_innen habe er gelernt, stolz auf »Blackness« zu sein, sagt Ngūgī, und er habe die Existenz sozialer Klassen entdeckt. »›Blackness‹ muss in allen Aspekten begriffen werden: wirtschaftlich, politisch, kulturell und psychologisch«, sagte er im Gespräch mit Kahora. Auch die Frage von Geschlechterrollen beschäftige ihn seit damals: Das Patriarchat sei Ursprung auch aller Klassenunterschiede. »Befreie die schwarze Arbeiterin, und alle Menschen werden frei sein.«
Wegen eines Theaterstücks wurde er inhaftiert Nach der Unabhängigkeit Kenias von Großbritannien 1963 erkannte Ngūgī bald, dass die Freiheit ein Traum blieb: Kenia entwickelte sich zu einer Diktatur. Nach seinem Studium an der Makerere-Universität in der ugandischen Hauptstadt Kampala und an der Universität von Leeds in Großbritannien schrieb Ngūgī in den 1970er Jahren zunächst Theaterstücke und Kurzgeschichten. 1977 führte er sein Stück »Ngaahika Ndeenda« (»Ich werde heiraten, wenn ich will«) auf, in dem er die Ungerechtigkeit und soziale Ungleichheit in der kenianischen Gesellschaft kritisierte. Wegen der Aufführung wurde er festgenommen und für mehr als ein Jahr in einem Hochsicherheitsgefängnis in Haft gehalten. Seine Befreiung verdankte er Amnesty International, die Menschenrechtsorganisation hatte sich für den gewaltlosen politischen Gefangenen eingesetzt. Später betonte er immer wieder die große Bedeutung der Haftzeit für ihn und sein Schreiben. Dort habe er den Widerstand als beste Überlebenshilfe entdeckt. Dieser äußerte sich nicht zuletzt darin, dass er auf dem rauen Toilettenpapier des Gefängnisses in seiner Herkunftssprache Kikuyu eine Novelle schrieb, die 1981 veröffentlicht wurde: »Caitani Mutharabaini«. Ein Jahr später erschien sie auf Englisch: »Devil on the Cross« (deutsch: »Der gekreuzigte Teufel«). Seit 1984 schreibt Ngūgī seine literarischen Texte nur noch in seiner Muttersprache Kikuyu und übersetzt sie anschließend ins Englische. Für ihn ist das ein entscheidender Schritt im Dekolonialisieren des Denkens. Denn in der Sprache seien die Mythen, die Denkweisen, die gesamte Kultur und die Mentalität der Menschen verankert, die diese Sprache sprechen. Eine Gleichberechtigung der Sprachen sei nötig, um die postkolonialen Machtverhältnisse in den Ländern Afrikas zu überwinden und sich der eigenen Identität bewusst zu werden. Ngūgī sieht einen grundsätzlichen Unterschied zwischen afrikanischer Literatur, in einer afrikanischen Sprache geschrieben, und Literatur afrikanischer Autor_innen in einer europäischen Sprache. Diese bezeichnet er nicht als afrikanische, sondern als »Europhonic literature«. 1982 wurde Ngūgī ins Exil gezwungen, zog erst nach Großbritannien, dann in die USA, wo er an mehreren Universitäten lehrte und weiter schrieb. Sein lebenslanger Einsatz für die umfassende, auch kulturelle Befreiung der Menschen ist heute so aktuell wie je. Die Forderung nach der Rückgabe materieller Kulturgüter gehört dazu.
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»Ich werde bestraft, weil ich bestraft wurde« Der neue Hollywood-Thriller »The Mauritanian« erzählt vom Schicksal des ehemaligen GuantánamoHäftlings Mohamedou Ould Slahi. Über seine Zeit im Gefängnis schrieb er das »Guantanamo Tagebuch«. Ein Gespräch über das Leben danach. Interview: Anna-Theresa Bachmann
Sie saßen 14 Jahre ohne Anklage im US-Gefangenenlager Guantánamo, erlitten Demütigung und Folter. 2016 ließen die USBehörden Sie frei und brachten Sie nach Mauretanien zurück. Haben Sie mittlerweile wieder ins Leben zurückgefunden? Die Frage geht davon aus, dass ich mir mit 30 – dem Alter bei meiner Festnahme und Verschleppung in die USA – bereits ein Leben aufgebaut hatte. Aber dem war nicht so. In diesem Alter haben sich all meine Freunde gute Jobs gesichert und genug Geld gespart, um ein angenehmes Leben zu führen. Sie können überall hinreisen und das Leben genießen. Ich muss noch viel aufholen und die »Mission Impossible« antreten, meinen Ruf wiederherzustellen. Ich versuche immer positiv und glücklich zu sein. Aber ich kämpfe gleichzeitig gegen das an, was ich als Ungerechtigkeit beschreibe. Und gegen das Stigma. Denn ich werde nach wie vor bestraft, weil ich bestraft wurde. Sie leben heute im Haus Ihrer Familie in Nouakchott. Während Ihrer Haft hat sich viel verändert – Ihre Mutter, zu der Sie ein enges Verhältnis hatten, ist gestorben, für jüngere Familienmitglieder waren Sie ein Fremder. Finden Sie zu Hause Unterstützung? Als ich hier ankam, brauchte ich sehr viel Hilfe und war traumatisiert, bin es noch immer. In Mauretanien gibt es keine Ärzte, zu denen man geht, um über seine Alpträume zu reden. Gott sei Dank versuchen mich meine Verwandten zu unterstützen. Aber die Menschen in meiner Familie sind einfache Leute. Ich war der Erste, der in ein Flugzeug stieg und Mauretanien verließ, der Erste, der ein Stipendium zum Studieren in Deutsch-
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land hatte, der Erste, der nach Afghanistan ging und der von den USA in Mauretanien gekidnappt wurde. Viele der Dinge, die ich getan habe oder die mir angetan wurden, stellen meine Familie vor große Herausforderungen. Gab es Kleinigkeiten, an denen Sie nach Ihrer Rückkehr gemerkt haben, dass Sie viel verpasst haben? Die ersten neun Jahre in Haft durfte ich nicht fernsehen. Ich habe davon geträumt, als freier Mensch Satellitenfernsehen mit allen Kanälen zu besitzen. Als ich freikam, hat mir meine Familie zwei Fernseher und zwei Satelliten besorgt. Ich habe meine Nichte gebeten, mir die Kanäle zu installieren. Sie schaute mich nur an und sagte: »Onkel, ich habe noch nie einen Fernseher berührt, ich benutze mein Handy.« Da habe ich mich sehr alt gefühlt. Im Kino ist nun »The Mauritanian« zu sehen. Sie waren bei den Dreharbeiten in Mauretanien und Südafrika teilweise dabei. Wie war das für Sie? Der Film basiert auf meinem Tagebuch, das ich in Guantánamo geschrieben habe und das während meiner Haft veröffentlicht wurde. »The Mauritanian« geht aber darüber hinaus. So erzählt der Film auch von meiner Kindheit und meinem Leben nach der Haft. Die Filmemacher haben in der Vorbereitung mit FBI- und CIA-Agenten gesprochen. Einige Dinge habe ich erst durch »The Mauritanian« erfahren. Natürlich stellt der Film eine Dramatisierung dar, aber er beruht auf Fakten. Erst wenige Tage vor Drehbeginn in Südafrika haben mir die mauretanischen Behörden wieder einen Reisepass ausgestellt, der mir bis dahin verwehrt wurde. Bei einigen Szenen wollte ich aber nicht dabei sein. Zum Beispiel, wenn es um Folter ging. Ich sage im Film auch einen Satz auf Deutsch, weil ihn Tahar Rahim, der mich spielt, einfach nicht herausbekommen hat: »Deutschland war gut zu mir.« Sie haben in den 1990er Jahren in Duisburg studiert, sprechen fließend Deutsch, einer Ihrer Brüder lebt in Deutschland, genauso wie Ihre US-amerikanische Frau und Ihr gemeinsamer Sohn. Ein Visum verweigern Ihnen die deutschen Behörden dennoch. Warum?
