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DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE
AMNESTY JOURNAL LEBEN RETTEN IST KEIN VERBRECHEN WIE SEENOTHELFER IM MITTELMEER DIE MENSCHLICHKEIT VERTEIDIGEN
DIE INVENTARE ÖFFNEN Felwine Sarr für Transparenz bei kolonialer Raubkunst
NIEDER MIT DEN ELITEN Arme und Junge stehen hinter den Protesten im Iran
145 TAGE HUNGERSTREIK Der ukrainische Regisseur Oleg Sentsov im Interview
02 2020
MÄRZ / APRIL
INHALT
12 Schwere Fahrt für Lebensretter. Wegen angeblicher Beihilfe zu illegaler Einwanderung ermittelt die italienische Justiz gegen zehn Seenothelfer des Rettungsschiffs Iuventa. Bei dem Prozess auf Sizilien drohen ihnen bis zu zwanzig Jahre Haft.
TITEL: KRIMINALISIERTE FLUCHTHELFER »Iuventa10«: Schwere Fahrt für Lebensretter
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Solidarität mit Geflüchteten: Zu Wasser, zu Lande und in der Luft
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Graphic Report: Justiz gegen Iuventa
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Kommentar: Legal, illegal, nicht egal
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Migration nach Libyen: Flucht ins Gefängnis
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Rüstungsindustrie: Grenzen zu Geld machen
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Migrationskontrolle in Afrika: Wer stoppt, gewinnt
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Bosnien und Herzegowina: Zurück auf der Balkanroute
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POLITIK & GESELLSCHAFT Iran: Aufstand der Jungen und Zerlumpten
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Indien: Wer nicht mitsingt, gehört nicht dazu
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Syrien: Die Spuren des Kalifats
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22 »An mir ist nichts Heldenhaftes.« Der ukrainische Filmemacher Oleg Sentsov engagiert sich seit seiner Freilassung aus russischer Haft für seine inhaftierten Mitstreiter. Ein Gespräch über seinen Hungerstreik, sein Hafttagebuch und die Rolle Russlands in Europa.
Flucht ins Gefängnis. Um Folter und Vergewaltigung zu entgehen, begeben sich Flüchtlinge in Libyen bisweilen freiwillig in die Internierungslager der international anerkannten Regierung. Doch die bieten mitnichten Schutz vor Menschenrechtsverletzungen.
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KULTUR Oleg Sentsov: »An mir ist nichts Heldenhaftes«
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»For Sama«: Mit den Augen einer Mutter
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Bonaventure Ndikung: Der Kunstschrittmacher
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Yirgalem Fisseha Mebrahtu: Gefährliche Gedichte
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Salman Rushdies Roman »Quichotte«: Fiktion gegen Fake News
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Souad Massi: Sanfte Stimme aus Algerien
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RUBRIKEN Panorama 04 Spotlight: Koloniale Raubkunst 06 Interview: Felwine Sarr 07 Einsatz mit Erfolg 08 Markus N. Beeko über Rettungskräfte am Pranger 09 Was tun 46 Porträt: Sima Luipert, Namibia 48 Dranbleiben: Myanmar, Brasilien, Deutschland 49 Rezensionen: Bücher 61 Rezensionen: Film & Musik 62 Briefe gegen das Vergessen 64 Aktiv für Amnesty 66 Impressum 67
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Der Kunstschrittmacher. Documenta, Venedig, Sonsbeek – der kamerunisch-deutsche Kurator Bonaventure Ndikung ist auf den Biennalen Europas gefragt wie nie. Über einen, der koloniale Verwundungen mit Mitteln der Kunst heilen will.
Mit den Augen einer Mutter. »For Sama« ist ein beeindruckendes filmisches Tagebuch über den Krieg in Syrien. Gedreht hat es eine Bewohnerin von Aleppo für ihre Tochter.
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AMNESTY JOURNAL | 02/2020
ANDERE MENSCHEN DENKEN
Legal, illegal, nicht egal. Wer in der EU Menschen auf der Flucht hilft, riskiert immer häufiger, bestraft zu werden. Ein Kommentar der Amnesty-Asyl-Expertin Franziska Vilmar.
steht auf dem großen Plakat in der Redaktion des Amnesty Journals. Entworfen hat es der chilenische Künstler Alfredo Jaar für das Berliner Maxim-Gorki-Theater. Es meint die Utopie eines auf Gleichheit basierenden Miteinanders und das Ideal einer Gemeinschaft der Vielfalt.
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Dorthin zu gelangen setzt die Bereitschaft voraus, die eigene Sichtweise zu überprüfen und Perspektivwechsel vorzunehmen. Für Journalisten ist dies ein Grundprinzip, für die Mitglieder und Mitarbeiter von Menschenrechtsorganisationen in den Metropolen, die sich fernab von Diktatur und Krieg stets aufseiten des Guten wähnen, ist es nicht immer selbstverständlich.
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Umso ehrenwerter, dass die deutsche Sektion von Amnesty International ihre wichtigste Auszeichnung in diesem Jahr an einen Zusammenschluss linker Aktivisten vergibt, die ihre Komfortzone aufgegeben haben, sich nicht in erster Linie um Paragrafen, Verordnungen und Gesetze kümmern und dafür ein hohes persönliches Risiko eingegangen sind. Den Amnesty-Menschenrechtspreis erhalten im April im Berliner Maxim-Gorki-Theater zehn frühere Besatzungsmitglieder der Iuventa, die bis zur Beschlagnahmung ihres Schiffs 2017 Tausende Menschen vor dem Ertrinken im Mittelmeer gerettet haben.
Aufstand der Jungen und Zerlumpten. Zeitenwende im Iran: Ein Jahrzehnt nach der Grünen Revolution 2009 sind Intellektuelle und Mittelschicht nur noch Zaungäste des Aufstands gegen das Regime. Nun wendet sich die arme Bevölkerung vom korrupten Establishment der Islamischen Republik ab.
Weil sie dabei angeblich mit Schleppern kooperierten, steht ihnen ein Prozess im sizilianischen Trapani bevor, der mit langjährigen Haftstrafen enden könnte. Das einzige Vergehen der »Iuventa10«: Menschenleben zu retten in einer Zeit, in der die Europäische Union und deren Grenzschutzpolizei Frontex darauf setzen, das Mittelmeer zur immer tödlicheren Barriere zwischen Wohlstandsprofiteuren und -verlierern aufzurüsten.
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Titelbild: Ausschau halten nach Schiffbrüchigen auf der Brücke der Aquarius von S.O.S. Méditeranée, August 2018. Foto: Nicoló Lanfranchi Fotos oben: Sarah Eick | Foto: Alessio Mamo / Redux / laif | Lorenzo Tugnoli / The Washington Post / contrasto / laif Middle East Images / Polaris / laif | Johanna-Maria Fritz | Evgeny Feldman / AP / pa | Filmperlen Vincent Fournier / Jeune Afrique / REA / laif
INHALT
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EDITORIAL
Foto: Sarah Eick / Amnesty
Die Spuren des Kalifats. 2019 wurde die Terrororganisation Islamischer Staat in Syrien besiegt. Doch im andauernden Krieg ringen viele Menschen weiter mit dem dunklen Erbe, das die Dschihadisten hinterlassen haben – auch für deren Frauen und Kinder sieht die Zukunft düster aus.
Ihren moralischen Kompass verloren haben die Angeklagten durch die Ermittlungen nicht. Im Gegenteil: Ihr Ziel, so rasch wie möglich auf See zurückzukehren, zeigt, dass nicht Gesetze oberste Leitlinie politischen Handelns sein dürfen, sondern Menschlichkeit und Solidarität. Insofern stellt die Ehrung der »Iuventa10« auch eine Antwort auf den Friedensnobelpreis dar, den 2012 ausgerechnet die Europäische Union erhielt. Denn anders als für die EU gilt für Amnesty International: Humanismus ist nicht verhandelbar. Markus Bickel verabschiedet sich mit dieser Ausgabe als Verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals. Tausend Dank fürs Lesen, es war mir ein Vergnügen!
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PANORAMA
Foto: AP / pa
SUDAN: REGIERUNG WILL BASCHIR NACH DEN HAAG AUSLIEFERN Die Übergangsregierung im Sudan will den früheren Präsidenten Omar al-Baschir an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag ausliefern. Baschir war im April 2019 gestürzt worden. Der IStGH hatte 2009 einen Haftbefehl gegen ihn erlassen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Provinz Darfur. Im Jahr 2010 folgte ein zusätzlicher Haftbefehl des IStGH wegen Völkermordes in der sudanesischen Krisenregion, wo nach UN-Angaben durch das Vorgehen der Armee und verbündeter Milizen seit 2003 mehr als 300.000 Menschen getötet und mehr als zwei Millionen Menschen vertrieben wurden. Amnesty International hat seit Jahren die Überstellung Baschirs nach Den Haag gefordert. Ein Gericht in Khartoum hatte ihn im Dezember wegen Korruption und Geldwäsche zu zwei Jahren Haft verurteilt.
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AMNESTY JOURNAL | 02/2020
CHILE: AUFSTAND GEGEN REGIERUNG GEHT WEITER Der Tod eines Fußballfans hat in Chile die landesweiten Proteste neu aufflammen lassen: Bei Auseinandersetzungen zwischen Fans und Sicherheitskräften Ende Januar überfuhr ein Pferdetransporter der Polizei einen 37-jährigen Mann. Damit sind seit Beginn des Aufstandes gegen die Regierung von Präsident Sebastian Piñera im Oktober vergangenen Jahres 30 Menschen getötet worden, mehr als 400 Menschen haben teils schwere Verletzungen an den Augen durch Gummigeschosse der Polizei erlitten. Die Proteste hatten sich an einer Erhöhung der Fahrpreise für den öffentlichen Nahverkehr entzündet. Schnell kamen grundsätzlichere Forderungen hinzu, wie eine Reform des Rentensystems und eine neue Verfassung. Foto: Edgard Garrido / Reuters
PANORAMA
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SPOTLIGHT
Foto: Paul Langrock / laif
KOLONIALE RAUBKUNST: DIE MUSEUMSINVENTARE ÖFFNEN Koloniale Kontinuitäten. Neubau des Berliner Stadtschlosses.
Die Eröffnung wurde immer wieder verschoben, doch im September soll es endlich soweit sein: Im Humboldtforum des wiederaufgebauten Berliner Stadtschlosses werden dann die Sammlungen des Ethnologischen Museums zu den Kulturen Ozeaniens, Asiens, Amerikas und Afrikas gezeigt. Bis heute ist ungeklärt, wie viele der gut 20.000 Objekte unrechtmäßig in deutschen Besitz kamen. Um einer Aufarbeitung der Kolonialverbrechen aus dem Weg zu gehen, haben Museen und Politik jahrzehntelang Transparenz über deren Herkunft verweigert. In Frankreich, den Niederlanden und in skandinavischen Ländern sind viele Inventare hingegen längst online zugänglich. Eine Gruppe prominenter Ethnologen, Historiker und Künstler aus Afrika und
»Kultur ist nicht Besitz von Preußen.« BÉNÉDICTE SAVOY, PROFESSORIN FÜR KUNSTGESCHICHTE DER MODERNE, TU BERLIN
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Europa forderte deshalb bereits 2019 in einem offenen Brief »unbeschränkten und unkontrollierten Zugang« zu den Inventaren der öffentlichen Museen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus könne nur stattfinden, wenn klar sei, »welche Objekte und welche Informationen es zu diesen in den Museen gibt.« Ziel der Provenienzforschung ist es, die Herkunft von Ausstellungsstücken und Archivbeständen zu klären – und Kulturgüter, die zu Unrecht erworben wurden, entweder zurückzugeben, aufzukaufen oder gemeinsame Kooperationen zu schließen. Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat zugesagt, 2020 eine Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten zu schaffen.
Zu den Unterzeichnerinnen des offenen Briefes zählt auch die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, die die Debatte um die Rückgabe kolonialer Raubkunst durch ihren gemeinsam mit dem senegalesischen Ökonomen Felwine Sarr verfassten »Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain« an den französischen Präsidenten Emmanuel Macron 2018 entscheidend vorantrieb. Im Juli 2017 hatte sie den Expertenbeirat des Humboldtforums wegen mangelnder Transparenz verlassen. Vor der Eröffnung müsse die ungeklärte Herkunft der Objekte, die im früheren Schloss der Könige von Preußen und der deutschen Kaiser ausgestellt werden, geklärt werden, sagte sie damals zur Begründung.
MEHR ALS
20.000 EXPONATE WERDEN IM HUMBOLDTFORUM AUSGESTELLT.
Quelle: Humboldforum
AMNESTY JOURNAL | 02/2020
INTERVIEW
FELWINE SARR
»ES GEHT NICHT UM RACHE« Foto: Sarah Eick
Felwine Sarr ist Ökonom und Schriftsteller. Der senegalesische Intellektuelle verfasste 2018 gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy einen Bericht für den französischen Präsidenten Emmanuel Macron zur Rückgabe afrikanischer Kulturgüter. Er trieb damit auch die Debatte über die Rückgabe kolonialer Raubkunst aus deutschen Museen entscheidend voran. Interview: Markus Bickel
Der Leiter des Museums der Kulturen der Welt in Amsterdam, Wayne Modest, hat ihren Bericht als Handlungsaufforderung für ganz Europa bezeichnet. Damit hat er recht, weil in vielen europäischen Museen Objekte ausgestellt sind, die in der Kolonialzeit geraubt wurden. Die Menschen in Afrika haben ein Anrecht, über dieses Erbe selbst zu verfügen – aus historischen Gründen, aber auch aus kulturellen, spirituellen und künstlerischen. Das ist unerlässlich für den Aufbau einer neuen, nicht auf Gewalt und Ausbeutung basierenden Beziehung zu Europa.
de Geschichte in der Gegenwart schreiben – und uns so in die Lage versetzen, die Zukunft zu gestalten. In Berlin wird dieses Jahr das Humboldtforum eröffnet, und zwar ausgerechnet im wiederaufgebauten Schloss des deutschen Kaisers, dem obersten Kolonialherren. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass Berliner Initiativen fordern, zu klären, was genau ausgestellt wird. Denn wenn man den Inhalt der Sammlung nicht infrage stellt, wird der Kolonialismus zumindest symbolisch fortgeführt. Notwendig ist aber eine kritische Auseinandersetzung.
Es geht also um mehr als die Rückgabe gestohlener Kunstgegenstände? Ja. Die Rückgabe kann nur ein Anfang sein, schließlich bedeutet Restitution, dass jemand einem anderen etwas zu unrecht weggenommen hat, das jetzt zurückgegeben werden muss. Es geht dabei nicht allein um die Objekte, sondern um eine neue Ethik, die auf Partnerschaft und Gleichberechtigung basiert. Dabei ist das symbolische Kapital dieser Kunstgegenstände entscheidend.
Gibt es einen Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland? In Deutschland gibt es eine breite Debatte, das zeigen die Beispiele des Kölner Rautenstrauch-Joest-Museums oder des Lindenmuseums in Stuttgart, die sich zur Restitution entschlossen haben. Auch Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat sich entschieden dafür ausgesprochen. Deutschland hat sich bewegt. In Frankreich hingegen ist abgesehen von der Rückgabe von 26 Objekten nach Benin 2018 nichts passiert.
Warum? Wenn man im Bereich des Symbolischen Änderungen schafft, ist das auch in anderen Sphären möglich – sei es in der politischen, sei es in der ökonomischen. So stehen etwa bei der Ausbeutung von Ressourcen wirtschaftliche Aspekte im Vordergrund, aus meiner Sicht ist aber der zentrale Punkt die Ökonomie der Beziehungen zwischen Europa und Afrika, die sich dahinter verbirgt: Es geht nicht um Rache, sondern darum, dass der Großteil der geraubten Objekte auf unethische Art und Weise in europäische Hände gelangt ist – ohne vorherige Beratungen. Wir wollen eine neue, auf Gleichberechtigung beruhen-
Grütters spricht von einem »Raub der Identität«. Das ist ein wichtiger Aspekt: Dadurch, dass diese Objekte den afrikanischen Gesellschaften genommen wurden, sind sie Teil der europäischen Geschichte geworden. Das wiederum heißt, dass sie zu Mediatoren einer neuen Beziehung werden können zwischen Europa und Afrika. Ihre metamorphotische Identität hat sie zu Hybriden gemacht, die eine Verbindung zwischen beiden Welten herstellen können. Für die Herausbildung einer neuen afrikanischen Identität birgt das eine große Chance, weil diese Perspektive den Blick in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit richtet – entlang der Frage: Wer wollen wir werden?
SPOTLIGHT
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INTERVIEW
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EINSATZ MIT ERFOLG
SLOWAKEI Das Parlament in Bratislava hat im Dezember 2019 eine geplante Verschärfung des Gesetzes zu SchwangerschaftsabbrĂźchen abgelehnt. Die Gesetzesvorlage hätte die Privatsphäre und Selbstbestimmung der Betroffenen untergraben und wäre stigmatisierender, demĂźtigender und erniedrigender Behandlung gleichgekommen. Von den 150 Parlamentsabgeordneten stimmten nur 59 dafĂźr, viele enthielten sich oder blieben der Abstimmung fern. Zuvor hatten 30 Organisationen, darunter Amnesty, die Abgeordneten aufgefordert, die Gesetzesvorlage abzulehnen. í˘ą
Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den ÂťUrgent ActionsÂŤ, den ÂťBriefen gegen das VergessenÂŤ und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schĂźtzt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge
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HONDURAS Mitglieder der Indigenenorganisation Consejo CĂvico de Organizaciones Populares e IndĂgenas de Honduras (COPINH) haben sich im Januar mit der Regierung auf neue SchutzmaĂ&#x;nahmen geeinigt, die unter anderem den Schutz von Rosalina DomĂnguez betreffen. Ihre Familie war 2019 von einer Gruppe bewaffneter Männer bedroht worden. AuĂ&#x;erdem war die Ernte vieler AngehĂśriger der indigenen Gemeinschaft der Lenca in RĂo Blanco im Westen von Honduras zerstĂśrt worden. Sie hatten gegen den Bau des AguaZarca-Damms protestiert. Amnesty setzt sich seit Jahren fĂźr die Landverteidigerinnen von COPINH ein.
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GUINEA Im Dezember 2019 wurden in Kindia im Westen des westafrikanischen Staats die fßnf Aktivisten Alseny Farinta Camara, Moussa Sanoh, Boubacar Diallo, Thierno Seydi Ly und Thierno Oumar Barry freigelassen. Die Mitglieder des prodemokratischen Bßndnisses FNDC (Front National pour la DÊfense de la Constitution) waren wegen der Teilnahme an einer nicht genehmigten Versammlung angeklagt worden. Drei der fßnf Aktivisten wurden zu vier Monaten Gefängnis verurteilt, wobei drei der vier Monate zur Bewährung ausgesetzt wurden. Die beiden anderen Aktivisten wurden freigesprochen und freigelassen.
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PAKISTAN Pakistans Ministerpräsident Imran Khan hat im November 2019 einen Plan vorgestellt, um die verheerende Luftverschmutzung in seinem Land zu bekämpfen. Er bezeichnete Smog als Âťlautlosen KillerÂŤ. Amnesty hatte kurz zuvor auf Versäumnisse der Regierung in der Umweltpolitik hingewiesen, die die Menschenrechte auf Leben und Gesundheit bedrohen. Die Organisation begrĂźĂ&#x;te die AnkĂźndigung, MaĂ&#x;nahmen zu ergeifen. Auf einer Liste von Unicef liegt Pakistan an erster Stelle, was hohe Kindersterblichkeit betrifft. Luftverschmutzung trägt maĂ&#x;geblich dazu bei.
AMNESTY JOURNAL | 02/2020
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VIETNAM Die Menschenrechtsverteidigerin Trà n Thi Nga ist im Januar nach drei Jahren Haft freigelassen worden. Sie war 2017 wegen Propaganda gegen den Staat zu neun Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil sie sich nach einer vom Chemieunternehmen Formosa Plastics 2016 verursachten Umweltkatastrophe an friedlichen Protesten beteiligt hatte, die Kritik an der Reaktion der Regierung ßbten. Bedingung fßr ihre Freilassung war, dass sie ins Exil geht. Trà n Thi Nga zog daher nach der Haftentlassung mit ihrer Familie in die USA.
EINSATZ MIT ERFOLG
MARKUS N. BEEKO ĂœBER
Foto: Bernd Hartung / Amnesty
USBEKISTAN Die Bloggerin Nafosat Olloshkurova konnte Ende Dezember 2019 zu ihrer Familie nach Taschkent zurĂźckkehren. Sie war am 23. September in Verwaltungshaft genommen worden, als die Polizei einen friedlichen Protestmarsch in der Hauptstadt auflĂśste. Die Bloggerin hatte den Protestmarsch begleitet und auf Facebook Ăźber aktuelle Entwicklungen berichtet. Als sie filmte, wie die Polizei gegen die Protestierenden vorging, wurde sie selbst geschlagen und festgenommen. Später war sie zwangsweise in ein psychiatrisches Krankenhaus in Urganch verlegt worden. í˘˛
RETTUNGSKRĂ„FTE AM PRANGER Zwei Dinge bringen einen derzeit an vielen Orten der Welt in echte Schwierigkeiten. Das erste ist, die Umwelt und Natur zu retten, indem man sich denen entgegenstellt, die diese unbefugt und widerrechtlich zerstĂśren wollen. Denn während Millionen Menschen weltweit fĂźr Umwelt- und Klimaschutz auf die StraĂ&#x;e gehen und Regierungen den Erhalt unserer Lebensgrundlagen beschwĂśren, sind Umwelt- und Landrechtsaktivist_innen selbst bedroht: Von mehr als 300 Menschenrechtsverteidiger_innen, die 2019 getĂśtet wurden, engagierten sich mehr als 40 Prozent fĂźr die Rettung der Umwelt, Landrechte oder die Bewahrung menschlicher Lebensgrundlagen. Aktivist_innen, die sich den wirtschaftlichen Interessen von Regierungen und Konzernen entgegenstellen, werden Opfer von Verleumdung, Angriffen und TĂśtungen – Ăźberall dort, wo staatlicher Schutz fehlt und Macht missbraucht wird. Ein zweiter Weg, zur Zielscheibe zu werden, ist, sich fĂźr das Ăœberleben von FlĂźchtlingen und Migrant_innen einzusetzen. Wir erleben nicht nur den systematischen Versuch, sie auszugrenzen und ihnen sichere und legale Wege, Asyl zu suchen, zu verweigern. Ihnen wird oft auch eine menschenwĂźrdige Behandlung und die Versorgung mit dem Notwendigsten vorenthalten. Ihre Menschenrechte, ihr Menschsein soll ihnen versagt werden. Und dabei stĂśren diejenigen, die diesen Menschen in Not und Bedrängnis beistehen. Die nicht akzeptieren, dass Menschen ihr Menschsein abgesprochen werden soll. Weswegen wiederum diese Verteidiger_innen der Menschenrechte zunehmend an den Pranger gestellt werden: Wie meine ungarischen Kolleg_innen, die schikaniert und bedroht werden. Amnesty wird in Ungarn verleumdet, ÂťBeihilfe zu illegaler MigrationÂŤ zu leisten und mit ÂťTerroraktenÂŤ in Verbindung gebracht. Mit dem LexNGO2018-Gesetz soll die Arbeit aller, die sich fĂźr die Rechte von Migrant_innen und GeflĂźchteten einsetzen, kriminalisiert werden. Hilfsorganisationen sollen eingeschĂźchtert, von Rechtsberatung oder der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen an der Grenze abgehalten werden. Ebenso ergeht es BĂźrger_innen, die Menschen an der US-mexikanischen Grenze beistehen oder Helfenden in Frankreich, die unzureichend versorgte GeflĂźchtete mit dem Notwendigsten versorgen und deshalb von BehĂśrden schikaniert und bedroht werden. Aber einige lassen sich nicht einschĂźchtern, sondern retten Kinder, Frauen und Männer aus Seenot. Und sie nehmen in Kauf, deshalb diffamiert, unschuldig angeklagt, kriminalisiert und inhaftiert zu werden. So wie die zehn europäischen Lebensretter des von den italienischen BehĂśrden beschlagnahmten Rettungsschiffes Iuventa – gegen sie, die sogenannten ÂťIuventa10ÂŤ, ermittelt die italienische Justiz seit mehreren Jahren, obwohl die Anschuldigungen offensichtlich politisch motiviert sind. ÂťLeben retten. FĂźr mich der beste Job der WeltÂŤ, zitiert eine Kampagne der Bundesregierung eine Feuerwehrfrau und ruft uns zu Recht auf, den wichtigen, selbstlosen Einsatz von Rettungskräften zu wĂźrdigen. Wer Menschen rettet und in Bedrängnis hilft, verdient Respekt, Dank und Anerkennung. Bei uns. Im Mittelmeer. Wo auch immer. Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.
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TITEL
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Kriminalisierte Fluchthelfer
Zweieinhalb Jahre nach der Beschlagnahmung des Rettungsschiffs Iuventa ziehen Menschenrechtler, Kirchen und linke Aktivisten an einem Strang gegen die EU-Abschottungspolitik auf dem Mittelmeer. Amnesty Deutschland verleiht den »Iuventa10« stellvertretend für alle zivilen Seenotretter den Menschenrechtspreis.
Für Notfälle gewappnet. Auf der Alan Kurdi, im Hafen von Palermo. Foto: Sarah Eick
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Zum Warten verurteilt. Hendrik Simon vor der beschlagnahmten Iuventa im Hafen von Trapani, Sizilien.
