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DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE
AMNESTY JOURNAL
03 2021 MAI / JUNI
02R
AN DIE ARBEIT MENSCHENRECHTE FÜR BESCHÄFTIGTE
60 JAHRE AMNESTY Immer wieder Mensch für Mensch retten
AFGHANISTAN Abgeschoben in den Terror von Kabul
RAUBKUNST IN FRANKREICH Afrikanische Expert_innen fordern Gerechtigkeit
Lockdown für Arbeitsrechte. Der Umgang mit Corona spaltet die Weltgesellschaft noch tiefer: Auf Schiffen, in Textilfabriken, Krankenhäusern und auf deutschen Erdbeerfeldern verschärft sich die Ausbeutung.
INHALT TITEL: AN DIE ARBEIT Arbeit unter Corona-Bedingungen: Beschäftigte am Limit
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UN-Jahr gegen Kinderarbeit: Kinder wollen mitreden
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Fischereibranche: Krasse Ausbeutung auf See
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Philippinen: Gewerkschafter_innen leben gefährlich
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Union Busting: Amazon, Alphabet und Gewerkschaften
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Graphic Report Katar: Misshandelt und überlastet
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Kommentar: Arbeitsschutz, Menschenrechte und die Fußball-WM 2022 in Katar
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IG Metall und Amnesty: Jürgen Kerner im Interview
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POLITIK & GESELLSCHAFT 60 Jahre Amnesty I: Essay – Mensch für Mensch retten
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60 Jahre Amnesty II: Interview – »Genauso alt wie ich«
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Amnesty-Report: Weltweite Lage der Menschenrechte
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Hass im Netz: HateAid steht Betroffenen bei
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Bergbau in Armenien: Gold oder Aprikosen?
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Journalismus in Somalia: Berichten unter Lebensgefahr
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Weltrechtsprinzip: Nirgendwo auf der Welt straffrei
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Russland I: Kontrolle wird ausgeweitet
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Russland II: Alexej Nawalny muss freigelassen werden!
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Afghanistan: Abgeschoben und ausgeliefert
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12 Zähmung der Giganten. Während sie immer reicher und mächtiger werden, stellen sich zwei der einflussreichsten Unternehmen der Welt gegen Gewerkschaftsbestrebungen: Amazon und Alphabet. Doch der Widerstand wächst.
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To-Dos gegen den Hass. Im Kampf gegen Anfeindungen hat die Organisation HateAid Routine. Sie hilft Menschen, die im Netz bedroht und beleidigt werden, darunter auch die Politikerin Hannah Neumann.
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KULTUR Kolumbien: Erinnerung an Verschwundene und Ermordete
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Raubkunst in Frankreich: Rückgabe beginnt langsam
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Russland: Kritische Kulturschaffende unter Druck
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Klagelieder: Musik zum Genozid an den Armeniern
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@engagiert: Menschenrechte auf Instagram
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Lyrikerin Lina Atfah: Mit Worten nach Hause finden
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Politisches Buch: Von Utopien und Realitäten
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Dokumentarfilm: Journalistin Carmen Aristegui in Mexiko
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RUBRIKEN Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 06 Markus N. Beeko über Sport und Menschenrechte 07 Spotlight: Iran 08 Interview: Mariam Claren 09 Was tun 52 Porträt: Trude Simonsohn 60 Dranbleiben: Waffenexporte, Istanbul-Konvention 61 Rezensionen: Bücher 77 Rezensionen: Film & Musik 78 Briefe gegen das Vergessen 80 Aktiv für Amnesty 82 Impressum 83
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Der Knochen, an dem die Scham nagt. Vor mehr als drei Jahren versprach der französische Präsident, koloniale Raubkunst aus Afrika zurückzugeben. Viel geschehen ist bislang nicht. Afrikanische Expert_innen sehen dennoch einen kunsthistorischen Paradigmenwechsel.
Verschleppt, nicht vergessen. Der Schriftsteller Erik Arellana Bautista unterstützt in Kolumbien die Hinterbliebenen von Verschwundenen und Ermordeten. Er gibt den Trauernden eine Stimme, auch dank gemeinsamer Erinnerungsarbeit.
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Ins Netz gegangen. Ausbeuterische Arbeitsbedingungen sind in der Fischereibranche weit verbreitet. Eine US-Nichtregierungsorganisation will nun mit Satellitenaufnahmen mehr Verdachtsfälle an Behörden melden.
BLICK NACH VORN UND BLICK ZURÜCK 18
Aktualität ist im Journalismus Anlass zu Freude und Sorge zugleich. Neues zu entdecken, zu beschreiben und einzuordnen, ist für viele Journalist_innen ein täglicher Antrieb. Von Ereignissen überrollt zu werden, gehört im Journalismus ebenfalls zum Alltag. Was heute noch aktuell ist, kann morgen schon Schnee von gestern sein.
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In einem Zweimonatsmagazin wie dem Amnesty Journal ist Aktualität eine besondere Herausforderung. Im Fall von Alexej Nawalny ist sie uns sehr wichtig. Wir konnten unsere Doppelseite zu Nawalny und Amnesty International (Seiten 54/55) zuletzt am 21. April aktualisieren und danach nur hoffen, zum Zeitpunkt der Auslieferung noch aktuell zu sein.
Etablierte Gegenkultur. 60 Jahre Amnesty International erzählen eine Geschichte von Aufbrüchen und Rückschlägen. Und sie stecken voller Verwandlungen. Ein Essay des Historikers Jan Eckel.
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Plötzlich in Kabul. Trotz Pandemie und Bürgerkrieg werden weiterhin Menschen nach Afghanistan abgeschoben. Vor Ort gibt es viele Hilfsprogramme, aber kaum Perspektiven. Es drohen Verelendung und sogar der Tod.
Mike Schmidt / SZ Photo / pa | Tobin Jones / AU-UN IST (CC0 1.0) | Benjamin Thieme
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EDITORIAL
Foto: Gordon Welters
Fotos oben: Jefferson Bernardes / AP / pa | Jens Bonnke | Bob Miller / The New York Times / Redux / laif Johanna-Maria Fritz | Gerard Julien / AFP / Getty Images
Beim Thema 60 Jahre Amnesty International war Aktualität mal nicht so wichtig. Im Mai 1961 entstand Amnesty, und das ist auf jeden Fall ein Grund zu feiern. Im Journal werden wir den Geburtstag auch in den kommenden Monaten publizistisch begleiten – mit Berichten, Porträts, Interviews und Meinungsbeiträgen unter dem Motto »Mit Menschlichkeit für die Menschenrechte«. Wir starten mit einem Essay des Historikers Jan Eckel (Seiten 34/35) und einem Interview: Die Amnesty-Förderin Sabine Zarmann und das Amnesty-Mitglied Detlef Roggenkemper werden, wie Amnesty, am 28. Mai 60 Jahre alt (Seiten 36/37).
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Titelbild: Verkehrszeichen 123 »Arbeitsstelle« nach der Staßenverkehrsordnung
INHALT
Während das Schwerpunktthema dieser Ausgabe zu Arbeits- und Menschenrechten entstand, haben uns aktuelle Entwicklungen gezeigt, wie richtig und wichtig diese Themenwahl war: Mitte April wurde bekannt, dass in Saudi-Arabien 41 Frauen aus Sri Lanka seit Monaten in Abschiebehaft festgehalten werden, nachdem man sie zuvor als Hausangestellte im Rahmen des Kafala-Systems (Seiten 28/29) ausbeutete.
Jede Sendung wird zum Risiko. Journalistinnen und Journalisten leben in Somalia gefährlich. Dabei geht die Bedrohung nicht nur von islamistischen Milizionären aus.
Das Doppelinterview hat meine Kollegin Lea De Gregorio redaktionell betreut. Seit dem 1. März ist sie Redakteurin des Journals, nachdem sie zuvor Volontärin war. Nun ist sie zuständig für Gesellschaftsthemen im Journal: Gender, Medien, Alltagsdiskriminierung, Gesundheit, Religion und vieles mehr. Ich freue mich sehr, mit Lea De Gregorio zusammenzuarbeiten, und möchte diese Freude mit Ihnen teilen! Maik Söhler ist verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals.
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PANORAMA
Foto: Marvin Ibo Guengoer / GES / pa
AUF DEM WEG ZUR FUSSBALL-WM IN KATAR Human Rights – elf Buchstaben, von elf Fußballern getragen. Am 25. März zeigte die deutsche Nationalmannschaft vor ihrem ersten WM-Qualifikationsspiel gegen Island plakativ, was sie vom Austragungsort der Fußball-WM im Herbst 2022 hält. Zahlreiche Arbeitsmigrant_innen sind in Katar in den vergangenen zehn Jahren ums Leben gekommen (siehe Seite 30), weil das Land ihre Arbeitsrechte nicht achtete. In den folgenden Länderspielen wurde die Botschaft leicht variiert wiederholt. Doch nicht alles, was plakativ ist, ist auch klar. Menschenrechte sind wichtig, so viel versteht man. Aber sind sie so wichtig, dass die Nationalelf deswegen ihre Teilnahme an der WM in Katar infrage stellt? Und: Sind Menschenrechte in Katar nur in Bezug auf die WM wichtig? Eine Antwort darauf steht noch aus, vor allem von jenen Spielern, die im Februar 2021 mit dem FC Bayern München die Klub-WM in Katar gewannen und auch sonst öfter mal zum Winter-Trainingslager in das Emirat reisen. Jenseits der unbeantworteten Fragen sendet das Bild aber eine einfache Botschaft: Human Rights, Menschenrechte! Dafür ist zu danken.
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AMNESTY JOURNAL | 03/2021
AUF DEM WEG IN DIE USA US-Präsident Joe Biden hat Vizepräsidentin Kamala Harris mit einer heiklen Aufgabe betraut: Sie soll mit El Salvador, Guatemala und Honduras Mittel finden, um Menschen aus diesen Ländern davon abzuhalten, über Mexiko in die USA zu gelangen. Im April erklärte die US-Administration, Honduras, Guatemala und Mexiko würden ihre militärischen Einheiten zur Eindämmung von Migration aufstocken. Die US-Behörden nahmen im März mehr als 171.000 Menschen an der Grenze zu Mexiko fest – mehr als je zuvor in den vergangenen 15 Jahren. Tag für Tag kommen aus dem Süden weitere Menschen an. Die Herbergen in den mexikanischen Grenzstädten sind überfüllt. Ein besonderes Problem bereitet die Unterbringung von unbegleiteten Minderjährigen (Foto). Wegen der Corona-Pandemie bleibt das Recht auf Asyl auch unter der neuen US-Regierung ausgesetzt. Präsident Biden nahm zwar migrationspolitische Dekrete seines Vorgängers Trump zurück, doch der gesundheitspolitische »Titel 42« bleibt. Er erlaubt es der US-Grenzpolizei, alle an der Grenze festgenommenen Menschen direkt nach Mexiko abzuschieben. Foto: Go Nakamura / Reuters
PANORAMA
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POLEN Im Prozess gegen drei Menschenrechtsverteidigerinnen sind die Angeklagten am 2. März freigesprochen worden. Man hatte ihnen vorgeworfen, mit Plakaten, die die Jungfrau Maria mit einem regenbogenfarbenen Heiligenschein zeigten, religiöse Gefühle verletzt zu haben. Elżbieta, Anna und Joanna drohten deswegen bis zu zwei Jahre Gefängnis. Die Anklage erfolgte auf der Grundlage von Artikel 196 des polnischen Strafgesetzbuches, der einen weiten Spielraum bietet, um Einzelpersonen zu verfolgen und zu kriminalisieren. Er verstößt nach Auffassung von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung und ist nicht mit internationalen und polnischen Menschenrechtsverpflichtungen vereinbar.
EINSATZ MIT ERFOLG Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schützt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge
USA Seit Februar ist Steven Tendo aus humanitären Gründen frei, bis über seinen Asylantrag entschieden wird. Der 35-jährige Pastor aus Uganda kam im Dezember 2018 als Asylsuchender in die USA, nachdem er vor Folter und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen fliehen musste. Im Dezember 2018 wurde er in Einwanderungshaft genommen. Seine geplante Abschiebung konnte im September 2020 durch weltweite Aktionen verhindert werden, doch sein Gesundheitszustand verschlechterte sich wegen einer Diabeteserkrankung und unzureichender medizinischer Versorgung. Neben Tendo wurden auch vier Familien aus der US-Einwanderungshaft entlassen. Amnesty International hatte sich für ihre und für Tendos Freilassung eingesetzt.
ALGERIEN Nach fast einem Jahr Haft ist der algerische Journalist Khaled Drareni wieder in Freiheit. Der algerische Präsident Abdelmadjid Tebboune ordnete am 19. Februar 2021 an, ihn und weitere politische Gefangene freizulassen. Der Oberste Gerichtshof hob am 25. März seine zweijährige Haftstrafe auf und ordnete eine Wiederaufnahme des Verfahrens an. Drareni ist ein unabhängiger Journalist, der 2019 über die landesweiten Proteste gegen die algerische Regierung berichtet hatte. Im März 2020 wurde er bei einer Demonstration festgenommen und kurz darauf wegen »Gefährdung der nationalen Einheit« und »illegaler Versammlung« verurteilt. Amnesty hatte sich im Rahmen des Briefmarathons und der Briefe gegen das Vergessen für Drareni eingesetzt.
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MOSAMBIK Im Februar 2021 hat Papst Franziskus die Versetzung von Bischof Luis Fernando Lisboa nach Brasilien veranlasst. In Mosambik war Lisboa wegen seiner Menschenrechtsarbeit zum Ziel einer Verleumdungskampagne von Unterstützer_innen der Regierung geworden. Seine Versetzung soll seine Sicherheit gewährleisten. Der Bischof von Pemba gehörte zu den wenigen Stimmen in Mosambik, die sich zu den schlechten humanitären und menschenrechtlichen Bedingungen in der Provinz Cabo Delgado äußerten. Dort herrscht seit 2017 ein bewaffneter Konflikt. Nach einer Eilaktion von Amnesty International hatte zuvor schon Mosambiks Präsident Filipe Nyusi seine Unterstützung für Lisboa ausgedrückt.
AMNESTY JOURNAL | 03/2021
TÜRKEI Der türkische Kassationsgerichtshof hat im April die Haftstrafe des Schriftstellers und Journalisten Ahmet Altan aufgehoben. Das Gericht lieferte keine Begründung für die Annullierung. Altan war mehr als vier Jahre im Gefängnis, weil ihm eine Beteiligung am gescheiterten Putsch im Jahr 2016 unterstellt wurde. Dies hat er stets bestritten. Der Freilassung ging ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte voraus, der die Türkei wegen Altans Inhaftierung scharf gerügt hatte. Amnesty International hatte Altan als gewaltlosen politischen Gefangenen betrachtet und gefordert, ihn freizulassen. Nach seiner Freilassung erinnerte Amnesty an weitere Journalist_innen und Aktivist_innen, die zu Unrecht in türkischen Gefängnissen inhaftiert sind.
EINSATZ MIT ERFOLG
MARKUS N. BEEKO ÜBER
Foto: Bernd Hartung / Amnesty
RUSSLAND Wie erst im Februar 2021 bekannt wurde, hat der gewaltlose politische Gefangener Konstantin Kotov am 16. Dezember 2020 das Gefängnis verlassen, in dem er ein Jahr und vier Monate inhaftiert war. Er war am 10. August 2019 festgenommen und später verurteilt worden, weil er wiederholt an »nicht genehmigten« Kundgebungen teilgenommen hatte. Kotov lebt in Moskau und beteiligte sich an zahlreichen friedlichen Demonstrationen gegen Menschenrechtsverletzungen und in Solidarität mit politischen Gefangenen. Kotov dankte Amnesty und allen, die sich für ihn eingesetzt haben. Er wird vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde gegen seine Verurteilung einlegen.
SPORT UND MENSCHENRECHTE »No Sports«, so wird der ehemalige britische Premier Winston Churchill oft zitiert, auch wenn er das wohl nie gesagt hat. Heute ist bekannt, dass er ritt, focht, schwamm, boxte. »No Sports« war früher auch oft meine Antwort, wenn Fragen nach meinen Hobbies aufkamen. Ich war zwar kein »Turnbeutelvergesser«, musste mich aber in meiner Schulzeit eher tapfer durch den Sportunterricht kämpfen. Reck, Barren und Hochsprung waren echte Herausforderungen. Bewegung in mein Leben brachten Judo (einige Jahre), Volleyball (gelegentlich), ein wenig Tennis und im Studium sogar Eishockey (bewusst dilettierend). Und die Olympischen Sommerspiele: Gebannt verfolgte ich die Laufwettbewerbe, fieberte mit Hochspringern und fachsimpelte, ob Bob Beamons Weitsprungrekord fallen würde. Meine Begeisterung galt auch der internationalen Aura der Spiele, dem Starterfeld aus Ländern rund um den Globus, dem Mitfiebern mit den afrikanischen Läufern – wann konnte man je im Fernsehen mehr Schwarze sehen –, aber auch Stars wie Carl Lewis oder Michael Groß. Und die Eröffnungs- und Abschlussfeiern! Sie hatten, was Bundesjugendspielen abging: Die Völker der Welt in fröhlichem Treiben, Musik, Drama, Pathos. Für einen Moment gab es eine friedliche, bunte, solidarische Gemeinschaft netter Menschen, die der Politik vormachten, wie es sein sollte. Eine Welt, die mit der Eröffnungsfeier begann, bei den Wettbewerben latent im Hintergrund mitschwang, um dann mit dem Happy End der Abschlussfeier in den Winterschlaf zu gehen. Bis diese Welt bei den nächsten Spielen wieder wachgeküsst wurde. Aber ich wusste auch, dass der Sport für staatliche Propaganda genutzt wurde. Ich hatte den Olympia-Boykott 1980 in Moskau und die Fußball-WM 1978 während der Militärdiktatur in Argentinien gesehen. Und auch die Instrumentalisierung der Spiele 1936 durch NaziDeutschland erinnerte immer wieder daran: Sportereignisse sind politisch. Sie passieren nicht in einer Blase. Die aktuelle Diskussion um die Fußball-WM in Katar und die Olympischen Winterspiele in China, die Sportler_innen und Fans angestoßen haben, ist wichtig. Amnesty weist seit langem auf dortige Menschenrechtsverletzungen hin. Das IOC, die großen Sportverbände im Fußball, Eishockey oder in der Formel 1 ordnen weiterhin die Menschenrechte, das Wohl der Athlet_innen und Transparenz dem Kommerz unter und dienen sich Regierungen an. Im Januar führte die Strecke der Rallye Dakar in Saudi-Arabien an dem Gefängnis vorbei, in dem die Frauenrechtlerin Loujain al-Hathloul gefoltert wurde. Loujain hatte sich unter anderem gegen das Frauenfahrverbot eingesetzt. Bevor internationale Sportereignisse vergeben werden, müssen menschenrechtliche Mindeststandards zur Voraussetzung gemacht werden. Und auch bei der Planung und Umsetzung muss die Einhaltung der Menschenrechte überprüft und überwacht werden. Es braucht Sportler wie Colin Kaepernick und Lewis Hamilton, es braucht kritische Fans und uns alle, um weiter lästige Fragen an Verbände, Sponsoren und Politik zu stellen. Amnesty fordert mit einer Kampagne von der FIFA lange überfällige Veränderungen ein. Es braucht weiter Druck, damit das IOC-Motto »Building a better world through sport« in den Ohren der Opfer von Menschenrechtsverletzungen irgendwann nicht mehr wie Hohn klingt. Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.
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SPOTLIGHT: IRAN
Foto: privat
DOPPELSTAATSANGEHÖRIGE IM IRANISCHEN GEFÄNGNIS
Wird seit einem halben Jahr im Iran festgehalten. Nahid Taghavi.
Die 66-jährige iranisch-deutsche Staatsbürgerin Nahid Taghavi (siehe Seite 9) ist seit Oktober 2020 in Teheran inhaftiert. Sie hat ihren Wohnsitz in Deutschland, reist aber öfter in den Iran, um Familienangehörige zu besuchen. Zuvor gab es dabei nie Probleme, doch dieses Mal wurde sie in ihrer Teheraner Wohnung festgenommen. Die Behörden verwiesen auf »Sicherheitsgründe«, es lag jedoch bis Mitte April keine Anklage gegen sie vor. Amnesty International betrachtet Taghavi als gewaltlose politische Gefangene. Im Iran wurden in den vergangenen Jahren mehr als zwei Dutzend Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit inhaf-
Iranische Behörden »versuchen, diese Menschen als diplomatische Druckmittel zu benutzen«. JAVAID REHMAN, UN-SONDERBERICHTERSTATTER ZUR MENSCHENRECHTSLAGE IM IRAN.
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tiert. Das Land entlässt seine Staatsangehörigen fast nie aus der Staatsbürgerschaft und betrachtet sie ausschließlich als Iraner_innen. Konsularischer Beistand durch das Land ihrer zweiten Staatsbürgerschaft wird ihnen verweigert. Die willkürliche Inhaftierung steht am Beginn weiterer Menschenrechtsverletzungen: Die Strafverfolgungsbehörden verweigern Inhaftierten den Zugang zu Rechtsbeiständen ihrer Wahl. Politische Häftlinge werden in Verhören gefoltert und misshandelt. Gerichte verwenden »Geständnisse«, die unter psychischem Druck oder Folter erzwungen wurden, als Beweise, die zur Verurteilung führen kön-
nen. Die Urteile erfolgen häufig wegen nebulöser Straftatbestände wie »Propaganda gegen das System«. Gefangenen wird der Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung und Medikamenten verwehrt. So auch im Fall Taghavi. Der UN-Sonderberichterstatter zur Menschenrechtslage im Iran, Javaid Rehman, äußerte sich 2019 besorgt über die Lage inhaftierter Doppelstaatsangehöriger. Iranische Behörden würden gegen sie Scheinprozesse führen, die die Standards für faire Gerichtsverfahren verletzten, sie aufgrund konstruierter Beweise verurteilen und versuchen, diese Menschen als diplomatische Druckmittel zu benutzen.
IN EINZELNEN FÄLLEN KAM ES ZU VERHANDLUNGEN ÜBER DEN
DER FALL TAGHAVI STEHT IN EINER REIHE MIT MEHR ALS
AUSTAUSCH
ZWEI DUTZEND INHAFTIERUNGEN
GEGEN IM AUSLAND INHAFTIERTE IRANER, DIE DER REGIERUNG NAHESTANDEN.
VON BÜRGER_INNEN MIT DOPPELTER STAATSANGEHÖRIGKEIT.
AMNESTY JOURNAL | 03/2021
MARIAM CLAREN
»MAN KANN SICH DER ANGST NICHT ENTZIEHEN«
Foto: privat
Die Deutsch-Iranerin Nahid Taghavi befindet sich seit Oktober 2020 im Iran in Isolationshaft – lange Zeit ohne Anklage und Kontakt zu einem Rechtsbeistand. Ihre in Köln lebende Tochter Mariam Claren (40) kämpft seitdem für die Freilassung. Amnesty unterstützt sie dabei mit einer Eilaktion. Von der deutschen Bundesregierung fordert Claren ein entschlosseneres Vorgehen gegenüber den iranischen Behörden. Interview: Ralf Rebmann
Ihre Mutter wurde am 16. Oktober 2020 in ihrer Wohnung in Teheran festgenommen. Haben Sie seitdem mit ihr gesprochen? Nein, das letzte Mal haben wir am Vormittag des 16. Oktober 2020 telefoniert. Es war ein banales Gespräch über einen persischen Eintopf und die Zutaten. Sie sagte zu mir, lass uns morgen darüber sprechen, wenn du alle Zutaten besorgt hast. Nach diesem Telefonat brach der Kontakt ab. Wie haben Sie von ihrer Festnahme erfahren? Meine Mutter hat einen deutschen und einen iranischen Pass. Wenn sie in den Iran reist, schicken wir uns Sprachnachrichten. Nach unserem Telefonat erhielt ich keine Antwort mehr, auch am nächsten Tag nicht. Deswegen bat ich ihre Brüder, die im Iran leben, in der Wohnung nachzuschauen. Sie fanden dort Chaos vor: Die Regale waren umgeschmissen, die Teppiche herausgerissen, alle Unterlagen weg. Die Nachbarin sagte, dass Sicherheitsbeamte meine Mutter abgeholt hätten, mit dem Krankenwagen, um kein Aufsehen zu erregen. Wohin wurde sie gebracht? In das berüchtigte Evin-Gefängnis. Dort saß sie zuerst in Isolationshaft, im März wurde sie in den Frauentrakt und im April zurück in Isolationshaft verlegt. Es ist unklar, warum sie ins Visier der Behörden geriet. Wegen ihrer politischen Meinung oder weil sie zwei Pässe besitzt? Offiziell wegen »Gefährdung der Sicherheit«. Jedenfalls ist sie eine politische Gefangene. Wissen Sie, wie es Ihrer Mutter geht? Ihr geht es nicht gut. Sie ist 66 Jahre alt, ist in der Haft an Diabetes erkrankt und leidet unter Bluthochdruck. Mittlerweile
SPOTLIGHT: IRAN
kann sie einmal pro Woche mit ihrem Bruder telefonieren. Ich hoffe, dass sie nicht auf die Tricks und falschen Versprechungen der Sicherheitsbeamten hereinfällt. Mal wird ihr versprochen, sie käme gegen Kaution frei, dann wiederum soll es ein Gerichtsverfahren geben. Über eine offizielle Anklage wussten wir bis Mitte April nichts. Wir haben erfahren, dass ihr Anwalt abgelehnt wurde. Stattdessen soll meine Mutter einen Anwalt auswählen, dem »das Justizministerium vertraut«. Das ist absurd. Seit mehr als vier Monaten hat sie keinen Rechtsbeistand. Dass ihr Verfahren nicht fair ablaufen wird, ist offensichtlich. Wie hat sich Ihr Leben seit der Festnahme verändert? Es ist ein Horrortrip. Man kann sich der Angst und Ungewissheit nicht entziehen. Hinzu kommen ständige Zweifel: Wird genug über meine Mutter berichtet? Habe ich alles dafür getan, dass sie freikommt? Wir reden von einem Staat, der Menschenrechte systematisch verletzt. Wissen Sie, ob Ihr Engagement im Iran wahrgenommen wird? Jedes Mal, wenn ich mich öffentlich über meine Mutter geäußert habe, durfte sie einen Anruf tätigen. Die Behörden haben sich bei meinem Onkel beschwert, dass es eine Unverschämtheit von mir sei, das Thema Menschenrechtsverletzungen im Iran in den Mund zu nehmen. Die Behörden beobachten das sehr genau. Was fordern Sie von der deutschen Regierung? Ich erwarte, dass sie entschlossener gegen eine solch offensichtliche Willkür und Verletzung von Menschenrechten vorgeht und sich für die Freilassung meiner Mutter einsetzt.