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Foto: STX Films
Haft ohne Anklage. Mohamedou Ould Slahi, dargestellt von Tahar Rahim, in »The Mauritanian«.
Als junger Mann sind Sie während Ihres Studiums nach Afghanistan gereist, wollten für die Mudschaheddin kämpfen. Während Ihrer Verhöre in Guantánamo hat man Sie immer wieder nach Ihren früheren Verbindungen zu Al-Qaida befragt. Heute setzen Sie sich in Mauretanien gegen Extremismus ein. Was geben Sie jungen Menschen mit? Zu meinen Nichten und Neffen sage ich immer: Denkt kritisch. Ich war damals sehr naiv und wirklich davon überzeugt, die Welt zum Positiven zu verändern. Die Mudschaheddin hatten jedoch ihre eigene Agenda. Als ich gesehen habe, dass sie sich stritten, gegenseitig töteten und das, was Russland nicht zerstört hatte, in Trümmer legten, habe ich Afghanistan verlassen. Rückblickend fühle ich mich ausgenutzt. Gewalt ist das Spiel der Regime. Auf der Seite der Bürger stehen das Recht und die Verfassung. Diese Rechte müssen wir ohne Gewalt einfordern, gerade in vielen arabischen Staaten. Gruppen wie der IS sind ja keine Krankheit, sondern ein Symptom. Sie sagen, dass Sie den USA verziehen haben. Mit dem ehemaligen Wärter Steve Wood, der Sie in Guantánamo bewacht hat, sind Sie heute gut befreundet. An der US-Regierung üben Sie weiterhin Kritik. Was fordern Sie von der Regierung Joe Bidens in Bezug auf Guantánamo? Steve ist für mich wie ein jüngerer Bruder. Ich erinnere mich an den Tag, an dem wir uns in Guantánamo das erste Mal begegnet sind. Er kam in meine Zelle und fragte mich, ob ich Kaffee trinken wolle. Ich war sehr verängstigt und zurückgezo-
GUANTÁNAMO IM KINO
gen, wollte mit niemandem reden. Ich verließ die Zelle und nahm seinen Kaffee an. Steve bot mir an, mit ihm Karten zu spielen, und von diesem Moment an waren wir befreundet. Wir haben viele Jahre gebraucht, um unsere Freundschaft öffentlich zu machen. Zu Joe Biden: Ich glaube, dass er ein guter Mann ist. Er hat sowohl seine Frau als auch seinen Sohn verloren, und ich kann mir nur vorstellen, welche Art von Schmerz er durchmachen musste. Ich habe Biden einen Brief geschrieben und hoffe, dass er sein Versprechen, das illegale Internierungslager zu schließen, einhalten wird. Und ich hoffe, dass die deutsche Regierung Haltung zeigt und Biden ebenfalls an sein Versprechen erinnert. »The Mauritanian«. UK 2021. Regie: Kevin Mcdonald. Darsteller: Tahar Rahim, Jodie Foster, Benedict Cumberbatch. Mohamedou Ould Slahi: Das Guantanamo Tagebuch unzensiert. Aus dem Amerikanischen von Susanne Held. Tropen Verlag, Stuttgart 2018, 495 Seiten, 20 Euro
MOHAMEDOU OULD SLAHI
Foto: ICRC
Meine heutige Frau hat für einen amerikanisch-palästinensischen Anwalt gearbeitet, der Gefangene in Guantánamo vertreten hat – darunter meinen Zellennachbarn. So haben wir uns kennengelernt und blieben nach meiner Entlassung in Kontakt. Sie bekam einen Job als Menschenrechtsanwältin in Berlin angeboten. Darüber haben wir uns gefreut, weil die Entfernung nach Mauretanien wesentlich kürzer ist. Wir dachten, dass ich sehr schnell zu ihr kommen kann. Aber das hat nicht funktioniert. Wir haben gesehen, dass die USA sehr großen Einfluss auf Deutschland hat, und vermuten, dass Druck seitens der USRegierung ausgeübt wird.
war 14 Jahre lang, von 2002 bis 2016, in Guantánamo Bay inhaftiert. Er hatte in den 1990er Jahren ein Ausbildungslager für islamistische Kämpfer in Afghanistan besucht und auch Kontakt zu Al-Qaida-Terroristen. Nach den 9/11-Anschlägen wurde er von der CIA als Verdächtiger nach Guantánamo gebracht. Zwar ordnete ein Richter bereits 2010 aus Mangel an Beweisen seine Freilassung an, es dauerte aber sechs weitere Jahre, bis eine USUntersuchungskommission ihn entlastete. Der 50-Jährige lebt heute wieder bei seiner Familie in Nouakchott, Mauretanien.
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Foto: Evan Vucci / AP / pa
Rechte Eliten
Die Verlockung »anderer Tatsachen«. Anhänger_innen lauschen einer Wahlkampfrede des damaligen US-Präsidenten Donald Trump, September 2020.