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Schwere Fahrt fĂźr Lebensretter Wegen angeblicher Beihilfe zu illegaler Einwanderung ermittelt die italienische Justiz gegen zehn Seenothelfer des Rettungsschiffs Iuventa. Bei dem Prozess auf Sizilien drohen ihnen bis zu zwanzig Jahre Haft. Aus Palermo und Trapani berichten Markus Bickel (Text) und Sarah Eick (Fotos)
KRIMINALISIERTE FLUCHTHELFER
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ell und klar steht der fast runde Vollmond über dem Hafen von Palermo. Feierabend für viele Arbeiter, Schichtende. In ihren Blaumännern stoßen sie das Drehkreuz in der Sicherheitsschleuse am Ausgang des weitläufigen Geländes auf, endlich heim zu den Familien. Eine halbe Stunde Fußweg ist es in die andere Richtung, bis zum Hafenende. In der Ferne ein quietschender Kran, Container, hohe Hallen, tief am Himmel verglüht eine Sternschnuppe. Von Schlaglöchern übersät ist die letzte Mole gegenüber der Altstadt, eine heftige Welle hat hier vor ein paar Tagen ihre Spuren hinterlassen. Wie ein Hochhaus ragt rechts die Eurocargo Palermo aus dem Wasser, ein riesiges Frachtschiff. Dahinter, geduckt, die Alan Kurdi, das Schiff der deutschen Seenotrettungsorganisation Sea-Eye. Seit Tagen schon sei die Besatzung am Schweißen, um Schäden am Schiff zu beheben, erzählt Johanna Pohl, zuständig für die Koordination der Crew. Außerdem trainiere sie für den nächsten Einsatz: Mann-über-Bord-Manöver, lebenserhaltende Maßnahmen. Sanft wiegt sich die 35 Meter lange Alan Kurdi im Wasser, im Bauch des Schiffes sammeln sich die Besatzungsmitglieder zum Abendessen, drei Frauen und 15 Männer aus
das Schiff auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 für 150.000 Euro gekauft. Mehr als 200 Freiwilligen gelang es danach, bei 16 Einsätzen rund 14.000 Menschen aus dem Meer zu retten. Doch weil die italienischen Behörden das Boot im August 2017 beschlagnahmten, kann Simon den Geflüchteten nun nicht mehr auf den Beibooten, die man RIBs (Rigid Inflatable Boats) nennt, direkt zu Hilfe eilen. Im Gegenteil. Der 44-jährige Informatiker braucht jetzt selbst juristische Unterstützung, weil er zum Ziel strafrechtlicher Ermittlungen geworden ist: Beihilfe zur illegalen Einwanderung lautet der Vorwurf gegen ihn und neun weitere Mitglieder der Iuventa-Crew (Siehe Graphic Report Seite 18). Angeblich sollen sie 2016 und 2017 in mindestens drei Fällen mit Schleppern auf Schlauchbooten kooperiert haben. Um das zu beweisen, verwanzte der italienische Geheimdienst sogar die Brücke der Iuventa. Handys und Laptops von Crewmitgliedern wurden beschlagnahmt. Dabei hatten Simon und die anderen verfolgten IuventaAktivisten, die sich als »Iuventa10« zusammengeschlossen haben, nur getan, was menschlicher nicht sein könnte: Menschen vor dem Ertrinken retten. Doch genau dafür drohen ihnen jetzt bis zu zwanzig Jahre Haft. Die Kosten für die Verteidigung im westsizilianischen Trapani gehen in die Hunderttausende. Am Nachmittag vor dem Besuch auf der Alan Kurdi im Hafen von Palermo hat Simon dort seine Anwältin Francesca Cancellaro und ihren Kollegen Nicola Canestini getroffen. Doch wann der Prozess beginnt, ist noch immer unklar – möglicherweise erst Ende 2020. Dass zweieinhalb Jahre nach der Beschlagnahmung der Iuventa noch nicht einmal die Anklageschrift vorliegt, erleichtert die Sache für Simon und die anderen Beschuldigten nicht. Schließlich ist der Fall seit der Hetzkampagne italienischer Rechtspopulisten gegen die zivile Seenotrettung derart politisiert, dass Richter und Staatsanwälte unter enormem öffentlichen Druck stehen, den Prozess mit einem Schuldspruch zu beenden. »Nicht die Besatzung der Iuventa sollte vor Gericht stehen, sondern ein System, das Anwaltlicher Beistand. Nicola Canestini, Francesca Cancellaro und Hendrik Simon. die Rettung von Menschenleben zur Straftat erklärt – und jene straffrei lässt, die für den Tod Tausender Menschen Deutschland, Norwegen, Spanien und Ghana. Kartoffelgratin auf dem Mittelmeer verantwortlich sind«, sagt Simon. mit Tomatensoße und Salat gibt es, ein leckerer Duft zieht aus Johanna Pohl von der Alan Kurdi kann ein Lied davon singen, der Küche hinüber in den engen Raum mit niedriger Decke. was mit jungen engagierten Menschen geschieht, die für die geHendrik Simon hat keinen Appetit, doch umso hungriger ist scheiterte Flüchtlingspolitik der EU in Haftung genommen werer auf Neuigkeiten. Eigentlich ist er auf Sizilien, um einer Anhöden. Die 37-Jährige hat ihre Masterarbeit im Studiengang Global rung vor dem Gericht in Trapani beizuwohnen, wo gegen ihn Health am Karolinska Institutet in Stockholm über »Kriminaliund neun andere frühere Besatzungsmitglieder des Rettungssierung der Seenotrettung zwischen 2016 und 2018« geschrieschiffs Iuventa ermittelt wird. Doch als er hörte, dass die Alan ben. Dabei hat sie erfahren, welche Ängste ein drohender jahreKurdi im Hafen von Palermo vor Anker liegt, machte er sich kurlanger Gefängnisaufenthalt bei Aktivisten auslösen kann, die zerhand auf in die gut eine Autostunde von Trapani entfernte Mittelmeermetropole. Die Stadt ist zum Zentrum für die umtriebige europäische Seenotretterszene geworden – wohl nicht zuletzt, weil Bürgermeister Leoluca Orlando mit seinem Appell, die Kriminalisierung ziviler Helfer zu beenden und eine starke europäische Seenotrettung zu schaffen, einen klaren Gegenkurs zur tödlichen Politik der EU auf dem Mittelmeer eingeschlagen hat.
14.000 Menschen gerettet Sechsmal war Hendrik Simon in den vergangenen Jahren auf Rettungsmissionen im Mittelmeer unterwegs, zweimal davon auf der Iuventa. Die Berliner Organisation Jugend Rettet hatte
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Die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung schweißt die Seenotretterszene zusammen.
AMNESTY JOURNAL | 02/2020
eigentlich nur ihren Teil zur Verbesserung der Welt beitragen wollten.
Politisierung durch Kriminalisierung Die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung schweißt die Seenotretterszene zusammen. Zwar unterhalten sich Simon und Pohl an diesem Abend zum ersten Mal, doch sehen sie aus wie alte Bekannte, als sie in der Messe der Alan Kurdi die Köpfe zusammenstecken. »Natürlich hat die Beschlagnahmung der Iuventa Auswirkungen auf uns alle«, sagt die gebürtige Berlinerin. »Unser humanitärer Grundsatz, dass man dem Sterben im Mittelmeer nicht einfach nur zusehen darf, wurde dadurch stärker politisiert. Wir müssen uns eindeutiger positionieren.« Das ist nicht zuletzt eine Folge des harten Kurses der im September 2019 abgelösten rechten Regierung in Rom. Der damalige Innenminister Matteo Salvini von der Lega Nord hatte im Jahr zuvor durchgesetzt, dass Italien keine auf See geretteten Migranten mehr an Land lässt. Tagelang irrten Rettungsschiffe wie Lifeline und Aquarius deshalb im Sommer 2018 mit Hunderten Menschen an Bord über das Mittelmeer, ehe sie endlich in Malta anlegen durften. Rom gelang es so letztlich auch, die Einstellung der EU-Marinemission »Sophia« zu erzwingen, die seit 2015 mehr als 50.000 Menschen auf der Flucht aus Libyen, Tunesien und der Türkei gerettet hatte. Auch Schiffe der Bundeswehr patrouillierten bis März 2019 vor der libyschen Küste. Neben dem eigentlichen Ziel der Mission, Schleuser zu bekämpfen, hielten die Soldaten ein Mindestmaß an staatlicher Seenotrettung aufrecht – 22.500 Menschen konnte die deutsche Marine bis zum Ende des Einsatzes retten. In das Vakuum, das sie hinterließen, stießen die privaten Lebensretter. Anders jedoch als erfahrene Hilfsorganisationen wie Save the Children und Ärzte ohne Grenzen, die die Geretteten auf großen Schiffen medizinisch versorgen und nach Italien bringen können, haben die Boote kleiner Initiativen meist nur wenig Platz an Deck. Sie reichen bei Weitem nicht an die Aufnahmekapazitäten heran, die die Schiffe der Operation »Sophia«, der europäischen Grenzschutzagentur Frontex oder der italienischen Küstenwache bis zu ihrem weitgehenden Rückzug aus der Seenotrettung boten. Die Beschlagnahmung der Iuventa, die seit August 2017 im Hafen von Trapani festsitzt, hatte jedoch noch andere Konsequenzen: Hunderte Freiwillige, die sich angesichts des Sterbens auf dem Mittelmeer 2016 und 2017 bei Seenotrettungsorganisationen wie Mission Lifeline, Cadus, Sea-Watch oder Jugend Rettet meldeten, wissen nun, dass ihnen strafrechtliche Verfolgung drohen könnte. Sie würden sich gut überlegen, ob sie wirklich ihre Freiheit riskieren wollten – für ein paar Wochen guten Gewissens auf hoher See, sagt Johanna Pohl. Außerdem bedeute das Damoklesschwert einer möglicherweise zwanzigjährigen Haftstrafe für eine Zwanzigjährige etwas anderes als für einen Mittvierziger, fügt Hendrik Simon hinzu.
Dem Meer verbunden. Hendrik Simon.
Zuhause im Hamburger Hafen Dariush Beigui sieht das nicht anders – und dennoch würde er am liebsten so schnell wie möglich zurück aufs Mittelmeer. Trotz der Strafe, die ihm wie Simon wegen seiner Tätigkeit auf der Iuventa droht. Routiniert manövriert der Kapitän das Tankschiff Bunker Service 12 in ein abgelegenes Becken am Rande des Hamburger Hafens. 10.000 Liter Diesel hat ein Kunde hier bestellt, nach einer Viertelstunde ist der Treibstoff aus seinem 55
KRIMINALISIERTE FLUCHTHELFER
Zum Retten bereit. Auf der Alan Kurdi im Hafen von Palermo.
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Hoffnung 2020
tung libyscher Hoheitsgewässer aufzubrechen. Auch die Sea-Watch 3 der gleichnamigen Hilfsorganisation verließ im Januar den italienischen Hafen Tarent für neue Rettungseinsätze. Für Aufsehen hatte im vergangenen Sommer der Fall der Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete gesorgt, die festgenommen worden war, weil sie trotz eines Verbots in den Hafen von Lampedusa eingelaufen war, um 53 Migranten an Land zu bringen. Im Januar wies Italiens oberstes Gericht den Einspruch der Staatsanwaltschaft gegen ihre Freilassung ab – Rackete sprach von einem »wichtigen Urteil für alle Seenotretter«. Auch Claus Peter Reisch, der frühere Kapitän der Lifeline, erzielte im Januar auf Malta einen juristischen Erfolg. Ihm war vorgeworfen worden, das unter niederländischer Flagge fahrende Schiff der Nichtregierungsorganisation Mission Lifeline nicht richtig registriert zu haben, als es mit mehr als 200 Migranten an Bord im Juni 2018 in maltesische Gewässer einfuhr. Weil er ein Jahr später mit dem zweiten Schiff der NGO, der Eleonore, Sizilien angesteuert hatte, ermittelt seitdem die italienische Justiz gegen ihn – wie im Falle der »Iuventa10« lautet der Vorwurf auf Beihilfe zur illegalen Einwanderung. Kurz nach dem Freispruch auf Malta kündigte Reisch seine Zusammenarbeit mit der Mission Lifeline auf. Er müsse sich zunächst darum kümmern, Geld für Anwalts- und Reisekosten in Höhe von 300.000 zusammenzubekommen, die ihm die Ermittlungen in Italien beschert haben, sagt der konservative Bayer, fügt aber hinzu: »Wenn ich allerdings akut einen Schlüssel für ein Schiff in die Hand bekäme, würde ich vermutlich doch schwach werden und fahren.« Was Beigui, Pohl, Reisch, Simon und viele andere Seenotretter über alle politischen Differenzen hinweg eint, ist etwas zutiefst Humanes – der unbedingte Wunsch, Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren, allen juristischen und politischen Schikanen zum Trotz. Dafür engagiert sich jetzt auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), die gemeinsam mit einem breiten Bündnis, dem unter anderem Ärzte ohne Grenzen und Sea-Watch angehören, die Anschaffung des Schiffes Poseidon finanziert. Und Amnesty Deutschland zeichnet die »Iuventa10« im April mit dem Menschenrechtspreis aus, nicht zuletzt deshalb, weil sie zahlreichen Flüchtenden das Leben gerettet und damit grundlegende Menschenrechte verteidigt haben.
Außerdem gibt es seit Jahresbeginn ermutigende Signale aus den Mittelmeeranrainerstaaten. Nicht nur der Alan Kurdi erlaubten die italienischen Behörden, nach langer Auszeit wieder Rich-
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Einander zugewandt. Johanna Pohl in der Messe der Alan Kurdi.
Meter langen Schiff abgezapft. Dann steuert Beigui es die Elbe aufwärts zur Landestelle der Bunker Service. Ruhige Gewässer sind das hier in Hafen-City, vorbei an Elbphilharmonie und schmucken Klinkerbauten. Als Kapitän der Iuventa war Beigui noch 2017 gemeinsam mit Hendrik Simon auf dem Mittelmeer unterwegs. Wenige Wochen vor der Beschlagnahmung des Schiffes war das, die Kampagne der rechten Regierung in Rom gegen zivile Seenotretter lief da bereits auf Hochtouren. Nun sind die beiden linken Aktivisten vor allem auf Land aktiv: Im Herbst und Winter 2019 begleiteten sie die Band Feine Sahne Fischfilet auf ihrer Tour durch Deutschland. Das Ziel: Bei Veranstaltungen am Rande der Konzerte das Publikum über Seenotrettung aufzuklären und Spenden zu sammeln für den teuren Prozess in Trapani. Wie Simon würde der 41-jährige Hamburger am liebsten schon morgen wieder auf einem der Seenotrettungsschiffe anheuern, die seit Jahresbeginn verstärkt zwischen Libyen, Malta und Italien unterwegs sind. Zwar sieht Beigui es kritisch, dass Aktivistinnen und Menschenrechtler auf dem Mittelmeer die Lücken füllen müssen, für die die EU-Staaten mit ihrer mörderischen Abschottungspolitik sorgten. Doch das sei immer noch besser als nichts zu tun.
ZOE HEISST LEBEN »Ich riskierte 20 Jahre Haft, weil ich Hunderte von Menschen aus Seenot rettete«, heißt es im Untertitel des Buchs von Zoe Katharina. »Und ich würde es wieder tun«. Während ihrer Ausbildung zur Bootsbauerin schloss sich die damals 20-jährige Zoe Katharina 2017 für ein paar Wochen der Iuventa-Crew an – eine Entscheidung, die ihr Leben für immer verändert hat: Konfrontiert mit Krankheit, Panik und Tod von Geflüchteten kämpfte sie an Bord auch mit ihrer eigenen Wut und Hilflosigkeit. Und sieht sich nun einem langen Verfahren ausgesetzt. Zoe Katharina: Zoe heißt Leben. Patmos Verlag, 220 Seiten, 20 Euro.
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LASS UNS MIT DEN TOTEN TANZEN Eine Kapitänin sticht mit einer Crew aus Weltverbesserern in See, da Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken, die Zuflucht in Europa suchen. Die Besatzung kann nicht akzeptieren, dass die EU-Staaten die Seenotrettung eingestellt haben. Pia Klemp, Kapitänin der Iuventa im Jahr ihrer Beschlagnahmung, hat ihre Erfahrungen in Romanform gepackt – eine authentische Schilderung des Lebens an Bord, die zeigt, wie die europäische Politik ihre selbst propagierten Werte verrät. Pia Klemp: Lass uns mit den Toten tanzen. Maro Verlag, 220 Seiten, 20 Euro.
AMNESTY JOURNAL | 02/2020
Zu Wasser, zu Lande und in der Luft Vier Beispiele für kriminalisierte Solidarität mit Geflüchteten in Europa
Der Bauer aus den Alpen
Draußen auf Kaution
Cédric Herrou (Frankreich)
Sarah Mardini und Seán Binder (Griechenland)
Der Olivenbauer Cédric Herrou ist in Frankreich für viele Menschen ein Symbol für den Widerstand gegen ein ungerechtes System. Er selbst sagt, er tue nur, was der Staat versäume: Alle Menschen gleich zu behandeln. Im Herbst 2015 begann die französische Polizei, die Grenze zu Italien wieder zu kontrollieren. Menschen ohne gültige Papiere wurden ohne Verfahren zurückgeschickt. Deshalb wagten immer mehr geflüchtete Menschen den Weg über die französischen Alpen. Dort trafen sie auf Herrou, der im Roya-Tal einen kleinen Bauernhof mit Olivenbäumen und Hühnern betreibt. Mehr als 3.000 Menschen half er nach eigenen Angaben in den vergangenen vier Jahren bei ihrem Weg durch die Berge. Er nahm sie in seinem Auto mit, bot ihnen Verpflegung und Unterkunft. Elf Mal wurde er deshalb bereits von der Polizei festgenommen. Im August 2017 verurteilte ihn ein Berufungsgericht zu einer Geldstrafe von 3.000 Euro wegen Menschenschmuggel. Ein Jahr später kippte das Verfassungsgericht das Urteil jedoch mit der Begründung, Brüderlichkeit sei keine Straftat. Wer Menschen helfe, handle im Sinne der französischen Verfassung.
Wenn es schlecht läuft für Sarah Mardini und Seán Binder, dann werden sie die nächsten 25 Jahre in Haft verbringen. Allein deshalb, weil sie Menschen vor dem Ertrinken retten wollten. Die 24-jährige Mardini und der 25-jährige Binder arbeiteten auf der griechischen Insel Lesbos als Freiwillige für die Organisation Emergency Response Center International (ERCI). Sie hielten nach Booten in Seenot Ausschau und kümmerten sich um Geflüchtete, die auf der Insel ankamen. Die aus Syrien stammende Sarah Mardini kennt die Situation der Flüchtlinge genau. Sie war 2015 ebenfalls mit einem Boot in Lesbos angekommen. Mit ihrer Arbeit als Freiwillige wollte sie etwas zurückgeben. Doch im August 2018 nahm die griechische Polizei die beiden Studenten fest und verhörte sie. Sie mussten mehr als 100 Tage lang in Untersuchungshaft verbringen, bevor sie gegen Kaution freigelassen wurden. Die Behörden werfen Mardini und Binder Spionage, Schlepperei und Mitgliedschaft in einem kriminellen Netzwerk vor. Seán Binder glaubt, es gehe darum, andere Retter einzuschüchtern. Mardini sagte in einem Interview mit Amnesty International: »Es fühlt sich an wie ein Schachspiel.« Die beiden warten noch immer auf ihr Gerichtsverfahren.
Die mutigen Fünfzehn Stansted 15 (Irland) Am 28. März 2018 ketteten sich neun Frauen und sechs Männer an eine Boeing 767 auf dem Stansted Airport in London, um den Start des Flugzeugs zu verhindern. Die meisten von ihnen waren keine dreißig Jahre alt. Mit der Aktion wollten sie 60 Menschen aus Nigeria, Ghana und Sierra Leone vor der Abschiebung bewahren. Mehr als eine Stunde lang blockierten sie die Startbahn, bevor die britische Polizei sie festnahm. Ein halbes Jahr später wurden sie zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Vorwurf: Terrorismus. Das Gesetz, auf das sich das Urteil berief, war zuletzt 1990 angewendet worden. Damals hatten Terroristen ein Flugzeug gesprengt und 270 Menschen getötet. Der Prozess gegen die »Stansted 15« war in Großbritannien stark umstritten. Im Sommer 2019 kippte ein zweites Gericht das Urteil: Drei der Aktivisten wurden auf Bewährung verurteilt, die übrigen zwölf müssen ein Jahr lang gemeinschaftliche Arbeit leisten, niemand von ihnen kommt ins Gefängnis. Von den sechzig Asylsuchenden, die damals abgeschoben werden sollten, leben elf noch immer in Großbritannien, drei von ihnen haben Bleiberecht erhalten.
KRIMINALISIERTE FLUCHTHELFER
Rentnerin auf Achse Anni Lanz (Schweiz) An einem Samstagmorgen im Februar 2018 fuhr die 72-jährige Anni Lanz mit ihrem Auto aus der Schweiz nach Italien, um ein Menschenleben zu retten. Ihr Ziel war es, einen psychisch kranken Mann aus Afghanistan in die Schweiz zurückzubringen. Wenige Tage zuvor war er nach Italien abgeschoben worden, seine Familie hatte Lanz um Hilfe gebeten. Nach einigen Stunden fand sie ihn im Bahnhof von Domodossola in einer Ecke sitzend, frierend und hilflos. Sie lud den Mann in ihr Auto und fuhr zurück. Als sie die Grenze überqueren wollte, wurde sie von der Polizei gestoppt. Ein halbes Jahr später verurteilte ein Gericht Lanz wegen Schlepperei zu einer Geldstrafe von 800 Schweizer Franken. Sie legte Berufung gegen das Urteil ein. Anders als in Frankreich oder Deutschland macht das Schweizer Recht keinen Unterschied zwischen Schleuserei und Hilfe aus humanitären Gründen. Wer einen Menschen ohne gültige Papiere über die Grenze bringt, macht sich strafbar. Die Rentnerin Anni Lanz engagiert sich seit Jahren in der Flüchtlingshilfe, sie kannte die Gesetze, doch sie sagt: Menschlichkeit zähle mehr.
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GRAPHIC REPORT
Justiz gegen Iuventa
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KRIMINALISIERTE FLUCHTHELFER
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Legal, illegal, nicht egal Wer in der EU Menschen auf der Flucht hilft, riskiert immer häuďŹ ger, bestraft zu werden. Ein Kommentar der Amnesty-Asyl-Expertin Franziska Vilmar
Fast allein auf hoher See. Rettungsoperation der Iuventa im Juni 2017 im Mittelmeer.
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Foto: Alessio Mamo / Redux / laif
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s gibt viele Gründe, weshalb Menschen weltweit ihre Heimat verlassen. Manche sind verzweifelt auf der Suche nach Arbeit, um sich und ihre Familie ernähren zu können. Andere müssen vor Bürgerkriegen fliehen oder weil sie politisch verfolgt werden. Einige von ihnen versuchen, Europa zu erreichen. Dabei setzen sie sich unzähligen Risiken aus, die oft Folge der europäischen Abschottungspolitik sind. Wo aber staatlicher Schutz und Fürsorge auf der Migrationsroute fehlen, sind Menschen auf der Flucht umso mehr auf die Hilfe privater Akteure angewiesen, von denen es zum Glück einige in Europa gibt – sowohl auf dem Land als auch auf dem Meer. Es sind Menschen, die sich ihres Privilegs bewusst sind, einen europäischen Pass zu besitzen, und die nicht länger dabei zuschauen wollen, wie die EU-Mitgliedstaaten durch ihr Tun oder ihr Unterlassen die Menschenrechte von geflüchteten Menschen verletzen. In den vergangenen Jahren sind genau diese Aktivistinnen und Aktivisten immer häufiger ins Visier von Polizei und Justiz geraten – allein deshalb, weil sie sich für die Rechte von Menschen auf der Flucht eingesetzt haben. Die Grundlage hierfür bietet das europäische Recht. Ganz alltägliche Handlungen können demnach bestraft werden, wenn sie als Beihilfe zur irregulären Einreise oder zum irregulären Aufenthalt gewertet werden. Zwar gäbe es die Möglichkeit, dieses Handeln straffrei zu stellen, wenn es aus humanitären Gründen geschieht. Aber diese Option haben nur die wenigsten Mitgliedstaaten in ihren nationalen Gesetzen vorgesehen. So sind in der jüngeren Vergangenheit schon dann strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet worden, wenn in einer Grenzregion warme Decken und Nahrung verteilt oder geflüchtete Menschen im Auto transportiert wurden. Auf den griechischen Inseln kamen im Jahr 2018 Sarah Mardini und Séan Binder für mehr als hundert Tage in Untersuchungshaft, weil sie aus der Türkei geflohenen Menschen erste Hilfe geleistet hatten. Das Ermittlungsverfahren gegen sie läuft bis heute. Die zugrundeliegende europäische Richtlinie von 2002 sollte ursprünglich der Bekämpfung von Schmugglern dienen. Das vordergründig gut gemeinte Ziel, gegen skrupellose Menschen vorzugehen, die an der Hilflosigkeit von Schutzsuchenden verdienen, verkennt aber, dass es für Flüchtlinge kaum legale Zugangswege nach Europa gibt und die meisten deshalb auf Schmuggler angewiesen sind. Von einer erfolgreichen Bekämpfung der organisierten Kriminalität im Bereich Menschenschmuggel durch die Anwendung der Richtlinie ist daher in der Tat auch wenig zu lesen. Erreicht wird in den meisten europäischen Ländern etwas völlig anderes, das aber durchaus gewollt ist: nämlich die Einschüchterung von Menschen, die sich aktiv für den Flüchtlingsschutz und die Rechte von Migranten einsetzen. Der weite Spielraum des Europarechts wird also ausgenutzt, um eine migrationsfeindliche Stimmung zu fördern, indem solidarisch handelnde Einzelpersonen oder Organisationen strafrechtlich verfolgt werden. Begleitet wird dies oft von Schmutzkampagnen und massiven Drohungen gegen die Engagierten und administrativen Hürden, die deren Einsätze erschweren.
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Das Seerecht verpflichtet dazu, Menschen aus Seenot zu retten und an einen sicheren Ort zu bringen. Die Folgen sind fatal: Die gesellschaftliche Akzeptanz für dieses Engagement lässt nach, denn, so der Glaube, an den Vorwürfen könnte ja etwas dran sein. Ehrenamtliche Einsätze benötigen zunehmend besonderen Mut. Und schließlich bleiben diejenigen, die am meisten Schutz brauchen, vollkommen hilflos zurück. Das bekannteste und zugleich schlimmste Beispiel dafür, dass nicht skrupellose Schmuggler, sondern Helfende verfolgt werden, stellt Italien dar. So untersagte der frühere Innenminister Matteo Salvini unter hohen Geld- und Freiheitsstrafen die Einfahrt von Booten in italienische Häfen, die aus Seenot gerettete Menschen an Bord hatten, die es geschafft hatten, aus Libyen zu fliehen. Dabei ist für Migranten und Flüchtlinge, die im Norden Libyens gestrandet sind, der Weg über das Meer in seeuntüchtigen Booten die einzige Möglichkeit, aus dem Bürgerkriegsland herauszukommen. Er ist für geflüchtete Menschen auch die einzige Möglichkeit, der seit Jahren üblichen Inhaftierung in Lagern der libyschen Regierung und diverser Milizen zu entkommen und nicht länger zur Erpressung von Lösegeld gefoltert oder vergewaltigt zu werden. Das internationale Seerecht verpflichtet dazu, Menschen aus Seenot zu retten und an einen sicheren Ort zu bringen. Eine europäisch organisierte Seenotrettung ist aber politisch nicht gewollt. Bereits 2015 beschlossen daher zahlreiche Aktivisten, diese Lücke zu schließen und private Seenotrettungsorganisationen zu gründen, darunter Sea Watch, Sea Eye, S.O.S. Mediterrané und Jugend Rettet. Ihr Einsatz sollte geflüchtete Menschen vor dem Ertrinken bewahren. Die EU hingegen trainierte stattdessen die korrupte und gewalttätige libysche Küstenwache und rüstete sie mit Patrouillenbooten aus, sodass sie heute in der Lage ist, diejenigen, die aus menschenunwürdiger Haft entkamen, wieder genau dorthin zurückzubringen und an ihnen zu verdienen. Schmugglerbekämpfung ist das nicht. Nachdem die Kapitänin der Sea-Watch 3, Carola Rackete, im Sommer 2019 mehr als zwei Wochen lang vergeblich auf die Zuweisung eines Hafens gewartet hatte, um die von ihrer Crew geretteten Menschen an Land zu bringen, setzte sie sich über die Salvini-Dekrete hinweg und fuhr den Hafen der italienischen Insel Lampedusa an. Auch das Ermittlungsverfahren gegen sie läuft noch. Das Boot blieb monatelang beschlagnahmt. Es ist Aufgabe der Europäischen Kommission, endlich klarzustellen, dass Solidarität und humanitäre Hilfe in der Europäischen Union nicht länger kriminalisiert werden dürfen. Das Europäische Parlament hat dies längst gefordert. Zahlreiche Studien und Berichte belegen einen Anstieg entsprechender Fälle. Wenn sich die neue EU-Kommission an den Menschenrechten orientiert, muss sie jetzt handeln.