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TITEL
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AMNESTY JOURNAL | 03/2021
An die Arbeit Unterbrochene Lieferketten, nicht ausgezahlte Löhne, Massenentlassungen: Frauen, Beschäftigte im Niedriglohnsektor, Kinder und Migrant_innen zahlen derzeit den höchsten Preis für die Corona-Folgen in der Arbeitswelt. Es häufen sich aber auch ausbeuterische Arbeitsbedingungen und die Einschüchterung von Beschäftigten und Gewerkschaften. Doch diese lassen sich nicht kleinkriegen und halten solidarisch dagegen. Eins ist klar: Arbeitsrechte sind Menschenrechte!
Prekäre Arbeit mitten in Deutschland. Erdbeerernte im Rheinland, April 2020. Foto: Matthias Jung / laif
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Lockdown für Arbeitsrechte Der Umgang mit Corona spaltet die Weltgesellschaft noch tiefer: Auf Schiffen, in Textilfabriken, Krankenhäusern und auf deutschen Erdbeerfeldern verschärft sich die Ausbeutung. Von Annette Jensen
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gleich geraten auch die Ablösemannschaften in finanzielle Schwierigkeiten, weil sie wegen des Lockdowns und der Grenzschließungen nicht zu ihren Einsatzorten kommen. Dagegen boomt das Geschäft vieler großer Schiffseigner wieder, nachdem sie zu Beginn der Pandemie kurzfristig Umsatzeinbrüche hatten. Ein Großteil spart beim Personal. Um deutsche Arbeitsschutzbestimmungen zu umgehen, fahren derzeit nur noch 14 Prozent der deutschen Handelsflotte unter schwarz-rot-goldener Flagge, obwohl die Regierung mit Steuererleichterungen reagierte. Betriebswirtschaftlich betrachtet macht das Sinn. »Man hat als Reeder keinen Vorteil, wenn man die deutsche Flagge hat – deshalb bekomme ich nicht die Ladung von Volkswagen oder Mercedes«, erklärte Dirk Max Johns, ehemaliger Geschäftsführer des Deutschen Reeder-Verbands im vergangenen Sommer im ZDF. Foto: Jefferson Bernardes / AP / pa
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eunzehn Männer stehen an Deck eines 186 Meter langen Schiffes und halten Pappschilder in die Höhe: »Please help us«. Manche von ihnen haben mehr als zwei Jahre lang geschuftet, ihr Arbeitgeber ist mit 400.000 Dollar Heuer im Rückstand. Seit Monaten liegt der Massengutfrachter Ula in einem kleinen Hafen in Kuwait. Die Reederei hat das Schiff aufgegeben – vermutlich wegen fehlender Ladung infolge der Pandemie. In ihrer Verzweiflung sind die Seeleute aus Indien, der Türkei, Aserbaidschan und Bangladesch im Januar in den Hungerstreik getreten. »Wir haben Schulden zu Hause, wir brauchen das Geld«, erklärte Bhjanu Shakar Panda im Fernsehsender Al-Arabiya zur Begründung, warum die Mannschaft das Schiff nicht verlassen will. Ein Kollege berichtete, sein Vater sei wegen der Pandemie arbeitslos geworden und nun hänge der Lebensunterhalt der gesamten Familie von ihm ab. Solange ihre Verwandten hungerten, wollten auch sie nichts mehr zu sich nehmen, verkündete die Crew. Im März war noch keine Lösung in Sicht. Normalerweise muss in solch einem Fall die Versicherung einspringen und für die Heuer aufkommen – und wenn die nicht bezahlt, ist das Land in der Pflicht, in dem das Schiff gemeldet ist. Doch der kleine Inselstaat Palau hat die Registrierung der Ula vor ein paar Monaten einfach gelöscht. Paddy Crumlin, Vorsitzender des Internationalen Gewerkschaftsbunds der Transportarbeiter (ITF), weist auf windige Tricks hin, die in der globalen Schifffahrt üblich sind. »Es wird oft absichtlich verschleiert, wer für die Besatzungsmitglieder zuständig ist.« Seine Organisation ist international bestens vernetzt und versucht, Seeleuten in schwierigen Situationen zu helfen. Dies betrifft gegenwärtig besonders viele Crews. Wegen der Corona-Schutzmaßnahmen dürfen Seeleute oft nicht an Land gehen; im Herbst 2020 saßen 400.000 auf Frachtern fest. Viele haben schon viel länger an Bord gearbeitet als die international zulässigen elf Monate. »Nach so langer Zeit sind die Seeleute erschöpft und ausgelaugt – und dann steigt nachweislich auch die Zahl der Konflikte und Unfälle. Vielen fehlt auch medizinische Hilfe. Und wir bekommen mit, dass Suizidgedanken und sogar Suizide zunehmen«, berichtet Rory McCourt von der ITF. Zu-
Globale Antworten und gemeinsame Strategien sind nötig Weltweit hat die Corona-Pandemie Auswirkungen auf Arbeitsbedingungen und Menschenrechte. Wie gravierend die Folgen ausfallen, ist unterschiedlich. »Allen, denen es vorher schon schlecht ging, geht es jetzt noch schlechter«, so fasst es Annette Hartmetz von der Amnesty-Themenkoordinationsgruppe Gewerkschaften zusammen. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) beobachtete zuletzt immer mehr Arbeitsrechtsverletzungen. Während die Länder des globalen Nordens aus der Finanzkrise 2009 die Lehre gezogen haben, Entlassungen möglichst zu verhindern, und dafür üppige Konjunkturpakete schnüren, trifft die Krise im globalen Süden viele Menschen mit voller
AMNESTY JOURNAL | 03/2021
Kleine Arbeitspause unter widrigen Bedingungen. Krankenhausmitarbeiterin in Porto Alegre, Brasilien, März 2021.
Wucht. Fast zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung weltweit sind im informellen Sektor beschäftigt und haben in der Regel keinerlei soziale Absicherung. Als Indiens Regierungschef Narendra Modi am 24. März 2020 spontan eine Ausgangssperre verhängte, standen die Tagelöhner vor dem Nichts. Millionen versuchten, sich zu Fuß in ihre Heimatdörfer durchzuschlagen. Wie viele von ihnen auf den langen Märschen verhungert und verdurstet sind, ist nicht bekannt. Nicht nur in Indien sind viele auf das Geld angewiesen, das Familienmitglieder in der Ferne verdienen. In Ländern wie Senegal, Simbabwe oder Kirgisistan besteht das Bruttoinlandsprodukt zu etwa einem Drittel aus Überweisungen aus dem Ausland. Diese Zahlungen sind in der Pandemie deutlich eingebrochen, weil Migrant_innen meist als erste entlassen wurden. Die Weltbank schätzt, dass die private Finanzhilfe aus dem Ausland 2020 um etwa 20 Prozent zurückgegangen ist. Gegen die Corona-Krise bräuchte es globale Antworten und gemeinsame Strategien – doch tatsächlich verschärfen sich Nationalisierungs- und Abschottungstendenzen, sagt Carolin
AN DIE ARBEIT
Vollman, DGB-Expertin für Internationales. Die Bekleidungsindustrie ist ein Beispiel dafür: Als die Läden in Europa dichtmachten, stornierten große Textil- und Schuhhändler einen Großteil ihrer Aufträge, wodurch allein in Bangladesch zwei Millionen Näherinnen ihre Arbeit verloren. Einige wollten sogar bereits produzierte Ware nicht mehr abnehmen. In Deutschland machten viele Firmen außerdem Front gegen das geplante Lieferkettengesetz – und fanden Gehör bei Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), der davor warnte, die Unternehmen während der Pandemie zusätzlich zu belasten. Nach langer Verzögerung liegt nun ein schwacher Gesetzentwurf vor.
Weltweite Armut könnte wieder anwachsen Die Kosten müssen die Schwächsten tragen, wie eine Studie der Nichtregierungsorganisationen Südwind und Inkota über die Lederindustrie in Indien belegt. Zwei Monate lang standen alle Beschäftigten der Schuhfabriken ohne Einkommen da, manche erhielten nicht einmal mehr den Lohn für bereits geleistete
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Foto: Sanchit Khanna / Hindustan Times / Getty Images
Teil der globalen Lieferkette. Sportschuhproduktion in Neu-Delhi, Indien, März 2021.
Arbeit. Im Juni lief die Produktion dann mit 40 Prozent weniger Personal wieder an. Wer weiter dabei ist, muss sich oft mit weniger Geld begnügen als vor der Pandemie – und das, obwohl viele Beschäftigte noch nie den gesetzlichen Mindestlohn erhalten haben, der im Bundesstaat Uttar Pradesh bei umgerechnet 112,90 Euro pro Monat für angelernte Arbeiter_innen liegt. Die dortige Regierung nutzte die Krise außerdem, um einen Großteil der Arbeitsschutzgesetze für drei Jahre außer Kraft zu setzen. Dahinter steht die Hoffnung, von den wachsenden Vorbehalten gegenüber China als Lieferland zu profitieren und neue Investoren nach Uttar Pradesh zu locken. Unter solchen Umständen erstaunt es nicht, dass die Weltbank davon ausgeht, die Armut werde erstmals seit 1998 wieder deutlich anwachsen. Bereits in den vergangenen Jahren fielen die Erfolge bei der Umsetzung der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung immer kleiner aus: Der Klimawandel macht viele Anstrengungen zunichte. Und nun drohen sogar Rückschritte. Dabei muss man nicht einmal in die Ferne schweifen, um ausbeuterische Arbeitsbedingungen zu beobachten. Es reicht ein Blick auf die Spargel- und Erdbeerfelder in Deutschland. Jahr für Jahr kommen Hunderttausende Saisonkräfte aus Osteuropa. Und obwohl in Deutschland offiziell der Mindestlohn gezahlt werden muss, verdienen die Menschen aus Bulgarien und Rumänien manchmal nur etwa vier Euro pro Stunde. Getrickst wird bei den Arbeitszeiten und den Kosten für die oft miserable Unterkunft. Während es für die Schlachthöfe wegen der Skandale um hohe Infektionszahlen seit Anfang des Jahres ein Gesetz gibt, das solche Zustände verhindern soll, ist die Lage in der Landwirtschaft unverändert. Zumindest fast. Die Arbeitgeber nutzten die Pandemie, um durchzusetzen, dass Saisonarbeitskräfte in Deutschland nun 115 statt wie bisher 70 Tage sozialversicherungsfrei beschäftigt werden können. So verschärft Corona die Spaltung der Gesellschaften: Die Armen werden ärmer, die Reichen reicher. Während die Gewinne bei Amazon durch die Decke gehen und das Vermögen von Gründer Jeff Bezos binnen Jahresfrist um 72 Milliarden Dollar
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Ihnen wurde der Lohn vorenthalten. Dem
anschwoll, spart der Versandhändler am Infektionsschutz für das Personal. In mehreren französischen Logistikzentren kam es deshalb zu wilden Streiks, berichtete die französische Gewerkschaft CNT-AIT. In den USA laufen mehrere Arbeitsgerichtsprozesse, weil Amazon Menschen entlassen hat, die gegen mangelnden Corona-Schutz protestiert hatten.
Beschäftigte im Gesundheitssektor unter Druck Unmittelbar von der Pandemie betroffen sind die Beschäftigten im Gesundheitswesen. Mindestens 17.000 Pfleger_innen und Ärzt_innen sind bis März 2021 an Covid-19 gestorben, belegt eine aktuelle Untersuchung von Amnesty in Zusammenarbeit mit den internationalen Gewerkschaftsverbänden PSI und UNI. Die Organisationen fordern, das Krankenhaus- und Pflegeperso-
AMNESTY ZUM LIEFERKETTENGESETZ Dass es endlich ein Lieferkettengesetz geben wird, ist ein historischer Schritt. Doch der Entwurf der Bundesregierung hat Lücken: Denn er erfasst nur große Unternehmen. Damit gilt das geplante Gesetz für die meisten deutschen Unternehmen nicht – selbst wenn sie zu Branchen gehören, in denen es ein hohes Risiko für Menschenrechtsverletzungen gibt. Außerdem müssen Firmen nur ihre direkten Zulieferer selbstständig auf Verstöße hin untersuchen. Die meisten Menschenrechtsverletzungen finden jedoch bereits am Anfang der Lieferkette statt: Kinder, die in Minen arbeiten, oder Näherinnen in Bangladesch liefern nicht direkt an deutsche Unternehmen. Außerdem sieht das Gesetz zwar Sanktionen bei Fehlverhalten der Firmen vor, aber keine zivilrechtliche Haftung. Die hätte es ermöglicht, dass Betroffene in Deutschland gegen die Unternehmen klagen können. Immerhin: Deutsche zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften sollen künftig im Namen der Betroffenen klagen dürfen. Es geht vorwärts – leider in zu kleinen Schritten.
AMNESTY JOURNAL | 03/2021
Foto: Kanti Das Suvra / Abaca / pa
Mindestens 17.000 Pfleger_innen und Ärzt_innen sind an Covid-19 gestorben.
onstrierende Textilarbeiter_innen in Bangladesch, Mai 2020.
nal weltweit vorrangig zu impfen. Doch davon kann keine Rede sein. »Mehr als die Hälfte der global verfügbaren Impfdosen gegen Covid-19 wurde bisher in nur zehn wohlhabenden Ländern verabreicht. In mehr als 100 Ländern hingegen wurde bis Anfang Februar 2021 noch keine einzige Person geimpft«, bilanziert Steve Cockburn, Amnesty-Experte für wirtschaftliche und soziale Menschenrechte. Ärzt_innen und Krankenpfleger_innen, die auf Gefahren für ihren Berufsstand hinweisen, sind häufig Repressalien ausgesetzt. Der chinesische Augenarzt Li Wenliang aus dem Zentralkrankenhaus in Wuhan war der erste, der das erfahren musste: Er hatte Kolleg_innen geraten, Schutzkleidung zu tragen, wenn sie mit Infizierten des neuartigen Lungenvirus zu tun hätten. Die Polizei und ein lokales »Sicherheitsbüro« zwangen ihn, sei-
ne Warnungen für falsch zu erklären – wenige Wochen später starb der 34-Jährige selbst an Covid-19. Gegen die Ärztin Tatyana Revva aus dem südrussischen Wolgograd wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet, nachdem sie in einem Video auf mangelnde Ausrüstung und fehlende Schulungen in ihrem Krankenhaus hingewiesen hatte. In Nicaragua verbot die Regierung zunächst sogar die Nutzung von Masken. Kaum im Fokus stehen die Reinigungskräfte in Kliniken, die häufig ohne Schutzkleidung und ausreichende Desinfektionsmittel putzen müssen. Ein Arzt aus Honduras berichtet, dass die Frauen oft mit bloßen Händen arbeiteten. Besonders hart geht Venezuela vor: Mehrere Beschäftigte im Gesundheitssektor wurden vor Zivil- oder Militärgerichte gestellt, weil sie auf Gefahren für sich und die Patient_innen hingewiesen hatten. Nach Angaben der ILO zahlen Frauen, Beschäftigte im Niedriglohnsektor, Kinder und Migrant_innen den höchsten Preis für die Corona-Folgen in der Arbeitswelt. Binnen Monaten wurden positive Entwicklungen von Jahrzehnten zerstört, stellte der UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten, Mark Lowcock fest. Für Mädchen wirken sich die Schulschließungen extrem nachteilig aus, was ihre berufliche Zukunft angeht. Im globalen Süden würden wahrscheinlich viele Kinder nie mehr ins Klassenzimmer zurückfinden, eine Zunahme von Kinderehen und häuslicher Gewalt sei absehbar, warnt die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Eines scheint leider sicher: Corona und der Umgang damit vertiefen die Spaltung der Welt immer weiter.
ITUC GLOBAL RIGHTS INDEX Rechte nicht garantiert
Quelle: ITUC 2020
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wegen Zusammenbruchs der Rechtsstaatlichkeit Rechte nicht garantiert Systematische Rechtsverletzungen Regelmäßige Rechtsverletzungen Wiederholte Rechtsverletzungen Sporadische Rechtsverletzungen Keine Daten
Viel zu viel rot. Der Globale Rechtsindex des Internationalen Gewerkschaftsbundes IGB (englisch: International Trade Union Confederation, ITUC) zeigt die schlimmsten Länder der Welt für Arbeitnehmer_innen.
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Sie wollen mitreden S
ie putzen Schuhe, verkaufen Gemüse, helfen bei der Zuckerrohrernte und schuften in den Schächten des Bergbaus: Schätzungen zufolge arbeiten in Bolivien 800.000 Kinder und Jugendliche. Sie gehören zu den weltweit 152 Millionen Kindern, die von Kinderarbeit betroffen sind. Die UN haben 2021 zum Internationalen Jahr zur Abschaffung von Kinderarbeit ausgerufen. Im Vergleich zu vielen Gleichaltrigen, die in anderen Ländern in jungen Jahren ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, haben die Kinder in Bolivien jedoch einen Vorteil: Sie können sich in einer Gewerkschaft organisieren. Seit mehr als 20 Jahren setzt sich die Union der arbeitenden Kinder und Jugendlichen Boliviens (UNATSBO) für die Rechte von Kinderarbeiter_innen ein. »Wir haben in allen Städten lokale Gruppen und vertreten alle Departements des Landes«, sagt Gewerkschaftssekretärin Estefani Yucra. Sie ist 19 Jahre alt und studiert Wirtschaftswissenschaften. Auch Yucra hat bereits mit zehn Jahren Kleidung verkauft und später als Kindermädchen gearbeitet. Sie ist für ihren Posten genau genommen zu alt. »Eigentlich sollte ich durch Jüngere ersetzt werden, aber wegen der Pandemie haben wir zurzeit keine Treffen«, sagt sie. Schließlich sind bei der UNATSBO nur Kinder und Jugendliche aktiv. »Ein paar Ältere beraten uns.« Sie lebt in Llallagua, einer Kleinstadt im Departement Potosí. Bis heute wird in der traditionellen Bergbauregion Silber gefördert. Und noch immer steigen Jugendliche in die Schächte, um
GANZ ANDERE KINDERSTARS Sie sind Kinder, aber sie sind in ihrem politischen Kampf mindestens so überzeugend wie Erwachsene: Der Film »Morgen gehört uns« widmet sich politisch denkenden jungen Menschen. Einer von ihnen ist Kevin, Kinderarbeiter in einer Mine in Bolivien. Er hat die Kindergewerkschaft UNATSBO mitgegründet. Von diesem Film und seinen Hauptdarsteller_innen bleibt man nicht unberührt. Regisseur Gilles De Maistre hat einen wunderbaren Film über extreme Charaktere geschaffen: Sie sind Teil einer Generation von jungen Menschen, die ihre Anliegen formulieren können und wissen, wie sie sie im persönlichen Gespräch oder per Social Media in die Welt bringen. Ein mitreißender Dokumentarfilm! Jürgen Kiontke »Morgen gehört uns«. F 2019. Regie: Gilles de Maistre. Video on Demand und DVD
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das Edelmetall aus den Minen zu holen. Die Konvention 182 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verbietet potenziell gesundheitsschädliche Tätigkeiten für Kinder, also auch die Arbeit im Bergbau. Auch die UNATSBO ist dagegen, dass Minderjährige in die Gruben steigen, betont Yucra. »Diese Arbeit ist extrem gefährlich.« Dennoch ist sie gegen ein Verbot der Kinderarbeit: »Wir sind nicht dafür, das radikal zu verbieten, weil viele von uns gezwungen sind, dort zu arbeiten.« Häufig müssten Kinder Geld verdienen, damit das Familieneinkommen für alle reiche. Yucras Ortsverband will dafür sorgen, dass junge Menschen bei der Arbeit sicher sind und ihre Tätigkeiten weniger Gefahren bergen. Zudem bietet UNATSBO Weiterbildungen an, damit die Kinder später in Bäckereien, Schneidereien oder der Gastronomie Geld verdienen können. »Sie sollen ja nicht ihr Leben lang im Bergbau schuften«, sagt Yucra. Unter dem sozialistischen Präsidenten Evo Morales, der von 2006 bis 2019 regierte, sollte Kinderarbeit zunächst verboten werden – entsprechend der ILO-Konvention 138, die Bolivien unterzeichnet hat. Die Minderjährigen stellten sich gegen ein grundsätzliches Arbeitsverbot. »Es konnte nicht sein, dass eine Reform verabschiedet wird, ohne die Kinder in die Debatte einzubeziehen«, erinnert sich Luz Rivera, die für ein Sozialprojekt der Caritas in Potosí arbeitet. Ihre Einrichtung hatte die Kindergewerkschaft unterstützt. Im Gesetz 548 schrieb die Regierung 2014 schließlich fest, dass Kinder unter bestimmten Voraussetzungen doch arbeiten dürfen – ab dem zehnten Lebensjahr. Rivera hielt die Entscheidung für richtig. »Das entspricht einfach der Realität«, sagt sie. »Ob legal oder illegal, die Kinder arbeiten sowieso, es geht darum, dass sie geschützt sind.« Die Reform schrieb unter anderem vor, dass die Minderjährigen eine Gesundheitsversorgung haben und in die Schule gehen. Die Beschäftigung im Bergwerk war verboten. Die ILO hingegen sah das anders. »Kinderarbeit hindert Kinder daran, Bildung und Fertigkeiten zu erwerben, die sie zum Erlangen von menschenwürdiger Arbeit als Erwachsene benötigen«, hieß es. Zudem bestehe bei einer Erlaubnis der Kinderarbeit das Risiko, dass Minderjährige für gefährliche Tätigkeiten eingesetzt würden. Der internationale Druck wuchs. Als die USA mit Zollverschärfungen drohten, gab die Regierung nach. 2018 hob das Parlament das Gesetz auf und verbot die Kinderarbeit. »Jetzt arbeiten Kinder unter 14 Jahren wieder illegal und verlieren dadurch alle Rechte, die das Gesetz garantiert hatte«, kritisiert Sozialarbeiterin Rivera. Wenn sie ausgebeutet würden, trauten sich weder sie noch ihre Familien, das zu melden. Dem Bildungsargument kann Rivera ebenso wenig folgen. »Wir betreuen 843 arbeitende Mädchen und Jungen, und 99,9 Prozent von ihnen gehen in die Schule«, sagt sie. Jorge Domic von der
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Foto: Juan Karita / AP / pa
Etwa eine Million Kinder und Jugendliche müssen in Bolivien arbeiten. Einige von ihnen haben sich zu einer Gewerkschaft zusammengetan, um für ihre Rechte zu kämpfen. Ihre Forderungen weichen von internationalen Konventionen ab. Von Wolf-Dieter Vogel
Mit Schutzmasken, aber arbeitsrechtlich weitgehend ungeschützt. Kinder in einer Schreinerei in El Alto, Bolivien, April 2020.