Weltweit sorgen populistische Politiker_innen für die Aushöhlung von Demokratien. Doch wer verbreitet ihre Lügenbotschaften? In »Die Verlockung des Autoritären« sucht Anne Applebaum Antworten. Von Wera Reusch
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nne Applebaum war eine der US-Intellektuellen, die während der Trump-Präsidentschaft immer wieder düstere Vorhersagen machte, die früher oder später exakt so eingetroffen sind. Die Historikerin und Publizistin hat sich intensiv mit Diktaturen beschäftigt, insbesondere mit dem Stalinismus, und kennt die Vorzeichen und Mechanismen autoritärer Herrschaft sehr genau. In ihrem neuen Buch untersucht sie die Rolle einer ganz bestimmten Gruppe: Autor_innen, Intellektuelle, Blogger_innen und Meinungsmacher_innen, mit ihren Worten: »Leute, die Missstände in Worte fassen, Unzufriedenheit manipulieren, Wut und Angst schüren.« Diese Bildungselite ist ihrer Ansicht nach unabdingbar für die Aushöhlung der Demokratie. Bemerkenswert an Applebaums Essay ist ihre Perspektive: Die 56-Jährige machte in den USA als Journalistin Karriere, unterrichtete an britischen Hochschulen und lebt seit Jahren in Polen. Sie bezeichnet sich selbst als konservativ und hat in den vergangenen Jahren erlebt, wie viele ihrer einstigen Freund_innen, Bekannten und Kolleg_innen mit einem »altmodischen Konservatismus« brachen und der »Verlockung des Autoritären« erlagen: »Sie wollen bestehende Einrichtungen stürzen, umgehen oder aushöhlen und alles Bestehende zerschlagen.« Beispiele dafür findet Applebaum in Polen und Ungarn, den USA und Großbritannien, aber auch in einem Land wie Spanien. Bemerkenswert an dieser Gruppe ist, dass sie weder arm noch unterprivilegiert ist, kein Opfer politischer Umwälzungen
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wurde, geschweige denn ihre Jobs an Zuwanderer_innen verlor. Woher kommen also der Hass, die Wut und der Zynismus der autoritären Intellektuellen, wenn es dafür ganz offensichtlich keine wirtschaftlichen Gründe gibt? Applebaum verweist auf die Verhaltensökonomin Karen Stenner, der zufolge »rund ein Drittel der Bevölkerung jedes beliebigen Landes eine autoritäre Veranlagung habe« und keine Komplexität aushalte. Auch die Angst vor dem Verlust von Privilegien spiele eine Rolle und schwelende Ressentiments: »Wer glaubt, er habe einen Platz an den Schalthebeln der Macht verdient, spürt oft ein starkes Bedürfnis, Eliten zu attackieren, Gerichte mit Gesinnungsgenossen zu besetzen und die Presse zu manipulieren, um seine Ziele zu erreichen.« Dass die Lügen und Verschwörungstheorien Widerhall finden, liegt laut Applebaum daran, dass es kein »homogenes nationales Gespräch« mehr gibt: »Menschen hatten immer unterschiedliche Ansichten. Heute haben sie unterschiedliche Tatsachen.« Die Autorin will keine allumfassende Theorie für die extreme Lagerbildung und die autoritäre Unterwanderung von Demokratien durch Figuren wie Kaczyński, Orbán, Trump und auch Johnson sowie deren Lakaien liefern. Ihr Essay spiegelt vielmehr persönliche Erfahrungen und Überlegungen wider, verweist auf historische Parallelen, sucht nach Antworten, wie sich der Gefahr begegnen ließe. Es ist Applebaums Verdienst, den Blick auf die geistigen Brandstifter zu lenken, zu kurz kommen in ihrer Analyse allerdings die Wähler_innen, die ebenso der »Verlockung des Autoritären« erliegen. Denn Wahlerfolge autoritärer Potentaten lassen sich nicht allein mit ideologischer Manipulation durch reaktionäre Spindoctors erklären. Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer. Siedler Verlag, München 2021, 208 Seiten, 22 Euro
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Ethnografie Morias
Bedroht in der Arktis
»Der Brand von Moria war real und zugleich hoch symbolisch«, schreibt Helge-Ulrike Hyams. Wer verstehen will, warum Europas größtes Flüchtlingslager im September 2020 in Flammen aufging, sollte dieses Buch lesen. Die Psychoanalytikerin und Pädagogin ging im Herbst 2019 nach Lesbos und arbeitete dort ein halbes Jahr für eine Schweizer Hilfsorganisation. Mit ihren 77 Jahren war sie eine Ausnahmeerscheinung unter den Freiwilligen aus aller Welt. Außergewöhnlich ist auch ihr Bericht über Moria: In kurzen Kapiteln zu Stichworten wie Kinder, Trauma, Husten, Müll, Regen, Handys oder Resilienz schildert sie die unerträgliche Situation der Geflüchteten, nimmt aber auch die Helfer_innen und die Bevölkerung der Insel in den Blick. Als teilnehmende Beobachterin gleicht Hyams einer Ethnologin, und die vielen Facetten des Buchs fügen sich zu einer Art Ethnografie des Lagers. Die Autorin verzichtet auf billige Skandalisierung, vielmehr enthüllt sie durch ihre so persönliche und lebenskluge wie professionelle und sachliche Darstellung, »zu welchem Ausmaß an Menschenverachtung unsere Gesellschaft fähig ist, wenn sie Lager wie dieses toleriert«. Ihr Fazit: »Moria brannte nicht, weil ein paar junge Männer gezündelt haben. Moria brannte, weil das Leben der Lagerbewohner in eine Sackgasse geraten war. Eine Sackgasse, die symbolisch für die gesamte Flüchtlingspolitik steht.«
Wer wissen will, wo das Erdgas herkommt, das bei uns für mollige Wärme sorgt, der sollte diesen Roman lesen. Die größten Gasvorkommen Russlands liegen dort, wo die Nenzen leben – noch leben. Denn der Klimawandel begünstigt die Gasförderung und bedroht den arktischen Lebensraum der Indigenen. Anna Nerkagi gehört zu dieser westsibirischen Bevölkerungsgruppe und hat ihr mit »Weiße Rentierflechte« ein Denkmal gesetzt. Ihr im Original bereits 1996 erschienenes Buch handelt von einer weiteren Gefahr: der Entfremdung der Kinder von ihren Familien. Denn die nenzischen Kinder werden mit Hubschraubern in russische Internate gebracht und verlieren so den Bezug zu ihrer Heimat. »Weiße Rentierflechte« ist ein zutiefst wehmütiger Roman – erzählt aus Sicht der Alten, die am nomadischen Leben festhalten und jahrelang vergeblich auf die Rückkehr ihrer Kinder warten. Nerkagi beschreibt das traditionelle Leben der Rentierzüchter_innen, ihren Alltag, ihre Mythologie und Weisheit. Sie schildert aber auch die Konflikte in einer Gesellschaft, die von Frauen völlige Unterordnung verlangt, obwohl sie ohne deren harte Arbeit nicht überleben kann. Eindrucksvolle Fotos von Sebastião Salgado vermitteln eine Vorstellung von den harten Lebensbedingungen der Nomad_innen, ein »Kleines ABC des nenzinschen Lebens« bietet Hintergrundinformationen zu diesem berührenden Roman.