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Flucht ins Gefängnis
Foto: Lorenzo Tugnoli / The Washington Post / contrasto / laif
Um Folter und Vergewaltigung zu entgehen, begeben sich Flüchtlinge in Libyen bisweilen freiwillig in die Internierungslager der international anerkannten Regierung. Doch die bieten mitnichten Schutz vor Menschenrechtsverletzungen. Aus Tripolis Bettina Rühl
Sichere Unterkunft? Die Familie von Mounir Abdallah in Tripolis, Mai 2019.
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Foto: Lorenzo Tugnoli / The Washington Post / contrasto / laif
Noch nicht am Ende der Reise. Mounir Abdallah in einer Schule in Tripolis.
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m Gefängnis, dachte Mounir Abdallah schließlich, würde es ihm und seiner Familie vielleicht besser gehen. Natürlich hatte der Eritreer, der 2018 nach Libyen floh, von den furchtbaren Verhältnissen in den libyschen Internierungslagern gehört. »Aber ich habe keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als mich mit meiner Familie freiwillig in einem solchen Lager zu melden.« Abdallah ist einer von knapp 48.000 Flüchtlingen, die das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) in Libyen registriert hat. Die meisten schlagen sich irgendwie durch. Rund 5.000 Geflohene werden von der international anerkannten libyschen Regierung unter Ministerpräsident Fayez al-Sarraj in etwa 20 Internierungslagern festgehalten. Dort herrschten »KZ-ähnliche Verhältnisse«, schrieb die deutsche Botschaft in Niger laut der Zeitung Welt am Sonntag bereits 2017 an das Bundeskanzleramt und mehrere Ministerien. In eines dieser Lager ging Abdallah freiwillig im Februar oder März vergangenen Jahres.. An den genauen Zeitpunkt kann er sich nicht mehr erinnern. Das Gefühl für Zeit ist ihm offenbar abhandengekommen in den Monaten, in denen er auf seinem Weg durch Libyen an unterschiedlichen Orten, auf unterschiedliche Weise und von unterschiedlichen Peinigern gequält wurde. Jetzt sitzt der 27-jährige Familienvater auf der Terrasse eines italienischen Restaurants an der Mittelmeerküste von Tripolis, damit er seine Geschichte dort in Ruhe erzählen kann. Seine Wangen sind eingefallen, und seine Haare werden bereits grau. Abdallahs Qualen begannen mit neun Monaten Haft in Eritrea. Das war die Strafe für seinen Versuch, dem lebenslangen
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Militärdienst durch Flucht zu entgehen. Nach seiner Freilassung versuchte er es noch einmal, und schließlich gelang ihm die Flucht in den Sudan. Von dort aus floh er 2018 weiter nach Libyen, inzwischen mit einer Frau und einem Kind. Aber schon kurz hinter der sudanesisch-libyschen Grenze »wurden wir von unserem Schlepper verkauft«. Von den »Käufern«, einer kriminellen Gang, wurde die Familie in eine Oase weiter nördlich verschleppt. »Da fingen sie an, uns zu foltern und die Frauen zu vergewaltigen.« Ihre Peiniger verlangten 3.700 US-Dollar für die Freiheit von Mounir Abdallah, seiner Frau und ihrem Sohn. Seine Familie in Eritrea brauchte fünf Monate, um wenigstens 3.000 Dollar aufzutreiben. Die Kriminellen, in deren Gewalt Abdallah war, akzeptierten die Summe und ließen ihn mit den Seinen frei. Aber die kurze Freiheit endete wenig später in Bani Walid. Die Stadt knapp 200 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Tripolis ist mittlerweile als »Zentrale« besonders brutaler Folterzentren bekannt. Über die Zeit dort will Abdallah möglichst wenig nachdenken und schon gar nicht reden. Sie hätten fünf Monate lang »viele unmenschliche und grausame Erfahrungen« gemacht, sagt er nur. Sein Blick lässt keinen Zweifel daran, dass er nicht weiter gefragt werden möchte. Nachdem seine Familie 6.000 Dollar geschickt hatte, kamen sie zum zweiten Mal frei. Abdallahs Frau war hochschwanger. Die Folterknechte, in deren Gewalt sie gewesen waren, organisierten sogar die Fahrt bis nach Tripolis – das sei in der Summe enthalten gewesen, sagt der Eritreer. »Am nächsten Tag wollten wir uns beim UNHCR in Tripolis als Flüchtlinge registrieren lassen«, berichtet Abdallah. »Aber
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Foto: Lorenzo Tugnoli / The Washington Post / contrasto / laif
Den Schmugglern entronnen. Handyfoto Abdallahs auf der Flucht.
dort wurden wir erst einmal abgewiesen.« Erst beim Anblick seiner schwangeren Frau habe man sie doch registriert – und anschließend mit leeren Händen weggeschickt. Mounir Abdallah erzählt dann noch, wie seine Frau wenige Tage später nur dank der Hilfe von wildfremden Libyern ihr Kind in einem Krankenhaus zur Welt bringen konnte. Nach der Niederkunft sei er nochmals zum UNHCR gegangen und habe wieder um Hilfe gefragt. »Sie gaben mir 700 Dinar«, etwa 180 US-Dollar. Zu wenig, um eine Unterkunft für seine Frau, das Neugeborene und den zweieinhalbjährigen Sohn zu mieten, um Lebensmittel zu kaufen und überleben zu können. Abdallah wusste keinen anderen Ausweg mehr, als mit seiner Familie in das Internierungslager von Qasr bin Gashir zu gehen, ein Lager in der Nähe des internationalen Flughafens von Tripolis. Dort seien etwa 700 Menschen interniert gewesen, meint er. »Viele von ihnen hatten Krätze, das Wasser war salzig, das Essen viel zu wenig und schlecht. Das Leben dort war unerträglich.« Dann geriet das Lager in die Kämpfe des eskalierenden Bürgerkriegs. Am 23. April wurde es von Kämpfern der selbsternannten Libyschen Nationalarmee überrannt, den Truppen unter dem Kommando von General Khalifa Haftar, der im April von Osten aus eine Offensive gegen die international anerkannte Regierung unter Fayez al-Sarraj startete. »Die Kämpfer schossen wahllos um sich.« Abdallah zeigt auf seinem Handy ein Video, das seine Worte untermauert. Nach Angaben der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen gab es mehrere Tote, mindestens ein Dutzend Menschen wurden verletzt. Abdallah und seine Familie gelangten durch den Angriff in die ungewollte Freiheit, denn die Wärter des Internierungslagers waren bei den ersten Schüssen geflohen. Jetzt lebe er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern wieder auf der Straße, sagt der junge Eritreer. Am Leben gehalten durch Lebensmittelspenden oder Kleidung von Libyern, die dem Elend der Flüchtlinge nicht tatenlos zusehen wollen.
Gottesdienst am Freitag Aus der katholischen Kathedrale Sankt Francis dringen Gesänge nach draußen. Es ist Freitagvormittag und Zeit für den wöchentlichen Gottesdienst – die christliche Gemeinde hat sich dem Wochenplan im muslimischen Libyen angepasst und feiert ihren Gottesdienst ebenfalls freitags. Die Tore stehen aber nicht nur
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denjenigen offen, die Andacht suchen. In einem kleinen, schmucklosen Anbau links neben der Kirche sitzen einige Wartende auf Stühlen, ganz offensichtlich Flüchtlinge. »Zu uns kommen viele Menschen, die beim UNHCR als Flüchtlinge anerkannt sind«, sagt die diensthabende Mitarbeiterin der Caritas freundlich. Da sie selbst ein Flüchtling ist, möchte sie unbedingt anonym bleiben, nicht einmal das Land, aus dem sie ursprünglich kommt, soll genannt werden. Denn sie hat über das UNHCR durchaus kritische Worte zu sagen und Angst, dass sie deswegen womöglich noch länger auf eine Lösung warten muss. Die Frau ist um die fünfzig und lebt schon seit 2000 in Libyen. Damals folgte sie ihrem Mann, der 1995 aus ihrem Heimatland südlich der Sahara nach Libyen geflohen war, weil er zu Hause politisch verfolgt wurde. Libyen war für Menschen wie ihn zu dieser Zeit noch ein sicherer Hafen, und vor allem: In dem erdölreichsten Land Afrikas gab es jede Menge Arbeit. Vor dem Sturz Muammar al-Gaddafis lebten Schätzungen zufolge 2,5 Millionen Arbeitskräfte aus anderen Ländern des afrikanischen Kontinents in Libyen. Den Großteil ihres Verdienstes schickten sie nach Hause. Vielen von ihnen schien Libyen attraktiver als Europa. Die geografische Nähe machte einen Heimaturlaub einfacher, und Muslime fühlten sich wegen der gleichen Sprache und gleichen Religion leichter zu Hause. Die Caritas-Helferin verdiente ihr Geld bis zum libyschen Umsturz 2011 als Sekretärin bei einem Logistikunternehmen, ihr Mann hatte am Flughafen Arbeit gefunden. »Aber seit der Revolution sind nach und nach alle Unternehmen geschlossen worden«, bedauert sie. Sie und ihr Mann verloren ihre Stellen und kommen seitdem nur noch mit größter Mühe über die Runden. Hinzu kommt die schlechte Sicherheitslage. Ein Mal wurde ihr Mann schon gekidnappt und kam nur dank geschickter Verhandlungen schnell wieder frei. Kürzlich wurden sie in ihrer Wohnung komplett ausgeraubt. »Wir stehen vor dem Nichts, müssen ganz von vorne anfangen. Aber wie soll man das machen, in einem Land, in dem gar nichts mehr geht?« Deshalb sehen auch sie, ihr Mann und ihre drei Kinder nur noch einen Ausweg: Europa. Dabei weiß sie, dass es ihnen im Vergleich zu anderen großartig geht. Sie haben eine Wohnung und dank der Caritas ein kleines Einkommen. »Viele Flüchtlinge leben in einer wirklich katastrophalen Situation«, weiß sie. »Sie erzählen uns, dass sie kein Geld haben, um sich etwas zu essen zu kaufen oder medizinische Untersuchungen zu bezahlen. Von Miete ganz zu schweigen.« Ein kleines bisschen kann die Caritas helfen, sie gibt freitags in dem kleinen Raum neben der Kirche Kleiderspenden und Waschzeug aus, manchmal auch Lebensmittel. Außerdem gibt es einen kleinen Behandlungsraum, in dem eine Basisgesundheitsversorgung angeboten wird. Schwerere Fälle leitet die kirchliche Organisation an andere Hilfsorganisationen weiter, wo einige besonders Bedürftige auch finanzielle Unterstützung bekommen. Früher hätten sie sich auch direkt an das UNHCR wenden können, um dessen Mitarbeiter auf die besondere Notlage einzelner Flüchtlinge hinzuweisen. »Aber jetzt können wir mit ihnen keinen Kontakt mehr aufnehmen.« Anrufe unter den Nummern auf der Internetseite liefen ins Leere. »Dabei haben sie doch den Auftrag, Flüchtlingen zu helfen«, sagt sie etwas ratlos, »und sie haben ja auch Programme. Aber nichts geht voran. Alle Flüchtlinge beklagen sich.«
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Für Abdallah war das Internierungslager ein Hoffnungsort. Mahlzeit. Mit extrem dreckigen Badezimmern, zusammengepfercht, ohne Betten. Und das ist die Realität.« Am allermeisten frustriere sie, »dass diese Menschen nur deshalb eingesperrt sind, weil das in diesem Land nun mal die Politik ist«. Für den einen oder anderen könne das UNHCR eine Lösung finden, einen Asylplatz in einem sicheren Drittland. »Aber es gibt sehr, sehr viele Menschen, die Furchtbares durchgemacht haben, die schon seit Monaten oder Jahren interniert sind, und für die wir keine Lösung haben.« Ein Eritreer zum Beispiel, 30 Jahre alt, schon zu Hause politisch verfolgt, auf dem Weg durch Libyen monatelang gequält – also jemand wie Mounir Abdallah. »Ist so ein Mensch hilfsbedürftig? Ohne Frage! Ist er so hilfsbedürftig wie eine kranke Frau mit einem Baby? Nein. Also wen wählt man aus? Die kranke Frau mit dem Baby.« Zu dem Mangel, unter dem das UNHCR leidet, gehört auch der Mangel an politischem Gehör. »Wir fordern immer wieder, dass die Internierungslager geschlossen werden, weil die Verhältnisse unmenschlich sind«, erinnert Esteban. »Wir fordern mehr Resettlement-Plätze, mehr Geld für die Flüchtlinge, die auf sich selbst gestellt in den Städten leben.« Gehör findet das UNHCR kaum. Und vielen Flüchtlingen erscheinen die Internierungslager weiterhin als möglicher Ausweg aus einer offensichtlich noch verzweifelteren Situation.
Foto: Mahmud Turkia / AFP / Getty Images
»Unsere Mittel sind begrenzt«, erwidert UNHCR-Sprecherin Paula Esteban. »Wir können nur mit dem Geld helfen, das wir für diesen Zweck bekommen.« Besonders knapp seien die Mittel für Flüchtlinge, die nicht in Internierungslagern festgehalten werden, »denn die ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf die Lager«. Und damit das ganze Geld. Das Flüchtlingshilfswerk hat für 2019 nur die Hälfte der für Libyen beantragten Gelder bekommen, rund 40 Millionen US-Dollar. Nur gut 1.600 der etwa 48.000 registrierten Flüchtlinge bekamen finanzielle Hilfe, wobei diese Zahl monatliche Zuwendungen und einmalige Zahlungen umfasst. Das UNHCR hat von allem zu wenig: zu wenig Geld, zu wenig Plätze für das Resettlement, also die Aufnahme in einem sicheren Drittstaat, zu wenig andere Lösungen. Wegen der Kämpfe und der Macht der Milizen sind viele Landesteile für die Helfer unzugänglich, und trotz aller Vorsicht geraten sie immer wieder auch selbst in die Schusslinie. Geschichten wie die von Abdallah, für den ein Internierungslager ein Hoffnungsort war und der mit seiner Familie freiwillig dorthin ging, habe sie oft gehört. »Wir finden eine solche Entscheidung sehr überraschend«, sagt die 35-jährige Juristin. »Zwar haben sie dort nachts ein Dach über dem Kopf und bekommen etwas zu essen, aber die Zustände in den Lagern sind grauenhaft. Und ich glaube nicht, dass dieses Wort die Situation dort ausreichend beschreibt.« Sie versucht zu schildern, was sie Woche für Woche in den Lagern sieht. »Mir fehlen die Worte um Ihnen zu vermitteln, wie hart es ist, dorthin zu gehen und mit Menschen zu reden, die in einer so schrecklichen Lage sind. Wissend, dass man gleich wieder weg sein wird.« Sie habe mit Menschen gesprochen, deren ganzer Körper von Krätze bedeckt und blutig war. »Wenn sie mit mir sprachen, flogen die Fliegen von ihrem Körper, um sich gleich danach im Schwarm wieder zu setzen. Stellen Sie sich vor, Sie müssten so leben: mit einer Mahlzeit am Tag oder manchmal ohne jede
Zuflucht im Glauben. Gottesdienst in der Sankt-Francis-Kathedrale in Tripolis.
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Grenzen zu Geld machen An der EU-Abschottungspolitik verdienen europäische Rüstungsunternehmen Milliarden – unter anderem durch den Verkauf von Drohnen, Satelliten und Hochsicherheitszäunen. Von Hauke Friederichs
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ilometerlange Zäune aus Draht, Radarmasten sowie hohe Rampen für Überwachungsfahrzeuge, die eine perfekte Sicht über die Wüste bieten: Die saudischen Grenzen zum Jemen und zum Irak gleichen einem Hochsicherheitsgebiet, das Flüchtlinge, Schmuggler und Terroristen gleichermaßen abhalten soll. Um das zu garantieren, setzt das Königshaus in Riad schon seit Jahren auf Technik aus Europa. Allen voran der Luft- und Rüstungskonzern Airbus liefert Radaranlagen, optronische Ausrüstung, Software und Technologie für die Sicherung der Grenzen zu den Unruhestaaten im Süden und Norden des Königreichs. Aber auch entlang der Küste setzt Saudi-Arabien auf Überwachung: 17 Patrouillenboote wurden in den deutschen Werften Fassmer und Lürssen bereits gebaut; wegen des 2018 von der Bundesregierung verhängten Ausfuhrstopps konnten bislang jedoch nur fünf ausgeliefert werden. Zuvor hatte die Bundespolizei bereits Dutzende Angehörige des saudischen Grenzschutzes ausgebildet. GIZ International Service, eine Tochter der staatlichen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, war ebenfalls eingebunden und wickelte Zahlungen ab. Soldaten der Bundeswehr trainierten unterdessen saudische Sicherheitskräfte beim Einsatz von Drohnen, die ebenfalls aus Deutschland importiert worden waren. Längst gilt die saudische Grenze als Vorbild für andere Länder. Deutschland unterstützt mittlerweile auch nordafrikanische Staaten dabei, ihr Territorium abzuschirmen. Dabei geht es vor allem darum, die Binnenmigration einzuschränken und Menschen daran zu hindern, die Mittelmeerküste zu erreichen, die letzte Station auf der langen Flucht nach Europa. Offiziell wird allerdings meist der »Kampf gegen den Terror« als Grund für das deutsche Engagement etwa in Tunesien oder Ägypten genannt. Diese Politik der Abschottung beschert der deutschen Rüstungsindustrie gute Geschäfte. Die oft fatale Men-
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schenrechtslage in den Kooperationsstaaten und der menschenunwürdige Umgang mit Flüchtlingen dort spielt für die Bundesregierung offenbar eine untergeordnete Rolle. Ziel des Grenzausbaus im Mittelmeerraum ist die Überwachung von Fluchtrouten, um zu verhindern, dass immer wieder Boote aus Libyen, Tunesien oder Ägypten in Richtung Italien, Malta und andere EU-Staaten aufbrechen. So lieferte die süddeutsche Hensoldt, eine Ausgründung von Airbus, bereits Bodenüberwachungsradare und Nachtsichtgeräte an Tunesien – die Kosten trug der deutsche Steuerzahler. Ziel der Kooperation ist der Aufbau einer elektronischen Grenzüberwachung an der tunesisch-libyschen Grenze. »Dazu wurde vereinbart, in einem ersten Schritt fünf mobile Systeme bestehend aus einem Radar und einer weitreichenden Kamera für den Einsatz an der Grenze zu beschaffen«, teilte die Bundesregierung bei Projektabschluss 2018 mit. Kostenfaktor: sieben Millionen Euro. Insgesamt beläuft sich die Förderung des elektronischen Überwachungssystems durch Berlin auf 18 Millionen Euro. Für deutsche Rüstungsunternehmen könnte das Engagement der Bundesregierung in Tunesien den Einstieg in weitere lukrative Projekte bedeuten, auch der anhaltende Kampf gegen Schleuser auf dem Mittelmeer könnte neue Aufträge einbringen. Denn die EU setzt verstärkt auf Drohnen zur Grenzkontrolle. Das Aufspüren von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer ist dabei eine der vorgesehenen Aufgaben für die unbemannten Flieger. Sie ergänzen Satelliten, Seeaufklärungsflugzeuge, Helikopter und Patrouillenboote. All dies wird vor allem von Rüstungsunternehmen produziert – auch in Deutschland. So stellt Airbus etwa Satelliten, Hubschrauber, Drohnen und Flugzeuge her, die Werftengruppe Lürssen bietet Schiffe an, die auch zur Grenzkontrolle geeignet sind. Atlas-Elektronik wiederum rüstet Boote mit Kommunika-
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Tief im Westen. Bei Ghadames, nahe der libyschen Grenze zu Algerien und Tunesien. Imed Lamloum / AFP / Getty Images
tionstechnik aus, Jenoptik wirbt mit seiner »automatischen Kennzeichenerfassung« zur Grenzsicherheit. Rohde & Schwarz setzt ebenfalls auf Überwachungstechnik für Grenzen, Hensoldt baut Radaranlagen. Und Rheinmetall, der Branchenprimus, bekannt für Panzer und Artillerie, fertigt auch Sensoren, Fahrzeuge und Roboter. Wie stark der Markt der Grenzsicherheit wächst, zeigt die Studie »Building Walls« der Nichtregierungsorganisation Transnational Institute (TNI). Es gebe einen »Boom« bei den Budgets für Grenzschutz in Europa, schreibt Mark Akkerman, Autor der im November 2019 erschienenen Analyse. Europa wird in den kommenden Jahren viele Milliarden Euro in Technik investieren, die der Abschottung dient. So will die EU-Kommission für den Zeitraum 2021 bis 2027 gut acht Milliarden Euro bereitstellen, um Staaten beim Ausbau der Grenzsicherung zu unterstützen. Davon profitieren nicht nur EU-Mitglieder, sondern auch Partnerstaaten wie die Türkei und sogar Libyen. Mit EU-Mitteln aus verschiedenen Fonds sind bereits mehrere hundert Grenzüberwachungssysteme am Rand der europäischen Gemeinschaft entstanden. Dazu kommen mehr als elf Milliarden Euro an EU-Mitteln für die Grenzschutzagentur Frontex und große Summen für Eurosur, das »European Border Surveillance System«. Insbesondere die Ausgaben für Frontex sind in den vergangenen Jahren extrem gestiegen: Das Budget der Grenzschützer wuchs zwischen 2005 und 2016 um 3.688 Prozent – und wird in den kommenden Jahren weiter aufgestockt. Drei der größten europäischen Rüstungskonzerne spielen laut TNI eine führende Rolle bei Grenzprojekten: Thales aus Frankreich, Leonardo aus Italien und Airbus. Sie profitieren nicht nur von Bestellungen, sie bekommen von der EU auch Forschungsmittel. So können sie ihre Waffensysteme und ihre Überwachungstechnik mit Steuergeldern optimieren und diese dann besser auf dem Weltmarkt verkaufen. Zu den Kunden der
KRIMINALISIERTE FLUCHTHELFER
europäischen Rüstungsfirmen gehören auch viele Länder, aus denen Menschen versuchen, in die EU zu gelangen. Wie wichtig das Geschäft mit der Abschottung für die Rüstungskonzerne geworden ist, zeigt eine Messe, die im März 2020 in Texas stattfindet. Auf der Border Security Expo in San Antonio dreht sich alles um das Thema Grenzsicherheit. Zu den Ausstellern gehören die größten Unternehmen der Rüstungsbranche. Der Veranstalter verspricht, die Aussteller könnten leicht in direkten Kontakt mit möglichen Kunden kommen. Auch US-Präsident Donald Trump will schließlich seine High-Tech-Wall zu Mexiko endlich fertiggestellt sehen. Dreißig Jahre nach dem Mauerfall entstehen überall auf der Welt wieder Mauern, zur Freude der Rüstungsbranche. Schließlich dient das auch der Verbesserung des eigenen Images: Grenzschutz lässt sich besser vermarkten als Killerdrohnen oder Kampfpanzer. Für Menschen auf der Flucht geht die zunehmende Abschottung mit wachsenden Gefahren einher. Sie müssen immer größere Risiken eingehen, um nach Europa oder in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Letztlich halten aber weder Drohnen, hochmoderne Sensoren noch Stromzäune sie davon ab, zu fliehen.
Grenzschutz kann die Industrie besser vermarkten als Killerdrohnen oder Kampfpanzer. 27
Wer stoppt, gewinnt Die EU macht die Entwicklungshilfe für afrikanische Staaten zunehmend davon abhängig, dass diese die Migration kontrollieren. Die Ausgaben für Abschottungsmaßnahmen werden 2020 erhöht. Von Christian Jakob
Alles im Blick? Frontex-Beamte nahe Korce, an der Grenze von Albanien zu Griechenland.