Stiftung Fundación La Paz geht noch weiter: »In der Andenkultur wird Kinderarbeit als sehr wertvoll angesehen und ist grundlegend wichtig für die Entwicklung und Sozialisation von Mädchen und Jungen«, sagt der Psychologe. Die Arbeit müsse unter kulturellen, sozialen und historischen Aspekten betrachtet werden. Kinderarbeit als Kulturgut? Georg Schäfer von der Themenkoordinationsgruppe Kinderrechte von Amnesty Deutschland teilt diese Haltung nicht. »Auch in unseren Ländern war es einmal gesellschaftliche Tradition, dass Jungen und Mädchen arbeiten«, sagt er. »Heute ist es eine große Errungenschaft, dass wir das abgeschafft haben.« Kinderarbeit in Bolivien zu erlauben, könnte zu einem Dammbruch führen. »Damit könnte ein mühsam erkämpfter internationaler Konsens bezüglich des Verbots von Kinderarbeit kippen«, befürchtet Schäfer. Und auch das UNKinderhilfswerk macht sich für diesen Konsens stark. Die UNICEF-Sprecherin in Bolivien, Virginia Perez, erklärt, ihre Organisation habe sich bei der bolivianischen Regierung dafür eingesetzt, dass die Reform von 2014 rückgängig gemacht werde. Das Gesetz
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habe gegen alle internationalen Kinderrechtskonventionen verstoßen. »Wir sollten dafür sorgen, dass die Kinder für eine gute Ausbildung kämpfen, nicht dafür, im Alter von zehn Jahren gute Arbeitschancen zu bekommen«, sagt sie mit Blick auf die Forderungen der Kindergewerkschaft UNATSBO. Yucra und Rivera sind sich mit UNICEF und ILO darin einig, dass die Armut bekämpft werden muss, die Kinderarbeit erst nötig macht. Aber Rivera sagt: »Wie die Dinge stehen, wird das nicht passieren.«
Es muss die Armut bekämpft werden, die Kinderarbeit erst nötig macht. 17
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Ins Netz gegangen Ausbeuterische Arbeitsbedingungen sind in der Fischereibranche weit verbreitet. Eine US-amerikanische Nichtregierungsorganisation will nun mit Satellitenaufnahmen mehr Verdachtsfälle an Behörden melden. Von Frank Odenthal mit Illustrationen von Jens Bonnke
A
ls Gani sich auf der Brücke meldet, hat er starke Schmerzen in der Brust. Er bittet den Kapitän des Trawlers, der unter südkoreanischer Flagge fährt, ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Er leide unter Perikarditis, sagt er, auch Herzbeutelentzündung genannt. Doch der Kapitän weigert sich, in den Hafen zurückzukehren; wahrscheinlich weil er die Kosten für den Treibstoff nicht übernehmen will. Er beschuldigt den philippinischen Fischer, die Krankheit nur vorzutäuschen, um sich vor der Arbeit zu drücken. Besatzungsmitglieder berichten später, er habe ihn sogar geschlagen. Einen Monat später ist Gani tot. Der Kapitän meldet der südkoreanischen Küstenwache als Todesursache einen Herzinfarkt – und fährt weiter. Erst als das Schiff im Hafen von Busan festmacht, können die Behörden eine Autopsie durchführen. Das Ergebnis: eine unbehandelte, fortgeschrittene Perikarditis. Das Schicksal des philippinischen Fischers ist kein Einzelfall. Die Nichtregierungsorganisation Global Fishing Watch hat von 2012 bis 2018 rund 16.000 Schiffe untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass bei gut einem Viertel der Verdacht auf missbräuchliche Arbeitsbedingungen besteht. Hochgerechnet wären davon bis zu 100.000 Seeleute betroffen. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Die Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO), eine Unterorganisation der Vereinten Nationen, schätzt die Anzahl der Fischereifahrzeuge, die weltweit unterwegs sind, auf 4,6 Millionen. Bei der Mehrzahl handelt es sich um sehr kleine Boote. Rund 64.000 Schiffe von mehr als 24 Metern Länge fischen laut IMO auf den Weltmeeren. Eine Vertrauensperson, an die sich Mannschaftsmitglieder wenden könnten, sucht man auf diesen Schiffen vergeblich. Die erste Anlaufstelle für die Besatzung sind die Behörden in den Häfen. Doch was, wenn die Schiffe gar keine Häfen anlaufen? Manche bleiben mehrere Jahre auf See, um Treibstoff und Zeit zu sparen und manchmal auch um ihr illegales Treiben auf dem Meer zu verbergen. Sie treffen sich dann fernab der Küsten mit großen Versorgungsschiffen, um ihren Fang zu übergeben und Nahrung für die Crew an Bord zu nehmen. Oder auch um die Crew an das nächste Schiff zu übergeben.
Jahre nicht mehr an Land gelassen wurden. Die 22 Stunden pro Tag arbeiteten und die, wenn sie großen Fischschwärmen folgten, auch mal fünf Tage ohne Pause durchhalten mussten. Die bei jedem Anzeichen von Schwäche getreten oder ausgepeitscht wurden. Die nach ihren Arbeitsschichten in ihre Kabinen eingesperrt wurden, um Fluchtversuche zu verhindern. Oder die auf eine abgelegene indonesische Insel gebracht und dort in glühender Hitze und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen bis zu ihrem nächsten Einsatz in Käfige gesperrt wurden. »Einmal hatte sich ein Fangnetz in der Schiffsschraube verfangen«, berichtet ein Betroffener. »Da haben sie mich angebunden und über Bord geworfen, um das Netz zu bergen.« Bei dem Einsatz sei er in die Schraube geraten und habe bis auf den Daumen alle Finger der rechten Hand verloren. Rossen Karavatchev ist der für Fischereiwirtschaft zuständige Sektionsleiter der International Transport Workers Federation (ITF), der für Schiffsbesatzungen weltweit zuständigen Gewerkschaft mit Sitz in London. Er erklärt, welche Formen der Missbrauch von Seeleuten in der Fischereibranche haben kann. »Die Schiffe sind überfüllt, die Kabinen überbelegt; den Arbeiter_innen werden die Pässe abgenommen, die Bezahlung ist außerordentlich schlecht, vor allem bei Besatzungsmitgliedern aus asiatischen Billiglohnländern wie den Philippinen, Malaysia und vor allem Indonesien. Die Arbeitszeiten pro Tag können 20 Stunden und mehr betragen.« Außerdem erwarten manche Schiffseigner_innen von ihrer Besatzung eine Kaution, wenn sie an Bord kommt, sagt Karavatchev. Das könne eine Vorauszahlung sein, oder es werde in den ersten Monaten der Lohn einbehalten. Ob die Seeleute das Geld zum Ende der Vertragslaufzeit ausbezahlt bekommen, sei oftmals fraglich und hänge von ihrem Stillschweigen über die Arbeitsbedingungen an Bord ab. Die Undercover-Journalist_innen der Associated Press recherchierten zudem, dass Migrant_innen verschleppt und anschließend Schiffseigner_innen angeboten wurden. Für Seeleute würden bis zu 1.000 US-Dollar gezahlt.
Entführt und verkauft
Auf See herrscht ein Unterbietungswettbewerb zulasten des Arbeitsschutzes.
Als die Nachrichtenagentur Associated Press im Jahr 2015 eine Enthüllungsgeschichte über sklavenartige Arbeitsbedingungen an Bord thailändischer Fischtrawler veröffentlichte, war der weltweite Aufschrei groß. Und was die Journalisten berichteten, war in der Tat haarsträubend. Von burmesischen und kambodschanischen Migrant_innen war die Rede, die gewaltsam an Bord gebracht und bis zu zehn
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Knowhow mit Hilfe von Google Global Fishing Watch hat sich vorgenommen, alle ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der internationalen Fischereiflotte aufzudecken. Die Organisation arbeitet dabei mit Hightech. »Wir werten öffentlich zugängliche Satellitenfotos aus und verknüpfen sie mit den Automatischen Identifikationssignalen der Schiffe«, sagt Courtney Farthing, die Projektleiterin bei Global Fishing Watch. Solche Identifikationsgeräte (AIS, Automatic Identification System), die ebenfalls über Satellit übertragen werden, sind seit 2000 von der IMO als Standard in der kommerziellen Seefahrt vorgeschrieben. Sie dienen vor allem der Vermeidung von Kollisionen auf hoher See und als Mittel der Küstenstaaten, um den Verkehr in ihren Hoheitsgewässern zu überwachen. »Ohne die Daten der AIS-Geräte lassen sich verdächtige Bewegungen auf hoher See nur schwer feststellen«, erklärt Farthing, »etwa das Treffen mit anderen Schiffen, um Crewmitglieder auszutauschen oder illegal gefangenen Fisch zu verladen, ohne dafür einen Hafen anlaufen zu müssen.« Dass das nötige technische Know-how zur Verfügung steht, dafür sorgen Skytruth, eine Nichtregierungsorganisation, die auf die Auswertung von Satellitenaufnahmen spezialisiert ist, und der Konzern Google. Zusammen mit der Meeresschutzorganisation Oceana haben sie 2016 Global Fishing Watch gegründet. Farthing und ihre Kolleg_innen machen sich dabei Forschungsergebnisse zunutze, die nahelegen, dass sich Schiffe, auf denen die Crew Zwangsarbeit leisten muss oder missbräuchlich eingesetzt wird, anders verhalten als andere Schiffe. Es geht um Manöver und Merkmale, die solche Schiffe verdächtig erschei-
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nen lassen. Wie lange bleibt ein Schiff auf See? Welche Häfen läuft es an, welche meidet es? Trifft es sich mit anderen Schiffen auf hoher See? Die Stärke der Schiffsmotoren spielt eine Rolle, weil sie Rückschlüsse auf die Größe der Schiffe zulassen; auch der Kurs der Schiffe, vor allem der Abstand zu den Häfen – je größer die Distanz, desto geringer die Gefahr, bei illegalen Aktivitäten überrascht zu werden – und natürlich die Frage, in welchen Hoheitsgewässern sich das Schiff gerade befindet. Denn dies führt zu einer sehr wichtigen Frage: Wer ist zuständig? »Zunächst einmal ist es der Kapitän des Schiffes«, sagt Courtney Farthing. »In dieser besonderen Situation auf See, in der die Besatzung eine Schicksalsgemeinschaft auf Zeit bildet, der sie sich für die Dauer der Fahrt nicht entziehen kann, gilt: Der Kapitän ist für seine Mannschaft verantwortlich.« Davon abgesehen gibt die Position des Schiffes vor, welcher Gesetzbarkeit es unterliegt. Innerhalb der Zwölfmeilenzone ist es die des jeweiligen Küstenstaates; außerhalb, also in internationalen Gewässern, die des Flaggenstaates. Unter welcher Flagge ein Schiff fährt, hat nur wenig mit dem Sitz der Reederei oder der Herkunft der Eigner_innen zu tun. Mitunter haben die Flaggen und deren Schiffsregister nicht einmal etwas mit dem Staat zu tun, den sie vertreten. Oft sind es private Firmen, die dem jeweiligen Staat das Recht abgekauft haben, in seinem Namen Schiffe zu registrieren. Solche Register unterscheiden sich neben der Steuerhöhe vor allem in den Regulierungen und Standards, etwa in Sachen Umweltverträglichkeit oder eben Arbeitsbedingungen. »Billigflaggen« wird dieses Phänomen genannt oder »Flags of Conve-
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nience«, was man sehr frei mit »Flaggen nach Lust und Laune« übersetzen könnte. Kritiker_innen sehen darin einen Unterbietungswettstreit zulasten der Sicherheit, der Umwelt und der Arbeitsschutzrechte. Doch nicht alle Fischereifahrzeuge fahren unter Billigflagge, wie Rossen Karavatchev erklärt. »Die Fangflotte der Volksrepublik China wird immer wieder bei illegalen Aktivitäten erwischt. Doch die Ernährungssicherheit dieses bevölkerungsreichsten Landes der Erde ist von nationalem Interesse.« Deshalb, sagt Karavatchev, wissen sie die politische Führung des Landes hinter sich und fühlen sich sicher, solange sie unter chinesischer Flagge fahren.
Südafrika als Vorbild Die IMO hat eine Reihe von Regelwerken entwickelt, die jedoch erst in Kraft treten, wenn sie von den einzelnen Mitgliedstaaten ratifiziert werden, wie IMO-Sprecherin Natasha Brown erklärt. »Grundlage für die Arbeitsbedingungen an Bord ist das im November 2017 in Kraft getretene Übereinkommen der ILO über die Arbeit in der Fischerei. Es legt Mindestanforderungen für die Arbeit an Bord fest, dazu zählen Ruhezeiten, Essen, Mindestalter und Rückführung in die Heimatländer.« Weitere Eckpfeiler seien die Vereinbarung über die Ausbildung der Besatzung von Fischereifahrzeugen, das Hafenkontrollabkommen sowie das Kapstadtabkommen (siehe Infobox rechts). Doch was hilft das schönste Regelwerk, wenn niemand da ist, der in der Lage wäre, es durchzusetzen? Nur die wenigsten Länder können sich eine durchsetzungsstarke Küstenwache leisten.
REGELWERKE ZUM SCHUTZ DER BESATZUNG IN DER FISCHEREIBRANCHE ILO – Internationale Arbeitsorganisation der UNO: Übereinkommen über Arbeit in der Fischerei (»Work in Fishing Convention«); Mindestanforderungen für Arbeitsbedingungen an Bord; 2007 beschlossen, 2017 in Kraft getreten IMO – Internationale Seeschifffahrtsorganisation der UNO: STCW-F-Übereinkommen (»International Convention on Standards of Training, Certification and Watchkeeping for Seafarers in Fishing«); regelt die Anforderungen an Ausbildung und Befähigung von Seeleuten sowie den Wachdienst in der Fischereibranche; 1995 beschlossen, 2012 in Kraft getreten FAO – Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO: PSMA (»Port State Measures Agreement«); regelt Maßnahmen der Hafenbehörden zur Verhütung, Verhinderung und Aufdeckung illegaler, nicht gemeldeter und unregulierter Fischerei; 2009 beschlossen, 2016 in Kraft getreten IMO – Internationale Seeschifffahrtsorganisation der UNO: Kapstadtabkommen (»Cape Town Agreement«); enthält Anforderungen für die Konstruktion, den Bau und die Ausrüstung von Fischereifahrzeugen sowie Vorschriften zum Schutz und zur Sicherheit von Besatzungen; 2012 beschlossen, noch nicht in Kraft getreten
Das gilt umso mehr für Länder des globalen Südens, deren Budget meist niedrig und deren maritime Infrastruktur zu schwach ist, um wirksame Kontrollen in den Häfen durchzuführen. Wobei es Ausnahmen gibt, wie Courtney Farthing von Global Fishing Watch erklärt. »Südafrika ist ein Beispiel für einen Staat, der sich mit viel Engagement auch auf politischer Ebene für die Wahrung seiner maritimen Ressourcen einsetzt.« Das Land gehörte zu den Erstunterzeichnern des ILO-Abkommens, sagt Farthing. »Die Behörden am Kap führen gründliche Inspektionen durch, und sie gehen allen Verdachtsfällen nach, die ihnen von Betroffenen, aber auch von Global Fishing Watch genannt werden.« Die Analysen von Global Fishing Watch liefern keine gerichtsfesten Beweise, fügt Farthing hinzu. Es gehe vielmehr darum, die Wahrscheinlichkeit für illegale Arbeitsbedingungen auf den Schiffen zu berechnen und den zuständigen Behörden aufzuzeigen, worauf sie achten sollten. Sie nennt das einen auf Verdachtsfällen basierenden Ansatz. »Denn die Behörden können unmöglich jedes einzelne Schiff inspizieren.« Die Gewerkschaft ITF und verschiedene Hilfsorganisationen versuchen derweil, in den Häfen Unterstützung anzubieten und auch bei Behördengängen zu helfen. »Viele ausgebeutete oder misshandelte Seeleute trauen sich nicht, sich mit ihren Erlebnissen an die Behörden zu wenden«, sagt David Hammond, der Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights At Sea. »Sie fürchten, ihren einbehaltenen Lohn nicht zu bekommen oder ihren Job zu verlieren.« Und alternative Einkommensquellen sind in ihren Heimatländern meist rar. »Wir müssen da sehr behutsam vorgehen«, sagt Hammond. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
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Auf der roten Liste G
erade eben hatte ich ein Treffen mit Gewerkschaftern von Coca Cola«, sagt Josua Mata und holt Luft. »Unsere Leute dort erhalten Besuch von der Polizei. Sie klopfen an die Tür, sprechen die Ehefrauen an und sagen denen, ihre Männer seien einer Gewerkschaft beigetreten, die zur kommunistischen Bewegung gehöre.« Darüber lacht Mata. »Das ist kein Einzelfall. Solche Aktionen dienen dazu, uns Angst zu machen. Oder uns loszuwerden.« »Ich habe keine Angst um meine Sicherheit«, betont Mata. Als Vorsitzender von Sentro, einem Gewerkschaftsbund in den Philippinen, könne er sich das nicht erlauben. »Aber in den letzten Jahren mache ich mir immer mehr Sorgen um die Menschen an meiner Seite.« Für Gewerkschaften ist die Arbeit zuletzt schwieriger geworden. Seit 2016 der Populist Rodrigo Duterte zum Präsidenten des 108 Millionen Einwohner zählenden Landes gewählt wurde, ist die Drangsalierung von Gewerkschaftern an der Tagesordnung. Abhängig arbeitende Menschen haben es ohnehin schwer in dem südostasiatischen Land. Der Global Rights Index des Internationalen Gewerkschaftsbunds (ITUC) zählt die Philippinen zu den »zehn schlechtesten Ländern für Arbeiter.« In der Begründung heißt es, theoretisch gewährte Rechte würden in der Praxis nicht garantiert, stattdessen komme es zur Kriminalisierung von Personen, die bei Arbeitgebern in Ungnade fielen oder auf andere Weise für Aufsehen sorgten. Sogar Morde habe es schon gegeben. In den vier Jahren, die Rodrigo Duterte regiert hatte, als der ITUC den Index Mitte 2020 veröffentlichte, wurden 43 Personen ermordet, die sich für Arbeitnehmerrechte eingesetzt hatten.
»Stigmatisierungen sind hier tatsächlich tödlich.« Regletto Imbong, Philosoph 22
Seither ist die Zahl weiter gestiegen. Erst Anfang des Jahres wurde ein Mitstreiter von Josua Mata erschossen. »Er hatte in der Thunfischbranche im Süden des Landes gearbeitet und eine Gewerkschaft gegründet«, sagt Mata am Telefon. »Daraufhin haben uns die Arbeitgeber gedroht, aber wir haben es durchgezogen. Schließlich wurde er erschossen.« Es gebe weitere Fälle, die ähnlich verlaufen seien. Dabei sehen sich Gewerkschafter einem immer wieder erhobenen Vorwurf ausgesetzt: Sie seien Kommunisten – und damit Staatsfeinde. Regletto Imbong, der an der University of the Philippines in Cebu Philosophie lehrt, fasst das Phänomen in seinen Worten zusammen: »Wenn die Regierung Personen als Kommunisten brandmarkt, dann passiert das oft auf Flyern aus Papier oder im Internet, um die Leute vor diesen Personen zu warnen.« Man unterstelle ihnen damit gleichzeitig, sie gehörten zu einer bewaffneten Rebellengruppe. »Wenn du Marx oder Nietzsche lehrst, kannst du als Terrorist gebrandmarkt werden. Das hat uns auch an der Uni schon Todesdrohungen eingebracht. Ich war ebenfalls schon Red-Tagging ausgesetzt.«
Regierungskritiker als Freiwild Red-Tagging – als rot markieren – ist zu einer besonderen und auch weit verbreiteten Gefahr geworden. Die Praxis gab es zwar schon länger, war aber beschränkt auf skrupellose Arbeitgeber, die keine organisierte Belegschaft wünschten. Besonders gefährlich ist, dass jetzt der Staat mitmacht. Denn seit Dutertes Regierung im vergangenen Sommer ein erneuertes Anti-Terrorgesetz durchs Parlament gebracht hat, kann die Polizei auf bloßen Verdacht hin Personen festnehmen, die ihr als Staatsfeinde gelten. Kritische Menschen, so befürchtet Regletto Imbong, werden damit quasi zu Freiwild. »Du kannst unter diesem Regime nicht davon ausgehen, dass deine Rechte geschützt werden. Selbst wenn es Rechte gibt, kann mit dem Red-Tagging ungestraft weitergemacht werden«, sagt Imbong. »Und die Konsequenz ist oft, dass du einige Monate danach ermordet wirst. Stigmatisierungen sind in den Philippinen tatsächlich tödlich.« Das neue Anti-Terrorgesetz macht die Sache nicht gerade besser. In einem Video, das der Gewerkschaftsbund Sentro herausgegeben hat, finden sich einige Beispiele dafür, was passieren
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Foto: Maria Tan / AFP / Getty Images
Wer sich in den Philippinen gewerkschaftlich organisiert, gilt schnell als Kommunist. Seit Rodrigo Duterte im Jahr 2016 Präsident wurde, ist diese Stigmatisierung besonders gefährlich. Sie kann das Leben kosten. Von Felix Lill
Gefährliche Markierung. Protest gegen Red-Tagging am 10. Dezember 2020 in Manila, Philippinen.
kann, wenn man sich organisieren will. »Ich habe Morddrohungen erhalten, Belästigung und Überwachung erfahren«, sagt da Raymond Basilio, Generalsekretär einer Lehrergewerkschaft. »Es begann 2019 und geht bis heute. Meine Organisation erfuhr Red-Tagging. Unsere Anführer im ganzen Land erhalten Besuche vom Militär. Sie sagen uns, wir sollen aufhören, uns zu organisieren.« Ähnliches berichtet Layam Bermudez, Präsident der Gewerkschaft des Bergbauunternehmens HPAL: »Mit Besuchen oder der Anwesenheit der Militärs hatten wir zuletzt 2018 zu tun. Außerdem ist die Kriminalpolizei mit Gewalt ins Haus unseres ehemaligen Vorsitzenden eingedrungen, unter dem Vorwand, dass er Waffen und Munition besitze.«
Militärische Taskforce gegen »Kommunisten« Herbert Demos, Regionalkoordinator von Sentro, berichtet von den Bemühungen, unter Beschäftigten in der Fischereibranche Interessenvertretungen zu etablieren: »Die Leute werden eingeschüchtert, damit sie sich nicht zusammentun.« Die Arbeitgeber hätten ihnen gesagt, sie sollten sich auf keinen Fall mit den Leuten von Sentro verbünden. »Bei anderen Unternehmen ist es das gleiche«, sagt Demos. »Unsere Erfolge bei der Interessenorganisation werden auch dadurch zunichte gemacht, dass man uns Kommunisten nennt.« In den Philippinen steht der Begriff Kommunismus im Kontext einer radikalen, gewalttätigen Bewegung. Denn in
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dem ideologisch stark von der einstigen Kolonialmacht USA beeinflussten Land verfügt die kommunistische Partei CPP (Communist Party of the Philippines) mit der New People’s Army (NPA) über eine bewaffnete Untergrundorganisation mit maoistischer Ausrichtung. Beide haben im Land jedoch kaum Rückhalt. Im Jahr 2017 erklärte der Präsident die CPP und die NPA zu Terrororganisationen, in Übereinstimmung mit entsprechenden Einstufungen, die auch die USA und die EU vorgenommen haben. Seither verunglimpfe Duterte diverse politische Feinde, indem er sie mit »Terror« in einen Zusammenhang bringe, sagt Josua Mata. »Wer sich gewerkschaftlich organisiert, schwebt damit letztlich in Lebensgefahr.« Duterte rief eine militärisch organisierte Taskforce ins Leben, die auch vermeintliche Kommunisten bekämpfen soll. »Was immer deren Mandat ist, es wird überschritten«, sagt Josua Mata. »Und die Arbeitgeber stellen sich in der Regel auch nicht vor ihre Mitarbeiter, um Leben zu schützen.« Das Klima sei so rau wie zuletzt Mitte der 1980er-Jahre, als der diktatorisch regierende Ferdinand Marcos nach einem Aufstand der Bevölkerung gestürzt wurde. Die auf eine Amtszeit begrenzte Regentschaft Rodrigo Dutertes endet im Mai 2022. Aber die Schäden, die er an der Demokratie angerichtet hat, könnten seine Regierungsjahre überdauern. Zumal der autoritär regierende Präsident Rückhalt in der Bevölkerung genießt.
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Zähmung der Giganten
Während sie immer reicher und mächtiger werden, stellen sich zwei der einflussreichsten Unternehmen der Welt gegen Gewerkschaftsbestrebungen: Amazon und Alphabet. Doch der Widerstand wächst. Von Tobias Oellig
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eltweit hat die Corona-Pandemie Menschen in existentielle Krisen gestürzt, zugleich verzeichnen Superreiche enorme Vermögenszuwächse. Jeff Bezos, Gründer und bis Herbst noch Chef von Amazon, zählt zu den Krisengewinnern. Während des Pandemiejahres konnte er sich über einen Vermögenszuwachs von rund 67,5 Prozent (Institute for Policy Studies) freuen. Oder in US-Dollar ausgedrückt: 76,3 Milliarden. Hätte Bezos sie an seine 810.000 US-Beschäftigten verteilt – hätten alle eine Sonderzahlung von jeweils rund 100.000 US-Dollar erhalten. Nicht nur diese Zahlen sorgen für Unmut in der Belegschaft. Schon lange stehen die Überwachung des Personals und die Arbeitsbedingungen bei Amazon in der Kritik, die sich in Zeiten der Pandemie noch verschlechtert haben. Es brodelt beim weltgrößten Versandhändler.
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»Die Menschen haben sich von ihrem Arbeitgeber betrogen gefühlt«, sagte Stuart Applebaum von der US-Einzelhandelsgewerkschaft RWDSU. Während Bezos Milliarden anhäufte, seien Zehntausende Lagerarbeiter_innen den Gefahren der Pandemie ausgesetzt gewesen. Knapp 20.000 Beschäftigte steckten sich nach Angaben von Amazon bereits in den ersten Monaten der Pandemie mit Covid-19 an. »Man hat sich nicht um ihre Sicherheit und Gesundheit gekümmert«, sagte Applebaum dem Fernsehsender CNBC. »Amazon redet von Gehältern, aber für die Leute, die dort arbeiten, ist das nicht gut genug. Sie werden nicht mit Würde behandelt.«
Hoffnungsvoller Kampf In den USA schaute man seit Jahresbeginn gespannt auf die Kleinstadt Bessemer im Bundesstaat Alabama. Dort hatte
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Gewerkschaften diskreditierte. Das Blog Gizmodo veröffentlichte Auszüge aus einem »Anti-Gewerkschafts-Training-Video«, mit dem Amazon-Manager sensibilisiert wurden, um Anzeichen von Gewerkschaftsbestrebungen in der Belegschaft zu erkennen. Medien berichteten, Amazon habe die Ampelschaltung vor dem Versandlager verändern lassen – laut der Gewerkschaft More Perfect Union on Twitter, um Gewerkschaftsaktivist_innen die Kontaktaufnahme mit Mitarbeiter_innen zu erschweren; nach Angaben der Stadtverwaltung, um lange Wartezeiten wegen roter Ampeln zu verhindern. »Das Verhalten von Amazon war verabscheuungswürdig«, sagte Stuart Applebaum von der RWDSU.