Helge-Ulrike Hyams: Denk ich an Moria. Ein Winter auf Lesbos. Berenberg Verlag, Berlin 2021, 160 Seiten, 16 Euro
Einblick in die UNO Andreas Zumach war mehr als 30 Jahre lang UNO-Korrespondent in Genf und berichtete für die taz und andere Medien. Im Gegensatz zu vielen anderen, die der UNO stets Versagen und Machtlosigkeit vorwerfen, ist Zumach kein Zyniker, doch sieht auch er deutlichen Reformbedarf. Er weist darauf hin, dass es dafür durchaus Spielräume gibt – auch jenseits des Sicherheitsrats, den er derzeit für nicht reformierbar hält. Wenig zielführend sei die Politik der Bundesregierung, der es vor allem um einen ständigen Sitz in diesem Gremium gehe. Zumach untersucht die Rolle der UNO in zahlreichen Konflikten – von Syrien über Israel/Palästina bis hin zur Ukraine. Neben traditionellen Politikbereichen wie Friedenssicherung und Rüstungskontrolle beschäftigt er sich mit aktuellen und künftigen Herausforderungen wie Klimapolitik, Gesundheitspolitik, Wirtschaft und Menschenrechte. Nicht zuletzt kritisiert er den zunehmenden und hoch problematischen Einfluss internationaler Unternehmen und anderer Akteur_innen. So zählt etwa die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung mittlerweile zu den größten Geldgebern der WHO. Zwar fehlen wichtige Aspekte wie Frauenpolitik, dennoch bietet das Buch exzellente Einblicke in das UNO-System. Zumach ist es gelungen, komplizierte Sachverhalte verständlich und ohne Englisch-Kauderwelsch zu erklären, was bei diesem Thema eine große Herausforderung ist. Andreas Zumach: Reform oder Blockade – welche Zukunft hat die UNO? Rotpunktverlag, Zürich 2021, 360 Seiten, 25 Euro
Anna Nerkagi: Weiße Rentierflechte. Aus dem Russischen von Rolf Junghanns. Mit Fotos von Sebastião Salgado. Faber & Faber, Leipzig 2021, 192 Seiten, 22 Euro
Aktivist_innen der Erinnerung Am Ende der Graphic Novel, die Stationen aus dem Leben von Beate und Serge Klarsfeld beleuchtet, hält eine Gesprächspartnerin der beiden treffend fest: »Sie stehen für Mut, Überzeugungskraft, Bescheidenheit, ein Gefühl für Gerechtigkeit, eine Opferbereitschaft, für die Sie sich selbst in Gefahr bringen!« Was das Ehepaar Klarsfeld mit seinem unermüdlichen Kampf gegen das Vergessen geleistet hat und immer noch leistet, inszenieren Pascal Bresson und Sylvain Dorange in einer spannungsgeladenen Biografie, die in ihrer Machart an einen Agententhriller erinnert. Wobei der Stoff dieses Abenteuers eben keine Fiktion ist. Das Handeln der beiden hat seit den späten 1960er Jahren entscheidend zur Aufklärung und Verurteilung von NS-Kriegsverbrechen beigetragen. Beate und Serge Klarsfeld, sie Deutsche, er französischer Jude, verfolgen ihr gemeinsames Ziel mit beeindruckender Vehemenz und Selbstlosigkeit. Mit ihren Aktionen – die spektakulärste war wohl die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld 1968 dem damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger zusammen mit dem Ausruf »Nazi« in aller Öffentlichkeit verpasste – machen sie sich nicht nur Freunde. Doch dieses Risiko nehmen die »Aktivist_innen der Erinnerung« für ihre Mission gegen das Vergessen der Opfer der Shoah gerne in Kauf. Pascal Bresson, Sylvain Dorange: Beate und Serge Klarsfeld – Die Nazijäger. Aus dem Französischen von Christiane Bartelsen. Carlsen, Hamburg 2021, 208 Seiten, 28 Euro, ab 14 Jahren
Bücher: Wera Reusch, Marlene Zöhrer BÜCHER
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Rekonstruktion eines Verbrechens
Rappen übers Fremdmolekül
Der Mord an Saudi-Arabiens bekanntestem Journalisten wird nun auch filmisch untersucht. Jamal Khashoggi betrat am 2. Oktober 2018 die saudische Botschaft in Istanbul, um Scheidungspapiere abzuholen, und sollte sie nicht mehr lebend verlassen – ein eigens eingeflogenes »Spezialistenteam« ermordete ihn dort. In seinem Film »The Dissident« geht Bryan Fogel den Hintergründen dieses Staatsverbrechens nach. Er hatte Zugang zu Beweismaterial, führte zahlreiche Interviews mit Khashoggis Mitstreiter_innen und türkischen Ermittlern. So entsteht das Bild eines Kampfes zwischen dem Medienprofi und dem saudischen Staat, bei dem es um den Einfluss autoritärer Eliten, den Kampf um Menschenrechte und Pressefreiheit geht. Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman bestreitet jede Verantwortung für den Mord und gibt lapidar zu Protokoll, er könne schlecht wissen, was seine Beamten den ganzen Tag über machten. In einem Prozess wurden einige Helfershelfer verurteilt, die Strafe wurde aber zum Teil ausgesetzt. Fogel erzählt das spannend, aber auch mit einigen Brutalitäten – etwa, wenn es darum geht, wie Khashoggis Leiche verschwand. Dabei entstanden umfangreiche Tonbandprotokolle, die türkische Ermittler freigaben. Dieser recherchestarke und engagierte Film sorgt mit dafür, dass der Fall Khashoggi aktuell bleibt. »Ich hoffe, die Menschen fühlen sich beim Zuschauen in der Verantwortung, selbst aktiv zu werden«, sagt Fogel.
Über ein Vierteljahrhundert ist es her, da entdeckten deutsche Jugendliche, dass man nicht nur auf Englisch rappen kann. Die Pioniere dieser Idee nannten sich Die Fantastischen Vier, aber auch Advanced Chemistry, Fresh Familee oder Main Concept. Die einen kennt man heute noch, die anderen sind verschwunden oder immer Underground geblieben. Die einen sind, wahrscheinlich kein Zufall, weiß und sehr deutsch, die anderen hatten schon damals, was man heute einen Migrationshintergrund nennt. Während die Minderheiten ein, zwei Generationen später als Gangster-Rapper dann doch noch die deutschen Charts übernahmen, blieben Main Concept tapfer bei ihrem Konzept vom aufklärerischen, gesellschaftskritischen Rap, den sie nun mit ihrem neuen Album »Main Concept 3.0« zum wiederholten Male aktualisieren. Dabei verzichten die Münchner ganz bewusst darauf, sich musikalisch allen Moden anzudienen, und setzen stattdessen auf das, was zum weltweiten Siegeszug von HipHop geführt hat: die Macht des rhythmisch gesprochenen Wortes. Weil die Zeiten so sind, wie sie sind, aktualisiert Rapper DavidPe seinen Klassiker »Zwischen den Stühlen«, in dem er schon vor 27 Jahren das Gefühl beschrieben hatte, fremd im eigenen Land zu bleiben. In »Der ich bin« stellt er fest, dass sich auch nach einem halben Jahrhundert Einwanderungsland Deutschland nicht viel verändert hat: »Trotz all der Integration bleibst du ein Fremdmolekül.«
»The Dissident«. USA 2020. Regie: Bryan Fogel. Auf allen relevanten Streaming-Diensten
Rassismus auf dem Rasen Ein besonderes Kapitel in der Geschichte der Fußballnationalmannschaft nimmt der Dokumentarfilmer Torsten Körner in »Schwarze Adler« in den Blick: die People of Color, die es in diese Elitetruppe des deutschen Fußballs geschafft haben. Spieler wie Erwin Kostedde, der in den 1970er Jahren der erste war, und Jimmy Hartwig kommen in diesem Film zu Wort. Sie berichten vom innigen Wunsch, zur Nationalelf zu gehören, und über Diskriminierungserfahrungen: »Ich habe mich drei Stunden am Tag gewaschen, weil ich weiß sein wollte«, berichtet der dreimalige Nationalspieler Kostedde, Sohn eines US-Soldaten und einer deutschen Mutter. In Stadien sei er auch mit Hitler-Gruß empfangen worden. Der Ausnahmespieler litt lebenslang an der Ablehnung. Andere gehen offensiv mit Angriffen um. So konterte etwa Anthony Baffoe vom 1. FC Köln eine rassistische Bemerkung einst öffentlichkeitswirksam mit: »Du kannst auf meiner Plantage arbeiten.« Otto Addo, Shary Reeves, Guy Acolatse äußern sich in dem Film – und natürlich Steffi Jones: Auch die vielmalige Nationalspielerin berichtet über Rassismus auf und neben dem Spielfeld, auch sie musste sich Affenlaute im Stadion anhören. »Schwarze Adler« ist ein spektakulär guter Film über deutschen Sport geworden. Sein einziges Manko ist, dass es ihn gibt. Man wünschte, die Hauptdarsteller_innen hätten die teils traumatischen Erfahrungen nicht machen müssen. »Schwarze Adler«. D 2021. Regie: Torsten Körner. Prime Video und ZDF-Mediathek