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Foto: Florion Goga / Reuters
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s ist keineswegs neu, dass Entwicklungshilfe an Gegenleistungen geknüpft wird. Doch das Ausmaß der Bedingungen, die jetzt geplant sind, hat es in sich: Europäisches Parlament und EU-Kommission verhandeln derzeit über das Budget für die Haushaltsperiode 2021 bis 2027. Für alle Maßnahmen, die dazu dienen, Flüchtlinge fernzuhalten, sind enorme Summen angedacht. Der alte Haushalt sei zu unflexibel für »Herausforderungen wie die Migrations- und Flüchtlingskrise im Jahr 2015« gewesen, hatte der Vorgänger von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Jean-Claude Juncker, kurz vor dem Ende seiner Amtszeit im vergangenen Herbst erklärt. Die neuen Budgetpläne seien eine »ehrliche Antwort auf die Wirklichkeiten unserer Zeit«. Diese Politik folgt im Wesentlichen der Logik, die die EU bereits seit 2015 mit dem Aktionsplan von Valletta verfolgt. Er sieht vor, Gelder aus dem EU-Entwicklungsetat im sogenannten EU-Nothilfefonds für Afrika zu bündeln und für Projekte auszugegeben, die mittelbar oder unmittelbar der Migrationskontrolle dienen – nach dem Prinzip »more for more«: Afrikanische Staaten, die bei Abschiebungen kooperieren, bekommen demnach mehr Entwicklungshilfe. Grundlage für Entscheidungen sind die politischen Bedürfnisse der EU und nicht entwicklungspolitische Erwägungen, die den Empfängerländern dienten. Für Entwicklungshilfe ist künftig gar kein eigenes Budget mehr vorgesehen – der EU-Entwicklungsfonds EDF verschwindet. Er wird, wie andere Einzelbudgets auch, in das »außenpolitische Instrument« für »Nachbarschaft, Entwicklung und Internationale Kooperation« (NDICI) integriert, das mit bis zu 93 Milliarden Euro ausgestattet werden soll. Rund ein Zehntel davon dürfte Experten zufolge für Migrationsmanagement bestimmt sein. Was das bedeutet, zeigt die Zusammenarbeit der EU mit der libyschen Küstenwache. Die erhielt im Oktober 2019 zehn neue Patrouillenboote aus Italien. Ausgeliefert wurden sie just an dem Tag, an dem ein zwei Jahre zuvor zwischen Tripolis und Rom geschlossenes Memorandum verlängert wurde. Die menschenrechtlichen Folgen dieser Vereinbarung sind höchst problematisch: Allein im Monat der Übergabe brachten Mitarbeiter der Küstenwache 1.113 Menschen zurück in libysche Lager, um die 40.000 sind es seit Verabschiedung des Memorandums 2017. Das EU-Instrument für Nachbarschaft, Entwicklung und Internationale Kooperation soll solche Hilfen außerhalb der EU künftig noch unkomplizierter regeln – und eine Finanzierung direkt aus Brüssel ermöglichen. Mit Geldern für Entwicklungshilfe wäre das nicht erlaubt gewesen. In einer Analyse der Hilfsorganisation Brot für die Welt heißt es, »dass Entwicklungsgelder in Zukunft weniger den ärmsten und bedürftigsten Ländern zugutekommen als viel mehr strategisch relevanten Ländern, die bereit sind, an der Migrationsabwehr mitzuwirken«. Darüber hinaus plant die EU, zwei bereits bestehende Grenzschutzfonds zusammenzufassen und deren Budget von bislang 2,7 auf 8,1 Milliarden Euro aufzustocken. Schon jetzt werden aus diesen Haushalten Kameras, Radaranlagen, Ferngläser und Drohnen bezahlt – allerdings für die Grenzschützer der EU-Staaten selbst. Künftig sollen auch Drittstaaten von diesen Grenzschutzfonds profitieren. Ein Vorbild in Sachen Migrationsmanagement ist aus EUSicht Niger. Dort gelang es Polizei und Militär in den vergangenen Jahren, die Hauptroute durch die Sahara von der Wüstenstadt Agadez nach Libyen weitgehend zu kappen. 2016 waren noch rund 300.000 Menschen auf diesem Weg nach Libyen ge-
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langt. Im Gegenzug erhielt die Regierung in Niamey seither mehr als eine Milliarde Euro an Budget- und Entwicklungshilfe. Allein an das Innen-, Justiz- und Verteidigungsministerium flossen 80 Millionen Euro. Das neue EU-Budget sieht vor, solche an Migrationsabwehr gekoppelten Ausgaben künftig noch einfacher zu machen. Was das für die Menschen bedeutet, die die gefährliche Reise Richtung Mittelmeerküste auf sich nehmen, zeigen Einschätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks. Der UNHCR-Beauftragte für das zentrale Mittelmeer, Vincent Cochetel, schätzt, dass »vermutlich mindestens doppelt so viele Menschen auf dem Weg zum Mittelmeer sterben wie im Mittelmeer selbst«. Die Zahl der Todesopfer könne aber »auch viel höher sein«. Neben dem »außenpolitischen Instrument« und dem Grenzschutzfonds gibt es noch einen dritten Haushaltstopf, der helfen soll, Europa abzuschotten: das Budget für die EU-Grenzschutzagentur Frontex, die mittlerweile als »Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache« firmiert. Auf 333 Millionen Euro belief sich ihr Etat 2019 nach eigenen Angaben – künftig sollen ihr nach dem Willen der EU-Kommission deutlich über eine Milliarde Euro zur Verfügung stehen. »Das erhöht natürlich die Fähigkeit, außerhalb der EU agieren zu können«, sagt Jane Kilpatrick von der Londoner NGO Statewatch. Albanien ist der erste Nicht-EU-Staat, in dem Frontex seit 2019 tätig ist; 66 Grenzschützer aus zwölf EU-Staaten waren dort zuletzt im Einsatz, darunter elf Bundespolizisten, allesamt ausgestattet mit hoheitlichen Befugnissen. Im Oktober vergangenen Jahres wurde ein vergleichbares Abkommen mit Montenegro unterzeichnet; weitere Verhandlungen laufen mit Nordmazedonien, Serbien sowie Bosnien und Herzegowina. Die ex-jugoslawischen Teilrepubliken dienen vor allem als Testballon: Bis 2027 will Frontex 10.000 eigene Grenzschützer einstellen. Zudem soll die Grenzschutzagentur künftig mehr Geld für Abschiebungen mit eigenen Charterflügen ausgeben dürfen. Nach Statewatch-Recherchen wird der Etat dafür von derzeit etwa 40 Millionen Euro im Jahr auf rund 250 Millionen erhöht. Damit könnten etwa 50.000 Abschiebungen pro Jahr finanziert werden. Damit die Mittel auch in Anspruch genommen werden, müssen alle EU-Staaten künftig die Daten Ausreisepflichtiger automatisiert an Frontex übermitteln. Bislang erfolgte das nur auf freiwilliger Basis. Ziel der Maßnahme ist die Erhöhung der sogenannten Ausreisequote, die nach Angaben der EU-Kommission zuletzt bei etwa 36 Prozent lag. Das heißt, dass von 100 Ausreisepflichtigen etwa jeder Dritte innerhalb eines Jahres die EU verließ – selten auf freiwilliger Basis. Die Haushaltsverhandlungen in Brüssel könnten sich noch bis Sommer hinziehen. Am Ende wird ein zweistelliger Milliardenbetrag stehen, um Unerwünschte fernzuhalten. Ausgaben der einzelnen Mitgliedstaaten sind da noch nicht eingerechnet.
Vermutlich sterben mehr Menschen auf der Flucht Richtung Mittelmeer als im Meer selbst. 29
Zurück auf der Balkanroute Rund 7.000 Migranten warten in Bosnien und Herzegowina unter menschenunwürdigen Umständen darauf, in die EU zu gelangen. Von Erich Rathfelder, Sarajevo
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bermüdet und etwas ratlos stiegen mehr als 350 Migranten Mitte Dezember aus den Bussen, die sie von Bihać im Nordwesten Bosniens in die 400 Kilometer entfernte Hauptstadt Sarajevo gebracht hatten. Ihr Ziel: Die frühere Armeekaserne von Blažuj, die von Mitarbeitern des Technischen Hilfswerks winterfest gemacht worden war. Die Gruppe war die erste von mehreren, die bis Ende vergangenen Jahres aus dem skandalträchtigen, im Frühjahr 2019 auf einer Müllhalde errichteten Lager Vučjak bei Bihać abtransportiert wurden. Monatelang hatten dort rund 800 Männer aus Afghanistan, Pakistan, Bangladesch und aus den Maghrebstaaten ausgeharrt. Nach Einsetzen des Frosts war das nicht mehr möglich, doch bereits zuvor waren die Zustände in dem Lager katastrophal: Die Zelte waren nicht wasserdicht, Schlamm und Unrat lagen herum, die Versorgung mit Wasser war völlig unzureichend; es fehlte an Strom, Toiletten und Waschmöglichkeiten. Das bosnische Rote Kreuz hatte zumindest versucht, täglich eine warme Mahlzeit zu organisieren, und aus der Bevölkerung und von Unternehmen waren Lebensmittelspenden gekommen. Aber all das genügte nicht, um Mindeststandards im Umgang mit Migranten zu garantieren. Kurz vor der Evakuierung des Lagers besuchte die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, Vučjak. Sie warnte angesichts der verheerenden Zustände und der sinkenden Temperaturen vor Todesfällen und forderte die sofortige Auflösung des Flüchtlingslagers. Das acht Kilometer von Bihać entfernte Lager war von Anfang an eine Notlösung: Weil Unterkünfte in den Fabrikhallen der bankrotten Firma Bira bereits hoffnungslos überfüllt waren, hatten zumeist junge Männer damit begonnen, in den Parks der Stadt zu kampieren und sich in den Cafés im Zentrum niederzulassen. Vor allem Frauen fühlten sich zunehmend unwohl. So beschloss der Stadtrat im Juni 2019, die Migranten aus dem Stadtzentrum zu vertreiben. Polizisten führten Hunderte junge Männer zu dem neuen behelfsmäßigen Lager. Trotz der katastrophalen Zustände war Vučjak für die Migranten attraktiv, denn es liegt direkt am Fuße des Gebirgszuges, der die Grenze zu Kroatien markiert. Von hier aus machten sich täglich Gruppen von Migranten auf den Weg, um in das EUMitgliedsland zu gelangen – und von dort weiter nach Italien, Frankreich oder Deutschland. Hier wollten sie ihre Träume verwirklichen, eine Arbeit finden, eine Zukunft für sich und ihre in der Heimat gebliebenen Familien aufbauen. Doch die meisten kamen abends wieder zurück. Kroatische Polizisten und Sicherheitskräfte hatten sie aufgegriffen, ihnen
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Handys und Geld abgenommen. Offene Wunden, gebrochene Beine, blaue Flecken im Gesicht und an den Körpern zeugten von der Gewalt, die von der kroatischen Polizei angewandt worden war. Die wenigen freiwilligen Helfer, wie der deutsche Journalist Dirk Planert, hatten alle Hände voll zu tun, medizinische Nothilfe zu leisten. Dass die Migranten oftmals völkerrechtswidrig malträtiert wurden, berührte nur eine Handvoll Abgeordnete des Europaparlamentes, die Bihać besuchten. Die europäischen und auch die deutschen Institutionen und Politiker schienen vielmehr froh zu sein, dass die kroatische Polizei die Drecksarbeit macht, indem sie Migranten auf ihrem Weg nach Europa aufhalten. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete Kroatien bei einem Zusammentreffen mit Premierminister Andrej Plenković als Erfolgsstory und Vorbild für andere Länder. Ein Grund dafür ist, dass die Zahl der Menschen, die über die »Balkanroute« nach Zentral- und Westeuropa weiterreisen wollen, seit 2016 drastisch zurückgegangen ist – nicht zuletzt durch Sperranlagen, die entlang der ungarischen und nordmazedonischen Grenzen errichtet wurden. Zudem hatte das Abkommen zwischen der EU und der Türkei zunächst abschreckende Wirkung. Zuletzt gewann die Route durch Bosnien aber wieder an
Über Bosnien in die EU. Migranten nahe
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Fotos: Manu Brabo / AP / pa
Attraktivität, nicht zuletzt für Menschen aus dem Irak, Afghanistan und Pakistan, weil deren zunächst großzügige Aufnahme durch den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan inzwischen vorbei ist. Seit 2015 wurden rund 45.000 Migranten in Bosnien und Herzegowina registriert; 7.000 seien zurzeit im Lande, bestätigt Peter van der Auweraert, Repräsentant der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in der früheren jugoslawischen Teilrepublik. Demnach müssten es mehr als 38.000 Menschen geschafft haben, auf ihrem Weg nach Zentraleuropa über diese Route durchzukommen. Die Migranten tauschen rege Informationen untereinander aus – dies ist einer der Gründe, weshalb ihre Handys von kroatischen Polizisten zerstört werden. Experten gehen davon aus, dass mindestens die Hälfte der in Bosnien registrierten Migranten durch Bestechung an ihr Ziel gelangt ist. Denn unter bosnischen, griechischen, mazedonischen, albanischen, bulgarischen, serbischen sowie kroatischen Grenzbeamten und Polizisten ist Korruption weit verbreitet. Schärfere Kontrollen führen lediglich dazu, dass die Preise steigen. Das bedeutet, dass wenn Kroatien mit Hilfe von EU-Geldern seine Grenzen noch stärker abschottet, vor allem die mittellosen Migranten in der bosnischen Falle sitzen. Das befürchtet auch der Bürgermeister von Bihać, Šuhret Fazlić. Wenn immer mehr Migranten nach Bosnien kommen, würden vor allem seine Gemeinde und der Nachbarort Velika Kladuša darunter leiden. Denn der Gesamtstaat mit seinen finanzschwachen und dysfunktionalen Institutionen ist nicht in der Lage, das Problem zu bewältigen. Seine nach dem Ende des Krieges 1995 geschaffene Struktur verhindert, dass die Repräsentanten der beiden Landesteile – der muslimisch-kroatischen Föderation und der bosnisch-serbischen Republika Srpska (RS) – sich über ein gemeinsames Vorgehen verständigen. Besonders infam ist, dass ausgerechnet die RS-Führung in Banja Luka auf Abschottung und Fluchtabwehr setzt – und sich weigert, Flüchtlinge auf ihrem Territorium anzusiedeln. So ist es Migranten zurzeit nur in den von bosnischen Muslimen dominierten Gebieten möglich, wenigstens geduldet zu werden, denn auch in der mehrheitlich von bosnischen Kroaten besiedelten Herzegowina setzen die Behörden auf Abschottung. Um die Lebensbedingungen zu verbessern, versucht die IOM weitere Gemeinden zu finden, um neue Lager einzurichten. Doch viele wehren sich – mit Verweis darauf, kein zweites Bihać werden zu wollen. Bislang hat sich nur Sarajevo bereit erklärt, zu helfen. Ob die in der ehemaligen Kaserne von Blažuj gefundene Lösung tragfähig ist, bleibt jedoch abzuwarten: Kaum waren die Migranten aus Vučjak im Dezember dort angekommen, sagten einige von ihnen bosnischen Medien, sie seien zwar froh, jetzt Essen und Waschmöglichkeiten zu haben. Doch würden sie in einigen Tagen wieder nach Bihać zurückkehren, um von dort aus in die EU zu gelangen.
der bosnischen Städte Bihać und Karakaj (unten).
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Bosnien ist nicht in der Lage, die Probleme allein zu bewältigen. 31
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POLITIK & GESELLSCHAFT
Die Enkel der Islamischen Revolution. Teheran im Januar.
Zeitenwende im Iran: Zehn Jahre nach der Grünen Revolution 2009 sind Intellektuelle und Mittelschicht nur noch Zaungäste des Aufstands gegen das Regime. Nun wendet sich die arme Bevölkerung vom korrupten Establishment der Islamischen Republik ab. Von Farhad Forouzandeh Das Tränengas brannte in ihren Augen, doch Nahid Shirpisheh war noch immer euphorisch. Endlich wagten sich die Menschen auf die Straße, endlich revoltierten sie gegen dieses verfluchte Regime. »Tod dem Diktator!«, riefen die Leute um sie herum, niemand schien mehr Angst zu haben. »Das ist die schönste Nacht meines Lebens«, sagte Nahid Shirpisheh zu ihrer Tochter. Zehn Minuten später trugen Demonstranten die Leiche ihres Sohnes an ihr vorbei.
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Das Jahr 2019 sollte für die iranischen Machthaber eigentlich ein Festjahr werden, denn die Islamische Republik wurde 40 Jahre alt. Doch stattdessen erlebte das Regime die größte Krise seiner Geschichte. Im November 2019 rebellierten Hunderttausende Menschen gegen die Herrschaft der Mullahs. In den Slums von Teheran ebenso wie in den verelendeten Dörfern der Provinz, vom Kaspischen Meer bis an den Persischen Golf, ein ganzes Land schien in Aufruhr. Ausländische Kommentatoren sahen bereits das Ende des Regimes gekommen. Doch die Machthaber waren bestens vorbereitet. Zunächst knipsten sie überall im Iran das Internet aus, keine Bilder der Proteste sollten sich verbreiten können. Dann ließen sie die Demonstrationen niederschießen. Nahid Shirpisheh verlor ihren Sohn in Karadsch, einer Großstadt am westlichen Rand von Teheran. Eine Kugel hatte den 28-Jährigen am Kopf getroffen. Ver-
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Aufstand der Jungen und Zerlumpten
Foto: Middle East Images / Polaris / laif
mutlich war er ins Visier eines Scharfschützen geraten, weil er mit seinen 1,90 Meter aus der Menge herausragte. Bis heute ist unbekannt, wie viele Menschen bei der Niederschlagung der Proteste ums Leben kamen. Die Machthaber setzten alles daran, die massenhaften Tötungen zu vertuschen. Eltern mussten unterschreiben, über den Tod ihrer Kinder nicht öffentlich zu sprechen. Anderen Familien wurden die Leichen ihrer Angehörigen nicht ausgehändigt. Amnesty International konnte durch die Analyse von Handyvideos nachweisen, dass mindestens 304 Menschen starben, die Nachrichtenagentur Reuters geht sogar von 1.500 Toten aus.
Schützenhilfe aus den USA Ausgerechnet der Erzfeind USA kam dem Regime unverhofft zur Hilfe. Nur wenige Wochen nach Ausbruch der Proteste ließ Do-
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nald Trump den iranischen Top-General Kassem Soleimani töten. Der US-Präsident wollte damit die Führung um Ali Khamenei schwächen, doch bewirkte er zunächst das Gegenteil: Soleimani war für viele Menschen im Iran ein Volksheld, weil er die Terrororganisation Islamischer Staat im Irak besiegt hatte. Auch Regimegegner trauerten um den General und betrachteten seine Tötung als Aggression gegen ihr Land. Die Führung in Teheran konnte die Bevölkerung einmal mehr in nervöse Kampfbereitschaft versetzen und ihre Gegner als Agenten des Westens denunzieren. Als Nahid Shirpisheh eine Trauerfeier für ihren getöteten Sohn abhalten wollte, marschierten vor dem Friedhof bewaffnete Männer in Uniform auf, in der Luft kreisten Helikopter. Die Sicherheitskräfte führten Nahid Shirpisheh und ihren Ehemann ab. Auch die Schwester des Getöteten verschleppten sie, ebenso
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bereit, dafür sein Leben zu opfern. Manche versuchten, das Land zu verlassen, andere flüchteten in Shopping, Sex und Drogen. Das Regime übte taktische Toleranz: Wir lassen euch Partys feiern, dafür lasst ihr uns an der Macht! Die existenziellen Nöte der unteren Schichten sind für die Herrschenden dagegen sehr viel gefährlicher als der chronische Frust der Mittelschicht. Das wirtschaftliche Elend stellt die Legitimität der Islamischen Republik radikal in Frage. Denn die Islamisten waren einst mit dem Versprechen angetreten, im Iran soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Wer die Revolution von 1979 im Rückblick als eine rein religiöse Massenbewegung versteht, unterliegt einer Täuschung: Die iranische Revolution war weniger ein islamischer als vielmehr ein proletarischer Aufstand.
Taktische Toleranz
Khomeini sprach die Sprache des Volks
»Ali Khamenei spielt Gott, doch wir leben wie Bettler!«, war bei den Demonstrationen zu hören. »Nieder mit Palästina!« und »Lasst Syrien in Ruhe!«, skandierten andere. Das Regime solle sich um die Armut im Land kümmern, anstatt dem syrischen Diktator Baschar al-Assad beim Völkermord unter die Arme zu greifen oder die Hisbollah im Libanon aufzurüsten. Die meisten Menschen protestierten friedlich, andere setzten staatliche Banken, Militärbasen und islamische Seminare in Brand – als Symbole des verhassten Systems. Die Proteste markieren für den Iran eine historische Zäsur: Die Ärmsten des Landes galten stets als die loyalsten Anhänger der Islamischen Republik. In der Vergangenheit wurden regimekritische Proteste fast ausschließlich von der Mittelschicht getragen, die Demonstrationen konzentrierten sich auf Teheran und ein Dutzend andere große Städte. So war es bei den Studentenunruhen 1999 und bei der Grünen Revolution im Jahr 2009. Doch dieses Mal waren die Intellektuellen und die Mittelschicht nur Zaungäste des Aufstands. Das Bürgertum hat die Machthaber in Teheran schon immer von Herzen gehasst. Die Menschen sehnten sich nach Freiheit, Demokratie und kulturellem Wandel. Doch kaum jemand war
Die Wut der armen Massen richtete sich damals gegen einen despotischen Schah, der in operettenhaftem Reichtum lebte, während seine Untertanen in den Slums der Großstädte und in verelendeten Dörfern hungerten. Als erstes begehrten die Marxisten und Liberalen gegen das Unrecht auf. Doch erst als Ajatollah Khomeini das Wort ergriff, wurde aus dem Protest des Bürgertums tatsächlich ein Aufstand des Volkes. Khomeini war Sohn eines armen Wanderpredigers, er sprach im Gegensatz zu den hochgebildeten Sozialisten die Sprache des Volkes. Seine Worte konnten auch Basarhändler, Tagelöhner und fromme Analphabeten verstehen. »Der Islam steht für die Bewohner der Slums, nicht für die Bewohner der Paläste!«, versprach er ihnen. »All die Geknechteten, Ausgebeuteten und Hungernden werden endgültig die Freiheit erringen.« Die Barfüßigen und Zerlumpten wurden zu Khomeinis treusten Anhängern. Die Revolution schenkte ihnen Würde und Selbstbewusstsein – und brachte sie auch an die Macht. Fast alle Politiker, Staatsbeamte und Funktionäre, die durch die Revolution nach oben kamen, stammten aus den Armenvierteln der Großstädte oder dem Basar. Das gleiche gilt für ihre Schlägertrupps: In den Slums und Dörfern schlossen sich Millionen jun-
Foto: Middle East Images / Polaris / laif
seine Großeltern, zwei seiner Onkel und ein elfjähriges Kind. Bis heute fehlt von einem Großteil der Familie jede Spur. Es war kein Einzelfall: Mindestens 7.000 Menschen sind seit den Protesten verschwunden. Die Repressionen der Machthaber zeigen, wie nervös die Führung in Teheran ist. Die Menschen begehrten auf, weil sie kaum noch etwas zu verlieren haben. Die Islamische Republik steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte. Wegen der US-Sanktionen ist das Land vom Welthandel praktisch abgeschnitten. Die Landeswährung ist seit Jahren im freien Fall. Viele Familien können sich selbst Grundnahrungsmittel wie Hähnchen oder Rindfleisch nicht mehr leisten. Ein Drittel der Bevölkerung lebt inzwischen unter der Armutsgrenze.
Opfer des Abschusses. Gedenken an die Flugzeugkatastrophe in Teheran im Januar 2020.
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ge Männer den Revolutionswächtern an, um Khomeinis Herrschaft mit der Waffe zu verteidigen. Die Mullahs errichteten eine islamische Diktatur des Proletariats. Dass Khomeini nach der Machtergreifung weiter wie ein asketischer Mönch lebte, machte ihn für die armen Massen besonders glaubwürdig. Bis zu seinem Tod schlief der greise Diktator in einem schmucklosen Zimmer und ernährte sich fast ausschließlich von Reis und Jogurt. Von den sozialen Versprechen der Revolution ist nicht mehr viel übriggeblieben. Der Iran gilt heute als eines der korruptesten Länder der Welt. Wer es zu etwas bringen will, braucht die richtigen Kontakte. Die Eliten des Landes beherrschen bis zu 80 Prozent der iranischen Wirtschaft, schätzt das Auswärtige Amt in Berlin. Mullahs, die einst die westliche Dekadenz des Schahs verurteilten, leben heute wie russische Oligarchen. Die führenden Kleriker des Landes setzen mit Banken, Hotels und Fabriken jedes Jahr Milliarden um. Weil sie ihre Konzerne als »religiöse Wohltätigkeitsstiftungen« tarnen, müssen sie weder Steuern zahlen noch ihre Bücher offenlegen.
Die Revolutionswächter sind längst zu einem mafiösen Wirtschaftsimperium geworden. Erst in den vergangenen Jahren kam das ganze Ausmaß der staatlichen Korruption und Vetternwirtschaft ans Licht. Eine große Rolle spielte dabei das Internet: Die Kinder des Establishments haben keine Scheu mehr, ihren extravaganten Lebensstil in den sozialen Netzwerken zur Schau zu stellen. Zum Beispiel Sasha Sobhani, einer der meist gehassten Menschen im Iran. Der 32-Jährige ist Sohn eines früheren Diplomaten, auf Instagram hat er mehr als eine Million Follower. Er postet Bilder seiner knallbunten Ferraris, jede Woche scheint er sich einen neuen zuzulegen. Und er zeigt, wie wenig fromm es auf seiner Jacht in Dubai zugeht: Sobhani feiert dort im Bademantel mit Champagner, hartem Techno und jungen Frauen in Dessous. Die Doppelmoral der Eliten erfüllt viele im Iran mit Zorn – besonders die Jugendlichen ohne Zukunftsperspektiven empfinden inzwischen nur noch Abscheu für das Establishment. Unter den jungen Menschen ist mindestens jeder Vierte arbeitslos, manche Experten gehen gar von 40 Prozent aus. Andere haben zwei, drei Berufe gleichzeitig und können ihre Rechnungen trotzdem nicht mehr bezahlen. Ihre Armut wird zur Anklage gegen das System.
Wirtschaftsmacht Revolutionswächter Auch die Revolutionswächter sind längst ein mafiöses Wirtschaftsimperium, das unter anderem den Immobilienmarkt in Teheran dominiert. Die Wächter kontrollieren zudem alle Seeund Flughäfen des Iran und können damit entscheiden, welche Waren ins Land gelangen. Auch der Schwarzmarkt ist daher fest in ihrer Hand. Die US-Sanktionen sind gut fürs Geschäft: Viele Güter aus dem Westen gelangen nur noch über ihre Schmuggelrouten ins Land. Das gilt selbst für Waren wie Alkohol oder Satellitenschüsseln, die im Iran verboten sind. Schon in den neunziger Jahren kursierten im Iran erste Gerüchte über die Raffgier der Mullahs und Militärs. Doch galt lange das ungeschriebene Gesetz, Reichtum in der Öffentlichkeit nicht zu zeigen. Die neuen Eliten gaben sich alle Mühe, weiterhin als arme Schlucker zu erscheinen: Männer trugen abgewetzte Anzüge, wenn sie ihre Villen verließen, Frauen versteckten ihre Dior-Kleider unter dem Tschador.
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Die Ohnmacht der Herrschenden
In Flammen. Protest gegen Benzinpreiserhöhung in Teheran im November 2019.
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Dass die Herrschenden den sozialen Protest blutig niedergeschlagen haben, ist kein Zeichen der Stärke, sondern Beweis ihrer Ohnmacht. Sie haben keine andere Wahl mehr, als sich mit Waffengewalt gegen die eigene Bevölkerung zur Wehr zu setzen. Doch die Proteste reißen nicht ab. Als der Konflikt mit den USA im Januar zu eskalieren drohte, schossen die Revolutionswächter versehentlich ein Passagierflugzeug über Teheran ab, alle 176 Passagiere starben. Die iranische Führung sprach zunächst von einem technischen Unfall, um das Versagen ihres Militärs zu vertuschen. Die Menschen im Iran sind es gewohnt, von ihrer Regierung angelogen zu werden. Doch dieses Mal gingen Tausende auf die Straße, um gegen die Lüge zu demonstrieren. Selbst Vertreter des Establishments gingen nach der Flugzeugkatastrophe auf Distanz zur Führung, die Risse im System werden tiefer. Solange der Unterdrückungsapparat noch loyal ist, wird das Regime wohl weiter überleben können. Aber der Widerstand wird nicht mehr verstummen. Keines der wirtschaftlichen Probleme ist gelöst. Teheran hat sich international weiter isoliert und sich vor den Augen aller massiv ins Unrecht gesetzt. Vor allem die Repression im November 2019 wird sich tief ins kollektive Gedächtnis des Landes eingraben – so wie einst die Massaker des Schahs, die den Despoten schließlich zu Fall brachten. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
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Rechte für alle. Demonstration gegen das neue Staatsbürgergesetz in Mumbai, Dezember 2019.