Solidarität zeigen. Protestveranstaltung zur Unterstützung von Amazon-Beschäftigten in Birmingham, Alabama, März 2021.
Foto: Bob Miller / The New York Times / Redux / laif
Foto: Charity Rachelle / The New York Times / Redux / laif
Amazon im März 2020 am Stadtrand ein Logistikzentrum eröffnet. Das Lager war Teil einer Expansionsstrategie, die sich während der Pandemie beschleunigte: Im vergangenen Jahr vergrößerte sich die Belegschaft von Amazon in den USA um mehr als 400.000 Personen. Nach Walmart ist Amazon der zweitgrößte Arbeitgeber des Landes. Weltweit hatte der Konzern 2020 fast 1,3 Millionen Voll- und Teilzeitbeschäftigte. Unterstützt von der RWDSU versuchten Lagerarbeiter_innen in Bessemer eine GewerkUnion Busting schaft zu gründen – die erste in der mehr als 26Die systematische und professionelle Bekämpfung von Gewerkjährigen Geschichte von Amazon. Während der schaften hat in den USA Tradition, das sogenannte Union Busvergangenen Monate kämpfte man in Bessemer ting ist ein millionenschweres Geschäft. Schätzungsweise 340 bis zuletzt um jede Stimme der rund 6.000 AnMillionen US-Dollar geben US-Arbeitgeber jährlich nach Angagestellten. Doch die Schlacht ging verloren. ben des Economic Policy Institute aus dem Jahr 2019 aus, um Zunächst sah es vielversprechend aus: Fast Gewerkschaftsgründungen zu verhindern. die Hälfte der Mitarbeiter_innen unterschrieb sogenannte Autorisierungskarten, um die Abstimmung in Gang zu setzen. Komplizierte Arbeitnehmergesetze machen es in vielen US-Bundesstaaten notwendig, dass ein Teil der Belegschaft gegenüber der zuständigen Behörde (National Labor Relations Board in Washington D. C.) ein Bekenntnis zur Gewerkschaft abgibt. Daraufhin wird eine Wahl angesetzt. Stimmt mehr als die Hälfte der Beschäftigten für die Gewerkschaft, gilt der Betrieb als organisiert, und die Gewerkschaft kann Tarifverhandlungen mit dem Arbeitgeber aufnehmen. In Bessemer stimmten zwar etwa 55 Prozent der Angestellten ab, aber das anfängliche Interesse schien plötzlich verflogen zu sein. Man kassierte eine überraschende Niederlage. Dabei hatte sich selbst US-Präsident Joe Biden für die Arbeiter_innen stark gemacht. In einem Video sagte er, ohne Amazon zu nennen: »Es sollte keine Einschüchterung, keinen Zwang, keine Drohungen, keine gewerkschaftsfeindliche Propaganda geben. Jeder Arbeiter sollte die freie und faire Wahl haben, einer Gewerkschaft beizutreten.« Mit aller Macht hatte Amazon in den vergangenen Monaten versucht, die Belegschaft zu beeinflussen. In einer Anhörung des Haushaltsausschusses des USSenats zur Einkommensungleichheit schilderte die Lagerarbeiterin Jennifer Bates die Kampagne: In stundenlangen verpflichtenden Meetings und Einzelgesprächen sowie mit SMS und E-Mails an die Mitarbeiter_innen habe das Unternehmen Druck aufgebaut. »Es war sehr ärgerlich, zu sehen, dass einige der jüngeren Leute, die aufgeschlossen gegenüber der Gewerkschaft waren, dadurch verwirrt wurden.« Auch Online machte Amazon Stimmung und ließ eine Website einrichten, die Beitragszahlungen an Am Ende machtlos. Gewerkschafter_innen in Bessemer, Alabama, Dezember 2020.
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Um Amazon in Alabama dabei zu unterstützen, engagierte das Unternehmen den Anwalt Harry Johnson, einen Republikaner, der bereits als ehemaliges Mitglied des National Labour Review Board Vorarbeit für später verabschiedete gewerkschaftsfeindliche Passagen im Bundesarbeitsrecht leistete. Johnson arbeitet für Morgan Lewis, eine Anwaltskanzlei, die Unternehmen im Kampf gegen Gewerkschaften berät. »Amazon verfügt über unbegrenzte Ressourcen, um die Gewerkschaftsbewegung zu bekämpfen«, kommentierte John Logan, Professor für Labor and Employment Studies. Logan gilt als Experte für die Union Avoidance Industry, frei übersetzt: Gewerkschaftsvermeidungsindustrie. Seinen Angaben zufolge hat Amazon Anti-Gewerkschaftsberater_innen während des Kampfes in Alabama Honorare von fast 10.000 US-Dollar täglich gezahlt. Das Union Busting in Bessemer sei drastisch gewesen, kommentierte Joshua Brewer von der RWDSU. »Wir haben noch nie etwas Vergleichbares in diesem Ausmaß gesehen.« Kurz nach der Abstimmung bedankte sich Amazon in einer offiziellen Stellungnahme bei den Mitarbeiter_innen in Bessemer für die Teilnahme an der Wahl. Es habe viel Lärm gegeben in letzter Zeit, aber man freue sich über das Ergebnis. Weniger als 16 Prozent hätten für den Beitritt zur Gewerkschaft gestimmt. »Die Gewerkschaft wird jetzt sagen, dass Amazon diese Wahl gewonnen hat, weil wir Mitarbeiter eingeschüchtert haben, aber das stimmt nicht«, schreibt Amazon. »Amazon hat nicht gewonnen – unsere Mitarbeiter haben sich entschieden, gegen den Beitritt zur Gewerkschaft zu stimmen.«
Amazon in Deutschland Auch in Deutschland liegen Gewerkschaften mit Amazon im Clinch, auch hier hat der Konzern während der Pandemie satte Gewinne einfahren können. 2020 erzielte Amazon in Deutschland laut Geschäftsbericht des US-Mutterkonzerns ein Plus von mehr als 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr. »Ausbaden mussten das die Kolleginnen und Kollegen«, sagt Orhan Akman, der bei der Gewerkschaft Verdi für den Einzelund Versandhandel zuständig ist. »Durch die permanente Arbeitshetze und Leistungskontrolle ist die Einhaltung von Abständen und anderen Maßnahmen gegen Ansteckungen oft kaum möglich.« Amazon weigere sich bisher, einen verbindlichen Tarifvertrag zum Schutz der Beschäftigten abzuschließen. Das Unternehmen weist die Vorwürfe zurück: »Wir sind zu einer Projektionsfläche für Gruppen geworden, die Aufmerksamkeit für ihre Themen suchen«, heißt es in einer Stellungnahme. Die Beschäftigten würden von »exzellenten Löhnen, exzellenten Zusatzleistungen und exzellenten Karrierechancen« profitieren. Viele von ihnen sehen das anders. Vor dem Osterwochenende legten Mitarbeiter_innen an sechs Amazon-Standorten vier
»Das Verhalten von Amazon war verabscheungswürdig.« Gewerkschaft RWDSU 26
Beklagt drastisches »Union Busting«. Joshua Brewer, Gewerkschaft RWDSU, in Besse
Blickt weiter in Richtung Zukunft. Gewerkschafter in Bessemer, Alabama, Dezember
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Tage lang die Arbeit nieder. Nach VerdiAngaben beteiligten sich rund 2.000 Menschen. Zähe Verhandlungen hierzulande, die verlorene Wahl in Bessemer – auch wenn sich Amazon im Kampf gegen Gewerkschaften immer wieder behaupten kann, lässt sich nicht leugnen, dass der Widerstand der Belegschaften gegen die Arbeitsbedingungen weltweit wächst. Nelson Lichtenstein, Professor für USArbeitshistorie an der University of California, bewertet den Ausblick für Gewerkschaftsbildungen in den USA trotz der Niederlage in Bessemer optimistisch: »Die enormen Anstrengungen, die von Amazon nötig waren und die breite Unterstützung durch Mainstream-Demokrat_innen und den Präsidenten zeigen, dass das, was früher als ›Arbeitsfrage‹ bekannt war, jetzt wieder auf der sozialen und politischen Agenda steht.«
Rumoren in der Tech-Branche
Fotos: Bob Miller / The New York Times / Redux / laif
mer, Alabama, Dezember 2020.
2020.
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Und zwar auch dort, wo man mit Gewerkschaften in den vergangenen 25 Jahren eher wenig am Hut hatte: im Silicon Valley. Dort übertrumpfen sich Konzerne gegenseitig, wenn es darum geht, gut bezahlte »white collar worker« mit kostenlosen Snacks, Tischtennisplatten und Musikräumen am Arbeitsplatz bei Laune zu halten – und Gewerkschaften wie ein Relikt industrieller Zeiten wirken zu lassen. Dabei war das Valley lange Zeit eine gewerkschaftliche Hochburg, vor dem digitalen Zeitalter, als die Region noch als größtes Obstanbaugebiet der Welt galt. Das änderte sich, als die Technologie in den 1960er-Jahren begann, immer größeren Raum einzunehmen. Doch seit einigen Jahren häufen sich Arbeitskämpfe im Tech-Sektor. Und ausgerechnet beim weltweit erfolgreichen Konzern Alphabet/ Google, dem lange Zeit beliebtesten Arbeitgeber in den USA, war man mit einer Gewerkschaftsgründung erfolgreich. Am ersten Arbeitstag des Jahres 2021 überraschten Mitarbeiter_innen Google mit der Gründung der Alphabet Workers Union. Anders als bei Amazon geht es dabei nicht um unwürdige Arbeitsbedingungen, körperliche Strapazen oder Stundenlöhne. Als Minderheitengewerkschaft, die den Communications Workers of America angeschlossen ist, könnte die AWU wegen ihrer Größe auch keine Verhandlungen mit Alphabet führen. Sie wird vom National Labour Relations Board nicht anerkannt. Doch sie hat sich
Das Silicon Valley war bis in die 1960er-Jahre eine gewerkschaftliche Hochburg. bewusst so organisiert, um externe Google-Dienstleister mit vertreten zu können. Ihre Stärke bezieht die AWU daraus, medialen Druck auf Google aufzubauen. »Wir schließen uns zusammen – Zeitarbeiter_innen, Lieferant_innen, Auftragnehmer_innen und Vollzeitbeschäftigte –, um eine einheitliche Arbeitnehmer_innenstimme zu schaffen«, kündigten Parul Koul und Chewy Shaw von der AWU in ihrem Gründungsmanifest in der New York Times an. Sie werfen Google vor, das einstige Motto »Don’t be evil« vergessen zu haben. Man wolle es wieder mit Leben füllen und ein Unternehmen schaffen, für das man guten Gewissens arbeiten könne. Immer wieder wurde Google in den vergangenen Jahren mit Vorwürfen konfrontiert, die Sexismus und Machtmissbrauch durch Führungskräfte betrafen. 2018 unterzeichneten Tausende Mitarbeiter_innen einen Brief, der eine Beteiligung ihres Arbeitgebers an der Entwicklung von Software für Drohnenangriffe kritisierte. Im selben Jahr legten rund 20.000 Google-Beschäftigte die Arbeit nieder, um gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zu demonstrieren. Der Protest richtete sich auch gegen den Umgang des Unternehmens mit Andy Rubin, dem Erfinder des Betriebssystems Android, der eine Abfindung von 90 Millionen US-Dollar erhalten haben soll, nachdem ihm vorgeworfen worden war, eine Mitarbeiterin sexuell belästigt zu haben. Ende 2020 sorgte der Fall von Timnit Gebru für Aufsehen. Die Co-Leiterin eines Google-Teams, das sich mit ethischen Fragen zur Künstlichen Intelligenz befasst, und Gründerin der Organisation Black in AI, die sich für mehr People of Color in der IT-Forschung einsetzt, wurde entlassen, nachdem sie auf mögliche Probleme mit Diskriminierung in Systemen der Künstlichen Intelligenz hingewiesen hatte.
Reservierte Reaktion Eine Anerkennung der AWU durch Google steht aus. Gegenüber US-Medien reagierte Google – ähnlich wie Amazon in Alabama – reserviert: »Wir haben uns stets bemüht, ein unterstützendes und wertschätzendes Arbeitsumfeld zu schaffen«, erklärte Kara Silverstein, Googles Director of People’s Operations. Natürlich hätten alle Angestellten geschützte Arbeitnehmerrechte. »Aber wir werden (…) uns direkt mit unseren Mitarbeiter_innen auseinandersetzen.« Schätzungen zufolge hat Alphabet in den USA etwa 135.000 Festangestellte sowie rund 120.000 Zeitarbeitnehmer_innen. Wie einflussreich eine aus rund 800 Beschäftigten (März 2021) bestehende Minderheitengewerkschaft werden kann, bleibt offen. In jedem Fall sei die AWU ein »mächtiges Experiment«, sagt Veena Dubal, Rechtsprofessorin an der University of California. »Wenn die AWU wächst – und Google wird alles tun, um das zu verhindern – könnte das enorme Auswirkungen haben.«
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GRAPHIC REPORT
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Misshandelt und überlastet
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Gemeinsam am Ball bleiben
Keine Frage der nationalen Kultur, sondern eine der internationalen Verantwortung: Arbeitsschutz, Menschenrechte und die Fußball-WM in Katar 2022. Ein Kommentar von Lisa Anke und Claudia Hülsken
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eit Katar als Austragungsort für die Fußballweltmeisterschaft der Männer 2022 ausgewählt wurde, steht das arabische Emirat im Zentrum internationaler Kritik. Denn bei der Errichtung neuer Stadien, Hotels und Flughäfen werden Bauarbeiter aus Ländern wie Bangladesch, Indien und Nepal ausgebeutet; in einigen Fällen kommen ihre Arbeitsbedingungen sogar Zwangsarbeit gleich. In den vergangenen zehn Jahren sind zahlreiche Menschen bei Bauarbeiten gestorben. Nach internationalem Druck wurden zwar Reformen initiiert, diese werden jedoch nur unzureichend überwacht und umgesetzt. Das katarische Regime versucht, mit oberflächlichen und strategischen Reformen von negativen Schlagzeilen abzulenken und über die Strahlkraft einer Fußball-WM das eigene Image aufzupolieren. Auch deutsche Fußballfunktionäre lassen sich von den Reformbemühungen blenden und neigen mitunter zu Fehleinschätzungen: So kommentierte der Vorstandsvorsitzende des FC Bayern München, Karl-Heinz Rummenigge, die katastrophale Menschenrechtslage in Katar mit den Worten, es sei »dort eine andere Kultur und Religion vorhanden«. Selbst bei manchen Fans des Vereins stößt das auf Unverständnis. Alexander Fischer, der Pressesprecher des Bayern-Fanclubs »Club Nr. 12«, stellt klar: »Bei den Umständen in Katar und der dortigen Menschenrechtslage will absolut keine Vorfreude oder Begeisterung auf das Turnier aufkommen.« Mit seiner Kritik steht er nicht allein; während Fußballfans zum WM-Boykott aufrufen (z. B. www.boycott-qatar.de), hat ein niederländischer Rasenspezialist seine Lieferung bereits abgesagt. Doch würde ein Boykott des Events zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage in Katar beitragen? Trägt womöglich jeder einzelne Fußballfan zu Hause am TV eine Mitverantwortung an der Ausbeutung, weil die Konsument_innen Teil des Profi-
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fußballsystems sind, das an ökonomischen Interessen ausgerichtet ist? Die Menschenrechtsverletzungen im Vorfeld der WM 2022 in Katar sind Teil eines größeren Problems. Neben den Arbeitskräften auf den Baustellen gibt es noch zahlreiche Arbeitsmigrant_innen, die in Privathaushalten schuften und dort ausgebeutet, teilweise misshandelt und sogar Opfer sexualisierter Gewalt werden (siehe Seite 28/29). Ein Boykott, der sich nur auf den Sport bezieht, würde das strukturelle Problem nicht lösen. Das gesamte Wirtschaftssystem Katars baut auf der Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte auf. Der Druck muss von außen kommen. Die WM ist eine Gelegenheit, um internationale Aufmerksamkeit auf das Land zu lenken. Das Fanbündnis »ProFans« fordert den DFB dazu auf, die WM-Teilnahme abzusagen. Die kritischen Fans betonen: »Fußball ist mehr als nur ein Spiel. Fußball ist auch: gesellschaftliche und soziale Verantwortung.« Noch erfolgversprechender könnte es sein, sich gemeinsam für Regeln im internationalen Profifußball einzusetzen, die darauf abzielen, die Menschenrechte in WM-Austragungsländern tatsächlich einzuhalten. Dafür braucht es Druck auf die FIFA und nationale Fußballverbände, damit sie ihren Einfluss zur Verbesserung der Menschenrechtslage und zum Schutz von Arbeitnehmer_innen in Katar geltend machen. Arbeitsrechtliche Reformen dürfen nicht nur auf dem Papier existieren, sondern müssen umgesetzt und überwacht werden. Faire Löhne müssen garantiert werden, der Zugang zur Justiz muss gewährleistet sein, und die Straflosigkeit ausbeuterischer Arbeitgeber_innen muss enden. Arbeitskräfte in Katar brauchen unsere Solidarität. Kurzum: Für die Menschenrechte müssen wir gemeinsam am Ball bleiben! 쮿 Lisa Anke und Claudia Hülsken sind in der Amnesty-Themenkoordinationsgruppe Gewerkschaften aktiv.
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»Ein Querschnitt der Gesellschaft« Er gilt als das Bindeglied zwischen der Gewerkschaft IG Metall und Amnesty International in Deutschland: Jürgen Kerner über Arbeitsund Menschenrechte und die Frage, warum beides zusammengehört.
Wann hatten Sie zum ersten Mal Kontakt zu Amnesty? Die Amnesty-Arbeit war mein erstes soziales und politisches Engagement. In den 1980er-Jahren bin ich als Schüler einer Gruppe in Augsburg beigetreten, dort habe ich das Handwerkszeug gelernt, das ich später auch als Gewerkschafter gebrauchen konnte: Wie man strukturiert arbeitet, dass man gemeinsam etwas erreichen kann und dass man immer wieder Unterstützung finden muss. Mich hat damals fasziniert, dass die Gruppe ein Querschnitt der Gesellschaft war. Da haben welche studiert, ich war auf der Realschule und dann Azubi. Es gab ältere Leute mit viel Erfahrung, aber auch die Ideen von uns Jüngeren wurden akzeptiert. Während meiner Ausbildung bei Siemens als Informationselektroniker bin ich in die IG Metall eingetreten, wurde Jugendvertreter und jung in den Betriebsrat gewählt. Im Werk wurden Großrechner und PCs gebaut. Heute kommen fast alle PCs, Handys und Notebooks aus Firmen in Asien. Und die Arbeitsbedingungen da sind gleichermaßen ein Thema für die Gewerkschaften wie für Amnesty. Was können Sie als »Metaller« für die Menschenrechte tun? Für mich gibt es viele Anknüpfungspunkte zwischen Amnesty und Gewerkschaften. Wenn Menschen hier in eine Gewerkschaft eintreten, geht es ihnen erst mal um die Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen vor Ort. Dafür streiten wir als Gewerkschaften. Aber wir müssen auch sagen, dass das nicht auf dem Rücken der Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern geschehen darf. Wir müssen dafür eintreten, dass Gewerkschaftsrechte weltweit akzeptiert werden. Ich erlebe immer wieder, dass das Management deutscher Unternehmen es selbstverständlich findet, sich mit der IG Metall zu treffen, dass die gleichen Unternehmen sich im Ausland aber anders verhalten. Was halten Sie vom geplanten Lieferkettengesetz? Die IG Metall unterstützt das Gesetz. Es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Man muss auf Unternehmensseite nun Transparenz über die Lieferketten herstellen. Aber es muss den Praxistest noch bestehen, denn es kommt auf die Umsetzung an. Fairer Wettbewerb bei den Arbeitsbedingungen und Arbeitskos-
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ten muss im Sinne der Unternehmen sein. Denn Unternehmen, die Beschäftigte in anderen Ländern ausbeuten, erschleichen sich Wettbewerbsvorteile. Nur wenn Lebens- und Arbeitsbedingungen weltweit einigermaßen vergleichbar sind, funktioniert der Wettbewerb über Kreativität und Ideen, und nicht mehr darüber, wer billiger ist. Deshalb ist das Lieferkettengesetz im ureigensten Interesse der Gewerkschaften. Amnesty und die IG Metall kooperieren neuerdings. Was hat es damit auf sich? Ich möchte diese beiden Organisationen besser vernetzen. Deshalb bin ich an der Idee einer Kooperation drangeblieben. Allein dass es jetzt eure Amnesty-Themenkoordinationsgruppe Gewerkschaften gibt, ist für mich ein Erfolg. Wir machen in der IG Metall nun das Angebot, dass man sich pro Quartal für einen Amnesty-Fall oder eine Aktion einsetzen kann. Wie wird das angenommen? Gut. Unter den 2,2 Millionen Mitgliedern sind einige, die an diesen Aktionen gerne teilnehmen. Als der DGB im vergangenen Jahr zum 1. Mai einen Livestream sendete und der AmnestyGeneralsekretär dort sprach, gab es sehr positive Resonanz. Die Kooperation mit Amnesty soll außerdem für alle DGB-Gewerkschaften offen sein. Annette Hartmetz gehört zur Amnesty-Themenkoordinationsgruppe Gewerkschaften
JÜRGEN KERNER
Foto: IG Metall
Interview: Annette Hartmetz
52 Jahre alt, ist Hauptkassierer und geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. Nachdem die Delegierten bei Gewerkschaftstagen seit langer Zeit einen Tagessatz an Amnesty International spenden, hat er 2020 eine Kooperation zwischen Amnesty International und der IG Metall ins Leben gerufen. Er lebt mit seiner Ehefrau bei Augsburg und hat zwei erwachsene Töchter.
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MOSAMBIK:
JOURNALISMUS IST KEIN VERBRECHEN!
Am 7. April 2020 kehrte Ibraimo Abú Mbaruco nach der Arbeit nicht nach Hause zurück. Offenbar wurde der Journalist des Lokalradios Palma Community Radio von Armeeangehörigen willkürlich festgenommen. Seither hat ihn niemand mehr gesehen oder von ihm gehört, und sein Aufenthaltsort ist nicht bekannt. Journalist_innen werden in Mosambik zunehmend eingeschüchtert, dem Vorwurf der „Unterstützung des Terrorismus“ ausgesetzt, willkürlich festgenommen und inhaftiert. Mach mit bei unserer Urgent Action und schreib Briefe und E-Mails an die Regierung Mosambiks. Fordere die Bekanntgabe von Ibraimos Aufenthaltsort und seine unverzügliche Freilassung. QR-Code scannen und direkt einsetzen:
POLITIK & GESELLSCHAFT
Etablierte Gegenkultur Mensch für Mensch retten: 60 Jahre Amnesty International erzählen eine Geschichte von Aufbrüchen und Rückschlägen. Und diese Jahrzehnte stecken voller Verwandlungen. Ein Essay von Jan Eckel
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Als im Mai 1961 Peter Benensons Hilfsaufruf für die »Forgotten Prisoners« erschien, war es für niemanden vorstellbar, dass aus einer kleinen Gruppe christlich-humanitärer Internationalisten eine weltweite Organisation entstehen würde, welche die medialen Aufmerksamkeitsgesetze ebenso beherrscht wie die Klaviatur der politischen Einflussnahme und deren Unterstützer und Unterstützerinnen zehn Millionen zählen. Womöglich hatte das eine mit dem anderen auch nicht viel zu tun. Was 60 Jahre später aussehen mag wie eine logische Erfolgsgeschichte, war real eine Geschichte von Aufbrüchen und Rückschlägen, von Aufklärung und Mystifizierung, von Wirksamkeit und ihren Grenzen. Und nicht zuletzt eine Geschichte voller Verwandlungen. Die erste ereignete sich in den 1970er-Jahren. Damals machte Amnesty International unter der Ägide eines expansionswilligen Londoner Sekretariats den Quantensprung zu einer organisatorisch ausdifferenzierten und politisch schlagkräftigen NGO. Sie war nun in der Lage, Menschenrechtsverletzungen in vielen Dutzend Ländern kontinuierlich zu beobachten und zum Anlass für immer zielgenauere politische Interventionen zu nehmen. Amnesty erfand im Zuge seiner Professionalisierung den Menschenrechtsaktivismus neu. International agierende Menschenrechtsgruppen hatte es schon lange gegeben. Doch hatte keine derart systematisch öffentlich Druck ausgeübt und damit eine vergleichbare Massenwirkung entfaltet. So entwickelte sich Amnesty in diesen Jahren zu einer effizienten »pressure group« und zugleich zu einer anschwellenden »Graswurzel«-Bewegung. Geografisch blieb ihre Reichweite auf Westeuropa und Nordamerika beschränkt. Dort entfaltete das Menschenrechtsengagement einen vielgestaltigen Anreiz zur Beteiligung. Viele, die sich in den 1970er-Jahren anschlossen, waren desillusioniert über die Veränderungskraft des politischen Massenprotests, der in den 1960er-Jahren allenthalben hervorgebrochen war, am Ende der Dekade aber an harte Grenzen stieß. Sinnbildlich dafür standen der schier endlos fortgesetzte Vietnamkrieg und das – wie es schien – folgenlose Verströmen der 68er-Bewegungen. Im Einsatz für Menschenrechte sahen viele Aktivistinnen und Aktivisten nunmehr eine zurückgenommene Form der Weltveränderung: einen Versuch, die Welt Mensch für Mensch zu retten, wie es der Philosoph Arthur Danto, Mitglied der US-Sektion, später ausdrücken sollte. Dies verband sich mit neuen politischen Sensibilitäten, wie sie das anwachsende alternative Milieu kennzeichnen sollten, mit dem Amnesty verwoben war. Dort entfaltete sich eine Kultur der Subjektivität, die sich in der Bereitschaft zum Mitleiden gerade mit dem geschundenen Körper manifestierte. Der Aufschwung des Menschenrechtsengagements lag auch an lebensweltlichen Veränderungen. Vielen Amnesty-Mitgliedern schien das Unrecht in vermeintlich fernen Ländern denkbar nahe, sei es, dass sie diese über nun erschwingliche Flugreisen kennengelernt, zu Hause Flüchtlinge getroffen oder über ein wachsendes Medienangebot von staatlicher Verfolgung erfahren hatten.