Main Concept: »Main Concept 3.0« (Buback/Indigo)
Afro-indigener Mardi Gras Wenn Second Chief Joseph Boudreaux Jr. seinen Ahnen huldigen möchte, dann trägt er einen quietschgrünen Indianerhäuptling-Anzug und dazu einen ausladenden, noch grüneren Federschmuck. Damit geht er dann zum Fasching, oder genauer: zum Mardi Gras. Der Häuptling trommelt und singt für Cha Wa, eine Band aus New Orleans, die eine alternative Version des weltberühmten Karnevals in der Stadt am Mississippi auf die Bühne bringt. Wenn die prächtigen Paraden über die großen Boulevards ziehen, dann erobern sich die Black Masking Indians die Nebenstraßen von New Orleans – Afroamerikaner_innen verkleiden sich als Native Americans. Was auf den ersten Blick wie kulturelle Aneignung wirken mag, ist historisch begründet. Die Tradition reicht zurück bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Rassentrennung Schwarze von den offiziellen Mardi-Gras-Feierlichkeiten ausschloss. Sie nimmt Bezug darauf, dass Jahrhunderte zuvor geflüchtete Sklav_innen Schutz fanden in den Sümpfen Louisianas bei indigenen Stämmen, die von ihrem Land vertrieben waren. Viele Einwohner_innen von New Orleans können ihren Stammbaum zurückverfolgen bis in diese gemeinsame Vergangenheit von Rot und Schwarz. Deshalb hat der Sound von Cha Wa zwischen Marschmusik, Jazz, Funk und Soul auch schon ohne die Texte über Armut, Rassismus und Polizeigewalt eine soziale und politische Dimension. Cha Wa: »My People« (Single Lock/Cargo)
Film: Jürgen Kiontke | Musik: Thomas Winkler 68
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ben. Heute ist Ata Canani 57 Jahre alt und sagt: »Ich bin stolz, dass meine Lieder immer noch so aktuell sind – und ich fürchte, sie werden auch in hundert Jahren noch aktuell sein.« Ata Canani war der erste Migrant, der in den 1970er Jahren die Lebensrealität der Neuankömmlinge in Songs verarbeitete – und das in deutscher Sprache. Ein Novum, das aber kaum wahrgenommen wurde. Es gab zwar ein paar TV-Auftritte, unter anderem bei Alfred Biolek, doch spielte Canani seine Songs vor allem bei türkischen Hochzeiten, bei denen er allerdings eher als Virtuose mit der Saz, der Langhalslaute, gefragt war. »Die Gastarbeiter haben mich nicht verstanden, weil sie der deutschen Sprache nicht mächtig waren, und den Deutschen war meine Musik zu orientalisch«, erinnert er sich. Umso wichtiger, dass diese verloren gegangenen Lieder nun endlich wieder zu hören sind. Alle Stücke auf dem Album »Warte mein Land, warte«, die neu geschriebenen sowieso, aber auch die jahrzehntealten, mussten von Canani und seiner Band neu eingespielt werden. Dass die alten Bänder verloren gegangen waren, dass es keine Originalaufnahmen mehr gab, macht deutlich, wie sehr Cananis historische Leistung in Vergessenheit geraten war. Als Bülent Kullukcu und Imran Ayata im Jahr 2013 die Compilation »Songs of Gastarbeiter« herausbrachten und Cananis vergessenen Klassiker »Deutsche Freunde« an den Anfang stellten, bekam er zumindest einen Teil der Anerkennung, die er verdient. Trotzdem dauerte es noch einmal acht Jahre, bis nun endlich ein ganzes Album erscheint. Leben konnte Canani nie von seiner Musik. Mit elf Jahren kam er nach Deutschland, sein Vater wollte das musikalische Talent des Sohnes nie fördern, obwohl er die Saz spielen konnte wie kaum ein anderer. Also ging Canani 36 Jahre lang harter körperlicher Arbeit nach, ebenso wie Der Klang der Integration. Ozan Ata Canani konnte nie von seiner Musik leben. die anderen »Drecks- und Müllarbeiter, Stahlbauund Bahnarbeiter« aus der »Türkei, aus Italien, aus PortuDer Saz-Virtuose Ozan Ata Canani hat in den 1970er gal, Spanien, Griechenland, Jugoslawien«, deren Schicksal er in Jahren als Erster die Erfahrungen der Migrant_innen »Deutsche Freunde« besingt. In dieser Zeit erlebte er, wie aus in Deutschland musikalisch verarbeitet – auf Deutsch. Gastarbeiter_innen zumindest offiziell doch noch Migrant_innen wurden, aber auch wie der NSU in der Kölner Keupstraße Erst jetzt ist sein Debütalbum erschienen. eine Nagelbombe zündete – Canani lebte ganz in der Nähe. Von Thomas Winkler Vor fünf Jahren hatte er einen Herzinfarkt, seitdem lebt er von Hartz IV, mittlerweile in einer kleinen Wohnung in Leverkusen. An der Wand des Wohnzimmers hängen alte Bilder und s war einmal, lang ist es her, da schrieb ein junger Mann mehrere Exemplare seines Instruments, der Saz. Vor ein paar in Liedern auf, was ihn bewegte in dem Land, in dem er Jahren hat jemand ein Hakenkreuz auf die Wand des Mietshaulebte. Er nahm das Instrument, das er aus einem andeses gesprüht, doch das Verfahren wurde eingestellt. »Meine ren Land mitgebracht hatte, gab sich selbst den EhrenLieder sind ein Teil der Geschichte der Gastarbeiter in Deutschtitel Ozan (»Dichter«) und spielte und sang seine Lieder. Die land«, sagt Ata Canani. Nun sind sie zum Glück handelten davon, wie es ist, als Fremder in Deutschland zu leauch ein Teil der Gegenwart des Einwandeben, als einer, der damals »Gastarbeiter« genannt wurde. Sie rungslandes Deutschland. handelten davon, dass alle Menschen glücklich sein wollen und dass man nicht allein von Brot satt wird. Davon, wie es ist, härter arbeiten zu müssen für weniger Lohn als die deutschen KolOzan Ata Canani: »Warte mein Land, warte« leg_innen, und wie es sich anfühlt, zwischen zwei Welten zu le(Fun In The Church/Bertus)
Foto: Frederike Wetzels
Lieder zwischen den Welten
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BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.
Foto: Hudlag (CC BY-SA 4.0)
ACHTUNG! Wegen der Verbreitung des CoronaVirus ist die weltweite Briefzustellung momentan eingeschränkt. Deshalb bitten wir Sie, Ihre Appellschreiben per E-Mail oder Fax bzw. an die Botschaft des jeweiligen Ziellandes zu schicken.
NIGERIA JAAFAR JAAFAR Im Oktober 2018 veröffentlichte Jaafar Jaafar Videoclips, um zu belegen, dass der Gouverneur des Bundesstaates Kano Bestechungsgelder angenommen hat. Seitdem wird der Journalist verfolgt. Zunächst reichte der Gouverneur eine Verleumdungsklage gegen ihn ein, nun behaupten die Behörden, dass sie im Zuge ihrer Ermittlungen Hinweise auf kriminelles Verhalten gefunden hätten. Unbekannte Männer beobachteten sein Haus und suchten offenbar nach ihm. Außerdem erhielt er Morddrohungen. Am 20. April 2021 erschien eine Polizeieinheit im Büro von Jaafar Jaafar und nahm ihn zum Verhör mit: Er stachele zur Gewalt auf und verbreite schädigende Unwahrheiten über den Generalinspektor
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der Polizei. Im Mai 2021 floh Jaafar Jaafar schließlich aus Nigeria, da er um seine Sicherheit und die seiner Familie fürchtete. Bitte schreiben Sie bis 31. August 2021 höflich formulierte Briefe an den Gouverneur des Bundesstaates Kano und fordern Sie ihn auf, dafür zu sorgen, dass alle Anklagen gegen Jaafar Jaafar sofort fallen gelassen werden. Bitten Sie ihn außerdem, die Schikanen gegen Jaafar Jaafar und andere Journalist_innen umgehend zu beenden und sicherzustellen, dass ihre Rechte geachtet werden. Sie müssen zukünftig vor Repressalien, Einschüchterung und Schikanen geschützt werden.
Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: Governor of Kano State H. E. Abdullahi Umar Ganduje The Executive Governor of Kano State Governor’s Office Kano, NIGERIA E-Mail: info@kanostate.gov.ng Twitter: @GovUmarGanduje (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Bundesrepublik Nigeria S. E. Herrn Yusuf Maitame Tuggar Neue Jakobstraße 4, 10179 Berlin Fax: 030 - 21 23 02 12 E-Mail: info@nigeriaembassygermany.org (Standardbrief: 0,80 €)
Beteiligen Sie sich an der Solidaritätsaktion für Jaafar Jaafar und schreiben Sie ihm eine Twitternachricht auf Englisch. Zum Beispiel: @JaafarSJaafar We admire your bravery and stand with you! oder @JaafarSJaafar Continue to inspire people with your bravery and good work
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Foto: privat
Mitarbeiter des Roten Halbmonds nur friedlich sein Recht auf freie Meinungsäußerung aus. Dem Urteil war ein unfairer Prozess vorausgegangen, das »Geständnis« soll unter Folter erpresst worden sein. Abdulrahman al-Sadhan reichte am 6. Mai Rechtsmittel beim Berufungsgericht ein, aber das Gericht hat noch nicht darüber entschieden. Darüber hinaus werden Abdulrahman al-Sadhan jegliche Familienbesuche oder -anrufe verwehrt, sodass seine Angehörigen befürchten, dass er gefoltert wird.
SAUDI-ARABIEN ABDULRAHMAN AL-SADHAN Abdulrahman al-Sadhan wurde am 5. April 2021 vom Sonderstrafgericht (SCC) in Riad zu 20 Jahren Haft verurteilt, denen ein 20-jähriges Reiseverbot folgen soll. Dabei übte der 37-jährige
Bitte schreiben Sie bis 31. August 2021 höflich formulierte Briefe an den saudischen König, in denen sie die sofortige und bedingungslose Freilassung von Abdulrahman al-Sadhan fordern. Bitten Sie ihn außerdem, dafür zu sorgen, dass Abdulrahman al-Sadhan bis zu seiner Freilassung Besuche und anderweitigen Kontakt zu seiner Familie haben kann. Zudem muss sichergestellt werden, dass er nicht gefoltert oder misshandelt wird.
Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de
Foto: Amnesty
Die Aktivist_innen der Umweltschutzorganisation MODATIMA sind seit Jahren Drohungen, Stigmatisierungen und Schikanen ausgesetzt. Dabei stehen die drei Sprecherinnen der Organisation, Verónica Vilches, Lorena Donaire und Carolina Vilches besonders im Fokus: Am 13. Februar
BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft des Königreichs Saudi-Arabien S. E. Herrn Essam Ibrahim H. Baitalmal Tiergartenstraße 33–34, 10785 Berlin Fax: 030 - 88 92 51 76 E-Mail: deemb@mofa.gov.sa (Standardbrief: 0,80 €)
AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de
2021 erhielt Verónica Vilches eine erste Morddrohung, am 6. Juni die zweite. In beiden Fällen weigerte sich die Polizei (Policía de Investigaciones de Chile – PDI) »aufgrund unerfüllter administrativer Auflagen«, zu ermitteln. Erst nachdem sich Amnesty International bei der Staatsanwaltschaft einsetzte, wurde eine Untersuchung eingeleitet.
CHILE RINNEN DIE UMWELTSCHÜTZE VON MODATIMA
Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: His Majesty King Salman bin Abdul Aziz Al Saud Office of His Majesty the King Royal Court Riyad, SAUDI-ARABIEN Fax: 00 966 - 11 403 31 25 Twitter: @KingSalman (Anrede: Your Majesty / Eure Majestät) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Bitte schreiben Sie bis 31. August 2021 höflich formulierte Briefe an die regionale Staatsanwältin von Valparaíso und fordern Sie sie auf, zügige Beschwerdewege für Menschenrechtsverteidiger_innen einzurichten. Die Aktivist_innen von MODATIMA müssen dabei im Fokus stehen, da sie bereits mehrmals angegriffen wurden. Fordern Sie außerdem, die Staatsanwältin möge dafür sorgen, dass die Aktionen der PDI und der Carabineros koordiniert, zeitnah und nicht einschüchternd sind.
Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Valparaíso Regional Prosecutor’s Office Señora Fiscal Regional de Valparaíso Claudia Perivancich Hoyuelos Blanco 937 Piso 4, Edificio Tecno Pacifico Valparaíso, CHILE E-Mail: murrutia@minpublico.cl (Anrede: Dear Prosecutor / Estimada Señora Fiscal / Sehr geehrte Frau Staatsanwältin) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Chile I. E. Frau Cecilia Mackenna Echaurren Mohrenstraße 42, 10117 Berlin Fax: 030 - 726 203 603 E-Mail: echile.alemania@minrel.gob.cl (Standardbrief: 0,80 €)
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BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN – UPDATES In jedem Amnesty Journal veröffentlichen wir drei Einzelschicksale, verbunden mit dem Appell, einen Brief zu schreiben, um Menschenrechtsverletzungen zu beenden. In regelmäßigen Abständen informieren wir darüber, wie sich die Situation der Betroffenen weiterentwickelt hat. Hier nun neue Informationen zu den »Briefen gegen das Vergessen« von Januar 2020 bis Januar 2021.
Foto: privat
Anastasia Shevchenko wurde im Februar 2021 zu vier Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Das Urteil erfolgte im Zuge einer Einschüchterungskampagne vor den Duma-Wahlen im Herbst. Man warf ihr Verbindungen zu einer »unerwünschten ausländischen Organisation« vor. Shevchenko ist die erste Menschenrechtsverteidigerin, gegen die auf Grundlage des Gesetzes über »ausländische unerwünschte Organisationen« eine Freiheitsstrafe verhängt wurde. Amnesty International sieht in dem Urteil einen erneuAnastasia Shevchenko. ten Angriff auf unabhängiges zivilgesellschaftliches Engagement in Russland. Anastasia Shevchenko war im Januar 2019 festgenommen worden, weil sie als Koordinatorin der Bewegung »Offenes Russland« an Aktivitäten zweier in Großbritannien registrierter Organisationen mit ähnlichem Namen beteiligt gewesen sein soll. Sie stand seitdem unter Hausarrest. Amnesty International erklärte sie zur gewaltlosen politischen Gefangenen und forderte ihre bedingungslose Freilassung.
Wieder frei. Shafiqul Islam Kajol.
wegen einiger Facebook-Posts auf Grundlage des repressiven Gesetzes über digitale Sicherheit (Digital Security Act) an. Er befand sich in unbefristeter Untersuchungshaft. Zuvor war er 53 Tage »verschwunden«. Drei unbekannte Männer sollen am 10. März 2020 das Motorrad von Shafiqul Islam Kajol manipuliert haben, kurz bevor er damit losfuhr. Danach war er nicht mehr gesehen worden. Das Zentralgefängnis von Dhaka in Keraniganj, wo er inhaftiert war, war maßlos überfüllt. Es befanden sich dort 10.000 Gefangene, obwohl es nur für 4.097 Menschen ausgelegt ist. Nach Angaben der Gefängnisbehörden konnten neue Häftlinge, die möglicherweise an Covid-19 erkrankt waren, nicht unter Quarantäne gestellt werden.