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Wer nicht mitsingt, gehört nicht dazu Ausgrenzung und Gewalt gegen Muslime sind mit dem Aufstieg der Nationalisten in Indien salonfähig geworden. Von Rose Weissman, Mumbai Kein Bart, keine Kurta, keine Gebetsmütze. »Ich versuche, westlich auszusehen«, sagt Azeef Shaikh* und zupft nervös an der Knopfleiste seines blauen Hemdes. Shaikh ist 35 Jahre alt, gläubiger Muslim – und er verzichtet auf sichtbare Zeichen seines Glaubens. Auch hier, im wohlhabendsten Bezirk des liberalen Mumbais, wo der nächste Matcha-Latte immer nur einen Steinwurf entfernt zu haben ist, will der junge Mann nicht auffallen. Azeef Shaikh hat Angst. Der Lektor stammt aus Odisha, einem Bundesstaat im Nordosten Indiens. Um seine Familie zu besuchen, muss Shaikh tagelang im Zug das Land durchqueren. Für Touristen eine aufregende Reise, für Muslime ein Spießrutenlauf. »Die Stimmung in den übervollen Abteilen kann schnell kippen«, erzählt Azeef Shaikh. Herablassende Kommentare und Belästigungen sind für muslimische Zugreisende längst Alltag in Indien, hinzu kommt die Furcht vor Gewalt. »Ich buche immer die teureren Abteile, weil dort die Chance geringer ist, angegriffen zu werden«, sagt Shaikh. »Meine Schwägerin trägt Burka, und ich habe bei jeder ihrer Reisen Angst um sie.« Immer wieder kommt es in den Überlandzügen zu brutalen Übergriffen: Im September 2019 wurde eine muslimische Familie an einem Bahnhof im Bundesstaat Uttar Pradesh von einem etwa 30-köpfigen Mob angegriffen und schwer verletzt. Kurz zuvor war ein 26-jähriger Lehrer in West-Bengalen verprügelt und aus dem fahrenden Zug geworfen worden. Er hatte sich geweigert, einen religiösen Hindu-Gesang mitanzustimmen: »Jai Shri Ram«, ein Loblied auf den Gott Ram. Als Schüler hatte Shaikh noch voller Inbrunst mitgesungen, heute würde ihm das Lied nicht mehr über die Lippen kommen. Wie ihm geht es vielen Muslimen. Aber: Wer nicht mitsingt, gilt vielen Hindus heute als Feind.
Foto: Francis Mascarenhas / Reuters
Die häufigsten Opfer: Muslime Ein Lied als Symptom für die sich immer stärker spaltende Gesellschaft der größten Demokratie der Welt. Fälle von religiös motivierten Morden und Übergriffen nehmen in Indien stetig zu. Zwischen Mai 2015 und Dezember 2018 wurden dabei mindestens 44 Menschen getötet. Die häufigsten Opfer: Muslime. Wie hoch die Zahl der Übergriffe genau ist, lässt sich nicht feststellen. Die Regierung veröffentlicht die Kriminalitätsstatistik zudem mit jahrelanger Verzögerung. Hindus first. Darauf setzt die Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) immer stärker. Das ist längst auch bei Azeef Shaikh im westlichen Mumbai angekommen, auch in jenen reichen Vierteln, in denen die Villen der Bollywood-Stars die Uferpromenade säumen. »Die Angst drückt dich nieder, sie kriecht
INDIEN
dir unter die Haut«, sagt er und fährt sich dabei über die Unterarme, wie um sich zu wärmen. Wenn sich die Muslime gegen die Repressionen wehren, reagieren die Behörden mit voller Härte. Videos vom Dezember 2019 zeigen die Jamia Millia Islamia-Universität in Delhi kurz nach der Erstürmung durch die Polizei. Junge Menschen kauern blutend in der Bibliothek, fliehen panisch aus den Gebäuden, verstecken sich vor den Beamten in den Büschen. Die dramatischen Szenen zeigen den Niedergang einer indischen Kardinaltugend: dem friedlichen Miteinander unterschiedlicher Meinungen in einer multireligiösen Demokratie. Zuvor hatten die Studierenden auf dem Campus gegen ein Gesetz protestiert, das es muslimischen Flüchtlingen erschweren soll, die indische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Ein Affront, finden auch Säkulare und Liberale. Die Polizei attackierte die Studenten mit Stöcken und Tränengas, laut Zeugen auch mit Schusswaffen. Schnell weiteten sich die Proteste aus, Zehntausende gingen im Dezember und Januar in ganz Indien auf die Straße. Mindestens 27 Menschen starben bei Auseinandersetzungen mit der Polizei, Tausende wurden festgenommen. Um die Angst vor diesem Gesetz, die Bestürzung der Muslime, das Vorgehen der Polizei zu begreifen, muss man über die aktuellen Nachrichten hinaus blicken – auf jenen Riss, der die Gesellschaft seit Jahrzehnten spaltet: Das Verhältnis der hinduistischen Mehrheit zur größten Minderheit im Land, den Muslimen. Diese »Minderheit« besteht aus 180 Millionen Menschen, die nach Indonesien größte muslimische Bevölkerungsgruppe der Welt. Dennoch machen sie auf dem Subkontinent nur rund 14 Prozent der Bevölkerung aus. Seit 2014, als die BJP an die Macht kam, hat sich ihr Status deutlich verschlechtert. Die rechtskonservative Partei verspricht wirtschaftlichen Aufschwung, resolutes Vorgehen gegen die Korruption und die Stärkung der hinduistischen Prägung des Landes. Ihre sogenannte Hindutva-Bewegung ist eine Mischung aus Nationalismus und Hinduismus – politischer Sprengstoff in einem multireligiösen Land. Wer etwas gegen Hassverbrechen tun will, bekommt Streit mit ganz oben. Als der Chefredakteur der Hindustan Times, Bobby Ghosh, 2017 eine Online-Datenbank namens »Hate-Tracker« ins Leben rief, bei der Leser Übergriffe melden konnten, hatte das direkte Folgen. Schon nach kurzer Zeit kam es zu einer Unterredung zwischen Premierminister Narendra Modi und
180 Millionen Muslime leben in Indien. 39
INDIEN
Kaschmir
Delhi
Mumbai
Assam
indischen Muslime und der liberalen Opposition in die staatlichen Institutionen schwindet. Auch die Sprache verroht. Premier Modi vergleicht muslimische Opfer von Gewalt mit »Hunden«, der Ministerpräsident von Uttar Pradesh droht demonstrierenden Muslimen mit »Rache«. Nicht nur rhetorisch setzt die Regierung auf Eskalation. Im August vergangenen Jahres hob sie den Sonderstatus der von Indien verwalteten und vor allem von Muslimen bewohnten Region Kaschmir im äußersten Norden des Landes auf. Sonderrechte wie eine eigene Verfassung und die Garantie der Autonomie waren von einem Tag auf den anderen hinfällig. Die Regierung schickte Tausende zusätzliche Soldaten in die Region, verhängte eine Ausgangssperre, schaltete Telekommunikation und Internet ab und verhaftete politische Anführer. Mehr als sieben Millionen Kaschmiris waren monatelang von der Außenwelt abgeschnitten.
Volkszählung mit verheerenden Folgen
Foto: Saumya Khandelwal / The New York Times / Redux / laif
Während in Kaschmir nun Millionen Menschen die indische Staatsbürgerschaft aufgezwungen wird, passiert im östlichen Bundesstaat Assam das Gegenteil. Dort führte die Regierung eine Volkszählung durch – mit verheerenden Auswirkungen: 1,9 Millionen Menschen sollen die Bürgerrechte aberkannt werden. Hindus, Sikhs, Jains, Buddhisten und Christen hätten nichts zu befürchten, erklärte Innenminister Amith Shah im Oktober, sie dem Eigentümer der Zeitung. Am folgenden Tag musste Ghosh alle würden dank eines neuen Gesetzes automatisch ein Bleibeseinen Posten räumen. Das Projekt wurde eingestellt. recht erhalten und müssten das Land nicht verlassen. Explizit Enttäuscht reagierten viele Muslime auch auf die Entscheinicht Teil dieser Gruppe: Muslime. dung des Obersten Gerichtshofes vom November vergangenen Später fügte Shah hinzu, er wolle »selektiv alle Eindringlinge Jahres, den Hindus ein seit Jahrzehnten umstrittenes Gelände in ausschalten – und diese Aufgabe wird die BJP vor 2024 umsetAyodhya im Norden des Landes zuzusprechen. Hier hatte seit dem 16. Jahrhundert eine Moschee gestanden, bis diese 1992 von zen«. Zielscheibe erneut: die Muslime. Bereits 2018 hatte Shah, der auch Chef der Regierungspartei BJP ist, gegen »Eindringlinradikalen Hindus zerstört worden war. Viele Beobachter sahen ge« gehetzt, die Indiens Zukunft »wegessen« würden und verin der Entscheidung eine Bestätigung des Vorgehens der Hinduglich sie mit Termiten. Konkret meinte er Einwanderer aus dem Nationalisten – mit weitreichenden Folgen: Das Vertrauen der armen Nachbarland Bangladesch. Aus der Regierungspartei werden nun immer wieder Stimmen laut, das sogenannte Nationale Bürgerregister auf das ganze Land auszuweiten – mit Folgen wie in Assam. Entsprechend groß ist die Angst in der muslimischen Gemeinde. Denn hier kommt schon die Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes vom Dezember 2019 zum Tragen, das auch die blutigen Proteste in der Jamia Millia Islamia-Universität auslöste. Indien will damit die Vergabe der Staatsbürgerschaft an die Religionszugehörigkeit knüpfen. Muslimischen Einwanderern aus Pakistan, Bangladesch und Afghanistan würde damit der Zugang zum indischen Pass erschwert. Muslimen, denen bei einer aktuellen oder kommenden Volkszählung die Bürgerschaft aberkannt wird, hätten dann kaum mehr Chancen auf Wiedereinbürgerung. »Die indische Regierung leugnet jede Form von Diskriminierung, aber das neue Staatsbürgerschaftsgesetz macht Volkszählungen eindeutig zu einer Waffe gegen Muslime«, erklärt der Am Ausmustern. Beamter in Assam bei der Prüfung von Identitätsdokumenten, Juli 2019.
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Geschäftsführer von Amnesty Indien, Avinash Kumar. Die Situation sei besorgniserregend und habe »das Potenzial, die größte Krise Staatenloser weltweit auszulösen«, fürchtet Kumar. Auch die Vereinten Nationen bezeichneten das neue Gesetz als »fundamental diskriminierend«.
Herkunft spielte keine Rolle
Foto: Danish Siddiqui / Reuters
In Najid Khans* Alltag ist diese Problematik noch nicht angekommen. Ja, auch in seiner Heimat Mumbai fanden Proteste statt, auch er war im Dezember auf der Straße. Doch Khan ist ein erfolgreicher Immobilienmakler, gut ausgebildet, exzellent vernetzt. Für ihn ist die Diskriminierung bisher nur eine Drohung. Ein Gefühl der Enge, das nicht von der zwangsläufig gedrängten Lebensweise in der 22-Millionen-Metropole herrührt. Der 31-Jährige fährt mit seinem Motorroller durch die engen Gassen des Viertels Andheri, er ist auf dem Weg zu einem Geschäftstermin. Es ist heiß und Zukunft ungewiss. Männer in Kaschmir, August 2019. feucht, die Luft in der Stadt riecht nach Holzkohlefeuer. Das Arabische Meer beGeschäftsbeziehung ist für ihn wichtig: Vor kurzem wollten die findet sich hinter den Häuserreihen, zu hören ist aber nur das beiden eine neue Wohnung mieten, alle Details waren geklärt, Rauschen der Stadt. Najid Khan ist hier aufgewachsen, im Schatdie Verträge lagen schon bereit. Da sah der Vermieter den musliten der Hochhäuser stehen kleine Häuschen, begehrte Immobimischen Nachnamen Khans – und ließ den Deal platzen. In vielien in der in die Höhe wachsenden Metropole. Khan will ein len indischen Wohnungsannoncen steht unverblümt: »Keine Apartment besichtigen. »In Mumbai musst du schnell sein, Muslime«. wenn du mitschwimmen willst«, sagt er, während er seinen Rol»Mein Freund sagte damals: ›Vergiss es, das war ein Rassist, ler am Straßenrand parkt. Najid Khan ist groß und muskulös, wir suchen eine neue Wohnung.‹ Dass diese Leute aber von der um seine Augen liegt ein dunkler Schatten. »Unsere Geschäfte Regierung bestärkt werden und dass das mein Leben jeden Tag laufen gut. Ich weiß aber nicht, wie lange das noch so weitergeht«, sagt er. Der Grund: Najid Khan ist Muslim, sein Geschäfts- schwerer macht, will er nicht sehen«, meint Khan. Sein Geschäftspartner sei noch immer ein enger Freund. Aber Khan partner Hindu-Nationalist. Die beiden sind Freunde seit ihrer Kindheit, in einem Viertel weiß nicht, wie lange er noch Energie für die Auseinandersetzung mit ihm hat: »Streiten oder Aufgeben, beides bricht mir aufgewachsen, gemeinsam zur Schule gegangen. Ihre Herkunft das Herz.« habe nie eine Rolle gespielt, sagt Khan, beide seien nicht religiSowohl der Geschäftsmann Khan als auch der Lektor Shaikh ös. »Und dann hat er 2014 die Hindu-Nationalisten gewählt, eine sagen, dass sie sich noch relativ sicher fühlen, dass es die armen Partei, deren Mitglieder Muslime öffentlich mit Insekten verMuslime in den ländlichen Gegenden seien, die dem Hass gleichen, die man aus dem Land treiben müsse«, ärgert sich schutzlos ausgeliefert sind. Wenn die Gewalt zu ihnen nach Khan. »Das war ein Schock für mich.« Sein Geschäftspartner Mumbai käme, glaubt keiner von ihnen an die Hilfe der Polizei – sagt, die BJP stärke die Wirtschaft. Khan sagt, jetzt, wo die indizu oft schon hat die Staatsmacht die Minderheit im Stich gelassche Ökonomie schwächele, machten die Hindu-Nationalisten sen. Bei den Protesten der vergangenen Monate waren stets Poliauch mit der Angst vor Muslimen Stimmung. zisten an Übergriffen beteiligt. Eine aktuelle Umfrage belegt, Najid Khan kämpft um seine Freundschaft, aber auch die dass jeder dritte indische Polizist Gewalt angemessen findet. Wer glaubt noch an den Rechtsstaat, wenn es selbst die Beamten des Staates nicht mehr tun? Während Najid Khan noch hofft, Jugendfreundschaft und Geschäftsbeziehung retten zu können, ist bei Azeef Shaikh die Angst längst in Wut umgeschlagen. »Ich glaube nicht mehr an ein friedliches Morgen hier«, sagt Shaikh. Er will nur noch weg aus Indien und woanders eine Zukunft für sich und seine Familie aufbauen.
»In Mumbai musst du schnell sein, wenn du mitschwimmen willst.« Najid Khan
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* Namen von der Redaktion geändert
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Die Spuren des Kalifats
Vor einem Jahr wurde die Terrororganisation Islamischer Staat in Syrien besiegt. Doch im andauernden Krieg ringen viele Menschen weiter mit dem dunklen Erbe, das die Dschihadisten hinterlassen haben – auch für deren Frauen und Kinder sieht die Zukunft düster aus. Von Johanna-Maria Fritz (Fotos) und Philip Malzahn (Text)
Blick auf eine verwundete Stadt. Rakka im Dezember 2019.
Vergangenheitsbewältigung. Die Leichensäcke werden zum Verladen vorbereitet.
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Wertvolle Funde. Gebisse und Haare können
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Suche nach den Toten. Leichengräber bei Rakka.
Graben, um zu leben Die Abteilung Leichengräber der Zivilen Verteidigungskräfte wurde Anfang 2018 in Rakka aus einer Notwendigkeit heraus gegründet: Die IS-Kämpfer hatten die nordsyrische Stadt 2013 zu ihrer Hauptstadt erklärt; im Oktober 2017 wurde sie von einer US-geführten Koalition befreit. Sofort wandten sich Tausende Bürger, die auf der Suche nach vermissten Angehörigen waren, an die neue Verwaltung. Schnell wurde klar: Der IS hat sie umgebracht und vergraben. Die Leichengräber suchen deshalb nach den Orten, an denen der IS seine Opfer verscharrt hat, und heben sie aus. Ziel ist es, die sterblichen Überreste zu identifizieren und ihren Familien zu übergeben. Das ist extrem schwer, denn oft sind die Leichen bis zur Unkenntlichkeit entstellt – viele wurden etwa geköpft – oder sind bereits so stark verwest, dass eine Identifizierung unmöglich ist. Hinzu kommt, dass die wenigsten Syrer mit ihrer DNA registriert sind. Vor Beginn des Syrien-Krieges 2011 hatte Rakka, gelegen am Fluss Euphrat, etwa eine Viertel Million Einwohner. Heute sind es nur noch knapp über 100.000. Obwohl mehr als die Hälfte der städtischen Infrastruktur während der jahrelangen Kämpfe zerstört wurde, kehren viele Geflohene inzwischen zurück und entdecken auf ihren Höfen, Grundstücken und Feldern solche Gräber. Anfang 2020 hatte die Abteilung Leichengräber bereits 5.732 Leichen gefunden. Wie viele es noch werden, weiß niemand. Das größte von mehr als 80 Massengräbern, das im Februar 2019 ausgehoben wurde, enthielt die sterblichen Überreste von etwa 3.500 Menschen, davon konnten nur knapp über 800 den Angehörigen übergeben werden. zur Identifizierung der Toten herangezogen werden.
SYRIEN
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Das Lager der IS-Angehörigen. Al-Haul im Dezember 2019.
Die Frauen des IS. Im internationalen Teil des Lagers von al-Haul.
Man erkennt sie an den Kindern In al-Haul, dem größten Gefangenenlager für Angehörige von IS-Kämpfern in Syrien, leben rund 71.000 Menschen. Mehr als 90 Prozent sind Frauen und Kinder. Wachpersonal gibt es nur an den Eingängen; im Inneren sind die Gefangenen zumeist unter sich. Im abgetrennten Bereich für Ausländer leben mehr als 10.000 IS-Familienmitglieder aus mehr als 50 Staaten, darunter etwa 100 Deutsche. Obwohl es in al-Haul kaum Männer gibt, sind alle Frauen vollverschleiert. Nur am Aussehen ihrer Kin-
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der kann man erahnen, aus welch unterschiedlichen Weltgegenden sie kommen. Laut Lagerverwaltung haben die Frauen Gerichte etabliert, um andere für »Fehlverhalten« zu bestrafen. Die Lebensbedingungen sind hart, vor allem im Winter. Die Zelte sind nicht beheizt, die Sanitäranlagen liegen im Freien. Die wenigen Hilfsgüter, die es in das Lager schaffen, werden von den stärkeren Frauen verkauft. Bislang weigern sich die meisten Staaten, ihre Bürger zurückzunehmen.
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Nach den Kämpfen. IS-Gefangene in al-Hasaka, Dezember 2019.
Wo der Terror weiterlebt In Syrien sind derzeit rund 12.000 männliche IS-Anhänger inhaftiert, darunter etwa 3.000 ausländische Dschihadisten. Die meisten kommen aus Nordafrika, Zentralasien und Indonesien. Im größten Gefängnis in der nordsyrischen Stadt al-Hasaka sind 5.000 IS-Mitglieder aus mehr als 30 Staaten auf engstem Raum zusammengepfercht. Bis zu 100 Personen teilen sich eine Zelle. Die Strafverfolgung der Inhaftierten ist kompliziert, da es schwer ist, einzelnen Individuen konkrete Straftaten nachzuweisen. Kaum einer gibt seine Schuld zu. Die meisten beteuern, zwar im Gebiet des Islamischen Staats gelebt, aber nicht gekämpft zu haben. Dabei wurden die 5.000 Männer alle in Baghouz – dem letzten Rückzugsort des IS vor seinem Fall im März 2019 – gefangen genommen. Mit Beginn der türkischen Invasion im Oktober 2019 musste die in Nordsyrien regierende Selbstverwaltung einen Großteil des Wachpersonals in al-Hasaka abziehen. Die türkische Armee hat inzwischen diverse Lager und Gefängnisse angegriffen, um IS-Anhänger zu befreien. Mehr als 600 Fluchtversuche hat die Selbstverwaltung laut eigenen Angaben verhindert, in den vergangenen Monaten gelang jedoch mehr als 800 IS-Anhängern und ihren Familienangehörigen die Flucht.
SYRIEN
Leergefegt. Krankenstation im Gefängnis für IS-Kämpfer in al-Hasaka.
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WAS TUN
Denker fragen: Henning Hahn
Interview: Lea De Gregorio Henning Hahn lehrt Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er ist Mitherausgeber des Sammelbandes »Globale Gerechtigkeit« (Suhrkamp) und der Monografie »Globale Gerechtigkeit: Eine philosophische Einführung« (Campus).
Das steckt drin: Gold
Quellen: World Gold Council, Fair Trade, Rettet den Regenwald, Human Rights Watch, Globale Initiative gegen transnationale organisierte Kriminalität
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macro wildlif shutte rstock / Foto:
Überwiegend wird Gold in großen, industriellen Minen gefördert. Doch t rund 15 bis 20 Prozen ueba abg eit des weltw ten Goldes stammen r aus Kleinbergbau. Hie Arder ist der Großteil beitskräfte beschäftigt – weltweit sind es mehr als 15 Millionen, zu denen auch Frauen und Kinder zählen.
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Gold ist ein begehrter Rohstoff – er findet Verwendung in Schmuck , Handys, Nanotechnologie oder als Ba nkreserve. Das Edelmetall wird weltweit geschürft. Der größte Produzent mi t 14 Prozent der jährlichen Produktion weltweit ist China.
henrechtsverist das Risiko für Mensc In Entwicklungsländern bau besonders erg inb rstörungen im Kle letzungen und Umweltze eit ist geArb Die : kär gungen sind pre hoch. Die Arbeitsbedin sind extrem nied gefährlich, die Löhne sundheitsschädlich un r Mafia kontrolit verbreitet, Milizen ode drig, Kinderarbeit ist we enarbeit komlav Sk d ution, Zwangs- un stit Pro . nen Mi die en lier ikalien Zyanid bbau verwendeten Chem men vor. Die im Golda oder Rückgehgiftig. Schutzanzüge und Quecksilber sind hoc gibt es meist nicht. winnungsvorrichtungen
Um die Missständ e im Goldabbau zu beseitigen, brauch t es international verbindliche Rege lungen. Immerhi n: Ab 2021 gelten bei der Einfuhr vo n Gold aus sogenann ten Konflikt- und Hochrisikogebiet en in die EU verb indliche Sorgfaltspflic hten für Unterneh men.
oder Laptops auch: Handys lft hi m su on dys ist so viel Bewusster K en – in 49 Han tz nu e hmuck ng la t e Golderz. Sc möglichs ie in einer Tonn w ehen. n zi te be al l th de en Gold s fairem Han au er od en en ss rt umarbeiten la rzichten – Expe nanzreserve ve Auf Gold als Fi davon ab. raten ohnehin
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Foto: privat
gibt es eine Art der Beteiligung, die nicht im strengen Sinne ursächlich ist. Wenn wir hier ein T-Shirt kaufen, verursachen wir nicht die Menschenrechtsverletzungen bei den Näherinnen in Bangladesch. Aber wir halten so soziale Praktiken aufrecht. Wir sind sozial verbunden mit diesen Geschehnissen. Daraus erwächst keine Schuld, aber Solidarität. Die Ungerechtigkeit der Welt lastet also nicht auf meinen Schultern? Im engeren Sinne sind ja nicht Sie schuld, sondern Personen, die anders hätten handeln können und durch ihr Handeln Menschenrechtsverletzungen hätten vermeiden können – wie zum Beispiel ein Fabrikbesitzer. Aber auch Sie sind in einer Machtposition – positiv ausgedrückt: Sie können mit Menschen, mit denen Sie auf eine komplexe Art und Weise zusammenleben, solidarisch sein – und zum Beispiel ein T-Shirt aus fairer Produktion kaufen.
Inwiefern bin ich für Ungerechtigkeit verantwortlich? Eigentlich sind Pflichten der Gerechtigkeit ausgelagert auf Institutionen und politische Akteure, die Macht ausüben. In einer idealen Welt hätte ich keine Gerechtigkeitsverantwortung, sondern nur Verantwortung für meine Kinder und für meine eigenen Projekte. Um es profan auszudrücken: Die Verteilung von Ressourcen und fairen Chancen und das Schützen von Freiheiten wären nicht mein Bier. Und in der komplexen Welt, wie wir sie kennen? Wir leben global betrachtet in einer Welt, in der wir diese Entlastungsfunktion von Institutionen kaum haben. Da muss ich die Rolle des Pflichtträgers von Gerechtigkeit selbst übernehmen – im Rahmen meiner Möglichkeiten und Machtbefugnisse. Inwiefern sind wir moralisch verantwortlich? Als politische Akteure sind wir vernetzt – und wissen auch mehr über Menschenrechtsverletzungen. Umwelt, Klimawandel, Migrationskrise, Bodenerosion, Regenwaldabholzung – all das sind Dinge, an denen wir beteiligt sind, auch wenn sie nicht nur in unserer Nähe geschehen. Inwiefern? Teilweise kann man uns Haftbarkeit zuschreiben – Verantwortung in dem Sinne, dass wir gewissermaßen als Komplizen ursächlich mitverantwortlich sind. Darüber hinaus
Malen nach Zahlen: Frauenrechte Der »Global Gender Gap Report« veröffentlicht seit 2006 jedes Jahr die Entwicklung der Frauenrechte weltweit. Die Grafik zeigt die Länder, die sich im globalen Index um die meisten Plätze verbessert bzw. verschlechtert haben. Platz Island
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Slowenien -25
10 20 30
Spanien +21
Uganda -22 Bulgarien -31
Kap Verde +20
40 50
Mexiko +25
60 70 Myanmar -26
Slowakei +20
Mongolei -21
Madagaskar +22 Georgien +25
80 90 100
Kamerun -39
110
Kenia -33
120
Äthiopien +35
130 140 Jemen
153 Quelle: World Economic Forum 2020
Besser machen: Globale Wirtschaft Deutsche Unternehmen halten sich nicht ausreichend an menschenrechtliche Standards. Daher plant die Bundesregierung bis zum Sommer einen Entwurf für ein Lieferkettengesetz, das eine Sorgfaltspflicht im gesamten, auch globalen, Herstellungs- und Lieferprozess vorsieht. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) lehnt dies ab. Einzelne Unternehmen engagieren sich jedoch inzwischen für ein Lieferkettengesetz. Wie kann ich Vorgesetzte und Kollegen davon überzeugen, dass das eigene Unternehmen von der Achtung der Menschenrechte auch profitiert? Gute Argumente liefert die UNO-Initiative »Global Compact«. Eine verantwortungsvolle Unternehmensführung D bedient die Erwartungen der Geschäftskunden
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WAS TUN
D verbessert das Risikomanagement D vermeidet bzw. verringert operative, rechtliche und Managementkosten D schützt die eigene Reputation D erhöht die Vertrauenswürdigkeit des Unternehmens im Vergleich zu Wettbewerbern D sorgt für bessere und nachhaltigere Beziehungen zu Lieferanten D verbessert die Kreditwürdigkeit D verbessert den Kundenservice und das Produktqualitätsmanagement D sorgt für größere Mitarbeiterzufriedenheit. Weitere Informationen: Global Compact, Initiative Lieferkettengesetz
FORDERE GERECHTIGKEIT FÜR JULIÁN CARRILLO! Der mexikanische Land- und Umweltrechtsverteidiger Julián Carrillo wurde am 24. Oktober 2018 erschossen. Der Führer der indigenen Gemeinde der Rarámuri Coloradas de la Virgen engagierte sich gegen Abholzung, Bergbau und Drogenanbau in seiner Heimat. Die Verantwortlichen wurden bisher nicht zur Rechenschaft gezogen. Mach mit bei unserer Petition an den Governeur des mexikanischen Bundesstaates Chihuahua!