Feiern gemeinsamer Hoffnungen Die 1970er- und 1980er-Jahre waren die klassische Zeit von Amnesty International. In politischen Kampagnen hatte die Organisation das Überraschungsmoment für sich. Die Akten verraten, wie erstaunt etwa die Militärs um Augusto Pinochet darauf reagierten, dass Aktivisten aus dem Ausland in den chilenischen Ministerien anriefen, um sich nach Häftlingen zu erkundigen. Auch vermochte Amnesty Themen auf die internationale Agenda zu setzen. Die Antifolterkampagne löste ein breites mediales
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Echo aus und trug dazu bei, dass westliche Regierungen über den Umgang mit Menschenrechtsverletzungen im Ausland nachzudenken begannen. Das Folterthema führte ins Herz von Amnestys Engagement, lenkte es doch den Blick auf eine aus keiner politischen oder ideologischen Perspektive zu rechtfertigenden Form des Leidens. Die Kampagne verdeutlichte aber auch die mitunter fragwürdige politische Analyse, auf welcher der öffentlichkeitswirksame Aktivismus gründete. Wenn die Organisation gemäß ihres Prinzips der Überparteilichkeit geltend machte, Folter werde in allen politischen Systemen angewendet, so drohte sie die Unterschiede zwischen demokratischem Rechtsstaat und Militärdiktatur zu verwischen. Ende der 1980er-Jahre erreichte Amnesty International wohl den Zenit seiner Popularität. Dazu trug der Ausflug in die Popkultur bei, den Amnesty forcierte, indem es mit Topstars gespickte Konzerttourneen auf den Weg brachte. Darin kam aber auch eine weitere Metamorphose zum Vorschein: weg vom asketischen, minimalistischen Engagement früherer Jahre hin zu einer extrovertierten Feier der gemeinsamen Hoffnung, die auch Spaß machen sollte. Nun waren es konservative Stimmen, welche die Leitung dafür kritisierten, dass sie, wie es in einem bissigen Zeitungsartikel hieß, den Moralphilosophen Sting brauche, um den Mitgliedern zu erklären, wer Andrej Sacharow sei. Als nur wenige Jahre später die kommunistische Herrschaft in Osteuropa kollabierte, traf dies Amnesty unvorbereitet. Die weltpolitischen Veränderungen läuteten die wohl tiefste Identitätskrise ein, welche die Organisation bislang erlebt hat. Mit dem Verschwinden der ideologischen Lager war Amnestys Wesensmerkmal der weltanschaulichen Äquidistanz der Boden entzogen. Zudem glaubte das Internationale Sekretariat, es würden sich neuartige Konflikte ausbreiten, in Form von ethnisierter Gewalt oder Bürgerkriegen, denen man mit dem überkommenen Menschenrechtsansatz nur schwer begegnen könne. Neu waren diese Konflikte nicht, erhielten aber mehr öffentliche Aufmerksamkeit, und Amnesty war seit jeher schlecht gerüstet, um in Fällen von Massenmord oder Massenvertreibung einzuschreiten. Ihre Zuspitzung fand diese Orientierungskrise im Massenmord in Ruanda, mit dem sich Amnesty spät und wenig wirkungsvoll befasste, was in der Organisation selbst als schwer lastendes Versagen wahrgenommen wurde. Nicht zuletzt im Lichte dieser mühsamen Neuausrichtung ist es nicht selbstverständlich, dass Amnesty das Ende des Kalten Krieges und damit seinen Entstehungskontext überlebt hat, inzwischen um die Hälfte seiner gesamten Lebensdauer. Das verweist auf weitere Verwandlungen, über die Historikerinnen und Historiker noch wenig wissen. Sie haben dazu geführt, dass Amnesty weiterhin eine mitgliederstarke Menschenrechtsorganisation ist, die intensiv beobachtet und in wichtigen Situationen ihre informationspolitische Expertise zur Geltung bringt. Der Moment, in dem die Organisation damit überraschende neue Horizonte zivilgesellschaftlichen Handelns erschlossen hat, ist allerdings lange vorbei. Amnesty International ist fester Bestandteil eines etablierten internationalen Politikfeldes. Auch wenn dies nicht im Entferntesten nach Gegenkultur klingt, ist es für viele vermutlich eine gute Nachricht. Jan Eckel, geb. 1973, ist Professor für Zeitgeschichte an der Eberhard Karls-Universität Tübingen. 2014 erschien sein Buch »Die Ambivalenz des Guten: Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern« (Vandenhoeck & Ruprecht), für das er Archive von Amnesty auswertete.
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»Amnesty wird genauso alt wie ich« Eine Amnesty-Förderin und ein Amnesty-Mitglied werden am 28. Mai 2021 genau 60 Jahre alt – so wie auch Amnesty International. Wir haben mit Sabine Zarmann und Detlef Roggenkemper gesprochen. Vor 60 Jahren, am 28. Mai 1961, veröffentlichte Peter Benenson in der Zeitung The Observer den Artikel »The Forgotten Prisoners«. Er rief Leser_innen dazu auf, mit Appellschreiben Druck auf Regierungen auszuüben und die Freilassung politischer Gefangener zu fordern. Es ist die Geburtsstunde von Amnesty International. Ebenso wie die Organisation werden auch die Amnesty-Förderin Sabine Zarmann und Mitglied Detlef Roggenkemper am 28. Mai 60 Jahre alt. Im Interview erzählen sie, was sie sich zum Geburtstag wünschen und warum sie die Organisation unterstützen. Interview: Lea De Gregorio und Maik Söhler
Sie sind auf den Tag genauso alt wie Amnesty. Was bedeutet das für Sie? Sabine Zarmann: Ich habe relativ früh gemerkt, dass Amnesty und ich am selben Tag geboren sind. Auf ganz vielen Geburtstagsfeiern habe ich gesagt: Amnesty wird genauso alt wie ich. Und ich finde das schön, weil Amnesty eine unterstützenswerte Organisation ist. Meine Kollegin hat am 20. April Geburtstag, also am selben Tag wie Adolf Hitler. Das ist kein so schönes Datum. Detlef Roggenkemper: Ich wäre nie darauf gekommen. Ehrlich gesagt habe ich auch schon mal meinen eigenen Geburtstag vergessen. Als ich gehört habe, dass Amnesty genauso alt ist wie ich, dachte ich: Was für ein Zufall! Die Idee mit dem Interview fand ich dann sehr ulkig. Auch wenn ich nicht so gerne Interviews gebe.
60 JAHRE AMNESTY INTERNATIONAL Anlässlich des 60. Geburtstags von Amnesty plant die Organisation unterschiedliche Aktionen. Amnesty möchte den Blick dabei noch einmal besonders auf Menschen richten, die in Gefahr sind, und auf Menschenrechtsverteidiger_innen, die sich für andere einsetzen. Im Amnesty Journal werden wir einzelne von ihnen in den nächsten Ausgaben porträtieren. »Mit Menschlichkeit für die Menschenrechte«, so lautet ein Motto des Amnesty-Geburtstags.
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Wie sind Sie dazu gekommen, Amnesty zu unterstützen? Roggenkemper: Mein Vater war als junger Mensch im Krieg und in Kriegsgefangenschaft. Ich bin damit groß geworden, dass Deutschland eine üble Vergangenheit hat. Daher finde ich, dass Amnesty eine ganz wichtige Sache ist. Einfach, weil es viele Länder gibt, in denen etwas passieren muss, um für mehr Menschlichkeit zu sorgen und sie zu erhalten. Da ist internationaler Einsatz gefordert. Gerade als Deutscher finde ich es sehr wichtig, sich zu beteiligen. Ich war in den 1980er-Jahren schon mal Mitglied, und dann hat sich das verloren. Und vor ein paar Jahren habe ich gesehen, dass mein ältester Sohn Post von Amnesty bekommen hat. Das war für mich der Startschuss, um das zu erneuern. Zarmann: Bei mir ist das ähnlich. Mein Vater ist Jahrgang 1921 und war in Kriegsgefangenschaft. Meine Mutter kommt aus dem damaligen Schlesien und war Flüchtling. Ich selbst bin dann in Studentenzeiten auf Amnesty gestoßen. Als Studentin habe ich – damals noch mit dünnem Luftpostpapier – bei Urgent Actions mitgemacht. Seitdem bin ich dabei. Zeitweise war ich Mitglied, zeitweise Förderin. Was ist das Besondere an Amnesty? Roggenkemper: Amnesty war für mich immer eine Organisation, die sich besonders für Leute einsetzt, die nicht in der Öffentlichkeit stehen. Das hat mich sehr beeindruckt. Zarmann: Was ich mit Amnesty verbinde, ist der Kampf für die Menschenrechte – und zwar in jedem Land. Es ist immer wieder toll zu sehen, was durch internationalen Druck verändert werden kann. Fallen Ihnen Amnesty-Aktionen oder -Kampagnen ein, die Sie besonders wichtig fanden? Zarmann: Mich berühren immer die Einzelfälle. Und da zählt jeder Fall gleich viel. Was mich außerdem besonders anspricht, sind die Ortsaktionen – die Amnesty-Stände und die Gespräche, die man dort führt. Und wenn ich dann positive Berichte auf der Website sehe und merke, dass der Einsatz einen positiven Effekt hatte, finde ich das sehr berührend und aktivierend. Roggenkemper: Den Fall von Nelson Mandela fand ich eine ganz spannende Geschichte. Der ist natürlich bekannt und auch für die Organisation wichtig. Aber das sind Menschen, die ohnehin schon viel Aufmerksamkeit bekommen. Eigentlich finde ich die Leute, die nicht in der Presse sind, viel wichtiger: die Menschen, um die Amnesty sich kümmert und sonst niemand. Ich finde es gut, dass an die ganz normalen Menschen in Not erinnert wird und das den einen oder anderen Despoten in Verlegenheit bringt.
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Fotos: privat
Würden Sie sich wünschen, dass Amnesty International etwas anders macht? Roggenkemper: Mein Wunsch ist immer, dass man sich entwickelt. Aber gerade dieser Markenkern der Organisation sollte erhalten bleiben; Amnesty sollte sich auch weiter für einzelne Menschen einsetzen. Den Klimawandel halte ich auch für ein wichtiges Thema. Aber da gibt es auch andere Organisationen, die sich darum kümmern können. Zarmann: Ich schließe mich meinem Vorredner ein. Ich würde sagen: Schuster bleib bei deinen Leisten. Man sollte sich nicht verzetteln. Was ich mir vorstelle, wären weitere Kooperationen, etwa um Flüchtlinge zu schützen. Das halte ich für ein wichtiges Thema, denn da geht es um politische Verfolgung. Was wünschen Sie sich persönlich zum 60. Geburtstag? Zarmann: Das fragt mein Mann auch immer. Ich weiß es nicht. Ich bin auch ein großer Fan des Tierschutzes. Ich habe fünf Katzen und zwei Hunde aus dem Tierheim. In Spitzenzeiten hatten wir 13 Katzen. Ich vermute, mein Wunsch wird sein,
»Mich berühren immer die Einzelfälle. Da zählt jeder Fall gleich viel.« Sabine Zarmann 60 JAHRE AMNESTY
SABINE ZARMANN UND DETLEF ROGGENKEMPER Sabine Zarmann ist am 28. Mai 1961 geboren und seit den 1980er-Jahren »immer in Gedanken bei Amnesty dabei«, wie sie sagt. Mal war sie Mitglied, zurzeit ist sie Förderin. Sie arbeitet als Grundschullehrerin und lebt in Dülmen bei Münster. Detlef Roggenkemper ist ebenfalls am 28. Mai 1961 geboren und seit den 1980er-Jahren mit Amnesty verbunden. Zurzeit ist er Mitglied. Er lebt in Beckum bei Münster und arbeitet als Krankenpfleger.
für die örtlichen Tierheime zu spenden. Ansonsten sind wir hier alle so überversorgt, dass mir nichts einfällt. Roggenkemper: Ich hoffe, dass ich einen ganz normalen Arbeitstag haben werde und bin auch nicht böse, wenn meine Kolleginnen und Kollegen meinen Geburtstag vergessen. Wenn möglich, möchte ich einen ruhigen Tag erleben und mit der Familie feiern. Und was wünschen Sie Amnesty? Roggenkemper: Dass möglichst viele Leute Amnesty unterstützen. Ich habe gesehen, dass die Summe, die ich da regelmäßig spende, relativ klein ist. Die werde ich erhöhen, und ich hoffe, dass andere das genauso machen. Zarmann: Da kann ich mich meinem Vorredner nur anschließen. Und ich wünsche Amnesty ganz viel Hoffnung – damit die Kraft da ist, weiterzumachen.
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Kleines Virus lehrt große Lektionen Im April ist der neue Amnesty-Report zur weltweiten Lage der Menschenrechte erschienen. Ein Auszug aus dem Vorwort der Internationalen Generalsekretärin. Von Agnès Callamard Im Jahr 2020 erschütterte ein winziger Molekülhaufen die ganze Welt. Ein lokales Virus, mit bloßem Auge nicht zu erkennen, löste mit bemerkenswerter Geschwindigkeit eine globale Pandemie aus. Was auch immer über seine Entstehung noch bekannt werden sollte: Das Corona-Virus und seine unzähligen Opfer sind zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass innerhalb der Staaten und zwischen den Ländern tiefe und breite Ungleichheiten existieren. Verschlimmert wurde dieses Phänomen durch eine rigide Sparpolitik, die die öffentliche Infrastruktur und die Gesundheitssysteme geschwächt hat. Und alles wurde noch übler, weil Regierende Druck ausübten, dämonisierten, ausgrenzten und sich gegenüber der Wirklichkeit, der Wissenschaft und universellen Normen ablehnend verhielten. Dies sind außergewöhnliche Zeiten. Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Antworten und verlangen nach außergewöhnlicher Führung. Im Jahr 2020 basierte die außergewöhnliche Führung nicht auf Macht, Privilegien oder Profiten. Sie basierte auf den Beschäftigten im Gesundheitswesen, die um jedes Leben kämpften. Sie basierte auf jenen, die sich um ältere Menschen kümmerten. Sie basierte auf Techniker_innen und Wissenschaftler_innen, die Millionen von Tests entwarfen und verzweifelt nach Impfstoffen suchten. Corona kann vielleicht nicht definieren, wer wir sind, aber die Pandemie zeigt deutlich, wie wir nicht sein sollten. Die Menschen, die dies erkannt haben, sind aufgestanden. Sie haben sich gegen Ungleichheit erhoben und gegen Polizeigewalt, gegen Ausgrenzung, das Patriarchat und die hasserfüllte Rhetorik sowie das grausame Verhalten einer Führung, die auf Überlegenheit setzt. Die Forderungen der Bewegungen »Black Lives Matter« und »#MeToo« fanden weltweit Widerhall. Oft waren es Menschenrechtsverteidiger_innen und Aktivist_innen, die sich auf der ganzen Welt für soziale Gerechtigkeit einsetzten, die uns anspornten, während sie ihre eigene Sicherheit gefährdeten. Bisweilen haben wir außergewöhnliche politische Führungspersönlichkeiten gesehen. Oft waren es Frauen, die mutige und schwierige Entscheidungen trafen, um Leben zu schützen oder Gesundheitssysteme aufrechtzuerhalten. Aber die Pandemie hat auch die Mittelmäßigkeit und Verlogenheit, den Egoismus und den Betrug unter den Machthabenden dieser Welt verstärkt. Die reichsten Länder haben beinahe ein Monopol auf die weltweite Versorgung mit Impfstoffen erlangt, sodass die Länder mit den geringsten Ressourcen mit den schlimmsten gesundheitlichen und menschenrechtlichen Folgen konfrontiert sind und damit auch mit
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den am längsten andauernden wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen. Millionen von Menschen sterben, und weitere Millionen verlieren ihre Lebensgrundlage. Wie kann es sein, dass wieder einmal die Struktur der Weltwirtschaft dazu führt, dass jene, die am wenigsten haben, am meisten geben müssen? Das Jahr 2020 offenbart die Schwäche der internationalen Zusammenarbeit: ein bröckelndes multilaterales System, das den Mächtigsten nachgibt und die Schwächsten nur unzureichend versorgt; ein System, dessen Akteure unfähig, wenn nicht sogar unwillig sind, die globale Solidarität zu stärken. Die Pandemie hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass die Welt derzeit unfähig ist, bei einem globalen Ereignis mit großen Auswirkungen effektiv und gerecht zusammenzuarbeiten. Umso stärker wird das Gefühl einer drohenden Gefahr, wenn wir in die Zukunft blicken und damit auf eine Krise von weitaus größerem Ausmaß, für die es keinen Impfstoff gibt – die Klimakrise. Im Jahr 2020 litten Millionen Menschen unter den katastrophalen Auswirkungen extremer Klimaereignisse. Katastrophen, die von der globalen Erwärmung und der Instabilität des Klimas verschärft wurden, beeinträchtigten Millionen Menschen in ihren Rechten auf Leben, Nahrung, Gesundheit, Wohnung, Wasser und sanitäre Einrichtungen. Die Auswirkungen reichen von der anhaltenden Dürre in Afrika südlich der Sahara und in Indien über verheerende Tropenstürme, die über Südostasien, die Karibik, das südliche Afrika und den Pazifik hinwegfegten, bis hin zu den katastrophalen Bränden, die Kalifornien und Australien heimsuchten. Was brauchen wir also, um eine Welt zu schaffen, die den großen Herausforderungen, besser gewachsen ist? Was wir brauchen, sind Verantwortung, Menschenrechte sowie ein Überdenken und Neuformulieren der Beziehung von Umwelt und Wirtschaft. Behörden müssen unmittelbar und schneller daran arbeiten, Impfstoffe für alle zu produzieren und bereitzustellen. Es geht darum herauszufinden, ob die Welt zur Zusammenarbeit fähig ist: global denken, lokal handeln und langfristig planen. Erstens muss dafür die »Sicherheits«-Agenda der Regierun-
Corona kann nicht definieren, wer wir sind, aber die Pandemie zeigt deutlich, wie wir nicht sein sollten. AMNESTY JOURNAL | 03/2021
FOLLTTER T ODEER R ANDEERE MISSSHANDL S LUNG WÄH HREND DER HAFTT IN
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* Amnesty dokuumentierte im Jahrr 2020 in mindestens 87 der 149 Länder, die d der Amnesty Re Report eport erfasst erfasst, Beri Berichte chte über Folter und andere Misshandlungen.
gen beendet werden, die während der Pandemie sogar noch ausgeweitet wurde. Seit dem 11. September 2001 wurde der Handlungsspielraum für die Zivilgesellschaft drastisch eingeschränkt. Diese Agenda hat den außerordentlichen exekutiven und polizeilichen Befugnissen einen falschen Anstrich von Normalität verliehen und droht nun, zu einem Dauerzustand zu werden. Das muss ein Ende haben. Zweitens erfordert ein fairer und nachhaltiger Aufschwung eine Neuordnung der öffentlichen Steuersysteme überall auf der Welt. Angemessene Besteuerung ist dabei ein Muss, um die Ressourcen zu bekommen, die benötigt werden, um wirtschaftliche und soziale Rechte Wirklichkeit werden zu lassen. Eine faire Besteuerung von transnationalen Gewinnen wird dabei ein Schlüssel sein, ebenso wie konzertierte Bemühungen, Steuerhinterziehung und aggressive Steuervermeidung zu beenden. Drittens müssen wir uns der Realität stellen, dass der souveräne Nationalstaat schlecht in der Lage ist, globale Herausforderungen anzugehen. Eine zweckdienliche Global Governance erfordert eine globale Überprüfung, wie die internationalen Normen und Standards der Menschenrechte umgesetzt werden, um Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern, ebenso Machtmissbrauch und Korruption, Zensur und Unterdrückung Andersdenkender sowie Diskriminierung, Gewalt und Folter. Global Governance wird für globale Zwecke erst dann tauglich sein, wenn die globale Zivilgesellschaft systematisch in alle Abläufe eingebunden ist und Wertschätzung sowie Respekt genießt. Das müssen wir fordern. Das Jahr 2020 hat uns Lektionen gelehrt, die wir nicht ignorieren dürfen, weil sie sonst kommende Generationen gefährden: Die Menschheitsfamilie ist voneinander abhängig; Handlungen, die wir in Krisenzeiten von den Regierungen verlangen, sind universell; unsere eigene Zukunft ist untrennbar mit der Zukunft verbunden, die wir für unseren Planeten schaffen. Diese Lektionen zeigen uns erneut den Kern der Menschenrechte. Die Frage, deren Antwort noch aussteht, lautet: Werden wir klug genug sein, um zu erkennen, was getan werden muss, und mutig genug, um es zu tun, und zwar im größtmöglichen Umfang und mit vollem Tempo?
AMNESTY-REPORT
DER LÄNDER*
* Amnesty dokumentierte im Jahr 2020 in mindestens 42 der 149 Länder, die der Amnesty Report erfasst, Berichte über Abschiebungen von Geflüchteten oder Migrant_innen in unsichere Dritt- und Herkunftsstaaten.
MASSNAHMEN, DIE GESUNDHEITSRISIKEN FÜR INHAFTIERTE ERHÖHEN, IN
32% DER LÄNDER*
* Amnesty dokumentierte im Jahr 2020 in mindestens 48 der 149 Länder, die der Amnesty Report erfasst, Berichte über Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, die die Gesundheit von inhaftierten Personen gefährdeten.
Foto: Denis Balibouse / Reuters
DER LLÄÄNDER*
AGNÈS CALLAMARD (57) ist eine französische Menschenrechtsverteidigerin. Die promovierte Politikwissenschaftlerin ist seit den 1990er-Jahren in humanitären Organisationen aktiv. Zuletzt war sie Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen. Seit Ende März 2021 ist sie Internationale Generalsekretärin von Amnesty International.
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To-Dos gegen den Hass Im Kampf gegen Anfeindungen hat die Organisation HateAid Routine. Sie hilft Menschen, die im Netz bedroht und beleidigt werden, darunter auch die Politikerin Hannah Neumann. Von Klaus Ungerer
Wehrt sich gegen den Hass. Hannah Neumann.
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AMNESTY JOURNAL | 03/2021
»Die sind über mich hinweggewalzt.« Hannah Neumann über philippinische Trolle kümmert. Wie es ist, wenn das halbe Netz sich gegen sie zu wenden scheint, erlebt Hannah Neumann erstmals im März 2018: Auf der Homepage des Innenministeriums prangt ein kurioses Bild, das mittlerweile berühmte Schlümpfe-Foto: Es zeigt Horst Seehofer im Kreis seiner Führungskräfte, neun Leute, alles Männer. Stolz wie Bolle lugen sie aus ihren mäßig gut sitzenden Anzügen hervor. Hannah Neumann retweetet das Bild mit dem Kommentar: »Nicht meine Heimat! #Diversity #Feminism«. Sie hat die Lacher auf ihrer Seite. Ihr Tweet geht viral, er wird 2.000 Mal geteilt. Doch dabei bleibt es nicht. »Das war das erste Mal, wo es spürbar mehr wurde mit dem Hass: Morddrohungen, Vergewaltigungsdrohungen – als Beispiel: ›an den Herd ketten und von hinten nehmen‹ –, immer alles schön sexualisiert«, sagt Hannah Neumann. Sie hat mit ihrem Post klassische Männlichkeit angegriffen, und die schlägt nun mit ihren Mitteln zurück. Dass der Hass sich oft an Geschlechtergrenzen ausrichtet, kennt sie schon vom Plakatehängen in Lichtenberg. »Auf der Straße wurde ich noch nie von einer Frau angepöbelt. Bisher waren es immer Männer. Manchmal haben sie sogar Kinder dabei, das sind für mich die erschreckendsten Momente.« Wer sich für eine politische Karriere entscheidet, nimmt also ein gewisses Maß an verbaler und digitaler Gewalt in Kauf. Es gibt da im Hintergrund ein ständiges, unvorhersehbares Blub-
Screenshot Twitter
Foto: Mike Schmidt / SZ Photo / pa
HASS IM NETZ
In Berlin-Lichtenberg reißt sich niemand darum, bei Wahlen für die Grünen zu kandidieren. Zu holen gibt es dort außer Beleidigungen wenig. In dem Bezirk im Osten der Stadt liegen die Wahlergebnisse verlässlich um die fünf Prozent, mal sind es nur vier, mal sieben, das ist dann ein Erfolg. Und dafür muss man sich anstrengen: am Wahlkampfstand stehen, mit dem Wahlkampffahrrad Präsenz zeigen, Kiezspaziergänge machen und mit Leuten diskutieren, die vielleicht nicht immer volle Einsicht in die eigene Argumentationslinie zeigen. Oft genug kommt es zu netten Begegnungen. Immer wieder wird man von Passanten aber auch als »korrupte kinderf(…) Drecksau« bezeichnet oder bekommt beim Aufhängen von Plakaten den Hinweis: »Eigentlich gehört ihr aufgehängt!« Dass es nicht nur lustig werden würde, in die Politik zu gehen, war Hannah Neumann klar. Die Friedens- und Konfliktforscherin hat bereits als Büroleiterin für zwei Bundestagsabgeordnete gearbeitet. Sie kennt den Bezirk, sie wusste ungefähr, was auf sie zukommt. Wenn der eigene Kopf auf Plakaten zu sehen ist, muss man bestimmte Konsequenzen in Kauf nehmen. »Das war von dem Moment an klar, als ich mich für den Weg in die Politik entschieden habe«, sagt sie. »Ich wusste ja, was sich an Hass über mich ergießen kann.« Aber sie lässt sich nicht abschrecken. »Ich habe mich dann bewusst entschieden: Ich mache es trotzdem. Sonst haben die Hater ja gewonnen.« 2017 kandidiert sie für die Bundestagswahl. Knapp sechs Prozent kommen dabei heraus. Zwei Jahre später sieht es schon ganz anders aus. Hannah Neumann kandidiert für die Europawahl 2019, sie steht auf Listenplatz 5, und die Grünen katapultieren sich im Bund hoch auf 20 Prozent. Für sie heißt das: Goodbye Hohenschönhausen, adiós Plattenbau! Hannah Neumann bricht auf nach Brüssel. Dass es nun erst richtig losgehen wird mit dem Hass, der unter die Gürtellinie geht, weiß sie noch nicht. Ein Grundrauschen an elektronischer Beleidigung gehört zum Geschäft, daran hat Hannah Neumann sich längst gewöhnt. Hier mal eine E-Mail mit Gepöbel, dort mal ein hässlicher Kommentar auf Instagram. Ab und zu taucht auf Twitter auch mal jemand auf, der ein paar Tage lang alles vollpestet. Freunde, denen sie davon erzählt, sind schockiert. Doch Hannah Neumann sagt: »Wenn ich nicht so tun würde, als wäre das alles ganz normal, könnte ich ja gar nicht arbeiten.«
»Nicht meine Heimat« Hin und wieder jemand, der sich austobt, damit kann man leben. Vor allem, wenn man – wie sie – ein Team um sich herum hat, das sich
»Führungsmannschaft«. Ein Tweet Neumanns hatte Folgen.