USA – STEVEN TENDO (NOVEMBER 2020)
MYANMAR – KÜNSTLER_INNEN DER PEACOCK GENERATION (APRIL 2020) Paing Phyo Min und zwei weitere Mitglieder der Künstler_innengruppe Peacock Generation wurden im April 2021 im Rahmen einer Generalamnestie vorzeitig aus der Haft entlassen. Im April und Mai 2019 waren sieben Mitglieder der Gruppe festgenommen worden, nachdem sie eine Thangyat-Aufführung dargeboten hatten – eine traditionelle Kunstform, die dem PoetrySlam ähnelt. Sie trugen Uniformen und kritisierten das Militär, das keine Kritik ertragen könne, sich verzweifelt an die Macht klammere und das Land ausplündere, während die Generäle Reichtum anhäuften. Paing Phyo Min und zwei weitere Mitglieder der Gruppe wurden außerdem wegen »Onlinediffamierung« schuldig gesprochen, nachdem sie Aufnahmen des Auftrittes ins Internet gestellt hatten. Paing Phyo Min war zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die Haftstrafen gegen ihn und die anderen Satiriker_innen wurden allein deshalb verhängt, weil sie friedlich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen haben. Amnesty hatte daher ihre umgehende und bedingungslose Freilassung gefordert.
BANGLADESCH – SHAFIQUL ISLAM KAJOL (OKTOBER 2020) Der Fotojournalist Shafiqul Islam Kajol wurde im Dezember 2020 aus dem Gefängnis entlassen. Der gewaltlose politische Gefangene war allein wegen der Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung inhaftiert. Die Behörden klagten ihn
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Foto: @ELOI Ministries
Foto: privat
RUSSLAND – ANASTASIA SHEVCHENKO (JANUAR 2020)
Steven Tendo wurde im Februar 2021 aus humanitären Gründen aus einem US-Gefängnis entlassen – bis über seinen Asylantrag entschieden wird. Amnesty International setzte sich im Rahmen der Kampagne »100 Days« erfolgreich für seine Freilassung ein. Ziel war es, Präsident Joe Biden zur Freilassung von Einzelpersonen und Familien aus der Einwanderungshaft zu bewegen. Steven Tendo kam als Asylsuchender in die Steven Tendo. USA, nachdem er vor Folter und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen aus Uganda fliehen musste. Im Dezember 2018 war der 35-jährige Pastor in Einwanderungshaft genommen worden. Seine geplante Abschiebung konnte im September 2020 durch das Eingreifen von Amnesty und anderen Organisationen verhindert werden, doch sein Gesundheitszustand verschlechterte sich in der Haft. Steven Tendo leidet an Diabetes sowie Taubheit und ständigem Kribbeln in seinen Gliedmaßen. Er ist zudem auf einem Auge erblindet und drohte auch auf dem anderen Auge die Sehkraft zu verlieren, was jedoch durch eine Operation verhindert werden konnte. Tendo beantwortete die vielen Solidaritätsschreiben und kam mit seinen Unterstützer_innen dadurch in Kontakt.
AMNESTY JOURNAL | 04/2021
Foto: privat Foto: privat
CHINA – YU WENSHENG UND XU YAN (NOVEMBER 2020)
SAUDI-ARABIEN – NASSIMA AL-SADA (JANUAR 2021)
Das Oberste Volksgericht der Provinz Jiangsu wies im Dezember 2020 die Rechtsmittel zurück, die der Menschenrechtsanwalt Yu Wensheng gegen seinen Schuldspruch eingelegt hatte. Yu Wensheng hatte 2015 bei dem beispiellosen Vorgehen der chinesischen Regierung gegen Menschenrechtsverteidiger_innen und Aktivist_innen viele Menschen vertreten. Im Juni 2020 war er wegen »Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt« in einem geheimen Verfahren zu vier Jahren Gefängnis und einem dreijährigen Entzug seiner politischen Rechte verurteilt worden. Die Behörden informierten seine Ehefrau Xu Yan erst, als das Urteil bereits gesprochen war. Xu Yan wird systematisch überwacht und schikaniert. Nach fast drei Jahren ohne Zugang zu seiner Familie konnte Yu Wensheng am 14. Januar 2021 in einem Video-Call mit seiner Frau Xu Yan sprechen. Nach dem Gespräch zeigte sie sich äußerst besorgt über die offensichtliche Verschlechterung des Gesundheitszustands von Yu In schlechter Verfassung. Yu Wensheng. Wensheng.
Im März 2021 bestätigte das Berufungsgericht in Riad das Urteil gegen die saudische Menschenrechtsverteidigerin Nassima alSada: fünf Jahre Haft gefolgt von fünf Jahren Reiseverbot. Sie hatte Rechtsmittel gegen ein Urteil eingelegt, das 2020 wegen »Cyberkriminalität« gegen sie ergangen war. Genauere Vorwürfe waren nie genannt worden. Nas- Weiter in Haft. Nassima al-Sada. sima al-Sada ist eine saudische Menschenrechtsverteidigerin, die sich seit vielen Jahren für bürgerliche und politische Rechte, Frauenrechte sowie die Rechte der schiitischen Minderheit in der Ostprovinz von Saudi-Arabien einsetzt. Gemeinsam mit anderen Frauenrechtlerinnen engagierte sie sich für die Aufhebung des Frauenfahrverbots und das Ende des repressiven männlichen Vormundschaftssystems. Nach jahrelanger Schikane durch die Behörden wurde sie im Juni 2018, einen Monat nach der Aufhebung des Frauenfahrverbots, festgenommen und ohne Anklage inhaftiert. Nassima al-Sada musste zwischen ... ein ganzes Jahr in Einzelhaft verbringen.
BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN – UPDATES
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Foto: privat
Teil der Künstler_innengruppe Peacock Generation in Myanmar. Paing Phyo Min.
Foto: Denis Balibouse / Reuters
AKTIV FÜR AMNESTY
»Rassismus ist eine Bedrohung für die Welt und für Amnesty.« Agnès Callamard (Archivbild aus dem Jahr 2019).