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PORTRÄT
Foto: Hannah El-Hitami
Urenkelin von Tätern und Opfern Sima Luipert setzt sich in Namibia für die Aufklärung des deutschen Völkermords an Nama und Herero ein. Von Hannah El-Hitami Als Sima Luipert ein Kind war, mahnte ihre Großmutter sie, sich von den weißen Kindern fernzuhalten, den Nachfahren deutscher und niederländischer Siedler in Namibia. »Sonst landest du auf der Insel!«, warnte sie ihre Enkelin, die noch nicht verstand, was die Großmutter damit meinte. Erst später erfuhr Luipert von der Haifischinsel, auf der die deutsche Kolonialmacht Anfang des 20. Jahrhunderts ein Konzentrationslager betrieben hatte. Dort kamen zwischen 1904 und 1908 mehrere Tausend Menschen ums Leben, Angehörige der namibischen Bevölkerungsgruppen Herero und Nama. Insgesamt ermordeten die Deutschen in ihrer damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika etwa 65.000 Herero und 10.000 Nama. Deutschland hat sich für diesen ersten Genozid des zwanzigsten Jahrhunderts bis heute nicht offiziell entschuldigt. Sima Luipert kommt aus einer politischen Familie, ist Nachfahrin der Witbooi- und Fredericks-Clans, die den Widerstand gegen die deutsche Kolonialmacht maßgeblich prägten. Ihre Urgroßmutter war auf der Haifischinsel und später im OkawayoLager inhaftiert, wo sexuelle Gewalt gegen die Frauen der Herero und Nama weitverbreitet war. Viele Kinder entstanden aus diesen unfreiwilligen Verbindungen, auch Luiperts Urgroßvater war ein deutscher Soldat. Heute, mehr als hundert Jahre nach dem Völkermord, versucht Sima Luipert, auf dieses dunkle Kapitel der deutsch-namibischen Geschichte aufmerksam zu machen. Die 50-jährige ist Aktivistin der Nama Traditional Leaders Association (NTLA), der Vertretung der Nama in Namibia. Die NTLA setzt sich für die Aufarbeitung der Kolonialverbrechen und für den Erhalt der Nama-Kultur ein, die fast ausgelöscht wurde – ebenso wie die wirtschaftliche Lebensgrundlage der Nama und Herero, die damals von ihrem Land vertrieben wurden und ihre Viehherden verloren. Die Folgen seien bis heute
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spürbar, sagt Luipert: »Die Nama sind ein gebrochenes Volk ohne Selbstwertgefühl.« Das zeigten die weitverbreiteten sozialen Probleme in der Community: Alkoholismus, Schwangerschaften bei Minderjährigen, zerbrochene Familien. »Viele wohnen noch immer in den erbärmlichen Reservaten, die damals für sie geschaffen wurden. Sie arbeiten nach wie vor unterbezahlt für die weißen Farmer«, so Luipert. Tatsächlich sind 70 Prozent der kommerziellen Farmen in Namibia heute noch im Besitz von Weißen, ebenso wie knapp die Hälfte der gesamten Fläche. 2017 reichten Vertreter der Herero und Nama Klage gegen Deutschland wegen des Genozids vor einem Gericht in New York ein. Doch die Klage wurde in erster Instanz abgelehnt, auch ein späterer Erfolg ist unwahrscheinlich. Bei den Verhandlungen zwischen deutscher und namibischer Regierung dürfen Vertreter von Herero und Nama nicht mitreden – für Luipert ein klares Zeichen dafür, dass das Leid der Nama noch immer nicht ernst genommen wird. Ihr gehe es dabei nicht in erster Linie um Geld, sagt Luipert, sondern um Anerkennung: »Ich glaube nicht, dass die Täter uns als Menschen sehen, denn sie weigern sich, mit uns zu sprechen. Ich finde es schmerzhaft und erniedrigend, den deutschen Staat darum zu bitten, meine Existenz anzuerkennen.« Ebenso wünsche sie sich einen Austausch von Mensch zu Mensch, zwischen den Nachfahren der Täter und Opfer. Immerhin sind viele deutsche und namibische Familiengeschichten, wenn auch unfreiwillig, miteinander verknüpft. »Der Vater meiner Oma war ein deutscher Soldat, der nach Deutschland zurückkehrte und vielleicht weitere Kinder hatte«, so Luipert bei einem Besuch in Berlin. »Wer sind diese Kinder? Haben sie ein Interesse, ihre Verwandten kennenzulernen? Oder wollen sie sich von der Scham und der Schuld reinwaschen?«
AMNESTY JOURNAL | 02/2020
DRANBLEIBEN
Den Haag rügt Myanmar Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag hat Myanmar im Januar dazu verpflichtet, alle Maßnahmen zu ergreifen, um einen Völkermord an den Rohingya zu verhindern. Er gab damit einer Klage Gambias statt. Die Rohingya seien weiterhin »ernsthaft vom Völkermord bedroht«, so das Gericht. Myanmar müsse alles tun, um einen Völkermord an der
muslimischen Minderheit zu verhindern. Auch müsse das Land dafür sorgen, dass das Militär die Rohingya nicht verfolge. Weiter teilte das Gericht mit, dass die Maßnahmen zum Schutz der Rohingya »internationale rechtliche Verpflichtungen« seien. Gambia hatte den Fall im Namen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) vor das Gericht ge-
bracht. Der Staatenbund beschuldigt Myanmar wegen des harten Vorgehens gegen die Rohingya des Genozids. Soldaten Myanmars haben seit 2016 Tausende Menschen ermordet, Dörfer zerstört, Frauen und Kinder vergewaltigt und mehr als 700.000 Menschen vertrieben. (»Vernachlässigt und verfolgt«, Amnesty Journal 01/2020)
Bolsonaro hebt Schutz für Indigenengebiete auf
(»Abgebrannt am Amazonas«, Amnesty Journal 04/2019)
Foto: Gabriel Uchida
Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro hat im Februar ein Gesetz auf den Weg gebracht, das Bergbau, Energiegewinnung und andere wirtschaftliche Aktivitäten in indigenen Gebieten erlauben soll. Unternehmen wird damit ermöglicht, in den Reservaten Bodenschätze wie Gold, Erdgas und Öl zu fördern. Auch der Bau von Kraftwerken soll möglich werden. Die Indigenen, denen diese Gebiete gehören, müssten zwar gefragt werden, haben aber kein Vetorecht, um die wirtschaftliche Nutzung zu verhindern. In der Praxis wird der bestehende Schutz der indigenen Gebiete damit aufgehoben. In Brasilien gibt es insgesamt 486 Reservate. Indigenenorganisationen und andere NGOs kritisierten den Gesetzentwurf. Bolsonaro fiel bei der Präsentation abermals mit abfälligen und rassistischen Äußerungen auf. Landraub. Indigener im stark von illegaler Abholzung betroffenen brasilianischen Bundesstaat Rondônia.
Deutschland schiebt weiter nach Afghanistan ab Trotz der verheerenden Lage vor Ort hält die Bundesregierung an ihrem Kurs fest, geflohene Menschen nach Afghanistan abzuschieben. Bei der ersten Sammelabschiebung 2020 wurden 37 afghanische Männer nach Kabul geflogen. An der Ab-
PORTRÄT
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DRANBLEIBEN
schiebung im Januar beteiligten sich Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Hamburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Thüringen. Es war die 31. Sammelabschiebung seit Dezember 2016. Damit haben Bund und
Länder seither 837 Männer nach Afghanistan zurückgebracht. Üblicherweise geht etwa ein Abschiebeflug pro Monat nach Kabul. (»Rückkehr in Schulden und Scham«, Amnesty Journal 04/2019)
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KULTUR
»An mir ist nichts Heldenhaftes« Der ukrainische Filmemacher Oleg Sentsov engagiert sich seit seiner Freilassung aus russischer Haft selbst für politische Gefangene. Ein Gespräch über seinen Hungerstreik, sein Hafttagebuch und die Rolle Russlands in Europa.
Russische Unterstützung. Regierungskritiker präsentieren ein Bild Oleg Sentsovs auf einer Demonstration in Moskau im Juni 2018.
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Foto: Evgeny Feldman / AP / pa
OLEG SENTSOV
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Interview: Anastasia Rodion
Sie haben fünf Jahre im Gefängnis gesessen. Welche Spuren hat das hinterlassen? Jeder Mensch verändert sich innerhalb von fünf Jahren. Und es verändert sich jeder Mensch, der besonders harten Umständen ausgesetzt ist – wie es beispielsweise ein Gefängnis ist. Freunde, die mich fünf Jahre lang nicht gesehen haben, hatten große Angst davor, dass ich mich sowohl physisch als auch psychisch verändert haben könnte. Als sie dann mit mir sprachen, haben sie gesagt, dass ich derselbe geblieben sei. Ich weiß nicht, wie ich das ausgehalten habe. Aber ich bin nicht der Einzige, daran ist nichts Heldenhaftes. Es gibt Menschen, die noch viel mehr zu ertragen imstande sind. Als im Rostower Gerichtssaal das Urteil verkündet wurde, wirkten Sie selbstsicher und ruhig. Waren Sie nie verzweifelt oder verloren den Glauben daran, vor Ablauf von 20 Jahren freigelassen zu werden? Ich versuche immer, die Dinge objektiv zu betrachten und die Situation so zu bewerten, wie sie ist. Jeder hat schwierige Momente, ich auch. Manchmal war es so hart, dass ich glaubte, ich hätte keine Kraft mehr. Aber das kam sehr selten vor, dauerte auch nicht lange, und es hat auch niemand bemerkt.
Während des Hungerstreiks haben Sie begonnen, Tagebuch zu führen. Sie konnten diese Aufzeichnungen aus dem Gefängnis schmuggeln und wollen sie noch dieses Jahr veröffentlichen, ohne sie noch einmal durchzulesen und zu redigieren. Warum nicht? Dieses Tagebuch besteht aus vier bis fünf eigenständigen Heften. Wie soll man das redigieren? Ich habe es in dem Bewusstsein geschrieben, dass dies vielleicht das Letzte ist, was ich schreibe. In solch einer Lage ist ein Mensch maximal offen. Ich will die Wahrheit nicht schönen. Sie würde dann unverständlich werden, auch für mich selbst. So arbeite und schreibe ich eben, über mich und andere, so ungeschminkt. Die Wahrheit ist wichtiger als schöne Worte. Warum, glauben Sie, kamen Sie erst nach dem Machtwechsel in der Ukraine auf freien Fuß? Russlands Präsident Wladimir Putin sucht nach Möglichkeiten, um wieder mit Europa in Kontakt zu kommen und die Situation in der Ukraine, so wie sie jetzt ist, festzuschreiben. Über die Krim redet doch schon niemand mehr. Der Donbass soll zwar irgendwie zur Ukraine zurückkehren – aber zu russischen Bedingungen. Die separatistischen Gruppierungen werden legitimiert und erhalten einen besonderen Status und eine Autonomie für den Donbass. Dann wird Putin in den nicht von der Ukraine kontrollierten Gebieten Wahlen abhalten, und das war es dann. Das ist die Falle, in die Putin die Ukraine locken will.
Foto: Ivan Kovalenko / Kommersant / Polaris / laif
2018 waren Sie 145 Tage im Hungerstreik und haben 20 Kilogramm Gewicht verloren. Ihr Leben war akut gefährdet. Wie fühlen Sie sich jetzt? Okay. Nach einem Jahr war mehr oder weniger alles wieder wie vorher. Ich habe noch Probleme mit dem Stoffwechsel und
der Leber. Doch das alles sind Kleinigkeiten im Vergleich zu der Zeit unmittelbar nach dem Hungerstreik.
Nach der Freilassung. Oleg Sentsov mit seiner Tochter auf dem Kiewer Flughafen Boryspil im September 2019.
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Sie haben gesagt, dass es in Russland nur dann zu Veränderungen kommen wird, wenn Putin nicht mehr an der Macht ist. Wie soll das gehen, wo ihn doch so viele Menschen unterstützen? Sie unterstützen ihn, weil es einen starken Polizeiapparat gibt, der alle unter Druck setzt, die gegen ihn sind. Dazu kommt die Propaganda, die die Menschen einer Gehirnwäsche unterzieht. Außerdem hat Putin es verstanden, mit den kleinen postkolonialen imperialistischen Ambitionen der Bürger zu spielen. Ihre Logik ist folgende: Wir leben schlecht, aber unsere IskanderRaketen bedrohen die ganze Welt. Für die Europäer ist das schwer zu verstehen, aber so ist die russische Mentalität. Doch die Situation in Russland wird sich verschlechtern. Und das wird letztlich zum Abgang Putins führen. Das globale Ausmaß dieser tiefgreifenden Veränderungen in Russland ist schwierig vorherzusagen. Aber dass es Veränderungen geben wird, ist eine Tatsache.
»Ich habe gedacht, dass dies vielleicht das Letzte ist, was ich schreibe.« Oleg Sentsov
Nach dem Ende der Haft reisten Sie zunächst nach Deutschland und Frankreich. Haben Sie den Eindruck, dass die Unterstützung für die Ukraine in Europa schwindet? Die Ukraine genießt in Europa immer noch Unterstützung. Ich treffe derzeit viele Menschen, die an unserer Seite sind. Die größte Unterstützung sehe ich vonseiten Polens und der baltischen Staaten, also derjenigen, die sich noch sehr gut an die Zeit der russischen Besatzung und die Unterdrückung ihrer Freiheit erinnern. Erst seit ich in vielen europäischen Staaten unterwegs bin, beginne ich das Ausmaß der russischen Einflussnahme auf die dortigen Prozesse zu verstehen. In Frankreich ist man beispielsweise Russland gegenüber toleranter, betont die historischen Beziehungen. Ich kann diese Position nicht verstehen.
Foto: Henning Schacht / Amnesty
Was hieße für Sie Gerechtigkeit nach einem Ende des Krieges zwischen Russland und der Ukraine? Es müssten drei Punkte erfüllt sein: Die Rückgabe der besetzten Gebiete Krim und Donbass; die Zahlung von Reparationen für die zugefügten Schäden; und das staatliche Bekenntnis Russlands zu seiner Aggression und zu allen getöteten Ukrainern.
Solidarität. Amnesty-Aktion für Oleg Sentsov auf der Berlinale 2016.
OLEG SENTSOV Umfragen zufolge genießen Sie nach Präsident Wolodymyr Selenski das höchste Vertrauen in der ukrainischen Bevölkerung. Sie haben immer gesagt, Sie wollten nicht in die Politik gehen. Ist das noch so? Ich wollte nie in die Politik gehen. Im Moment steht diese Frage für mich nicht auf der Tagesordnung. Außer meiner Beschäftigung mit der Kunst betätige ich mich derzeit als Aktivist. Ich halte mich auf dem Laufenden und mag es nicht, voreilige Schlüsse zu ziehen und übereilt zu handeln. Meine Hauptaufgabe sehe ich darin, an verschiedenen Orten in Europa über die russische Aggression zu sprechen. Denn viele haben sich bereits an sie gewöhnt. Meine zweite Aufgabe sehe ich darin, an unsere Leute zu erinnern, die in russischer Gefangenschaft sind, und an ihrer Befreiung mitzuwirken. Ich will in einigen Monaten eine zivilgesellschaftliche Organisation gründen, die sich diesen Fragen widmet. Setzt Ihre Autorität in der Gesellschaft Sie unter Druck? Ich spüre diese Autorität nicht, obwohl man mir viel darüber erzählt. Ich schenke dem keine Aufmerksamkeit. Ich grenze mich davon ab, um nicht in meiner Arbeit gestört und davon beeinträchtigt zu werden.
OLEG SENTSOV
Der ukrainische Filmregisseur wurde 1976 in Simferopol auf der Halbinsel Krim geboren. Mit seinem ersten Spielfilm »Gamer« über einen Videospiel-Wettbewerb debütierte er 2012 auf dem Internationalen Filmfestival in Rotterdam. Ende 2013 schloss er sich den Protesten des Euromaidan gegen die Regierung in Kiew an und wandte sich gegen die russische Annexion der Krim im März 2014. Zwei Monate später wurde er in seinem Haus in Simferopol verhaftet und nach Moskau verschleppt. Ein russisches Militärgericht verurteilte ihn 2015 wegen angeblicher terroristischer Aktivitäten zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren. Sentsov musste seine Haft in einer sibirischen Strafkolonie in Labytnangi am Polarkreis antreten. 2018 befand er sich 145 Tage lang im Hungerstreik, um auf die Lage von mehr als 60 ukrainischen Gefangenen in russischer Haft aufmerksam zu machen und ihre Freilassung zu erreichen. Noch im selben Jahr verlieh ihm das Europäische Parlament den Sacharow-Preis für geistige Freiheit. Im September 2019 kam Oleg Sentsov nach einem Gefangenenaustausch zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine vorzeitig frei.
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Mit den Augen einer Mutter
»For Sama« ist ein beeindruckendes filmisches Tagebuch über den Krieg in Syrien. Gedreht hat es eine Bewohnerin von Aleppo für ihre Tochter. Von Jürgen Kiontke
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ie Syrerin Waad al-Kateab ist 18 Jahre alt, als sie sich entschließt, ein Studium der Wirtschaftswissenschaften aufzunehmen. Die Eltern warnen sie, sie möge vorsichtig sein. Was dies bedeuten könnte, wird ihr erst später klar. Denn sie will in Aleppo studieren. Und al-Kateab gerät mitten hinein in die Wirren eines Bürgerkrieges, dessen Ausmaß mörderisch ist: 2011 haben ein paar Jugendliche im südsyrischen Daraa regierungsfeindliche Parolen an die Wände gesprüht. Die Reaktionen der Sicherheitskräfte sind drastisch. Zur Zeit des Films, fünf Jahre später, stehen sich Regierungstruppen, die oppositionelle Freie Syrische Armee und islamistisch orientierte Milizen gegenüber. Auch Kräfte aus dem Ausland mischen mit, die Luftwaffe Russlands hat 2015 in den Konflikt eingegriffen. Der Osten von Aleppo wird ein Hauptkampfgebiet. Dort haben sich die Rebellen verschanzt – aber auch rund 300.000 Menschen leben hier. Es gibt Berichte von Massakern, die syrische und die mit ihr verbündete russische Luftwaffe fliegen täg-
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lich Angriffe, um Milizen aus der Stadt zu bomben. Al-Kateab hat die Kamera eingeschaltet, seitdem sie in der Stadt ist. Das Ergebnis ist jetzt im Kino zu sehen und trägt den Titel »For Sama«. Ein ungewöhnlicher Dokumentarfilm: »Anfangs habe ich einfach ohne großartigen Plan mein Leben und die Protestbewegung in Syrien mit dem Handy dokumentiert, wie so viele andere Aktivisten auch«, sagt die Regisseurin. »Ich hatte keine Vorstellung davon, wohin mich dieser erste Schritt später führen würde. Von Medien hatte ich keine Ahnung.« Ab Januar 2016, einige Monate vor der Belagerung durch die Truppen der syrischen Regierung, laufen ihre Berichte im Programm des britischen Senders Channel 4. So kommt sie mit dem Co-Regisseur von »For Sama«, Edward Watts, in Kontakt. Dessen Augenmerk liegt schon lange auf den Auseinandersetzungen in Syrien: Im Jahr zuvor hat er »Escape from ISIS« gedreht, einen Film über jesidische Frauen, die von der Terrororganisation Islamischer Staat entführt worden sind. »For Sama« nennt al-Kateab ihr Material, weil sie, um den teils zufällig entstandenen Aufnahmen einen Sinnzusammenhang zu geben, für ihre Tochter dreht, die in die Wirren des syrischen Bürgerkrieges hineingeboren wird. 2012 beginnen die Aufzeichnungen, die in »For Sama« verwendet werden. Bilder von Demonstrationen gegen den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, gegen die Angriffe seiner Regierungstruppen. Bilder, die zeigen, wie Assads großformatige Porträts übermalt werden.
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Foto: Filmperlen
Familienalbum eines Krieges. Waad al-Kateab in Aleppo, Szene aus »For Sama«.
Die filmische Nacherzählung eines Krieges: »Wir sind die freien Studenten von Aleppo«, rufen Demonstranten, aber es sind auch schon die ersten Bewaffneten mit Maschinengewehren darunter. Später wird es heißen: »Islamistische Gruppen versuchen, die Rebellion für sich zu nutzen.« Aber auch: »Die russischen Luftangriffe sind das Schlimmste.« Straßenszenen zeigen die Opposition: Reifen werden angezündet, um mit dem Qualm Angreifer zu irritieren. Männer in Uniform schlagen Demonstranten zusammen. Später folgen Bilder von Leichen, die aus einem Fluss geborgen werden. Al-Kateabs Kamera erzählt auch von dem Arzt Hamza, den sie kennen und lieben lernt. Bilder von einer glücklichen Hochzeit folgen, bald ist die junge Frau schwanger. Sie lässt auch die Geburt ihrer Tochter Sama filmen, das hier soll ein Familienalbum werden. Später wird sie in die eigenen Filmaufnahmen hinein fragen: »Sama, in welches Leben habe ich dich gebracht?« »For Sama« erzählt nicht chronologisch. Zeitsprünge in die Vergangenheit und in die Zukunft machen die Erzählung bisweilen undurchsichtig. Zu Beginn des Films ist Sama schon geboren, dann holt der Film nach, was dem vorausging. Al-Kateab filmt vornehmlich in den eigenen vier Wänden oder im provisorisch eingerichteten Krankenhaus ihres Mannes – etwa das Chaos in der Krankenstation nach einem Bombeneinschlag: Die Menschen und die Betten, in denen sie liegen, flie-
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gen durcheinander; Verletzte werden in die Notaufnahme getragen, von draußen dringt der Staub herein. Ein Mann wird über den Boden gezogen, er hinterlässt eine große Blutlache. Verletzte jeden Alters werden angeliefert. Mitten in dem Durcheinander kommt ein Kind zur Welt, die Mutter hat Bombensplitter im Körper. Von draußen hört man eine weitere Explosion. Verwackelte Aufnahmen, ein Schwenk vor das Gebäude: Über der Stadt sind Jagdflugzeuge und Hubschrauber zu sehen, sie werfen Bomben ab, Häuser explodieren. Die meisten Fenster der Gebäude sind geplatzt, man hat die Rahmen mit Matratzen ausgestopft – gegen den Staub und die Bombensplitter. Dann Szenen auf der Straße: Kinder spielen in Pfützen, malen einen ausgebrannten Bus an. »Das Kind wird Architekt«, sagt eine Mutter, »um Aleppo wieder aufzubauen.« Es folgen vordergründig friedliche Bilder. Die kleine Familie bezieht eine neue Wohnung, im Garten blühen bunte Blumen, dann Aleppo im Schnee. Überraschend dann: Die Familie unternimmt eine Fahrt in die Türkei zu Familienangehörigen. Warum bleiben sie nicht dort? Aleppo sei ihre Heimat, Hamza könne das Krankenhaus nicht alleinlassen, erklärt al-Kateab. Alsbald sieht man die Familie zurückkehren, freudig empfangen vom Team der Sanitäter. Das Mädchen Sama bekommt ein ungewöhnliches, ein durchaus verwirrendes Familienalbum. Es zeigt einen Krieg aus der Innenansicht, in dem viele Frontverläufe nicht geklärt sind. Eine systematisch-politische Einordnung der Kriegssituation findet kaum statt. Zu den unmittelbar erlebten Ereignissen ist bisweilen ein zynischer Kommentar zu hören: »Eine Daily Soap der Bombardierungen«, stellt eine der Nachbarinnen al-Kateabs irgendwann lapidar fest. Alltag im Krieg. Diese Art der Dokumentation macht »For Sama« zu einem eindrücklichen Film. Kaum ein Festival, bei dem er nicht den Publikumspreis gewinnt. Bei den Filmfestspielen in Cannes, wurde er als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Im Zentrum stehen Teile der über 500 Stunden Material, das die junge Filmemacherin über vier Jahre produziert hat: Rufen, Schreien, Menschen im Staub, die Zerstörungen in der Stadt. In den 1980er Jahren wurde Aleppos Altstadt zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt, 2016 zählte man 33.000 zerstörte Häuser allein in Ost-Aleppo. Wiederkehrende Drohnenbilder, die nach der Belagerung entstanden sein müssen, zeigen das Ausmaß des Elends. »Für mich ist dies mehr als ein Film«, sagt Waad al-Kateab, die mit Mann und Kindern schließlich nach Großbritannien geflohen ist. Sie widmet ihn allen Opfern der Kämpfe. »Diese Bilder sind das Archiv der Belagerung«, sagte ihr Mann Hamza anlässlich einer Sondervorführung des Films im Dezember in Berlin. Er rief dabei auch die zahlreichen Flüchtlinge ins Gedächtnis, die derzeit in türkischen Lagern leben müssen. Und er erinnerte daran, dass der Krieg in Syrien keineswegs beendet ist. »For Sama« ist ein sehenswertes, radikal subjektives Dokument über die Auswirkungen dieses Krieges auf seine Gefangenen. »For Sama«. GB, USA 2019. Regie: Waad al-Kateab, Edward Watts. Kinostart: 5. März 2020
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Der Kunstschrittmacher Documenta, Venedig, Sonsbeek – der kamerunisch-deutsche Kurator Bonaventure Ndikung ist auf den Biennalen Europas gefragt wie nie. Ăœber einen, der koloniale Verwundungen mit Mitteln der Kunst heilen will. Von Elisabeth Wellershaus
Wegbereiter postkolonialer Kunst. Der Kurator Bonaventure Ndikung.