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Es geht um eine angemessene Antwort auf den Hass – mit den Mitteln des Rechtsstaats. bern, das immer mal wieder einen Moment der Aufmerksamkeit für sich beansprucht. Da ist der Pöbler in der Schlange beim Bäcker, die verirrte Hassmail im Posteingang, der orthografisch fragwürdige Wutkommentar im sozialen Netzwerk. Das sind Sachen, an die man sich gewöhnen, die man mit der Zeit ausblenden kann. Dass die Aggression sich aber sammeln, bündeln, organisieren kann, dass sie planvoll darauf abzielen kann, einen Menschen niederzumachen, erfährt Hannah Neumann dann im September 2020. Im Europaparlament lanciert sie einen Entschließungsantrag zur Menschenrechtssituation auf den Philippinen, der von einer breiten Mehrheit verabschiedet wird. Damit ist sie nicht nur dem Grünenhasser von nebenan auf die Füße getreten. Sie hat sich mit dem Regime eines 100-Millionen-Staates angelegt. In den philippinischen Medien wird sie markiert. Die Reaktion im Netz lässt nicht auf sich warten.
Eine ganze Online-Armee rollt an
(sic!), steht da, »Drecksau!«, »Soll erstmal Testen was SIE erwartet. Da gibt es nur eins Beine Breit machen. Aber vllt. braucht die das auch.« (sic!) und »Dumm geboren, nichts gelernt und als rotgrüne Lebensversagerin gestorben!«
Auf zum Gegenangriff Als der Sturm losbricht, ist zunächst alles wie immer in Hannah Neumanns Team. Sie kennen das ja schon – löschen, löschen und löschen. Dann erfährt Neumann, dass die Attacke, direkt vor Weihnachten, generalstabsmäßig geplant worden war: In Foren habe die AfD den Angriff orchestriert und angefacht. »Da dachte ich, Leute, das ist ein Schritt zu weit. Das werde ich denen nicht durchgehen lassen.« Hannah Neumann entscheidet sich zum Gegenangriff. Doch wie wehrt man sich, wenn der Gegner sich im virtuellen Raum versteckt? Oft scheint es, als sei das Internet ein eigenes Universum, und kommunikativ ein einziges, wüstes Chaos, in das, wer will, eintaucht aus der echten Welt. Faktisch aber ist das Internet natürlich ein Teil dieser echten Welt. Und es gelten dort dieselben Gesetze wie offline. Der Gesetzgeber kann auch die Menschen hinter den Attacken im virtuellen Raum zur Rechenschaft ziehen. Aber an wen wendet sich, wer Opfer von Angriffen geworden ist? Seit 2018 gibt es HateAid, Deutschlands erste Beratungsstelle speziell für Menschen, denen digitale Gewalt widerfahren ist. Dort klingelt bald das Telefon. »Normalerweise sind die Menschen, die bei uns anrufen, nicht so sortiert«, sagt HateAid-Beraterin Clara Taruba, die eigentlich anders heißt und den Fall von Hannah Neumann übernimmt. »Oft sind sie wie gelähmt, haben noch gar nicht recht begriffen, was ihnen da gerade widerfahren ist. Sie suchen nach Gründen, viele geben sich selbst die Schuld«, sagt sie. Vielfach ist es für Clara Taruba und ihre Kolleg_innen die erste Aufgabe, die Opfer digitaler Gewalt emotional aufzufan-
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Logo: HateAid
»Die Philippinen haben eine stramm organisierte Troll-Armee, und viele lassen sich dafür dann auch einspannen«, sagt Hannah Neumann. »Die sind vollkommen über mich hinweggewalzt.« Um die 15.000 Kommentare zieht sie allein bei Twitter auf sich, bunt schillernd in allen Facetten von Angriffs- und Belehrungslust, dasselbe noch mal auf Facebook. Sie muss die Kanäle dicht machen. »Mein Team hat es nicht mehr geschafft, das alles zu löschen.« Einige Zeit geht das so weiter, alle neuen Statusmeldungen werden zugemüllt, und wenn es gerade keine neuen gibt, trifft es ältere. Über Monate geht das so. Es ebbt langsam ab. Dann bricht der nächste Shitstorm los. Auf Facebook hat Neumann sich zu einem umstrittenen Thema zu Wort gemeldet: Soll die EU Bürger_innen zurücknehmen, die für den Islamischen Staat gekämpft haben, oder deren Angehörige? Ja, sagt Neumann. Kurz danach merkt sie, dass sie ins Visier der AfD geraten ist. Erst sind es einzelne Politiker_innen, die sich auf sie einschießen. Dann twittert sogar die AfD-Fraktion im Europaparlament ein großes Foto von Hannah Neumann mit folgenden Worten: »Sie will 2.000 IS-Terroristen nach Europa holen. Sag ihr deine Meinung!« Nicht nur ihre Parlamentskolleginnen und -kollegen von der AfD haben Hannah Neumann als Feindin markiert. Das Foto findet seinen Weg auch in abgeschiedene Regionen von Facebook, in nichtöffentliche Gruppen, wo Nutzer_innen ihre ganz spezielle Meinung zu Menschenrechten, Musliminnen und Muslimen und Rechtsstaatlichkeit haben. »Verbrechen am deutschen volk« Mehr als ein digitales Trostpflaster. Logo von HateAid.
AMNESTY JOURNAL | 03/2021
ten grassierender Verschwörungsmythen. Und jede Wut bricht leichter aus, wo es kein physisches Gegenüber gibt.
Screenshots: #dieinsider vom 19. Januar 2021
Zur Sicherheit mit Pseudonym
Screenshot des Grauens. So viel Hass erfuhr Hannah Neumann.
gen. Es geht dann darum, sie erzählen zu lassen und mit ihnen gemeinsam ein bisschen einzuordnen, was passiert ist. Bei Bedarf verweisen sie auch auf andere Beratungsstellen, die noch mehr psychologische Unterstützung leisten können. Viele digitale Attacken entspringen einer langen persönlichen Vorgeschichte. Typischerweise verlagern sich etwa hässliche Nachwehen gescheiterter Beziehungen in den digitalen Raum: Intime Bilder werden auf Instagram veröffentlicht, in Facebook-Gruppen gezielt Unwahrheiten über die Ex-Partnerin verbreitet, gerne auch bei deren Arbeitgeber. Das Internet macht es leicht, Rachefantasien vom Schreibtischstuhl aus in die Tat umzusetzen. In sozialen Medien brennt die Luft, sobald emotionale politische Themen diskutiert werden, zumal in Zei-
HASS IM NETZ
Manchmal reichen schon Unstimmigkeiten bei der Ebay-Kaufabwicklung, um Menschen zu unversöhnlichen Feinden zu machen. Als digitalaffiner Mensch hat die HateAid-Beraterin es selbst erlebt. Und so hat sie auch ihr eigenes Pseudonym zunächst einmal gegoogelt, bevor sie es aktiviert hat. Sicher ist sicher. Eine echte Clara Taruba war nirgends auffindbar, also konnte auch niemand in die Gefahr eines Shitstorms geraten. Erste stabilisierende Auffangmaßnahmen erweisen sich bei Hannah Neumann als nicht notwendig. Punkt eins auf der To-Do-Liste der Berater_innen ist damit schon abgehakt. Seelisch robust und gut aufgefangen von ihrem Team, geht Neumann mit HateAid die nächsten Schritte an. Hassabwehr ist dort das tägliche Geschäft, und schon die Routine der Berater_innen kann für die Betroffenen hilfreich sein. Es gilt zu begreifen, dass man dem Shitstorm nicht hilflos ausgeliefert ist. Zunächst wird ein persönlicher Sicherheitscheck durchgeführt, auch was mögliche Hackerangriffe angeht. Im Fall Neumann erbringt der Check gute Ergebnisse. Hier hat ihr Team schon zuvor ordentlich gearbeitet. Im nächsten Schritt wird dann gemeinsam beraten, ob eine Auszeit vom Netz sinnvoll ist oder nicht – was jeweils vom Fall und auch von der Belastbarkeit der angegriffenen Person abhängt. Schließlich geht es um eine angemessene Antwort auf den Hass – mit den Mitteln des Rechtsstaats. Im Fall Neumann hat die Recherchegruppe »Die Insider« Screenshots aus Onlineforen sichergestellt. Mitarbeiter_innen von HateAid tauchen in die große Fülle an Pöbeleien ein, die als private Nachrichten eingegangen sind und sondieren: Was ist Beleidigung, was Bedrohung? Was ist durch die freie Meinungsäußerung gedeckt? Was befindet sich in einer Grauzone? Es würde die Ressourcen unnötig belasten, jedem einzelnen Angriff nachzugehen. Also muss gefiltert werden: Nur diejenigen Hassnachrichten sollen übrigbleiben, die nach Einschätzung von HateAid wohl justiziabel sind. Im Fall Neumann bleiben 16 übrig, es sind die krassesten. Sie werden an Anwälte übergeben. Die Anwälte prüfen dann noch einmal. Schließlich leiten sie die Gegenattacke ein, kühl und trocken. Ihre Waffen heißen: Abmahnung, einstweilige Verfügung oder Strafanzeige. HateAid sorgt für Prozesskostenunterstützung – und Hannah Neumann kann den Dingen ihren Lauf lassen.
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Gold oder Aprikosen? Mitten in Armenien soll eine Goldmine entstehen, erste Arbeiten sind abgeschlossen. Für die Menschen in den benachbarten Dörfern und für die Umwelt wäre die Fertigstellung von Amulsar eine Katastrophe. Aus Gndevaz und Eriwan von Tigran Petrosyan
Foto: Tigran Petrosyan
Die Regierung wirbt für den Goldbergbau. »Amulsar kann zum Steuerzahler Nummer eins werden«, kündigte Armeniens Wirtschaftsminister Vahan Kerobyan kürzlich an. Vardan Poghosyan beklagt hingegen das »Verbrechen«, dass wegen der Mine Bäume abgeholzt wurden. Der 66-jährige Bauer schwelgt in Erinnerungen an seinen zerstörten Aprikosengarten in seinem Dorf Gndevaz. »Als ich die Aprikosenblüten auf der Erde liegen sah, dachte ich, es sei duftender Schnee vom Himmel gefallen.« 2006 entdeckte das Bergbauunternehmen Lydian Armenia, eine Tochtergesellschaft von Lydian International, Gold im Berg Amulsar im Südosten Armeniens. 2016 begann Lydian, dort eine Mine zu errichten, einige Bergbauanlagen sind bereits entstanden. Bewohnerinnen und Bewohner der naheliegenden Dörfer protestierten noch im selben Jahr, als sie unter Druck ihre Felder verkaufen mussten und danach riesige Flächen mit Aprikosenbäumen vernichtet wurden, um eine Straße bis zur Mine zu bauen. Der Bauprozess wurde wegen der Proteste gestoppt. 700 Menschen leben in Gndevaz, nur einige Hundert Meter von der Mine entfernt. »Der Winter in den armenischen Bergen
bleibt lange«, sagt Poghosyan und trampelt mit den Füßen vor seiner Haustür auf den Boden, um den Schnee loszuwerden. Bevor er ins Haus tritt, blickt er noch auf den Berg, der unter der dichten weißen Schneedecke nur unklar zu erkennen ist. Seine größte Sorge ist: »Wohin sollen wir nun unsere Kühe oder Schafe bringen, wenn der Winter vorbei ist?« Als am 27. September 2020 der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach ausbrach, nutzte Lydian die Gelegenheit, dass die öffentliche Aufmerksamkeit sich woanders hin richtete und zäunte die Straße ab, die entlang der Weiden und Felder führt. Bergkarabach ist weit entfernt, dennoch wurden Fakten geschaffen. Auch der Weg in die Berge wurde abgesperrt. So erzählt es jedenfalls Poghosyan. Tatsächlich ist die einzige Straße, die zum Dorf führt, heute eingezäunt. An einigen Stellen sind Gittertore in die Absperrung eingebaut, darauf ist ein Stoppschild zu sehen, und dahinter stehen Männer in Uniform, die Wache halten. Die Dorfbewohner sind von den Weiden und Feldern abgeschnitten. »Ohne Landwirtschaft ist man ein Niemand«, sagt Poghosyan. Auch seine Familie hat Kühe und Schafe. Hirten brachten um die 270 Schafe und Ziegen jahrzehntelang abwechselnd auf die Weide. »Ich war alle zehn Tage an der Reihe«, sagt Poghosyan. Nun nicht mehr. Seit Generationen betrieben Menschen in Gndevaz und Umgebung Landwirtschaft, vor allem Ackerbau und Viehzucht. »Nun ist unsere Existenz bedroht, weil wir das Land verloren haben.«
Bleibt kämpferisch aufgelegt. Vardan Poghosyan.
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Bleibt Baustelle. Die Goldmine Amulsar.
AMNESTY JOURNAL | 03/2021
All die Gärtnerinnen, Viehzüchter, Hirten und Imkerinnen des Dorfes sind heute arbeitslos.
Gndevaz sei seit der Sowjetzeit eines der bekanntesten Dörfer der Region, erzählt Poghosyan voller Stolz. »Unser Dorf wurde sogar bei einer Versammlung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei in Moskau erwähnt«, sagt er. »Der Staat kaufte unserem Kolchos die Lämmchen immer ab und sprach ein großes Lob aus. Ein sechs Monate altes Tier wog dank der guten Weidegründe in unseren Bergen bereits 45 Kilogramm.« Der ehemalige Viehhalter sitzt in der Mitte seines Wohnzimmers an einem großen runden Tisch, auf dem seine fleischigen Hände ruhen. Bei jedem Wort schaut er die Nachbarinnen und Nachbarn der Familie an, die zum Kaffee gekommen sind. Sie hören zu, nicken und nehmen ab und zu einen Schluck Kaffee. Poghosyan bringt für sie alle die Sache auf den Punkt. Nicht zufällig wurde er zum Dorfvorsteher ernannt, als Armenien im Jahr 1991 seine Unabhängigkeit erklärte.
Unter Druck alles an Lydian verkauft
Foto: Tehmine Yenoqyan
Sehnsüchtig blickt Poghosyan auf jene Zeit zurück, als er noch Zugang zum Weide- und Ackerland hatte. »Uns wurde gesagt, wer sein Land nicht freiwillig an Lydian verkaufe, dem werde der Staat unter Verweis auf ›vorrangiges Interesse‹ das Land zwangsweise abnehmen, und zwar zu einem Drittel oder Viertel des Preises«, berichtet Poghosyan. Er habe vor knapp sechs Jahren 7.600 Euro für seine Weizen- und Gerstenfelder mit 7.000 Quadratmetern Fläche bekommen. Sein Cousin habe Pech gehabt, er
ARMENIEN
habe nur ein Drittel dieser Summe bekommen, weil er sich erst spät mit dem Verkauf einverstanden erklärte. All die Gärtnerinnen, Viehzüchter, Hirten und Imkerinnen des Dorfes sind heute arbeitslos. Sollen sie alle über Nacht zu Bergbaufachleuten werden, damit sie in ihrer Gegend weiter Arbeit finden können? Zum Glück bleiben sie mit ihren Sorgen nicht allein. Die Rechtsanwältin Nazeli Vardanyan kämpft seit Jahren juristisch gegen Amulsar und für die Rechte der Menschen in der Region. Sie geht gegen die Mine und den armenischen Staat vor und vertritt mehrere Bürgerinnen und Bürger aus Gndevaz und aus dem nahegelegenen Kurort Jermuk vor Gericht. Es gehe um eine ganze Reihe von Klagen gegen das Bergbauunternehmen, etwa den Schutz des Eigentums, sagt die in der armenischen Hauptstadt Eriwan lebende Juristin. Die 59-Jährige spricht von Verstößen, zum einen gegen armenische Gesetze, zum anderen gegen internationale Übereinkommen wie die Aarhus-Konvention, die eine Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern im Umweltschutz vorschreibt. Denn nicht nur Grundrechte sind gefährdet, Wissenschaftlerinnen und Umweltschutzaktivisten gehen davon aus, dass die Goldmine katastrophale Auswirkungen auf das Ökosystem haben wird. Vor allem der nordwestlich der Mine gelegene Sewansee, mit knapp 1.300 Quadratkilometern Fläche der größte Süßwassersee des Kaukasus, ist in Gefahr. Die Mine könnte auch Auswirkungen auf den Kurort Jermuk haben, dessen Mineral- und Thermalquellen seit Sowjetzeiten berühmt sind. Jermuk liegt acht Kilometer von Amulsar entfernt, dort leben rund 4.300 Menschen. »Wenn nun die Mine beginnen sollte, die Luft zu verschmutzen, müssten manche den Ort verlassen, um nicht krank zu werden«, sagt Vardanyan. »Lydian und die armenische Regierung verschweigen mögliche Risiken und jagen den Menschen Angst ein.« Die Rechtsanwältin versucht, über das Unternehmen Lydian International aufzuklären, das von einem Netz von Offshore-Ablegern auf Jersey und den britischen Jungferninseln verwaltet wird und in Kanada in einem Insolvenzverfahren steckt. Aus Gerichtsdokumenten weiß sie, dass an dem Goldbauprojekt Investoren aus den USA, Kanada, Großbritannien und der Türkei beteiligt sind. Lydian wiederum hat Vardanyan und andere mit Klagen überzogen, um sie zum Schweigen zu bringen. Zehn armenische Nichtregierungsorganisationen, darunter das Transparency International Anti-Corruption Center in Eriwan, bewerten das in einer gemeinsamen Erklärung als politische Verfolgung. Polizei und Justiz seien an willkürlichen Strafmaßnahmen gegen Menschen aus Jermuk beteiligt, die gegen die Mine Amulsar protestiert hätten. Vardanyan vermutet Korruption, also einen Deal zwischen dem armenischen Staat und Lydian. Andere Beobachterinnen und Beobachter betonen, dass Lydian Armenien mit Entschädigungsforderungen unter Druck setze. So oder so: Das nachzuweisen, könnte noch Jahre dauern.
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Auf dem Dach Satellitenschüsseln (oben), im Studio eine Sendestation. Radio Shabelle im Jahr 2018 in Mogadischu.
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Berichten unter Lebensgefahr
Fotos: Tobin Jones / AU-UN IST (CC0 1.0)
Journalistinnen und Journalisten in Somalia leben gefährlich. Dabei geht die Bedrohung nicht nur von islamistischen Milizionären aus. Aus Mogadischu von Bettina Rühl Abdalle Mumin spürt schon, dass die nächsten Wahlen anstehen, lange bevor in seiner Heimatstadt Mogadischu die ersten Wahlplakate aufgehängt und die ersten Wahlkampfreden gehalten werden. Er spürt es am steigenden Druck auf Journalist_innen, an der Zunahme der Drohanrufe, am härteren Vorgehen der Regierung gegen Sender und Verlage. Und an der steigenden Zahl der Kolleg_innen, die das Land verlassen. »Sie sagen sich: Ich bringe mich lieber in Sicherheit und komme wieder, wenn die Wahl vorbei ist«, berichtet Mumin. Der selbstständige Journalist ist Generalsekretär der Somalischen Journalistengewerkschaft SJS und vertritt rund 400 Mitglieder. Der 35-Jährige führt auf das Dach des Hauses, in dem die Gewerkschaft ihr Büro hat. Von dort geht der Blick über viele neu errichtete Gebäude. Trotz eines jahrzehntelangen Krieges und anhaltender Armut ist Mogadischu eine grüne Stadt. Erstaunlich viele Bäume haben die Zerstörung überdauert und wurden auch nicht von einer der Millionen Flüchtlingsfamilien verfeuert. Wer die Stadt kennt, weiß allerdings, dass noch nicht alle Spuren des langjährigen Artilleriebeschusses beseitigt wurden. Zwischen den Neubauten stehen etliche Ruinen, im Laufe vieler Jahre grau-schwarz gefärbt. Das Land am Horn von Afrika galt zwei Jahrzehnte lang als Paradebeispiel eines »Failed State«. Der Krisenzustand begann 1991 mit dem Aufstand gegen den damaligen Diktator Siad Barre. Nach dessen Sturz fielen die von den Clans finanzierten Warlords übereinander her, legten Somalia im Kampf um Macht und Geld in Trümmer. Erst seit 2012 hat das Land wieder eine international anerkannte Regierung, die aber noch nicht einmal die Hauptstadt komplett kontrolliert. Die wichtigsten Widersacher der Regierung sind inzwischen nicht mehr die Warlords, sondern islamistische Kämpfer der Shabaab-Miliz, die Al-Qaida nahesteht und weite Teile des Landes in ihrer Gewalt hat. Die Miliz setzt erfolgreich Todesdrohungen und Terror ein, um Schutzgeldzahlungen zu erpressen. Beobachter vermuten, dass Al-Shabaab dank Todesdrohungen und einem effektiven Finanzsystem jährlich mehr Geld einnimmt als der somalische Staat. Das Geld wird zum Teil in Munition und Waffen reinvestiert.
SOMALIA
In ihrem Kampf gegen die Shabaab-Miliz wird die somalische Armee von einer Militärmission der Afrikanischen Union namens AMISOM unterstützt. Alle am Konflikt beteiligten Parteien begehen Kriegsverbrechen, die laut einem Bericht der Vereinten Nationen zwischen Januar 2017 und Dezember 2019 zum Tod von insgesamt 5.133 Zivilpersonen führten.