DEN STATUS QUO STÖREN Eindrücke von der Amnesty-Jahresversammlung 2021: Die neue Internationale Generalsekretärin Agnès Callamard stellte sich vor, und Amnesty International Deutschland wählte einen neuen Vorstand. Von der Jahresversammlung der Mitglieder von Amnesty International Deutschland an Pfingsten ging eine große Aufbruchsstimmung aus. Die seit Ende März amtierende Internationale Amnesty-Generalsekretärin Agnès Callamard stellte sich und ihre Arbeit vor. Um für Menschenrechte zu kämpfen, gebe es »keinen besseren Platz als Amnesty«. Eine der großen Herausforderungen für die Organisation blieben Staaten, die den Konsens der Menschenrechte zu untergraben versuchten. »Junge Menschen haben das Potenzial, zu hinterfragen und zu drängen. Ich erwarte von euch, genau das zu tun. Amnesty kann die Macht sein, die den Status Quo stört«, antwortete Callamard auf eine online gestellte Frage zur Bedeutung der Jugend für Amnesty. Wichtig sei ihr, zu betonen, dass Amnesty auch im Inneren zu einer antirassistischen, diskriminierungsarmen Bewegung werde. »Rassismus ist eine Bedrohung für die Welt und für Amnesty.« Die Stimme von Amnesty International müsse darüber hinaus stark und laut vernehmbar bleiben. »Wir müssen mutig sein«, betonte Callamard. Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, sprach darüber, was Amnesty in den vergangenen 60 Jahren erreicht hat, wie die Organisation weiterwirken kann und was dafür getan werden muss. Zum Beispiel Taner Kılıç, den Ehrenvorsitzenden der türkischen AmnestySektion, mit allen Kräften zu unterstützen. Denn ihm droht Gefängnis wegen seines Einsatzes für die Menschenrechte. Auch die ehemalige türkische Amnesty-Direktorin İdil Eser sowie zwei
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langjährige Amnesty-Mitglieder wurden im Juli 2020 zu Haftstrafen verurteilt, ein Berufungsverfahren steht noch aus. »Wie so viele Prozesse in der Türkei ist auch dieser rein politisch motiviert. Die Anklage ist nichts anderes als der Versuch, Menschenrechtsverteidiger und -verteidigerinnen einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen«, sagte Beeko. Wie schon 2020 fand die Jahresversammlung auch in diesem Jahr auf den Online-Plattformen OpenSlides und AmnestyMeeting statt. Manchmal ruckelten Ton oder Bild, aber insgesamt war die Technik zuverlässig, und die Mitglieder erwiesen sich als technikerprobt und geduldig. Immer wieder zeigten sich jedoch auch Nachteile der digitalen Formate, so hätte etwa die virtuelle Amnesty-Kneipe besser besucht sein können, und oft fehlte schlichtweg ein reales Gegenüber. Von Aufbruchsstimmung kündet auch die Wahl des neuen Vorstandes. Vergleichsweise viele Mitglieder kandidierten für ein Amt und stellten sich kritischen Fragen. Schließlich wurde ein neuer Vorstand gewählt, bestehend aus: Wassily Nemitz (Vorstandssprecher), Stephan Heffner (stellvertretender Vorstandssprecher), Andreas Schwantner (Finanzen), Wiebke Buth (Menschenrechtsbildung und Training), Lena Wiggers (Öffentlichkeitsarbeit), Lisa Nöth (Länder- und Themenarbeit), Maureen Macoun (ehrenamtliches Engagement) und Wolfgang Grenz (Flüchtlingsschutz).»Im Jahr des 60. Geburtstags stehen wir vor sehr großen menschenrechtlichen Herausforderungen – seien es die Corona-Krise, die Klimakrise, die steigende Bedrohung von Zivilgesellschaften weltweit oder der zunehmend menschenrechtswidrige Umgang mit Geflüchteten«, sagte Vorstandssprecher Nemitz. »Amnesty braucht es daher mehr denn je.« Mehr zu 60 Jahre Amnesty: amnesty.de/60Jahre
AMNESTY JOURNAL | 04/2021
ABWECHSLUNGSREICHER ALS ONLINE-UNI Auch wenn man es mit Blick auf die Nachrichten kaum glauben kann: Die Corona-Pandemie hat die Klimakrise nicht verdrängt. Sie ist präsenter denn je und bedroht das menschliche Überleben, die Umwelt und die Menschenrechte gegenwärtiger und zukünftiger Generationen. Bei der diesjährigen bundesweiten Jugendaktionswoche vom 21. bis zum 28. April hat sich die Amnesty-Jugend deshalb mit dem Thema »Klima(un)gerechtigkeit – die Klimakrise menschenrechtskonform angehen« beschäftigt. Wir haben uns überlegt, was es für eine menschenrechtskonforme ökologische Transformation braucht. Gleichzeitig fand am 24. April auch Jugend@Amnesty statt, ein eintägiges Treffen der Amnesty-Jugend. Müde, aber zufrieden, so fühlen wir uns als Organisationsteam nach der Aktionswoche. Es liegen anstrengende Tage hinter uns: Wir haben eine Podiumsdiskussion, verschiedene Social-Media-Aktivitäten und einen Filmabend organisiert. Zum Earth Day am 22. April konnten die Gruppen Aktionen in ihren Städten durchführen – coronakonform versteht sich. Bei der Planung gab es einige Hürden zu überwinden. Nach über einem Jahr Pandemie kennen wir uns zwar mit den technischen Möglichkeiten und Chancen des Online-Aktivismus aus, gleichzeitig schwindet das Interesse an solchen Formaten. Das ist verständlich – wer dank
Online-Unterricht und Homeoffice den ganzen Tag am Computer verbringen muss, hat nicht unbedingt Lust darauf, abends weitere zwei Stunden vor dem Bildschirm zu sitzen. Während wir uns also vor einem Jahr noch fragen mussten, wie wir unsere gewohnten Konzepte den neuen Bedingungen anpassen, ist nun die Herausforderung, Veranstaltungen zu organisieren, die so interessant sind, dass Menschen auch nach acht Stunden Online-Universität teilnehmen wollen. Ein abwechslungsreiches Programm scheint die Lösung zu sein, wie die Jugendaktionswoche und Jugend@Amnesty gezeigt haben. Das diesjährige Jugendtreffen war ein schönes Beispiel dafür, dass Online-Veranstaltungen kein blasser Abklatsch ihrer Präsenzversion sein müssen. Mit einem bewegenden Vortrag über
den NSU-Komplex, sechs interessanten Workshops und einem Kneipenabend stellte die Veranstaltung ein Highlight des Jahres dar. Die Jugendaktionswoche mit ihrem vielseitigen Programm war ebenfalls ein voller Erfolg, wie aus der Rückmeldung der Teilnehmenden ersichtlich wurde. Für unser Empfinden als Organisationsteam hätten noch mehr Menschen teilnehmen können, aber auch wir sind zufrieden. Online-Aktivismus wird uns weiter begleiten. Auch wenn Präsenzveranstaltungen nie vollständig ersetzt werden können, so hat das vergangene Jahr doch deutlich gezeigt, dass Online-Aktivismus eine sinnvolle Ergänzung zu Demonstrationen, Mahnwachen und Co. darstellt. Birte Wulfes gehört zum Organisationsteam der Jugendaktionswoche.
Fotos: Amnesty
Die Amnesty-Jugendaktionswoche 2021 hat sich dem Thema »Klima(un)gerechtigkeit« zugewandt. Online-Aktivismus war dabei eine sinnvolle Ergänzung zu Aktionen auf der Straße. Von Birte Wulfes
Die Jugend bleibt aktiv. Amnesty-Aktionen im Jahr 2021.
IMPRESSUM Amnesty International Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Maik Söhler (V.i.S.d.P.), Lena Wiggers, Lea De Gregorio, Anton Landgraf, Tobias Oellig, Pascal Schlößer, Uta von Schrenk
AKTIV FÜR AMNESTY
Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Anna-Theresa Bachmann, Theresa Bergmann, Markus N. Beeko, Francesca De Sanctis, Neha Dixit, Laura Fornell, Peter Franck, Bastian Gabrielli, Michael Gottlob, Oliver Grajewski, Heike Haarhoff, Knut Henkel, Jürgen Kiontke, Bartholomäus von Laffert, Julia Lauter, Felix Lee, Felix Lill, Natalie Mayroth, Wera Reusch, Bettina Rühl, Cornelia Wegerhoff, Thomas Winkler, Christine Wollowski, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck, Nürnberg GmbH & Co. KG
Spendenkonto: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
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