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Foto: Vincent Fournier / Jeune Afrique / REA / laif
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ennst Du eigentlich Barbapapa?«, fragt ein Kollege, als Bonaventure Ndikung im lilafarbenen Baumwoll-Einteiler durch das Café des Berliner Kunstquartiers Silent Green eilt. Nebenan wird gerade seine aktuelle Ausstellung aufgebaut. Der kamerunische Kurator grinst zufrieden in die Runde. Vielleicht, weil seine bunte Garderobe mal wieder Wirkung zeigt. Oder weil es in seinem Berliner Kunstraum Savvy Contemporary so gut läuft. Denn der steht seit mittlerweile rund zehn Jahren für diskursive und diverse Kunst. Hier präsentieren sich Kulturschaffende aus aller Welt, die mit ihren Projekten ein Leben jenseits etablierter Kategorien und westlicher Perspektiven sichtbar machen wollen. Ndikung flitzt in seinen schicken bunten Jacketts sehr sichtbar über die Biennalen der Welt. Der flauschige lila Trainingsanzug, den er heute trägt, unterstreicht ganz lässig, dass der 43Jährige in einer weitgehend ethnozentrischen europäischen Kunstszene längst nicht mehr zu übersehen ist. Hier ist einer, der diese Welt kompromisslos mit eigenen Themen bespielt. »Willkommen in unserer Wahnsinnswelt«, ruft seine Kollegin Kelly Krugman, als wir durch verschachtelte Galerieräume laufen, in denen aktuelle Werke von Künstlern gezeigt werden, die in London, Podgorica, Marrakesch und San Juan leben. In »Ultrasanity«, dem mehrjährigen Forschungs-, Performanceund Ausstellungsprojekt, das sie mit Ndikung und Elena Agudio konzipiert hat, geht es, wie so oft bei Savvy, um problematische Zuschreibungen. Ultrasanity setzt sich mit dem Konzept psychischer Gesundheit auseinander – mit »Wahnsinn« im Kontext von Kolonialität und Rassifizierung. »Ich habe als Kind in Kamerun Menschen gesehen, die von der modernen Medizin als verrückt bezeichnet wurden, deren Selbstgespräche, Anderssein und Isolation mir dagegen ganz normal erschienen«, erzählt Ndikung. Er glaubt, dass viele psychische Auffälligkeiten Folgen kolonialer Gewalt sind und entsprechende Stigmata diese Gewalt bis heute fortschreiben. Seit seiner Jugend in Bamenda, die er in einem Elternhaus voller Bücher und unter dem Einfluss panafrikanischer Ideen verbrachte, treibt ihn die Auseinandersetzung mit (post-)kolonialen Erfahrungen um. Als er vor 22 Jahren zum Studium nach Berlin kam, war Ndikung den deutschen Feuilletons weit voraus. Der Weg für postkoloniale Diskurse wurde gerade erst geebnet. »Der nigerianische Kurator Okwui Enwezor war der erste schwarze Mensch, den ich im deutschen Fernsehen sah, über den auffallend positiv berichtet wurde«, erinnert er sich. »Im Zusammenhang mit ihm hörte ich Ende der 1990er Jahre auch zum ersten Mal das Wort Kurator und war beeindruckt. Weil das, was er tat, plötzlich auch mir möglich schien.« Wie wichtig er als Vorbild war, sagte Ndikung Enwezor erst kurz vor dessen Tod im März 2019. Enwezor hatte ihn vom Sterbebett aus angerufen, um ihm zu seiner Ernennung als künstlerischem Leiter der Sonsbeek-Biennale 2020 im niederländischen Arnheim zu gratulieren. Ndikungs Karriere verlief steil, wenn man bedenkt, dass er sich erst 2014 ganz für die Kunst entschied. Damals lud Adam Szymczyk ihn ein, Teil des Documenta-Teams zu werden. Künstlerisch gearbeitet hatte Ndikung im Savvy zwar schon seit Jahren, allerdings fast nur in den Ferien. Denn hauptberuflich baute er damals noch Herzschrittmacher. Ursprünglich war Ndikung nach Europa gekommen, um Naturwissenschaften zu studieren. Er promovierte in Biotechnologie und machte einen Postdoc in Biophysik. Doch seine kreative Sprache war da schon längst zwischen Wissenschaft und Kunst verortet. »Am Ende war es keine allzu schwere Entscheidung«, sagt er über sein Leben
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ohne Herzschrittmacher. »Kultur ist ganz einfach die wichtigste Basis unseres Seins.« Ndikung nutzt die Kunst als Medium, um historische, politische und emotionale Verstrickungen zwischen dem Westen und dem Nicht-Westen aufzuarbeiten. Derzeit bereitet er die Kunstschau Sonsbeek vor, die im Sommer stattfinden wird. Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges und der Kolonialzeit setzt er sich dabei auch mit dem Thema Arbeit auseinander. »Wenn man durch den prächtigen Park Sonsbeek läuft, einen der wichtigsten Schauplätze der Biennale, oder durch das wohlhabende Arnheim, fragt man sich schon, woher der ganze Reichtum kommt«, sagt er. Die Antworten, die sein Team von den Verwaltern des Schlosses Zijpendaal in Arnheim bekam, waren spärlich. Nur die Geschichte einer Person schien aufschlussreich: Die Schwarze Anna soll vor vielen Jahren die Kinder einer wohlhabenden holländischen Familie von Suriname nach Europa begleitet und im Schloss als ihr Kindermädchen gearbeitet haben. Das Einzige, was ihre Anwesenheit und Tätigkeit heute noch belegt, ist die Rechnung eines Arztes, der sie einst behandelt hat – mehr ist nicht zu finden. Mit dieser Form der biografischen Auslöschung wird die junge simbabwische Künstlerin KudzanaiViolet Hwami sich in Sonsbeek beschäftigen. Die historische Verschwiegenheit, die die Verstrickungen zwischen dem globalen Norden und Süden unter den Teppich kehrt, ist nach Ansicht von Ndikung ein entscheidendes Problem. Es ist dasselbe Schweigen, das auch andere gesellschaftliche Themen lange tabuisiert hat. Mit einer Arbeit über den Mord an der jungen südafrikanischen Prostituierten Nokuphila Kumalo wird sich der Künstler Olu Oguibe in Sonsbeek in den #metoo-Diskurs einreihen. Er verarbeitet die Geschichte einer Frau, deren Mörder aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung fast ungestraft davonkam. »Es geht mir nicht darum, mit dem Finger auf andere zu zeigen«, sagt Ndikung. »Ich wünsche mir einfach, dass wir Ungerechtigkeitsstrukturen zusammen aufdecken und uns gemeinsam in einen Heilungsprozess begeben.« Tatsächlich gelingt es immer häufiger, Seh- und Denkgewohnheiten in europäischen Kulturinstitutionen aufzubrechen. Weil Menschen wie Ndikung Fragen stellen. Das wiederum ließ ihn zu einem der gefragtesten Kuratoren der Szene werden. Und doch ist Europa für ihn nur eine Station. Wenn es in seiner Heimat – dem anglophonen Teil Kameruns – keine politische Krise gäbe, wäre er vielleicht wieder in Bamenda und hätte zusammen mit seiner kamerunischen Kollegin Lema Sikod eine Zweigstelle des Savvy eröffnet. Doch ihr Plan liegt auf Eis. Im Herbst 2017 schlug die Regierung von Präsident Paul Biya Unruhen der anglophonen Bevölkerung mit extremer Härte nieder. Hunderte Menschen kamen seither bei Zusammenstößen ums Leben, Hunderttausende wurden vertrieben. Doch trotz aller Instabilität sieht Ndikung in Kamerun einen Ort, von dem aus er eines Tages vielleicht abermals neu auf die Welt blicken könnte.
»Es geht mir nicht darum, mit dem Finger auf andere zu zeigen.« Bonaventure Ndikung 57
Gefährliche Gedichte Die Lyrikerin Yirgalem Fisseha Mebrahtu saß in Eritrea sechs Jahre lang unschuldig im Gefängnis. Aus Angst vor einer erneuten Verhaftung ist sie aus ihrer Heimat geflohen. Cornelia Wegerhoff traf sie in München.
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ie gute Nachricht ist: Yirgalem Fisseha Mebrahtu strahlt. Sie kommt gerade von einer Lesereise zurück, hat in London, Manchester und Birmingham aus ihrem neuen Gedichtband vorgetragen. Und sie hat einen ihrer Brüder getroffen. Endlich! Mehr als zehn Jahre lang hatte sie ihn nicht gesehen. Zuhause in Adi Keyh, im Hochland von Eritrea, waren sie sieben Geschwister, erzählt Yirgalem. Immer war was los. Als sie dann eines Tages völlig verzweifelt in einer Einzelzelle im Gefängnis gesessen hat, habe sie angefangen zu beten: »Gott, gib mir nur eine Minute, in der ich noch mal meine Familie sehen kann.« Ihre Freiheit hat die Lyrikerin und Journalistin wieder, ihre Großfamilie nicht. Da war das weihnachtliche Treffen mit einem ihrer Brüder ein Geschenk. Yirgalem ist aus Eritrea geflohen. Seit Dezember 2018 lebt sie allein in München im Exil. Drei ihrer Brüder halten sich inzwischen ebenfalls in Europa auf. Sie kenne keine einzige eritreische Familie, in der es nicht abgewanderte Angehörige gebe, sagt die 37-Jährige. Aus keiner afrikanischen Nation fliehen so viele Menschen wie aus Eritrea. Der langjährige Krieg mit Äthiopien, eine völlig verfehlte Planwirtschaft und vor allem Korruption und Machtmissbrauch haben das Land im Nordosten Afrikas zu einem der ärmsten weltweit werden lassen. Zusätzlich leiden die Eritreer unter der menschenverachtenden Unterdrückung durch ihr totalitäres Regime. »Und trotzdem liebe ich mein Land«, sagt die Autorin. Ihre Eltern und ihre anderen Geschwister seien doch dort. Und vor allem: ihr wahres Publikum. Yirgalem schreibt Gedichte. Schon in der Grundschule hat sie damit angefangen. Als Studentin gründete sie zusammen mit anderen einen Literaturclub. Alles, was die junge Frau erlebt und fühlt, fasst sie in Verse. Und sie fand damit schnell Gehör. Die Worte der Lyrikerin berührten die Menschen in Eritrea. Über hundert Gedichte hatte Yirgalem sowohl in privaten als auch staatlichen Zeitungen Eritreas veröffentlicht, ist sogar mit Literaturpreisen ausgezeichnet worden, als sie im Februar 2009 überraschend festgenommen wurde. Dabei habe sie die Zustände in Eritrea in ihren Gedichten nie offen kritisiert, betont Yirgalem. Sie habe schließlich gewusst, wie gefährlich das sei. Willkürliche Verhaftungen sind in dem Land an der Tagesordnung. In der jährlich erscheinenden »Rangliste der Pressefreiheit« von Reporter ohne Grenzen rangiert das Land seit Jahren auf den letzten Plätzen. Die Schere der Selbstzensur sei ständig in ihrem Kopf gewesen, sagt Yirgalem. »Ich dachte also, die suchen jemand anderen«, erinnert sie sich an den Tag ihrer Festnahme. Sie verdiente damals ihr Geld bei Radio Bana, einem staatlichen Bildungssender, war verantwortlich für Themen aus der Landwirtschaft. Die Soldaten, mehr als ein Dutzend Männer, nahmen gleich die gesamte Redaktion fest: 26 Kollegen und –
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Wegen Versen verhaftet. Die Lyrikerin Yirgalem Fisseha Mebrahtu.
als einzige Frau – Yirgalem. Bei ihrer Vernehmung hielt man ihr Kontakte zu oppositionellen Medien außerhalb des Landes vor. Doch seien ihr noch nicht einmal die Namen der Sender bekannt gewesen, sagt Yirgalem. Außerdem hätten die Sicherheitskräfte sie zu ihren Gedichten befragt, welche Botschaft in ihnen versteckt sei. Mit dem verflossenen Liebhaber, über den die Protagonistin in einem ihrer Gedichte klagt, habe sie doch sicher den Präsidenten gemeint, versuchte sich der eritreische Sicherheitsapparat in der Ausdeutung der Metaphorik. Die Lyrikerin muss heute noch darüber lachen. Dabei hat sie für die absurden Unterstellungen bitter bezahlt: Sechs Jahre lang saß Yirgalem im Gefängnis. Den genauen Grund kennt sie bis heute nicht. Es gab weder eine offizielle Anklage noch eine Gerichtsverhandlung. Eritrea wird als »Nordkorea Afrikas« bezeichnet. Schon seit Jahren kritisiert der UN-Menschenrechtsrat die totalitären Praktiken, mit denen das Regime unter Präsident Isaias Afewerki die etwa fünf Millionen Bürger und Bürgerinnen schikaniert. So wird der obligatorische Militärdienst willkürlich ausgedehnt und kommt faktisch Zwangsarbeit gleich. »Moderne Sklaverei«, sagt Yirgalem. Jeder, der versucht, der Unterdrückung zu entgehen, muss mit sofortiger Inhaftierung in Militärgefängnissen rechnen. Und dort mit Folter. »Frage auf Frage«, so der vieldeutige Titel eines der Gedichte von Yirgalem aus der Zeit vor ihrer Verhaftung. Darin heißt es: Meine Fragen werden immer mehr, während ich schrumpfe, wachsen sie sogar. Fragen in meinen Händen, in meinem Mund, Fragen in meinem Kopf, in meinem Herzen, Fragen (stehen) vor mir, hinter mir, eine Frage hier, eine andere dort,
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Foto: Stefanie Silber
ሕቶ ብሕቶ
in dieser Richtung, in jener, Fragen überall. Ich verabscheue dies, ich kann es nicht länger aushalten, ich will Veränderung, ich sehne mich nach der Antwort. Die Antwort, die die Dichterin bekam, war anders als erwartet: Sie landete im Hochsicherheitstrakt, zu Beginn sogar in Isolationshaft, im berüchtigten Gefängnis »Mai Swra« vor den Toren der eritreischen Hauptstadt Asmara. Zwei mal zwei Meter groß sei ihre Zelle dort gewesen, erzählt sie. Sie wurde misshandelt und gefoltert. Immer wieder musste sie aufgrund ihrer Verletzungen wochenlang auf die Krankenstation, saß im Rollstuhl. Nach ihrer Freilassung 2015, der schon bald die nächste Verhaftung und wieder vier Monate Gefängnis folgten, blieb Yirgalem nur noch die Flucht. »Ich lebe noch«, heißt der trotzig-tapfere Titel ihres Gedichtbandes, den sie 2019 in ihrer Muttersprache Tigrinya veröffentlicht hat. Manche ihrer Texte hat sie heimlich im Gefängnis geschrieben. An Übersetzungen ins Englische und Deutsche wird gerade gearbeitet. Yirgalem ist Stipendiatin des »Writers-in-Exile«-Programms des deutschen PEN-Zentrums. Nach Jahren der Verfolgung hat ihr die deutsche Schriftstellervereinigung Zuflucht angeboten und unterstützt sie bei Veröffentlichungen. Ihre traumatischen Erlebnisse hinter Gittern beschreibt die Autorin mittlerweile in Kurzgeschichten. Von München aus versucht Yirgalem sich auch für ihre Kolleginnen und Kollegen einzusetzen. Elf Schriftsteller, Dichter und Journalisten seien seit mittlerweile 18 Jahren inhaftiert, sagt Yirgalem. Niemand weiß, wohin genau sie verschwanden und ob sie überhaupt noch am Leben sind. Amnesty geht von Tausenden politischen Gefangenen in Eritrea aus. Yirgalems bitteres Fazit: »Eritrea ist wie ein großes Gefängnis.«
YIRGALEM FISSEHA MEBRAHTU
ውሽጠይ ሕቶታት መሊኡ ዝምልሰለይ ንሓዲኡ፣ ዝማቐለኒ ንገሊኡ እንተ ረኸብኩ ክብል ዘወን እናተሰሓሓበ ከይዱ እዋን። ንግዜ ግዜ ይትክኦ ዘይከደ ’ንተ መጽአ መኣስ ዘርብሓኒ ንመልሰይ ዝሓዘ መኣስ ዘርግኣኒ ኣጓድል ኣቢሉ መኣስ ዘፍኵሰለይ ፍርቂ ተማቒሉ ከም ሕሉፍ ይዛሪ ትም ኢሉ ከም ቀደሙ ከምታ ኣመሉ! ሕቶታተይ ቍጽሪ ይውስኽ ኣነ እሓቅቕ ንሱ ይብርኽ። ኣብ ኢደይ፡ ኣብ ኣፈይ ሕቶ ኣብ ልበይ፡ ኣብ ርእሰይ ሕቶ ኣብ ፊተይ፡ ኣብ ድሕረይ ሕቶ በዚ-በቲ፡ ኣብዚ-ኣብቲ ሕቶ። ምጽማም ስኢነ ሎሚስ ጸሊአዮ ለውጢ ደልየ መልሲ ናፊቐዮ! 2007 59
Foto: Rob Hammer / Aurora / laif
Überall Windmühlen, auch in den USA. In »Quichotte« kämpft der Protagonist gegen Lüge und Hass in der Weltgesellschaft.
Fiktion gegen Fake News Wo Lüge und Wahrheit kaum noch zu unterscheiden sind, da weist die Fantasie den Weg zur Wirklichkeit: Salman Rushdies Roman »Quichotte« ist ein literarisches und politisches Meisterwerk. Von Maik Söhler
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enn die politische Macht dazu übergegangen ist, ein zwangloses und spielerisches Verhältnis zu Wahrheit und Lüge oder auch zu News und Fake News zu entwickeln, um auf diesem Weg dem Falschen Raum zu verschaffen, da steht es um die Wirklichkeit schlecht. So schlecht sogar, dass es der politischen Opposition, Teilen der Medien und der Zivilgesellschaft kaum noch gelingt, geradezurücken, was, etwa im Weißen Haus, zuvor verrückt worden ist. Warum dann nicht einen Spezialisten hinzuziehen, wenn es darum geht, die Wahrheit wieder genauso erkennbar zu machen wie ihr Gegenteil? Jemanden, der sich auf den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion versteht: Einen Schriftsteller. Und unter den Schriftstellern einen, der die Vielfalt der Realität und die Vielfalt der Fiktion meisterhaft beschreiben kann; der den politisch-gesellschaftlichen Essay genauso beherrscht wie die Belletristik. Salman Rushdie also. Sein neuer Roman heißt »Quichotte« und ist eine mehr als 450 Seiten starke Auseinandersetzung mit Wahrheit und Lüge, Liebe und Hass, Individualität und Gemeinsamkeit, mit den USA von heute und der Welt von morgen. Und »Quichotte« ist nicht nur reinste Fiktion, sondern als Schelmenroman auch besonders geeignet, der Wirklichkeit und ihren Interpretationen mit viel Humor dichterisch den Spiegel vorzuhalten.
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Genau das gelingt Rushdie von der ersten Seite an. Er nimmt seine Leser mit auf eine literarische Reise durch die USA und manchmal auch in andere Länder, etwa nach Indien und Großbritannien. Er erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich in einen Fernsehstar verliebt und versucht, ihm nahezukommen. Nicht nur das Fernsehen wird so zum Zentrum der Wirklichkeit, mehr Zentren entstehen und konkurrieren um Aufmerksamkeit: Ein eigenmächtiger Erzähler, der sich schnell von Rushdie löst, eine Gesellschaft, die süchtig nach Opioiden ist, digitale Spione und Gegenspione, Vater-Sohn- und Bruder-SchwesterGespinste und das drohende Ende der Welt. Dazu Eskapismus, wohin man auch schaut. Zwischen all dem spielt Rushdie virtuos mit Fiktion und Realität. Keine Fiktion ist, dass die Ayatollahs in der Islamischen Republik Iran seit nunmehr 30 Jahren eine Fatwa aufrechterhalten und ihm mit dem Tode drohen. Nicht erfunden ist auch die deutliche Zunahme des Rassismus im US-Alltag, der aus dem Roman herausragt wie ein großer hässlicher Monolith. Selbst das Reich der Fantasie wird vom Rassismus durchbohrt. Die Fantasie aber wehrt sich, indem sie, also Rushdie, jede Menge Erinnerung an seine Protagonisten verteilt. Die Hysterie einer von schnellen Medien und noch schnellerem Internet beschleunigten Gesellschaft trifft auf Bewusstsein, auf Geschichte. »Das Gewissen stirbt nie«, sagt eine Figur und bereitet den Boden für eine Welt, in der die Lüge und der Rassismus automatisch in den Hintergrund gedrängt werden, weil die Wahrheit und ein menschliches Miteinander wieder mehr Raum beanspruchen. »Quichotte« ist ein Meisterwerk. Salman Rushdie: Quichotte. Aus dem Englischen von Sabine Herting. Bertelsmann, München 2019. 464 Seiten, 25 Euro.
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Ein Riss geht durch Polen
Hart gegen Rechts
Für alle, die sich seit Jahren ärgern, das Nachbarland Polen so wenig zu kennen, gibt es nun einen weiteren Grund, das zu ändern: »Rückkehr nach Polen« heißt ein neues Buch, geschrieben von der deutsch-polnischen Journalistin Emilia Smechowski, das die polnische Gesellschaft in ihrer Vielfalt und Zerrissenheit zugleich zeigt. Smechowski verdichtet ihre Erfahrungen aus einem Jahr, in dem sie in Danzig gelebt und von dort aus große Teile Polens bereist hat. Von der politischen Öffentlichkeit über Medien bis zur katholischen Kirche reichen ihre Betrachtungen, auch das Geschlechterverhältnis, der polnische Blick auf Deutschland und das Gedenken in Auschwitz kommen vor. Vor allem aber steht der »Riss« im Vordergrund, der »Riss« zwischen der eher rückwärtsgewandten Landbevölkerung, die die nationalkonservative PiS wählt, und dem eher urbanen Liberalismus der aufsteigenden Mittelschicht. Mit ehemaligen Solidarność-Funktionären spricht Smechowski, mit Schriftstellerinnen, Babysitterinnen und Studentinnen; manchmal fallen die Gespräche nüchtern aus, und manchmal ist die Autorin zu pathetisch. Doch stets wendet sich Smechowskis Blick auf Polen dahin, wo es wehtut. Die Autorin arbeitet häufig mit den Mitteln der Reportage, geht also möglichst ideologiefrei nahe an die Menschen heran und gibt Situationen wieder, die für sich sprechen. An Kritik am autoritären Staat mangelt es dem Buch nicht. Und doch wirbt es für Polen.
Auf vielen Seiten ist es ein Genuss, den Gedanken Philipp Ruchs in seinem Buch »Schluss mit der Geduld« zu folgen. Ruch ist Gründer und künstlerischer Leiter des Zentrums für Politische Schönheit, das zuletzt wegen einer pietätlosen Politaktion, bei der angeblich die Asche von Holocaustopfern verwendet wurde, in die Kritik geraten war. In diesem Buch beleuchtet Ruch konsequent jene Politiker, die die Demokratie einschränken oder abschaffen könnten, wenn sie dank demokratischer Wahlen an die Macht kämen. Dass Ruch dem AfDler Björn Höcke ein nachgebautes Holocaustmahnmal vor dessen Haus gesetzt hat, ist eine künstlerische Intervention in jenem Bereich, in dem einst Unsagbares (»Denkmal der Schande« nannte Höcke das Mahnmal) zum Standardvokabular unter AfDlern, Pegidisten und anderen extrem Rechten geworden ist. Ruchs Buch sagt: Schluss damit! »Schließen wir uns zusammen. Verteidigen wir die Menschheit.« »Aggressiver Humanismus« sei gefragt, um den Vormarsch der Rechtsextremen zu stoppen. Das Buch versteht sich als »Anleitung für kompromisslose Demokraten«. Anleitungen sind nicht dafür bekannt, verfeinerte Gesellschaftskritik hervorzubringen, und das gilt auch für »Schluss mit der Geduld«, das mehr Pamphlet als Essay ist. Man kann es auch so sehen: Die extreme Rechte ist mit allerlei Vereinfachungen und kompromissloser Härte angetreten; sie darf sich nicht wundern, wenn es ihr jemand in ähnlicher Münze heimzahlt.
Emilia Smechowski: Rückkehr nach Polen. Hanser Berlin, Berlin 2019. 256 Seiten, 23 Euro.
Geraubtes in Glasvitrinen »Eine neue Beziehungsgeschichte« ist nach Ansicht des Kulturjournalisten Moritz Holfelder nötig, um in postkolonialen Zeiten die Konsequenzen aus dem europäischen Kolonialismus zu ziehen. »Unser Raubgut«, heißt der Titel seines Buchs, das sich kenntnisreich mit afrikanischer Kunst in europäischen Museen auseinandersetzt und vom Autor bewusst als »Streitschrift zur kolonialen Debatte« konzipiert wurde. Der Autor geht weit über das Thema »Raubkunst« hinaus und verweist auf die vielen Asymmetrien im europäisch-afrikanischen Verhältnis – denn politisch und ökonomisch gab und gibt es viele Abhängigkeiten. Diese Zusammenhänge kenntlich zu machen, gelingt Holfelder gut. Fatal, dass sich auch in der Kulturpolitik wieder Kräfte breitmachen, die ein eher positives Verhältnis zum Kolonialismus propagieren. Umso wichtiger ist daher, dass der Autor den Mythos widerlegt, das Deutsche Reich habe im Vergleich zu den Gräueln der britischen, französischen und niederländischen Kolonialmächte eher harmlos in den Kolonien agiert. »Unser Raubgut« sammelt viele gute Argumente für einen besseren Umgang mit Kunst und Ausstellungsgegenständen, die aus kolonialistischen Raubzügen und politisch-militärischer Erpressung stammen. Das Buch ist aber auch für all jene interessant, die jenseits der Kulturdebatte Antworten hören wollen. Moritz Holfelder: Unser Raubgut. Eine Streitschrift zur kolonialen Debatte. Ch. Links Verlag, Berlin 2019. 224 Seiten, 18 Euro.
Philipp Ruch: Schluss mit der Geduld. Ludwig, München 2019. 192 Seiten, 12 Euro.