Mindestens 69 Journalist_innen getötet Wenn somalische Journalist_innen die Flucht ergreifen oder zumindest vorübergehend das Land verlassen, muss die Lage also schon ziemlich schlimm sein. Denn wer in dem langjährigen Bürgerkriegsland für die Medien arbeitet, ist in erschütternder Weise an Morde, Drohungen, Todesangst und die Trauer um ermordete Kolleg_innen gewöhnt. Was die Toten angeht, ist die Lage schon viel besser geworden: Nur zwei waren es im vergangenen Jahr, dagegen zwölf im besonders blutigen 2012. Jahrelang war Somalia eines der gefährlichsten Länder für Journalist_innen. Seit das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) 1992 mit den Zählungen begann, wurden mindestens 69 Journalist_innen getötet. Mumin entging diesem Schicksal nur knapp. Nachdem er Ende 2014 für das Wall Street Journal über den Mord an einem Al-Shabaab-Kommandanten berichtet hatte, erhielt er Todesdrohungen. Später überlebte er einen Mordanschlag in Mogadischu. Davon erzählt er so nüchtern und beiläufig, als spräche er über den Umzug in eine andere Stadt. Diese Beiläufigkeit verrät, in welch hohem Ausmaß Mumin und viele seiner Kolleg_innen gelernt haben, den Gedanken, dass ihnen womöglich in Kürze der Tod bevorsteht, in ihr Leben zu integrieren. Die Morde an den Journalist_innen werden zumeist der Shabaab-Miliz zugeschrieben. Aber der Kreis der möglichen Mörder ist weit größer: Manchmal kann der Staat nicht leugnen, dass seine Vertreter_innen getötet haben, weil der Schuss auf einen
»Was mir Sorge macht: In keinem dieser Morde wurde ermittelt.« Abdalle Mumin, Journalist 47
Fotos: Bettina Rühl
Journalisten oder eine Journalistin vor Augenzeug_innen abgefeuert wurde. »Was mir große Sorge macht, ist, dass in keinem dieser Morde ermittelt wurde, die Verantwortlichen bleiben straffrei. Sie töten einen Journalisten und laufen am nächsten Tag unbehelligt durch die Straßen von Mogadischu«, empört sich Mumin. Aber immerhin, die Zahl der Toten nahm seit 2017 deutlich ab. »Das heißt aber nicht, dass es keine Drohungen gegen die Presse gibt«, betont der Gewerkschafter. 2020 wurden nach Aussage der SJS 55 Journalist_innen inhaftiert. »Willkürlich«, wie MuEngagierte Journalisten. Abdalle Mumin (links) und Abukar Sheikh Mohamud. min unterstreicht. Zudem schloss die Regierung vier Radio- beziehungsweise Fernsehsender. Die Mohamud lebt seit Jahren mit dem Wissen, dass er jederzeit Gründe dafür seien offensichtlich: »Somalia steht kurz vor sehr der nächste sein kann. Um seine Wege möglichst unberechenbar umstrittenen Wahlen, die Journalist_innen bemühen sich, über zu machen, bleibt er in unregelmäßigen Abständen über Nacht alle Aspekte zu berichten. Die Antwort der Regierung ist Zensur.« im Sender. Für diese kleinen Fluchten hat er ein Zimmer: einen Im Moment weiß allerdings niemand, wann die geplanten wohnlichen Raum mit etlichen Büchern, die Welt der Morde Wahlen stattfinden werden. Dabei hätten sie am 8. Februar abge- und des Machtkampfs scheint dort weit weg. An anderen Tagen schlossen sein sollen, mit der Wahl eines neuen Staatsoberhaup- findet Mohamud anderswo Unterschlupf, er übernachtet bei tes durch ein dann schon neu gewähltes Parlament. Denn am Freunden. Auch andere Shabelle-Journalist_innen bleiben im8. Februar endete die Amtszeit von Präsident Mohamed Abdulla- mer mal wieder über Nacht im Sender, wechseln häufig ihre hi Mohamed. Wegen seiner Leidenschaft für Käse wird er meist Wege und Unterkünfte, um es potenziellen Verfolger_innen »Farmajo« genannt, nach dem italienischen Wort für dieses möglichst schwer zu machen. Milchprodukt, »formaggio«. Nach der Verlängerung seiner Viele laufen trotzdem in die Falle. Mohamud zählt die NaAmtszeit ohne Wahl brachen im April Gefechte in Mogadischu men aller 14 Toten auf, erzählt von den Umständen ihres Todes. aus. Farmajos Gegenkandidaten und Kritiker_innen werfen ihm Während er die Verstorbenen in dieser Weise würdigt, erinnert vor, die zarten Ansätze einer somalischen Demokratie wieder er daran, wie groß die Gefahr für ihn selbst ist. Unter den Erersticken zu wollen. mordeten sind drei seiner Vorgänger an der Spitze des Shabelle Nicht nur die Zentralregierung geht gegen Journalist_innen Media Network. Gleich fünf bewaffnete Angreifer hatten Hassan vor, auch die Bundesstaaten machen das. Vor allem die Autoritä- Osman Abdi aufgelauert, als er am 28. Januar 2012 von der Arbeit nach Hause kam. Der 29-Jährige starb im Kugelhagel. ten in Puntland hätten ihre Angriffe auf die Pressefreiheit verDer Kameramann Mustaf Abdi Noor berichtete am 1. Novemschärft, kritisierte Amnesty International Anfang März 2021. Die ber 2015 über den Angriff der Shabaab-Miliz auf das Sahafi-HoRegierung greife vor den Wahlen auf »Einschüchterung, Verfoltel in Mogadischu. Der 23-Jährige suchte ausgerechnet hinter gung und die willkürliche Festnahme von Journalist_innen« zueinem Auto Deckung, das vorher von der Terrorgruppe mit rück. Deprose Muchena, Amnesty-Regionaldirektor für Ost- und Sprengstoff beladen worden war und kurz darauf detonierte. Südafrika, forderte die puntländische Regierung auf, die VerletMohamud suchte die zerfetzen Überreste von Noors Körper zungen der Pressefreiheit einzustellen und die Menschenrechte zusammen und stand kurz darauf an seinem Grab. zu respektieren.
Kollegen zu Grabe tragen
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WAS AMNESTY FORDERT Amnesty International fordert von der somalischen Regierung sicherzustellen, dass alle Regierungsinstitutionen, einschließlich der Sicherheitskräfte, das Recht auf freie Meinungsäußerung eines jeden und die Medienfreiheit respektieren, schützen und fördern. Die somalischen Behörden sollen Rechtsverstöße und Missbrauch, einschließlich körperlicher Angriffe, Tötungen und Mordversuche, willkürliche Inhaftierungen und Einschüchterungen von Journalist_innen sowie Anschuldigungen von Online-Belästigung und Manipulation der sozialen Medien gründlich, unparteiisch und wirksam untersuchen. Sie haben die Sicherheit aller Journalist_innen und anderen Medienschaffenden zu garantieren.
AMNESTY JOURNAL | 03/2021
Foto: Feisal Omar / Reuters
Auch Abukar Sheikh Mohamud spürt, dass der Druck auf ihn und seine Kolleg_innen in diesen Wochen wieder steigt. Der Direktor des somalischen Radio- und Fernsehsenders Shabelle berichtet ebenso nüchtern von Bedrohung, Verfolgung und Todesgefahr wie Abdalle Mumin. Der Ernst und die Melancholie, die den großen, drahtigen Mann umgeben, scheinen nicht zum Alter des 31-Jährigen zu passen. Sieben Kolleginnen und Kollegen hat er verloren und beerdigen müssen, seit er 2010 bei Shabelle zu arbeiten begann. Noch einmal so viele Journalist_innen des Senders wurden vor seiner Zeit dort ermordet. Mohamud hält Mitglieder der Shabaab-Miliz für die Täter, und in vielen Fällen reklamiert die Terrorgruppe Morde an Journalist_innen tatsächlich für sich. In einem Fall aber habe sie die Täterschaft von sich gewiesen. Wer den Mord tatsächlich verübt hatte, wurde nie geklärt. »In keinem der 14 Mordfälle wurde ermittelt, niemand wurde vor Gericht gestellt.«
Nicht nur in diesen besonders schweren Stunden fragt sich Mohamud gelegentlich, warum er nicht aufgibt und flieht. Aber er liebt seine Frau und seine drei Kinder, die in Mogadischu leben. Er fühlt sich für seine Mutter verantwortlich, die ebenfalls in der somalischen Hauptstadt lebt und wegen ihres hohen Alters seine Unterstützung braucht. »Fliehen könnte ich nur allein«, sagt Mohamud. »Aber zurücklassen will ich sie nicht. Außerdem brauchen sie mich.«
Mohamud glaubt an seinen Beruf, an die verändernde Kraft des Journalismus.
Dramatische Lage Und dann ist da noch etwas anderes. Mohamud glaubt an seinen Beruf, an die verändernde Kraft des Journalismus. »Als ich vor etwa zehn Jahren Journalist wurde, waren die Kämpfe in Mogadischu so heftig, dass man nicht von einem Teil der Stadt in den anderen fahren konnte.« Damals herrschten noch nicht die Islamisten, sondern Warlords über das Land. Es gab nur Radiosender, die deren Propaganda verbreiteten, aber niemanden, der die Lügen der Kriegspropaganda als solche enthüllte, der stattdessen Tatsachen verbreitete und von Frieden sprach. Der unabhängige Radio- und Fernsehsender Shabelle wurde 2002 gegründet, um diese Lücke zu schließen. Das Shabelle Media Network ist seit Jahren für seine kritische Haltung gegenüber der somalischen Regierung und den Islamisten bekannt. Die Organisation Reporter ohne Grenzen verlieh ihm im Dezember 2010 den Preis für Pressefreiheit. Obwohl Außenstehenden die Lage in Somalia noch dramatisch erscheint, sieht Mohamud vor allem den Fortschritt. Im-
mer mehr Somalier_innen haben eine Vorstellung von ihren Rechten, statt der unbegrenzten Herrschaft der Warlords gibt es zumindest Ansätze von Staatlichkeit. Mohamud ist davon überzeugt, dass die Medien beim Wiederaufbau des Staates eine wichtige Rolle gespielt haben und spielen. Er glaubt, dass unabhängige Sender unerlässlich sind, um auch der verarmten Bevölkerung eine Stimme zu geben. Um an deren Stelle von der Regierung Rechenschaft zu fordern. »Ich bin stolz, dass ich diesen Menschen dienen kann«, sagt Mohamud. Der Journalist kennt den möglichen Preis für das, was er tut. »Ich habe viele Freunde verloren und mich entschlossen, ihre Arbeit fortzuführen«, sagt er trotzdem. Mohamud teilt den Traum seiner ermordeten Kolleginnen und Kollegen: »Ein friedliches Somalia, in dem Gerechtigkeit herrscht.« Dafür riskiert er auch weiterhin sein Leben.
Jeder Einsatz birgt Gefahren. Journalist_innen in Mogadischu im Jahr 2019.
SOMALIA
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Nirgendwo auf der Welt straffrei Viele kennen die behördliche Weiterleitung eines Anliegens mit den Worten: »Tut uns leid, wir sind hier nicht zuständig«. Welches Gericht in Deutschland in einem Strafverfahren zuständig ist, richtet sich normalerweise nach dem Tatort, dem Wohnsitz oder dem Aufenthaltsort des Täters bzw. nach dem Ort der Verhaftung oder Festnahme. Nur in Ausnahmefällen kann davon abgewichen werden, indem der Gerichtsstand anders bestimmt wird. Allgemein gilt: Wenn keiner dieser Orte in Deutschland liegt, ist Deutschland auch nicht zuständig, sondern eben ein anderes, ausländisches Gericht. In Deutschland stehen derzeit Angeklagte wegen schwerster Menschenrechtsverbrechen vor Gericht. Begangen wurden die Verbrechen nicht hierzulande, und weder die Angeklagten noch die Opfer besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. Verhandelt wird aber in Frankfurt am Main und Koblenz. In Koblenz geht es um Staatsfolter in Syrien durch ehemalige syrische Geheimdienstmitarbeiter (Amnesty Journal 04/20). Im Verfahren in Frankfurt ist der Angeklagte ein irakischer Staatsbürger, und die vermeintliche Tat wurde im Nordirak begangen. Der Angeklagte befand sich zunächst im Irak, später in Griechenland. Die Opfer, eine jesidische Frau und ihre fünfjährige Tochter, die verkauft und versklavt worden sein sollen, sind ebenfalls irakische Staatsangehörige. Die Fünfjährige wurde im Irak getötet. Warum stehen diese Angeklagten nun in Deutschland vor Gericht? Wegen des Weltrechtsprinzips.
Was ist das Weltrechtsprinzip? Die Grundidee des Weltrechtsprinzips ist, dass Verbrechen begangen wurden, die so gravierend sind, dass universelle Werte
Die Verfahren sind teuer, aufwändig und finden deshalb meist in reichen Ländern statt. 50
verletzt werden und die Welt als Gemeinschaft betroffen ist. Jedes Land darf dann tätig werden und im Namen der Weltgemeinschaft gegen die drohende Straflosigkeit solcher Verbrechen kämpfen. Das Weltrechtsprinzip galt zunächst im Bereich der Piraterie und wurde dann ausgeweitet auf Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Begeht jemand ein solches Verbrechen, darf jedes Land auch ohne besondere Verbindung zum Fall die Straftat verfolgen.
In welchen Fällen wird es in Deutschland angewandt? In Deutschland gilt das Weltrechtsprinzip vor allem für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, die im Ausland begangen wurden und keinen Bezug zu Deutschland haben. So steht es im Völkerstrafgesetzbuch. Da daraus theoretisch Hunderte von Verfahren resultieren könnten, die die zuständigen Behörden überlasten würden, wird in der Praxis oft ein Bezug zu Deutschland verlangt. Meistens ist dies der Fall, wenn sich mutmaßliche Täter_innen in Deutschland aufhalten.
Was ist so besonders am Weltrechtsprinzip? Das Weltrechtsprinzip soll erreichen, dass mutmaßliche Täter_innen schwerster Menschenrechtsverletzungen keinen sicheren Unterschlupf außerhalb ihrer Heimatländer finden und überall auf der Welt für diese Verbrechen belangt werden können. Das heißt, Länder wie Deutschland sind kein »sicherer Hafen« für mutmaßliche Verbrecher_innen, weil sie hier für im Ausland begangene Taten zur Rechenschaft gezogen werden können. Da internationale Gerichte, die für solche Verbrechen zuständig sind, aus Kapazitätsgründen nicht alle mutmaßlichen Täter_innen vor Gericht stellen können, helfen andere Länder mit der Anwendung des Weltrechtsprinzips aus. Somit ist dieses Prinzip – zumindest in der Theorie – ein wichtiger Baustein zur Beendigung der Straflosigkeit für schwerste Menschenrechtsverletzungen weltweit sowie für die Schaffung von Gerechtigkeit für die Opfer dieser Verbrechen.
Wo wurde das Weltrechtsprinzip zum ersten Mal angewandt? 1994 hat Deutschland zum ersten Mal auf dieser Grundlage eine Anklage erhoben. Die Behörden verhafteten den Serben Duško Tadić in München wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im ehemaligen Jugoslawien. Das Verfahren wurde aber an den Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag abgegeben, der Tadić zu 20 Jahren Haft verurteilte.
AMNESTY JOURNAL | 03/2021
Foto: Farid Abdulwahed / AP / pa
Deutschland schreibt derzeit mit seiner Strafverfolgung nach dem Weltrechtsprinzip Justizgeschichte. Um was genau geht es dabei? Von Jamil Balga-Koch und Teresa Quadt
Feierliche Beisetzung. Einst vom Islamischen Staat (IS) ermordete und anonym bestattete Jesid_innen finden in Kodscho, Irak, ihre letzte Ruhe.
Wo wird es sonst noch angewandt? 2019 wurde auf Grundlage des Weltrechtsprinzips gegen mindestens 207 Verdächtige ermittelt. In 16 verschiedenen Ländern, darunter Argentinien, Spanien, Ungarn, Ghana und den Niederlanden. Mit Abstand die meisten Verfahren liefen 2019 in Frankreich, dort waren es 15, gefolgt von der Schweiz und Deutschland mit je sechs Verfahren. Ein positives Zeichen gegen die Straflosigkeit ist, dass die Zahlen jährlich ansteigen. Grundsätzlich kann jedes Land das Weltrechtsprinzip anwenden.
Wann fiel das erste Urteil in Deutschland auf Grundlage des Weltrechtsprinzips? Das erste Urteil erging am 18. Februar 2014 am Oberlandesgericht Frankfurt gegen einen ehemaligen Bürgermeister aus Ruanda. Er wurde zu 14 Jahren Haft verurteilt wegen Beihilfe zum Völkermord im Jahr 1994. Dieses Urteil wurde wenig später vom Bundesgerichtshof gekippt. Er war der Ansicht, der Angeklagte hätte nicht nur als Helfer, sondern als Verantwortlicher für die Verbrechen verurteilt werden können. Der Fall wurde daraufhin erneut verhandelt und endete am 29. Dezember 2015 mit einem Schuldspruch und einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Völkermords.
Gibt es Kritik am Weltrechtsprinzip? Ja. Die Anwendung kann zu Konflikten zwischen Ländern führen, etwa wenn ein Land ein Verfahren gegen Regierungsvertre-
WELTRECHTSPRINZIP
ter_innen eines anderen Landes eröffnet. Dies führte zum Beispiel im Jahr 2000 zu einem Rechtsstreit zwischen Belgien und der Demokratischen Republik Kongo. Das Weltrechtsprinzip kann zwar weltweit angewendet werden, in der Praxis berufen sich aber vor allem Gerichte in EU-Staaten sowie in der Schweiz und Großbritannien darauf. Die Verfahren sind teuer, aufwändig und finden deshalb meist in reichen Ländern statt. Als Herausforderung gilt auch die Aufgabe, Opfer und Zeug_innen vor und nach ihren Aussagen in ihren Heimatländern zu schützen.
Warum schreibt gerade Deutschland Justizgeschichte? Für die Gewalttaten in Syrien gibt es keine umfassende Strafverfolgung. Auf globaler Ebene blockieren Länder wie Russland und China mögliche Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs. Deutschland spielt deshalb eine wesentliche Rolle bei der Bekämpfung von Straflosigkeit und sendet ein wichtiges Zeichen in die Welt: Straftäter_innen sind in Deutschland nicht sicher vor Verfolgung. Noch spektakulärer ist der Fall in Frankfurt am Main, denn ganz ohne Bezug zu Deutschland ist sein Signal: Wenn solch ein Fall vor deutschen Gerichten verhandelt wird, droht Schwerverbrecher_innen nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt die Strafverfolgung. Jamil Balga-Koch und Teresa Quadt sind in der Amnesty-Themenkoordinationsgruppe Völkerstrafrecht (https://amnestyvoelkerstrafrecht.de) aktiv.
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WAS TUN
Denker fragen: Philipp Schink keiten gebunden? Ich würde das nicht so sehen. Wenn man sich die Geschichte der sozialen und politischen Kämpfe philosophisch ansieht, liegt ein anderer Schluss nahe: Freiheit bedeutet, in einem bestimmten Verhältnis zueinander zu stehen – und zwar in einem Verhältnis, in dem man nicht der Macht anderer unterworfen ist. Was heißt das in Bezug auf die Pandemie? Interessant ist, wie sich Herrschafts- und Machtverhältnisse verschieben. Wir sehen das im Bereich der Geschlechterverhältnisse: Frauen werden in Hausarbeit und Sorgetätigkeiten gedrängt. Zudem verstärken sich soziale Ungleichheiten deutlich. Die Perspektive von all denen, die auf die unmittelbaren Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung starren – und das sind ja auch weitaus umsichtigere Menschen als nur diese Querdenker_innen –, scheint mir an solchen Fragen systematisch vorbeizuzielen. Interview: Lea De Gregorio Der Philosoph Philipp Schink ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der DFG-Forschungsgruppe »Freiwilligkeit«. Er ist Herausgeber des Buches »Freiheit – Zeitgenössische Texte zu einer philosophischen Kontroverse« (Suhrkamp) und Verfasser des Buches »Grundrisse der Freiheit« (Campus Verlag).
Foto: privat
Sowohl Querdenker_innen als auch politische Aktivist_innen in Belarus sprechen von der Einschränkung von Freiheit. Was geht Ihnen da durch den Kopf? Die politischen Aktivist_innen in Belarus haben negative Folgen zu tragen: willkürliche Verhaftung, lange Haftstrafen. Es wird mit einer unglaublichen Brutalität gegen sie vorgegangen. Da stellt sich natürlich ein ganz anderes Problem als bei Querdenker_innen, die in Deutschland demonstrieren. Bezogen auf Deutschland und den Umgang mit der Pandemie ist die Frage, ob und wenn ja in welchem Maße staatliche Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemieausbreitung als freiheitseinschränkend betrachtet werden können. Wie steht es denn um den Freiheitsbegriff bei den Querdenker_innen? Bei den Querdenker_innen haben wir es mit einer rechtsoffenen oder rechtsaffinen Bewegung zu tun. Da wird auf der Straße ein Bündnis mit neofaschistischen Rechtsradikalen gesucht. Dass die nicht für eine Gesellschaftsvorstellung stehen, die wir auch nur in irgendeiner Weise als freiheitlich bezeichnen können, dürfte klar sein. Natürlich stellen aber die staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten dar. Die entscheidende Frage wäre doch, ob dieser Sachverhalt tatsächlich gleichbedeutend ist mit der Einschränkung von Freiheiten. Ist Freiheit notwendig an Wahl- und Handlungsmöglich-
Das steckt drin: Akkus Akkus sind für die Elektromobilität und damit für den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen dringend nötig, doch gleichzeitig bringt diese Technologie neue Risiken für die Menschenrechte und die Umwelt mit sich.
Amnesty International hat in der Vergangenheit aufgedeckt, dass beim Kleinbergbau in der Demokratischen Republik Kongo auch mit Kinderarbeit gefördertes Kobalterz möglicherweise in die Lieferketten einiger wichtiger Elektronik- und Elektrofahrzeughersteller gelangt. In Südamerika wiederum gefährdet der Abbau von Lithium die Wasserversorgung und die sensiblen Ökosysteme einiger indigener Gemeinschaften.
rungen müssen Unternehmen und Regie Elektroautos in die s dafür sorgen, das schen Geräten oni ktr ele en ich und zahlre en-Akkus sowohl verbauten Lithium-Ion m als auch ummenschenrechtskonfor werden. Amneslt tel ges weltgerecht her sätze für die ty hat dazu neue Grund BatteriebranWertschöpfungskette der henrechtsnsc Me che erarbeitet. Viele haben sich n one ati nis und Umweltorga ndsätze gestellt. bereits hinter diese Gru
Amnesty fordert: eine Batterieproduktion unter Einsatz maximaler Ressourcene ffizienz, den anzustrebenden Einsatz von 100 Prozent wiederverwendeten Ma terialien, das Aussetzen des Tiefseebe rgbaus, die Zusammenarbeit mit Um weltschützer_innen und indigenen Ge meinschaften bei geplanten Projekten sow ie die Anwendung der Amnesty-Gru ndsätze als Nachhaltigkeitskriterien am Finanzmarkt.
Foto: Intellson / shutterstock.com
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Malen nach Zahlen: Trinkwasser Der Anteil der Bevölkerung, der eine sichere Trinkwasserversorgung hat, lag im Jahr 2017 bei weltweit 71 Prozent. Der Zugang zu sauberem Trinwasser ist jedoch sehr ungleich verteilt. 100
Europa und Nordamerika
80
60
Lateinamerika und Karibik
40
Zentral- und Südasien
20
Subsahara-Afrika
Anteil der Bevölkerung in Prozent Quellen: WHO, UNICEF, www.sdg6data.org
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Menschenrecht missachtet: Meinungsfreiheit in Bangladesch Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garantiert: »Jeder Mensch hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.« Dieses Menschenrecht wird in Bangladesch verletzt, wie ein aktueller Fall zeigt. Der Karikaturist Ahmed Kabir Kishore und der Schriftsteller Mushtaq Ahmed hatten im vergangenen Jahr satirische Karikaturen und kritische Kommentare zum Umgang der Regierung mit der Corona-Pandemie in Online-Medien veröffentlicht. Daraufhin wurden sie im Mai 2020 inhaftiert. Mush-
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WAS TUN
taq Ahmed starb am 25. Februar 2021 im Gefängnis. Ahmed Kabir Kishore, der Anfang März für sechs Monate gegen Kaution freigelassen wurde, erlitt in der Haft Verletzungen, die seinen Angaben zufolge durch Folter verursacht wurden. In internationalen Übereinkommen, einschließlich des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, zu dessen Vertragsstaaten Bangladesch gehört, wird der freien Meinungsäußerung ein besonders hoher Wert beigemessen. Niemand sollte sterben müssen, nur weil er sein Recht auf Meinungsfreiheit wahrgenommen hat. Amnesty hat eine Urgent Action zu dem Fall gestartet: amnesty.de/mitmachen
ARBEITNEHMER_INNENRECHTE SIND MENSCHENRECHTE! Wer sich für faire Löhne und Arbeitsbedingungen einsetzt, lebt in vielen Ländern gefährlich. Dabei garantieren internationale Menschenrechtsabkommen das Recht, sich gewerkschaftlich zu engagieren. Werde aktiv für Arbeitsrechtler_innen wie Mehran Raoof aus dem Iran, Jorge Pérez Ortega aus Mexiko und Li Qiaochu aus China, die wegen ihres Einsatzes inhaftiert wurden.
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Kontrolle wird ausgeweitet Im Herbst wird gewählt, und das politische Russland wird nervös. Das bekommen auch Gefangene wie Alexej Nawalny und Nikolaj Platoschkin zu spüren. Von Peter Franck Vor der Parlamentswahl im September schränken Behörden und Gesetzgeber die Handlungsfähigkeit der Opposition und der unabhängigen Zivilgesellschaft drastisch ein. Die Umfragewerte für die Kreml-Partei Einiges Russland sinken kontinuierlich und die Nervosität der Machthabenden steigt: Ende Februar sollen nach Angaben des unabhängigen Umfrageinstituts Levada noch 27 Prozent der Wählerinnen und Wähler bereit gewesen sein, für Einiges Russland zu stimmen. Das lässt befürchten, dass zur Absicherung einer verlässlichen Machtbasis der Regierung im Parlament Wahlmanipulationen erforderlich werden könnten, was nach den Parlamentswahlen 2011 zu Massenprotesten geführt hatte. Den Preis für diese Nervosität zahlt derzeit vor allem Alexej Nawalny. Gerade einem Giftanschlag entkommen, setzte er sich mit seiner Rückkehr nach Russland dem Zugriff des Staates aus, der nach einer ganzen Reihe von Indizien für diesen Anschlag verantwortlich sein könnte. Und die Staatsorgane griffen zu. Sie nahmen den freiwillig zurückgekehrten Nawalny wegen angeblicher Fluchtgefahr sofort in Haft. Mit der fadenscheinigen Begründung der Missachtung von Weisungen, die ihm im Rahmen einer Bewährung auferlegt worden waren, wird die nach einem früheren Verfahren wegen Betrugs verhängte Haftstrafe nun vollstreckt. Es ist klar: Nawalny soll vor der Wahl aus dem Verkehr gezogen werden. Sein bei den Regionalwahlen im vergangenen Jahr wirksam erprobtes System, bei dem der jeweils aussichtsreichste Oppositionskandidat unabhängig von seiner Partei unterstützt wird, soll ebenso ausgeschaltet werden. Weitere Veröffentlichungen, die den Machtmissbrauch einer korrupten Elite the-
AMNESTY INTERNATIONAL UND ALEXEJ NAWALNY Ende Februar stieß die Entscheidung des Internationalen Sekretariats von Amnesty International, Alexej Nawalny nicht mehr als »gewaltlosen politischen Gefangenen« zu bezeichnen, auf viel Kritik. Auch die deutsche Sektion wurde überrascht und bringt sich seitdem in den auf internationaler Ebene laufenden Diskussionsprozess ein. Die Kontroverse darf nicht davon ablenken, dass sich an der Beurteilung des Falles nichts geändert hat; Nawalny befindet sich aus politischen Gründen in Haft und ist sofort und bedingungslos freizulassen. Aktuelle Entwicklungen wurden auf diesen Seiten bis zum 21. April berücksichtigt.
