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Bauernproteste: Indiens größte Demonstrationen
Aufstand vom Land
Die indische Regierung will den Agrarmarkt liberalisieren. Die Bäuer_innen wehren sich gegen die Gesetze, die Mindestpreise für Agrarprodukte abschaffen sollen. Sie fürchten um ihre Existenz. Ern Jones hat den Protest in Bildern festgehalten.
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Sie waren laut, sie waren viele, und sie kamen auf Traktoren. Tausende indische Bäuer_innen fuhren im Herbst 2020 bis vor die Tore Neu-Delhis, um ihre Stimme zu erheben gegen eine geplante Agrarreform. Nur ein Großaufgebot der Polizei konnte sie davon abhalten, bis ins Zentrum der Hauptstadt weiterzufahren. Doch auch Tränengas, Wasserwerfer und Schlagstöcke schüchterten sie nicht ein. Die Bäuer_innen protestierten in den Randbezirken weiter, blockierten mit Sitzstreiks friedlich Zufahrtsstraßen. »Dharna« nennen sie das.
Die Protestcamps an den Straßen Neu-Delhis lösten landesweit Solidaritätskundgebungen aus. Dutzende Gewerkschaften mobilisierten bis zu einer halben Million Bäuer_innen und Landarbeiter_innen. Andere Berufsgruppen schlossen sich an. Es waren die größten Proteste gegen die Politik von Premier minister Narendra Modi seit seiner Amtsübernahme 2014.
Entzündet hatte sich der Konflikt an der geplanten Agrar reform der Regierungspartei BJP, die das bisherige System der landwirtschaftlichen Vermarktung liberalisieren will. Statt auf staatlich regulierten Märkten sollen Firmen landwirtschaftliche Produkte direkt bei den Bäuer_innen kaufen. Diese fürchten um ihre Existenz. Denn ihrer Meinung nach stärkt die Abschaffung staatlich garantierter Mindestpreise für Grundnahrungsmittel die Großkonzerne. Diese würden künftig den Markt dominieren und die Preise bestimmen. Die Bäuer_innen befürchten, dass es für sie noch schwieriger wird, ihr Land zu behalten und ihren bescheidenen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Schätzungen zufolge arbeiten mehr als die Hälfte der 1,3 Milliarden Inder_innen in der Landwirtschaft, die kleinteilig strukturiert ist. Mehr als 80 Prozent der Bäuer_innen besitzen weniger als zwei Hektar Land. Sie sind gerade mal in der Lage, ihre Produkte auf lokalen Märkten anzubieten. Die Agrarwirtschaft steckt seit Jahren in der Krise, denn während die Kosten für Saatgut und Dünger steigen, stagnieren die Erträge. Viele Bäuer_innen sind hoch verschuldet, ein Fünftel lebt unter der Armutsgrenze, die Suizidrate ist hoch.
Indiens Landwirtschaft hat eine Reform nötig, Expert_innen teilen jedoch die Befürchtungen der Bäuer_innen und warnen vor einer weiteren Verschlechterung ihrer Lebenssituation. Erfahrungen in Bihar geben ihnen recht: In dem Bundesstaat, der seinen Agrarmarkt bereits weitgehend liberalisiert hat, erhalten Bäuer_innen im Schnitt 25 bis 30 Prozent weniger für ihre Waren als vor der Reform.
Doch trotz aller Proteste verabschiedete das indische Parlament das umstrittene Gesetzespaket im September 2020. Mitte Januar 2021 setzte eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs die drei Gesetze allerdings vorläufig außer Kraft. Aufgehoben ist die Reform damit jedoch nicht: Die Regierung verschob sie lediglich um 18 Monate. Ob sie in den Verhandlungen mit den Bäuer_innen einlenken wird, bleibt ungewiss.
Die Proteste gehen jedenfalls weiter. Der indische Nationalfeiertag am 26.Januar stellte einen vorläufigen traurigen Höhepunkt dar. Die Bäuer_innen organisierten eine Traktorparade im Stadtzentrum von Delhi und stürmten das Rote Fort, das Wahrzeichen der Stadt. Die Behörden gingen gewaltsam gegen die Demonstrationen vor. Es kam zu Ausschreitungen mit zahlreichen Festnahmen, Verletzten und auch Todesfällen. Die Regierung erließ Internetsperren und unterdrückte kritische Berichte von Journalist_innen.
Ein Ende der Massenproteste ist nicht in Sicht – trotz Repression, trotz Pandemie. Ende Mai wurden in Indien rund 400.000 Corona-Neuinfektionen und mehr als 4.000 Todesfälle pro Tag gezählt. Aber viele Bäuer_innen fürchten die Agrarreform mehr als das Virus.
Text: Tobias Oellig