Die Macht der Stimme Eine junge Frau aus Harlem erhebt ihre Stimme. Ihre Sprache sind Gedichte, freie Verse, manchmal Haikus. Rhythmisch, wortgewandt und voller Kraft setzt sie Worte und Leerstellen, bringt sie ihre Sorgen und Wünsche zu Papier. Ihr Notizbuch ist ihr Zufluchtsort – ihm vertraut sie sich an. Im wahren Leben aber schweigt Xiomara oder lässt ihre Fäuste sprechen, um sich zu verteidigen. Xiomara bedeutet »eine, die zum Kämpfen bereit ist«. Und kämpfen, das muss die gerade mal 16-Jährige tatsächlich: um ihren Platz in der Familie, gegen sexuelle und rassistische Übergriffe in Schule und Alltag. Dabei möchte Xiomara doch nur sie selbst sein. Sie möchte sich nicht mehr verstecken müssen, nicht mehr nur auf ihre üppigen Kurven oder ihre Hautfarbe reduziert werden. Sie möchte sich verlieben dürfen. Doch das entspricht nicht den Erwartungen ihrer Mutter, einer strenggläubigen Katholikin aus der Dominikanischen Republik. Die deutsche PoetrySlammerin Leticia Wahl hat das vielfach ausgezeichnete Debüt von Elizabeth Acevedo, die ebenfalls Poetry-Slammerin ist, aus dem Amerikanischen übersetzt. Die Sprache, die sie für die Gedanken, die Wut, aber auch die Hoffnung der IchErzählerin gefunden hat, lässt keinen Zweifel daran, dass Xiomara am Ende tatsächlich ihren Weg auf die Poetry-Slam-Bühne findet und ihre Stimme erhebt. Elizabeth Acevedo: Poet X. Aus dem Amerikanischen von Leticia Wahl. rororo rotfuchs, 2019. 352 Seiten, 15 Euro. Ab 14 Jahren
Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer BÜCHER
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Selbst ist die Frau
Politische Botschaft, perfekter Groove
Maryam ist sauer: Nicht nur, dass sich die männlichen Patienten der kleinen Privatklinik in der saudi-arabischen Provinz lautstark abfällig über sie äußern – sie wollen auch lieber von einem unfähigen Krankenpfleger behandelt werden als von einer Frau. Zusätzlich versinkt auch noch die Zufahrt zur Notaufnahme im Schlamm, sodass die Krankenwagen darin steckenbleiben. Ihr Chef? Hat keine Zeit für solche Probleme. Eine andere Stelle kann sie nicht antreten, weil sie ohne Mann reist. Das ist Frauen in Saudi-Arabien zwar seit dem vergangenen Jahr erlaubt, an der praktischen Umsetzung hapert es aber noch gewaltig. Maryam beschließt deshalb, in die Politik zu gehen und kandidiert für einen Sitz im Gemeinderat. Regisseurin Haifaa Al Mansour, die mit »Das Mädchen Wadjda« den ersten Spielfilm in Saudi-Arabien überhaupt gedreht hat, legt mit ihrem mittlerweile dritten Werk ordentlich nach. Die dicht gestrickte, hervorragend besetzte Erzählung von der Ärztin, die gegen immense Vorurteile und Schwierigkeiten im Job und darüber hinaus ankämpft, ist ein äußerst sehenswerter Film über eine junge Frau in einer von archaischen Regeln bestimmten Gesellschaft. Zwischen den Welten steht ihr Vater, ein Hochzeitssänger, der auf seine aufmüpfige Tochter angesprochen wird und dennoch zu ihr hält. Doch Maryam lässt sich ohnehin nicht beirren. Ein wunderbarer Film zum Frauentag!
Nachdem in seiner Nachbarschaft in Ottawa ein Mann von der Polizei mutmaßlich zu Tode geprügelt wurde, schrieb Pierre Chrétien, der kompositorische Kopf des Souljazz Orchestra, ein Stück, um unkontrollierte Polizeigewalt anzuprangern. Abdirahman Abdi, ein psychisch kranker SomaliAmerikaner, war im Juli 2016 an den Folgen der Verletzungen, die er sich bei seiner Verhaftung zuzog, gestorben; sein Fall erregte in Kanada Aufsehen. Ein Gerichtsurteil gegen die beiden verantwortlichen Beamten steht noch aus. Das Stück »Police the Police« ist ein Schlüsselsong auf dem neuen Album des kanadischen Funk-Orchesters. Die Band, die seit 2002 besteht, ist für ihre sozialkritischen und politischen Botschaften bekannt, die sie unter ihre knackigen Bläsersätze und Beats mischt. Die vergangenen acht Alben trugen sprechende Titel wie »Manifesto« (2008), »Solidarity« (2012) oder »Resistance« (2015). Ihr neues Album trägt den Titel »Chaos Theories« und klingt eine Spur wütender als bisher, was angesichts der weltpolitischen Entwicklungen nicht verwunderlich ist, aber immer noch extrem tanzbar. Die Fusion aus Soul, Jazz, nigerianischem Afrobeat und karibischen LatinRhythmen hat das Souljazz Orchestra zur Meisterschaft gebracht. Weitere Songs heißen »House of Cards«, »War Games« oder »General Strike«. Die politische Botschaft lenkt nie vom Willen zum perfekten Groove ab. Sie verleiht ihm vielmehr zusätzlichen Nachdruck.
»Die perfekte Kandidatin«. SAU/D 2019. Regie: Haifaa Al Mansour, mit Mila Al Zahrani, Dhay, Khalid Abdulraheem, Kinostart: 12. März 2020
Tanz in die Freiheit Merab trainiert mit seiner Tanzpartnerin Mary in der Nachwuchsakademie. Beide hoffen, in das weltberühmte Georgische Nationalensemble aufgenommen zu werden. Ultramännlich soll der georgische Tanz sein – und asexuell, erklärt ihm der Trainer. Schön und gut, aber schwer umzusetzen. Als Irakli zu der Gruppe stößt, gerät Merab ins Zweifeln. Er fühlt sich von dem jungen Mann angezogen, fürchtet sich aber zugleich vor einem Coming-out. Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Teil des Nationalheiligtums zu werden, und individueller Entwicklung wird es für Merab immer schwieriger, sein Leben im Griff zu halten. Denn Schwulsein kann in Georgien zum Problem werden. Homosexualität darf es nicht geben: Wer sich outet, wird verprügelt. Und Prügel bezieht irgendwann auch Merab. »Als wir tanzten« ist der erste Film über Homosexualität in Georgien. Schon allein wegen seiner Ästhetik und seiner brillanten Schauspieler ist er ein Meisterwerk. Und er hat politische Relevanz: Die Problematik, die der Film verarbeitet, zeigte sich im vergangenen Winter, als er in Georgien uraufgeführt wurde – in den Städten Batumi und Tiflis kam es bei Protesten rechtsextremer Nationalisten zu massiven Ausschreitungen. Die Vorstellungen mussten unter Polizeischutz stattfinden. Ein Film mit drastischer politischer Wirkung, der nicht nur die Welt seiner Figuren wanken lässt. »Als wir tanzten«. SE/GE 2019. Regie: Levan Akin, mit Levan Gelbakhiani, Bachi Valishvili. Kinostart: 26. März 2020
The Souljazz Orchestra: Chaos Theories (Strut)
Stimmen der Emanzipation Die Amazones d’Afrique sind eine weibliche All-Star-Band, die einige der prominentesten Sängerinnen Westafrikas vereint. Ihr Debütalbum »République Amazone« sorgte 2017 für Furore. Im vergangenen Jahr folgte der Song »Amazones Power«, ein vielstimmiges Manifest gegen die noch immer verbreitete Tradition der weiblichen Genitalverstümmelung. Nun erscheint ein ganzes Album mit diesem Titel. Von der ursprünglichen Besetzung ist nur noch die malische Sängerin Mamani Keita geblieben, sie ist auf dem neuen Album gleich mit mehreren Songs vertreten. Eine weitere tragende Stimme ist Rokia Koné, die »Rose von Bamako«, deren Soul drei weitere Tracks prägt. Neu dazu gestoßen ist eine ganze Reihe junger Talente, die den anderen Stücken ihre jeweils spezielle Note verleihen, darunter die Sängerin Niariu aus Guinea und die Rapperin Ami Yerewolo aus Mali (auf der Single »Smile«), die Soul-Sängerin Fafa Ruffino aus Benin sowie die Chaabi-Interpretin Nacera Ouali Mesbah aus Algerien. In ihren Stücken prangern sie Zwangsheiraten, sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen Frauen an. Doctor L alias Liam Farell sorgte als Produzent für satten Sound und voluminöse Beats. Das Album ist eine Feier der Vielfalt weiblicher Stimmen, der Emanzipation und der Lebensfreude. Mit weltweiten Konzerten stellen die Amazonen zudem unter Beweis, dass sie kein reines Studioprojekt, sondern ein echtes All-Star-Ensemble sind. Les Amazones d’Afrique: Amazones Power (Real World)
Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 62
AMNESTY JOURNAL | 02/2020
Foto: Promo
Sanfte Stimme aus dem Exil
Warme Songs, politische Botschaft. Folksängerin Souad Massi unterstützt die Demokratiebewegung in Algerien.
Die algerische Liedermacherin Souad Massi singt auf ihrem neuen Album von Verrat und Korruption, aber auch von Freiheit, Menschenrechten und Emanzipation. Von Daniel Bax
A
ls im Frühjahr 2019 in ganz Algerien die Menschen auf die Straßen strömten, um gegen den politischen Stillstand in ihrem Land zu protestieren, zeigte sich Souad Massi in Paris solidarisch. Allein in Algier protestierten bis zu eine Million Menschen dagegen, dass sich Langzeit-Präsident Abdelaziz Bouteflika nach 20 Jahren im Amt ein weiteres Mal zur Wahl stellen wollte. Souad Massi organisierte am 3. April ein Benefizkonzert in Paris, um die Demokratiebewegung in ihrem Geburtsland zu unterstützen. Der Termin war glücklich gewählt: Einen Tag zuvor war der greise Bouteflika nach wochenlangen Protesten zurückgetreten. Auf ihrem neuen Album »Oumniya« handelt ein Song von Bouteflika, Souad Massi schrieb ihn vor seinem Rücktritt. In »Fi Bali« beschreibt sie ihn als Kapitän auf einem langsam sinkenden Schiff. »Oumniya« (auf Deutsch: »Mein Wunsch«) ist das sechste Studioalbum der 47-jährigen Sängerin und Songwriterin und eines ihrer besten. Persönliches mischt sich mit Politischem. »Ich gab dir meine Hand«, singt sie im Opener, »und du erstachst mich, obwohl ich gerade einem Krieg entronnen war«. Souad Massi hat Algeriens dunkelste Jahre miterlebt, den Bürgerkrieg in den 1990er Jahren und die Zeit danach. Sie wuchs als Tochter kabylischer Eltern in einem Arbeiterviertel von Algier auf. Mit Hilfe ihres Bruders nahm sie Gitarrenunterricht, während des Studiums schloss sie sich einer FlamencoGruppe und später einer Hardrock-Band an. Als sie Ende der 1990er Jahre eine erste Kassette mit volkstümlichen Balladen
FILM & MUSIK
veröffentlichte, erlangte sie bescheidenen Ruhm: Die Lieder wurden im Radio gespielt, Auftritte waren zu jener Zeit aber viel zu gefährlich. Eine Einladung zu einem Festival nach Frankreich brachte die Erlösung. Ihre Ausstrahlung und ihr sparsamer Stil – eine nordafrikanische Songschreiberin, die mit warmer Stimme sanfte Folk-Balladen in arabischer Sprache sang – machten Eindruck und bescherten ihr einen Plattenvertrag. 2001 erschien ihr Debütalbum »Raoui«, das viel Aufmerksamkeit fand. Seitdem tritt sie nicht nur in Europa und Japan, sondern auch in Kairo oder Amman auf. Ihrem intimen Stil ist Souad Massi treu geblieben, ihr musikalisches Vokabular hat sich erweitert. Ihre Balladen sind zwischen algerischer Chaabi-Musik, den sehnsuchtsvollen Volksliedern der 1930er Jahre, kabylischem Folk und akustischer Flamenco-Gitarre anzusiedeln. Inzwischen gesellen sich arabisch-andalusische Geige, kabylische Mandole, Darbouka- und Latin-Rhythmen dazu. Auf »Oumniya« singt sie drei Lieder auf Französisch, zwei davon stammen aus fremder Feder. In »Je veux apprendre« (»Ich will lernen«) leiht sie jungen Mädchen, deren Wissensdurst durch patriarchale Traditionen gebremst wird, ihre Stimme. Von Magyd Cherfi, dem Ex-Sänger der französischen PolitBand Zebda, borgte sie dessen Signature-Hymne »Je chante«. Und von einem franko-belgischen Autorinnenpaar stammt »Pays Natal« – eine Meditation über das Exil, die Souad Massi wie auf den Leib geschrieben ist. »Um den Geruch von frischem Brot mit Sesam oder Kreuzkümmel zu spüren, musste man in diesem Lande lange in der Schlange stehen«, heißt es darin wehmütig. »Es gab nichts zu bedauern, also bin ich von zu Hause fortgegangen. Aber Erinnerungen sind geblieben.« Souad Massi: Oumniya (believe / naive)
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MACH MIT: BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden.
Fotos: privat
Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.
BAHRAIN JEHAD SADEQ AZIZ SALMAN UND EBRAHIM AHMED RADI AL-MOQDAD Am 23. Juli 2012 wurden die beiden Minderjährigen Jehad Sadeq Aziz Salman (Foto oben) und Ebrahim Ahmed Radi alMoqdad bei einer regierungskritischen Demonstration in Manama festgenommen. Ebrahim Ahmed Radi al-Moqdad berichtete, dass er in der Haft geschlagen worden sei. Beide Jugendliche gaben an, man habe sie zu »Geständnissen« gezwungen. Unter anderem warf man ihnen vor, »einen Mord geplant«, »ein Polizeifahrzeug in Brand gesetzt« und »an gesetzeswidrigen Versammlungen teilgenommen und randaliert zu haben«. Am 16. Oktober 2012 begann vor dem Obersten Strafgerichtshof in Manama der Prozess gegen die beiden damals noch Minderjährigen. Am 4. April 2013 verurteilte der Gerichtshof Jehad Sadeq
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Aziz Salman und Ebrahim Ahmed Radi alMoqdad zu jeweils zehn Jahren Gefängnis. Nach Paragraph 349 der Bahrainischen Strafprozessordnung müssen Gefangene drei Viertel ihrer Gefängnisstrafe verbüßen. Bei guter Führung und wenn ihre Entlassung keine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit darstellt, können sie dann freigelassen werden. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den König von Bahrain, in denen Sie sich besorgt darüber äußern, dass Jehad Sadeq Aziz Salman und Ebrahim Ahmed Radi al-Moqdad als Erwachsene behandelt wurden, obwohl sie zur Zeit der mutmaßlichen Tat noch keine 18 Jahre alt waren, und dass sie eigenen Angaben zufolge in der Haft zu »Geständnissen« gezwungen wurden, die zu ihrer Verurteilung führten. Fordern Sie den König auf, dafür zu sorgen, dass der Schuldspruch aufgehoben wird und den beiden Verurteilten ein faires Gerichtsverfahren nach Jugendstrafrecht gewährt wird. Sie müssen umgehend freigelassen werden.
Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: His Majesty the King of Bahrain Shaik Hamad bin Issa Al Khalifa Office of his Majesty the King P.O. Box 555 Rifa’a Palace Al Manama BAHRAIN (Anrede: Your Majesty / Königliche Hoheit) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft des Königreichs Bahrain S. E. Herrn Abdulla Abdullatif Al Shaikh Abdulla Klingelhöfer Straße 7 10785 Berlin Fax: 030 - 86 87 77 88 E-Mail: info@bahrain-embassy.de (Standardbrief: 0,80 €)
AMNESTY JOURNAL | 02/2020
Foto: privat
BURUNDI GERMAIN RUKUKI Der burundische Menschenrechtler Germain Rukuki wurde am 13. Juli 2017 in Bujumbura festgenommen und am 26. April 2018 zu 32 Jahren Gefängnis verurteilt. Weder er noch sein Rechtsbeistand waren bei der
Urteilsverkündung anwesend. Ein Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung am 17. Juli 2019. Der Menschenrechtler hat nun vor dem Obersten Gerichtshof Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt. Germain Rukuki arbeitete früher für die Nichtregierungsorganisation ACATBurundi, bevor diese 2016 von den Behörden verboten wurde. Die Staatsanwaltschaft legte als belastendes Beweismaterial E-Mails zwischen ihm und ACAT-Mitarbeiter_innen vor, die aus der Zeit stammen, als ACAT-Burundi noch rechtmäßig als Organisation zugelassen war. Die Behörden werfen Germain Rukuki »Rebellion«, »Bedrohung der Staatssicherheit«, »Angriff auf die Autorität der Behörden« und »Teilnahme an einer Aufstandsbewegung« vor. Amnesty International betrachtet ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen.
Foto: Demian Marchi / Amnesty Argentinien
Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de
ARGENTINIEN JORGE GONZÁLEZ NIEVA Nachdem sich Aktivist_innen weltweit für Jorge González Nieva eingesetzt hatten, durfte der Taxifahrer aus Buenos Aires am 3. Oktober 2019 das Gefängnis verlassen und die gegen ihn verhängte Untersuchungshaft zu Hause fortsetzen. Nach zwölf Jahren im Gefängnis ist das ein
BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN
Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den burundischen Präsidenten und bitten Sie ihn, Germain Rukuki umgehend und bedingungslos freizulassen, da er lediglich aufgrund seiner friedlichen Menschenrechtsarbeit Schreiben Sie in gutem Französisch, Englisch oder auf Deutsch an: Mr. Pierre Nkurunziza President of the Republic of Burundi P.O. Box: 1870 Bujumbura BURUNDI E-Mail: pierre.nkurunziza@burundi.gov.bi (Anrede: Dear Mr. President / Sehr geehrter Herr Präsident) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Burundi I. E. Frau Else Nizigama Ntamagiro Berliner Straße 36, 10715 Berlin Fax: 030 - 23 45 67 20 E-Mail: ambabuberlin2019@yahoo.com (Standardbrief: 0,80 €)
AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de
großer Erfolg! Doch weil das endgültige Urteil in seinem Fall weiter aussteht, wird die Untersuchungshaft aufrechterhalten. Polizeibeamt_innen hatten Jorge González Nieva 2006 auf eine Wache geschleppt, geschlagen und Geld von ihm gefordert. Nachdem er sich weigerte, zu bezahlen, drohten sie ihm, ihn der Mittäterschaft bei einem Bankraub zu beschuldigen, bei dem eine Person getötet wurde. Später nahm man ihn unter dem Vorwurf Körperverletzung mit Todesfolge fest. 2010 wurde Jorge González Nieva nach einem unfairen Verfahren schuldig gesprochen. Er reichte beim Obersten Gerichtshof Rechtsmittel gegen das Urteil ein. Diese werden seit 2015 geprüft. Amnesty setzt sich für ein abschließendes Urteil auf der Grundlage eines fairen Verfahrens ein. Jorge González Nieva betont immer wieder, wieviel Mut ihm die Solidaritätsschreiben gaben, die er aus aller Welt bekommen hat. Deswegen möchten wir Sie bitten, ihn auch weiterhin mit einem Brief zu unterstützen – nichts
ist mächtiger als das geschriebene Wort. Formulierungsvorschläge Lieber Jorge González Nieva, ich freue mich, dass Sie jetzt endlich wieder zu Hause sind. In der Hoffnung auf eine faire endgültige Entscheidung sende ich Ihnen herzliche Grüße Querido Jorge González Nieva, estoy feliz de que finalmente haya vuelto a casa. Espero que un tribunal competente emita pronto una decisión definitiva sobre la base de un procedimiento justo. Le envío mis mejores deseos,
Schreiben Sie Ihren Solidaritätsbrief in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Jorge González Nieva Maza 1266, Merlo Provincia de Buenos Aires Código Postal 1722, ARGENTINIEN (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
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Foto: Jarek Godlewski
AKTIV FÜR AMNESTY
Bleibt gelassen in schwierigen Zeiten. Dávid Vig.
»IMMER MEHR MENSCHEN BEGEHREN AUF« Der Direktor der ungarischen Sektion von Amnesty International, Dávid Vig, über die repressive Politik der Regierung Victor Orbans. Interview: Nicola Zimmermann
Wie ist es um die Menschenrechte in Ungarn bestellt? Die seit 2010 amtierende Regierung untergräbt systematisch die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte im Land. Welche Menschenrechte sind besonders bedroht? Die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Ein Beispiel: Auf dem Weg vom Flughafen nach Budapest sieht man etliche von der Regierung gesponserte Werbetafeln, auf denen steht, dass Menschen, die nach Ungarn einwandern, unsere Gesetze nicht respektieren, unsere Kultur bedrohen und uns unsere Jobs wegnehmen. Wenn man den Fernseher einschaltet, werden genau dieselben Botschaften von staatlichen Medien oder staatlich unterstützten privaten Medien verbreitet, die gemessen an den Umsätzen etwa 80 Prozent der ungarischen Medienlandschaft ausmachen. Auf diese Weise kann sehr viel Einfluss darauf genommen werden, worüber gesprochen und diskutiert wird. Hätten Sie gedacht, dass es einmal so weit kommen würde? Vor zwei Jahren sagte ich, dass ich mir nichts Schlimmeres vorstellen kann als eine Medienkampagne gegen Personen und Gruppen, die sich für die Menschenrechte einsetzen. Leider muss ich sagen, dass ich bei jedem einzelnen Schritt, der danach geschah, überrascht war, dass dieser in der heutigen Zeit in
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einem europäischen Land passieren konnte. Was mich am meisten beunruhigt, ist, dass wir nicht am Ende des Prozesses sind. Wurden Sie aufgrund Ihrer Arbeit schon selbst angegriffen? Ich wurde im Frühjahr 2018 persönlich auf der sogenannten »Liste von Soros-Söldnern« aufgeführt. Sie wurde von der regierungsnahen Zeitschrift Figyelö veröffentlich und enthält die Namen Hunderter kritischer Stimmen, darunter sozial und politisch Engagierte und Personen aus dem akademischen und journalistischen Bereich. Wir alle auf dieser Liste gelten als »Söldner« des US-Börsenmilliardärs George Soros, als sein Netzwerk. Was dachten Sie, als Sie Ihren Namen auf der Liste entdeckten? Als ich die Liste zum ersten Mal sah, empfand ich es als eine Ehre, unter den 200 prominentesten Menschen des Landes zu stehen, die sich für den Schutz der Menschenrechte einsetzen. Doch dieses Gefühl hielt nur wenige Sekunden an. Denn es ist sicherlich kein gutes Zeichen, wenn man Leute für das, was sie tun und was sie denken, auf eine schwarze Liste setzt. Haben Sie in diesen schwierigen Zeiten auch Unterstützung erfahren? Auf jeden Fall! Die internationale Amnesty-Bewegung hat uns enorm unterstützt. An dieser Stelle ist es mir auch wichtig zu sagen, dass Ungarn kein verlorener Fall ist. Es gibt Widerstand innerhalb des Landes: Leute vernetzen sich besser, NGOs kommen enger zusammen, und wir können noch immer Proteste organisieren. Auch innerhalb der Justiz begehren immer mehr Menschen auf.
AMNESTY JOURNAL | 02/2020
MEISTER DES TODES VOR GERICHT
AMNESTY HEISST ANTIFA
Die Recherchen unseres Mexiko-Korrespondenten Wolf-Dieter Vogel gehören zu den erfolgreichsten, die das Amnesty Journal in den vergangenen Jahren veröffentlicht hat: Unter anderem seiner Akribie und Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass im Februar 2019 zwei frühere Mitarbeiter des Rüstungsunternehmens Heckler & Koch zu Bewährungsstrafen verurteilt wurden, weil sie sich mittels erschlichener Genehmigungen der bandenmäßigen Ausfuhr von mehr als 4.500 Sturmgewehren des Typs G36 nach Mexiko schuldig gemacht haben. Das Unternehmen selbst muss eine Strafe von 3,7 Millionen Euro zahlen, hat jedoch Revision gegen das Urteil vor dem Bundesgerichtshof eingelegt. Das Verfahren gegen die Rüstungsexporteure, die mit Vogels Artikel »Der Tod aus dem Schwarzwald« 2012 im Amnesty Journal seinen Ausgang nahm, bietet auch für das Fernsehen spannenden Stoff: Am 1. April wird der zweite Teil von
Dreißig Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung feiern die Mitglieder der Amnesty-Gruppe Chemnitz am 25. April ebenfalls ihren 30-jährigen Geburtstag: Zwar kamen die ersten Interessierten bereits im November 1989 im damaligen Karl-Marx-Stadt zusammen, um gemeinsam für die Menschenrechte tätig zu werden – doch war Amnesty in der DDR noch ein verbotener Verein. Im Mai 1990 fand dann die offizielle Gründung der Stadtgruppe statt, die danach ins Chemnitzer Umweltzentrum einzog. Damit hat eine der ältesten ostdeutschen AmnestyGruppen bis heute ihren Sitz ausgerechnet in einem ehemaligen Stasi-Gebäude, das in der »Wendezeit« auf Beschluss des Runden Tischs Umwelt-, Friedensund Menschenrechtsinitiativen übergeben wurde. Wie für viele andere Amnesty-Aktivisten in den ostdeutschen Bundesländern zählt der Kampf gegen faschistische Gruppen und die AfD zu den wichtigsten Aufgaben der Chemnitzer Gruppe. Nachdem im Herbst 2019 Unbekannte ein Hakenkreuz in das Büroschild geritzt hatten, stellte das Amnesty-Team vor Ort unzweideutig klar: »Dass Nazis von allgemeinen Menschenrechten nicht viel halten, ist uns bestens bekannt. Was sie wollen, ist eine Welt, in der nur noch das Recht des Stärkeren gilt. Wir werden uns künftig noch entschiedener gegen diese Ideologien der Ungleichwertigkeit und ihre geistigen Brandstifter stellen. Keinen Fußbreit dem Faschismus!«
Foto: diwafilm
»Meister des Todes« des Regisseurs Daniel Harrich in der ARD ausgestrahlt. Der Film basiert unter anderem auf der Arbeit Vogels in Mexiko. Dort fand er heraus, dass Sicherheitskräfte 2014 beim Massaker an Studierenden in Iguala G36 verwendeten; 38 der Waffen wurden am Morgen nach dem Einsatz im Polizeirevier der Stadt gefunden. Bereits drei Jahre zuvor waren zwei Studenten mit den widerrechtlich in den mexikanischen Bundesstaat Guerrero gelieferten Waffen getötet worden. Gemeinsam mit Regisseur Harrich und dessen Team erhielt Vogel 2016 den Grimme-Preis für den ersten Teil von »Meister des Todes«. Nun wird die Fortsetzung des fiktiven ARD-Spielfilms gezeigt: Darin wird das Hauptverfahren gegen zwei ehemalige Geschäftsführer, zwei ehemalige Vertriebsleiter und eine Vertriebsmitarbeiterin eröffnet. Ihnen wird Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollund Außenwirtschaftsgesetz vorgeworfen.
Auf Seiten der Verfolgten. Wolf-Dieter Vogel (rechts) im mexikanischen Bundesstaat Guerrero.
https://amnesty-chemnitz.de
IMPRESSUM Amnesty International Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Markus Bickel (V.i.S.d.P.), Jessica Böhner, Lea De Gregorio, Anton Landgraf, Pascal Schlößer, Uta von Schrenk
AKTIV FÜR AMNESTY
Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Daniel Bax, Markus N. Beeko, Hannah El-Hitami, Farhad Forouzandeh, Hauke Friederichs, Oliver Grajewski, Christian Jakob, Jürgen Kiontke, Philip Malzahn, Erich Rathfelder, Wera Reusch, Anastasia Rodion, Bettina Rühl, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Franziska Vilmar, Cornelia Wegerhoff, Rose Weissman, Elisabeth Wellershaus, Nicola Zimmermann, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck, Nürnberg GmbH & Co. KG
Spendenkonto: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
ISSN: 2199-4587
Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel
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Der Amnesty Menschenrechtspreis 2020 geht an die Seenotrettungscrew Iuventa10. Herzlichen GlĂźckwunsch!