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matisieren, sollen verhindert werden. Amnesty International ist überzeugt: Er wird allein aus politischen Gründen verfolgt und ist sofort und bedingungslos freizulassen. Auch viele seiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter werden verfolgt. Sie wurden festgenommen, befinden sich in Hausarrest und sehen sich neuerdings mit dem strafrechtlichen Vorwurf der »Anstiftung zu massenhaften Verstößen gegen die Coronavirus-Beschränkungen« konfrontiert. Dafür drohen ihnen bis zu zwei Jahre Haft. Weniger bekannt als Nawalny ist Nikolaj Platoschkin. Der dem linken Spektrum zuzuordnende Oppositionspolitiker und Vorsitzende der Bewegung für einen neuen Sozialismus hatte 2009 bei Nachwahlen zur Duma im fernöstlichen Chabarowsk den zweiten Platz belegt und dabei die Kreml-Partei geschlagen. Anfang Juni 2020 wurde der frühere Diplomat verhaftet und befindet sich seitdem in Hausarrest. Im November 2020 wurde wegen seiner Kritik an unzureichenden Corona-Schutzmaßnahmen Anklage gegen ihn erhoben. Zur Last gelegt werden ihm die Anstiftung zu Massenunruhen und die Verbreitung von falschen Informationen. Ihm droht eine mehrjährige Haftstrafe. Nach schweren Erkrankungen ist er darauf angewiesen, seine Wohnung zu verlassen und sich an der frischen Luft zu bewegen. Auch in seinem Fall ist Amnesty International davon überzeugt, dass er allein wegen seiner politischen Überzeugungen verfolgt wird und fordert die sofortige und bedingungslose Aufhebung des Hausarrests. Neben den Behörden wurde kurz vor der Jahreswende auch der russische Gesetzgeber aktiv. Das Parlament verabschiedete ein ganzes Paket von inzwischen zum großen Teil schon in Kraft getretenen Gesetzen, die darauf abzielen, oppositionelles wie unabhängiges zivilgesellschaftliches Engagement weiter zu beschränken. Jede und jeder kann von Ausweitungen der Vorschriften über »ausländische Agenten« oder erweiterten Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten im Hinblick auf die Arbeit von NGOs betroffen sein. Peter Franck ist Russland-Experte von Amnesty International in Deutschland.
Freiheit für Alexej Nawalny. Wand
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Alexej Nawalny muss sofort freigelassen werden! Amnesty International ist äußerst besorgt um Gesundheit und Leben des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny. Die Entscheidung von Amnesty, Nawalny nicht mehr als »gewaltlosen Gewissensgefangenen« zu bezeichnen, hat allerdings für Irritationen gesorgt. Eine Erklärung des Generalsekretärs von Amnesty International Deutschland, Markus N. Beeko
Foto: Eidon / Camera Press / laif
21. April: Zum Redaktionsschluss dieses Textes ist Alexej Nawalny seit seiner Rückkehr nach Russland gut drei Monate in Haft. Er wird in der berüchtigten Strafkolonie IK-2 festgehalten. Sein Gesundheitszustand hat sich verschlechtert. Er ist in einen Hungerstreik getreten, medizinische Versorgung durch Ärzte seines Vertrauens wird ihm verwehrt. Amnesty-Generalsekretärin Agnès Callamard hat in einem Schreiben an den russischen Präsidenten Putin die sofortige Freilassung Nawalnys gefordert sowie die medizinische Versorgung durch qualifiziertes Personal seiner Wahl. Sie hat die russische Regierung auch daran erinnert, dass diese in der Verantwortung für Nawalnys Wohlergehen ist und dass sie, sollte Nawalny Schaden nehmen, dafür strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden wird.
Eine Amnesty-Eilaktion, an der sich Menschen weltweit beteiligen können, läuft. Wir sind mit Regierungen im Austausch, um auf Russland einzuwirken, Alexej Nawalny freizulassen. Vielerorts sind Amnesty-Mitglieder mit Aktionen und Mahnwachen aktiv. Bis zu Alexej Nawalnys Freilassung fordert Amnesty International, dass er von qualifizierten unabhängigen Fachärzten seiner Wahl untersucht wird und die von ihnen verordnete Behandlung erhält, selbst wenn diese nur in einer zivilen medizinischen Einrichtung möglich ist, sowie eine unabhängige Untersuchung seiner Haftbedingungen. Zahlreiche Zuschriften haben uns erreicht, nachdem Amnesty entschied, Nawalny nicht mehr als »gewaltlosen Gewissensgefangenen« (Prisoner of Conscience) zu bezeichnen. Das Vorgehen, die Hintergründe und der Zeitpunkt waren für viele Menschen unverständlich und nicht nachvollziehbar. Ich teile das geäußerte Unverständnis, die Sorge um Alexej Nawalnys Sicherheit und die berechtigten Fragen zum Vorgehen von Amnesty International. Auch ich und viele meiner internationalen Amnesty-Kolleg_innen wurden überrascht. Wir nehmen die Kritik und Nachfragen ernst, denn sie betreffen einen zentralen Bereich unserer nunmehr 60-jährigen Geschichte – den Einsatz für Menschen in akuter Gefahr. Alexej Nawalny gehört zu diesen bedrohten Menschen. Ich möchte Ihnen deshalb versichern: Amnesty International setzt sich mit allem Nachdruck für die sofortige Freilassung von Alexej Nawalny ein. An der Beurteilung der Verfolgungssituation von Alexej Nawalny hat sich nichts geändert: Er ist ein politischer Gefangener, seine Verhaftung und Inhaftierung sind willkürlich und politisch motiviert. Daran ändert die Tatsache nichts, dass Amnesty ihn aktuell nicht als »gewaltlosen Gewissensgefangenen« bezeichnet. Sie ist aber von unseren Unterstützer_innen, Partner_innen und der Öffentlichkeit teilweise als Distanzierung von der Person Nawalnys wahrgenommen worden. Ich bedauere zutiefst, wenn durch Amnestys Vorgehen dieser Eindruck entstanden ist, der von interessierten Kreisen gefördert und genutzt worden ist. Amnesty International ist in der Verantwortung, hieraus Konsequenzen zu ziehen und das Vertrauen in unseren unabhängigen Einsatz für alle von Willkür und Machtmissbrauch bedrohten Menschen wieder herzustellen. Wir nehmen im Internationalen Sekretariat die Vorgänge zum Anlass, die angewandten Statuten und Richtlinien zu überprüfen und sind als weltweite Bewegung in unseren Gremien hierzu im Austausch. An erster Stelle steht jetzt der Einsatz für Alexej Nawalny. Er braucht Unterstützung, unser aller Unterstützung. Setzen Sie sich für Alexej Nawalny ein: https://www.amnesty.de/mitmachen/urgentaction/russische-foederation-alexej-nawalny-lebensgefahr-2021-04-08
gemälde des Straßenkünstlers Harry Greb in Rom, Januar 2021.
ALEXEJ NAWALNY
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Abgeschoben und ausgeliefert
Für einige eine unfreiwillige Station. Kabul im März 2021.
Trotz Pandemie und Bürgerkrieg werden weiterhin Menschen aus Europa nach Afghanistan zurückgeführt. Vor Ort gibt es viele Hilfsprogramme, aber kaum Perspektiven. Es drohen Verelendung und sogar der Tod. Aus Kabul von Tamana Ayazi und Thore Schröder (Text) sowie Johanna-Maria Fritz (Fotos) »Früher«, sagt Ahmad Wali Naderi, »haben sie mich ›Tufan‹ gerufen, das heißt in unserer Sprache ›Wirbelwind‹.« Aber diese Zeiten seien lange vorbei. »Das war vor Deutschland«, sagt er mit leiser Stimme, »Deutschland hat mich ruiniert.« Naderi trägt eine schwarze Lederjacke mit Nieten, sein lockiges Haar fällt ihm ins Gesicht. Er ist erst 21 Jahre alt, doch stürmisch wirkt er nicht mehr, sondern vom Leben gezeichnet. Sein Blick irrt nervös durch den Raum, ständig entschuldigt er sich. Seit dem 9. Oktober 2018 wohnt Naderi wieder bei seiner Familie, die in der Zwischenzeit von ihrem Dorf in der Provinz Pandschschir nach Kabul gezogen ist. An jenem 9. Oktober wurde er früh morgens in seinem Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft im bayerischen Marktoberdorf von sieben Beamt_innen der Polizei geweckt. »Ich durfte nicht mal mein Telefon mitnehmen«, erinnert er sich. Dann ging es zum Flugzeug. Ahmad Naderi wurde abgeschoben aus Deutschland, obwohl er kaum volljährig und nie kriminell war.
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»Ich bin froh, dass ich nicht geisteskrank geworden bin. Vielen anderen geht es nicht so gut wie mir«, sagt er und gießt grünen Tee nach. Das Wohnzimmer seines Zuhauses ist mit geblümten Kissen und geblümter Tapete eingerichtet. Gemeinsam mit seinen Eltern und seinen drei Brüdern wohnt Naderi in einem einstöckigen Haus im Viertel Aria-City, ganz in der Nähe der Puder-Straße, die selbst im unsicheren Kabul berüchtigt ist für finstere Gestalten aus dem Drogenhandel.
Terror in Kabul Seit Dezember vergangenen Jahres schieben einige Bundesländer wieder nach Afghanistan ab, obwohl es laut Global Peace Index das gefährlichste Land der Welt ist. Das Auswärtige Amt hat eine Reisewarnung ausgesprochen und deutsche Staatsangehörige aufgefordert, Afghanistan zu verlassen. Nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie hatte Deutschland die Rückführungen nach Kabul zunächst ausgesetzt. Mehrere Verwaltungsgerichte stellten fest, dass dort Verelendung droht, und die Weltbank konstatierte, dass die Armutsquote infolge der Pandemie auf über 70 Prozent gestiegen ist. Zudem besteht die Gefahr, dass der Bürgerkrieg im Land weiter eskaliert. Die Taliban sagten im April ihre Teilnahme an einer geplanten Friedenskonferenz erstmal ab und zeigen sich – nicht erst seit der Ankündigung der USA und ihrer Verbündeten,
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ihre Truppen bis Mitte September abzuziehen – extrem selbstbewusst. Auch die Friedensgespräche mit der afghanischen Regierung sind festgefahren. Die Taliban und der Islamische Staat (IS) machen Jagd auf Politiker_innen, Sicherheitskräfte, Aktivist_innen und Journalist_innen. Nicht nur in Kabul explodieren täglich Haftminen unter Autos, werden Busse in die Luft gesprengt und Menschen erschossen. Allein im März fielen 305 Menschen dem Terror zum Opfer, 350 wurden verletzt, die Angriffe nahmen im Vergleich zum Februar um 20 Prozent zu. »Ich muss jeden Tag zweimal die Stadt durchqueren«, sagt Ahmad Wali Naderi, er könne sich ja nicht ständig zu Hause verstecken. Als 15-Jähriger war er aus seinem Dorf nach Deutschland aufgebrochen. »Ich war gut in der Schule, ich wollte nicht weg«, sagt er. Doch sein Vater, der beim Geheimdienst arbeitet, hatte Todesdrohungen erhalten, die sich gegen die ganze Familie richteten. Anfang 2016 kam der unbegleitete Minderjährige in Bayern an. Er lernte Deutsch und bekam einen Ausbildungsplatz in einem Sportgeschäft im ostallgäuischen Seeg angeboten. Doch die Mühe war vergeblich, nach seinem 18. Geburtstag wurde sein Asylantrag endgültig abgelehnt. »Die Gründe kenne ich bis heute nicht«, sagt er. Die Zeit in Deutschland habe ihm nicht genutzt, sondern geschadet: »Alle hatten auf mich gesetzt, doch dann kam ich mit leeren Händen zurück.« Der Druck der Familie und das Gerede der Nachbarn waren zu viel, Naderi bekam Ausschlag am ganzen Körper. »Und ich habe kaum mehr geschlafen.« Anfang 2020 nahm er an einem Fortbildungskurs zum Marketingfachmann teil, der von der deutschen Welthungerhilfe finanziert wurde, um endlich einen Job in Kabul zu finden. Doch auch dieser Versuch war erfolglos. »Deshalb bin ich vor fünf Monaten wieder los, dieses Mal wollte ich nach Großbritannien«, erzählt Ahmad Wali Naderi. Er kam nur bis zur iranisch-türkischen Grenze, wurde dort aufgegriffen und zurückgeschickt.
»Einfach rausgestrichen« Nun fährt der junge Mann wieder jeden Tag mit dem Sammeltaxi durch die Stadt, um sich weiter ausbilden lassen, um irgendwann vielleicht doch noch einen Job zu finden und eine bescheidene Existenz aufzubauen. »Diese jungen Männer müssen irgendetwas machen, um nicht die Hoffnung zu verlieren«, sagt Sharif Hasanzadar. Er ist Gründer und Direktor der Better Makers Social Organisation (BMSO), einer NGO, bei der Naderi nun lernt, wie man Mobiltelefone repariert. Der Kurs dauert fünfeinhalb Monate, drei Stunden täglich. Über Hasanzadars Schreibtisch im ersten Stock eines Gebäudes nahe der Kabuler Universität klebt ein Poster: »I like nonsense. It wakes up my mind« (»Ich mag Unsinn. Er weckt meinen Geist«). Die Arbeit von BMSO begann 2014 in Mazar-iSharif im Norden des Landes. »Angefangen haben wir mit Straßenkindern«, sagt Hasanzadar, »vor
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Alltag in Kabul. Ahmad Wali Naderi zu Hause (oben) und im Reparaturkurs (Mitte, unten).
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zwei Jahren ging es mit Rückkehrern los.« Seit 2015 kommt das Geld für die Arbeit der BMSO von der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Die Abgeschobenen kämen »frustriert zurück«, sagt der Direktor: »Viele sind deprimiert oder nehmen Drogen. Der Kulturschock ist gewaltig.« Als der Workshop im Erdgeschoss unterbrochen wird, kommt in der Runde kurz Stimmung auf. Die jungen Männer legen Lötkolben und Platinen zur Seite, um zu überlegen, welches Schicksal aus ihrer Mitte besonders beklagenswert ist. Eher widerwillig wagt sich der 23-jährige Hamayoun Sawari nach vorne. Seine Familie gehört zur schiitischen Minderheit der Hazara, die in Afghanistan seit langem verfolgt wird. Das Haus der Sawaris in der Provinz Wardak wurde von Nomaden attackiert, die ihnen ihr Land abspenstig machten. In Afghanistan kann der Staat vielerorts nicht einmal die Lebensgrundlagen seiner Bürger_innen beschützen. Deswegen ging Sawari 2015 nach Europa. Er wollte nach Schweden, blieb aber in Deutschland hängen. Knapp 8.000 Dollar hatte die Familie für die Flucht des ältesten Sohnes aufbringen müssen. Ausgerechnet im sächsischen Teil des Vogtlands, das wegen vieler Neonazis berüchtigt ist, fasste er Fuß. »Wenn man Afghanistan überlebt hat, muss man sich vor denen nicht fürchten«, sagt Hamayoun Sawari. Tatsächlich fand der damals gerade Volljährige schnell Anschluss in Sachsen. »Mein Asylantrag wurde schon nach fünf Monaten abgelehnt, aber meine Freunde sagten, mir könne nichts passieren, wenn ich mich weiter an die Regeln halte.« Sawari hatte in einer Großbäckerei im Nachbarort einen Job gefunden. Von einem Kollegen kaufte er für 80 Euro ein rotes Fahrrad, weil der Bus am frühen Morgen so selten fuhr.
Die Personalleiterin der Bäckerei kann sich noch gut an den afghanischen Mitarbeiter erinnern: »Er war so herzlich, fleißig und wir hatten sogar darüber gesprochen, dass er eine Ausbildung bei uns machen kann.« Doch dann kamen im Spätsommer 2018 zwei Polizeibusse in den Betrieb, um ihn zu holen. Sawari bekam keine Gelegenheit, seine Sachen zu packen oder auch nur sein verdientes Geld vom Konto abzuheben. »Einfach nur rausgestrichen«, habe man ihn, sagt die Personalleiterin. »Aber sein Fahrrad wartet auf ihn, und die Tür steht bei uns immer offen.«
Schon zweimal überfallen In Afghanistan hatte niemand Verwendung für Hamayoun Sawari, auch wurde seine Familie weiter bedroht. Deshalb verließ er das Land bald erneut und floh in den Iran: »Dann kam Covid, und es hieß, wir Afghanen bekämen dort keine Behandlung. Also ging ich notgedrungen zurück.« In Kabul arbeitet er seit sieben Monaten als Lieferant für ein Schnellrestaurant. Seine Schicht dauert täglich von fünf Uhr nachmittags bis sechs Uhr früh. Nachts traut sich kaum jemand auf die Straßen. »Mir aber bleibt keine Wahl, tagsüber muss ich zum Kurs«, sagt Sawari, während er seine zitternden Hände an einem Heizstrahler wärmt. Der Lohn sei schlecht, erzählt er, maximal 170 Euro im Monat. Und das auch nur, wenn er nicht überfallen wird: »Zweimal schon haben sie mich gestoppt. Beim ersten Mal hielten sie mir eine Pistole an meinen Kopf, beim zweiten Mal ein Messer an meinen Bauch.« Das geraubte Geld, umgerechnet 56 Euro, zog ihm sein Chef vom Gehalt ab. Einmal entkam Sawari einem Bombenanschlag um wenige Sekunden. »Aufgeben kann ich den Job nicht«, sagt er, »wie sollte ich dann überleben?«
Unterwegs auf Kabuls unsicheren Straßen. Hamayoun Sawari liefert Essen aus, März 2021.
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Ohne klare Perspektive. Latif Mohammadi in Kabul, März 2021.
»Den Abgeschobenen wird gesagt, dass sie ihr Leben riskieren müssen«, stellt Shaharzad Akbar fest. Die Vorsitzende der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans wird schon lange mit dem Tode bedroht, sie ist rund um die Uhr von schwer bewaffneten Männern umgeben. Mit ihrem Mann und ihrem knapp zweijährigen Sohn lebt sie gezwungenermaßen wie eingesperrt. 20 Jahre nach dem Sturz der Taliban gleicht Kabul vielerorts mehr einer modernen Festung als einer Stadt. Botschaften, Ministerien, Stiftungsbüros und Hilfsorganisationen schützen sich mit hohen Betonmauern, Stacheldraht, Überwachungskameras, Checkpoints und Sicherheitsschleusen. Große Teile der Hauptstadt, allen voran die zentral gelegene Green-Zone, wirken wie herausgeschnitten. Der überwiegende Teil der 4,4 Millionen Einwohner_innen kann diesen Teil der Stadt nicht betreten. Trotz Pandemie wurden im vergangenen Jahr 137 Menschen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben. Als Integrationshilfe erhalten sie von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) am Flughafen 12.500 Afghani, rund 136 Euro. Bei Bedarf werden sie für mindestens eine Woche in einem Hotel im Zentrum untergebracht. Latif Mohammadi hat es nach seiner Abschiebung am 17. Dezember 2020 vorgezogen, zu entfernten Verwandten zu ziehen. Es war einfacher, sich dort an das Land zu gewöhnen, das er nur aus Erzählungen kannte. Noch im Säuglingsalter waren seine Eltern mit ihm nach Pakistan geflohen. Als nicht anerkannter Flüchtling durfte er im Nachbarland nie eine Schule besuchen. Als er elf war, nahm ihn sein Onkel mit in den Iran, dort blieb er zwei Jahre und kam dann nach mehrjähriger Flucht eher zufällig nach Deutschland. Im Saarland machte er seinen Hauptschulabschluss, absolvierte ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer psychiatrischen Klinik und begann anschließend eine Krankenpflegeausbildung. Das alles erzählt der 24-Jährige in fast akzent-, aber nicht dialektfreiem Deutsch. Ja, sagt Mohammadi, er könne »gut
AFGHANISTAN
schwätzen«. Über das Haus, in dem er lebt, fliegt ein Hubschrauber, die Zufahrtstraße ist nicht geteert, in der Mitte verläuft ein Graben, durch den Abwasser fließt. Der junge Mann mit den blauen Augen und der saarländischen Mundart erzählt, dass sein Vater in Pakistan an Krebs gestorben sei: »Und dann wurde mir alles zu viel.« Wegen eines Burnouts musste er seine Lehre abbrechen und fand keinen Halt mehr. »Was dann passiert ist, werde ich mein Leben lang bereuen«: eine Schlägerei mit einem anderen Afghanen, die mit einem Messerstich endete. Nach zweieinhalb Jahren Haft wurde Mohammadi schließlich abgeschoben. »Ich habe meine Strafe abgesessen. Ich bin doch viel mehr als nur diese Tat«, sagt er. Auf dem Abschiebeflug hatte er Angst »vor diesem Land, das ich nicht kannte«. Auch ein Vierteljahr später verlässt er das Haus seiner Verwandten nur selten. Das Begrüßungsgeld ist längst aufgebraucht, bei einer Hilfsorganisation für Rückkehrende habe er ergebnislos vorgesprochen. Für elf Stellen hat er sich schon vergeblich beworben, ohne Beziehungen oder Bestechung hat er keine Chance. »Wie es weitergehen soll, weiß ich nicht«, sagt Mohammadi, »vielleicht muss ich bald wieder gehen.« Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
20 Jahre nach dem Sturz der Taliban gleicht Kabul vielerorts mehr einer Festung als einer Stadt. 59
PORTRÄT
Foto: Bernd Hartung
Zu allem Unrecht Nein sagen Trude Simonsohn ist eine große Mahnerin: Mit zahlreichen Vorträgen setzte sie sich dafür ein, dass Auschwitz sich nicht wiederholt. Nun wurde sie 100. Von Lea De Gregorio Wenn die jüdische Holocaust-Überlebende Trude Simonsohn ihre Geschichte erzählte, riss sie andere mit. Und sie ermahnte. Immer wieder wies sie darauf hin, wie wichtig es sei, zu widersprechen. »Zu allem Unrecht sofort Nein sagen«, lautete ihre Devise. »Wenn du denkst: ›Jetzt hätte ich etwas tun müssen‹, ist schon etwas gewonnen. Vielleicht klappt es beim zweiten Mal. Die Leute, die Unrecht tun, wissen, dass sie Unrecht tun.« 1921 in der Ersten Tschechoslowakischen Republik geboren, wuchs Simonsohn in einem demokratischen Elternhaus auf. Früh lernte sie, sich zu wehren. »Ich habe immer für Gerechtigkeit gekämpft und für Menschenrechte«, sagte sie bei einem Treffen 2017 im Alten- und Pflegeheim der Henry und Emma Budge-Stiftung in Frankfurt am Main, wo sie auch heute lebt. In dem Jahr war ihr Kalender noch voll. An Schulen, an Universitäten und in anderen Institutionen sprach sie über die Verfolgung im Nationalsozialismus. Sie erinnerte sich, um andere zu alarmieren. Mit klaren Worten kämpfte sie gegen das Vergessen. »Es gibt immer noch Leute, die nicht wissen, was passiert ist«, sagt Simonsohn. »Das Verschweigen ist die Sünde.« Bei ihren Vorträgen sprach Simonsohn von Theresienstadt, wo sie Berthold Simonsohn, ihren späteren Mann, kennenlernte. Sie erzählte davon, wie sie anschließend nach Auschwitz kam und in zwei Außenlager des Konzentrationslagers Groß-Rosen. Sie sprach über Schrecken und Ohnmacht: »Wenn man große Schmerzen hat, kann ein Körper ohnmächtig werden, und ich glaube, dass auch eine Seele ohnmächtig werden kann.« Ihre Eltern wurden von Nationalsozialisten ermordet. Sie selbst hatte trotz allem Glück – immer wieder. Als tschechische Zwangsarbeiterin, als die sie sich ausgab, überlebte sie
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den Krieg. »Noch ein Glück« heißt deshalb ihre Biografie, die sie gemeinsam mit Elisabeth Abendroth verfasste. Nach dem Krieg engagierte sich Simonsohn in der jüdischen Flüchtlingshilfe in der Schweiz und zog schließlich nach Deutschland. Berthold Simonsohn und sie kannten viele Widerstandskämpfer_innen. »Die Leute sagen immer: ›Sie müssen die Deutschen doch hassen.‹ Dann sage ich, ›ich habe kein Talent zum Hassen‹«. Ihr Engagement wird in Frankfurt am Main sehr geschätzt. 2016 hat die Stadt ihr die Ehrenbürgerwürde verliehen – als erster Frau. 2010 bekam sie den Ignatz-Bubis-Preis für Verständigung. Inzwischen ist Simonsohns Kalender leerer – nicht nur wegen Corona. Anlässlich des 9. Novembers habe sie 2018 in der Westend-Synagoge in Frankfurt ihren letzten Vortrag gehalten, erzählt Elisabeth Abendroth am Telefon. Abendroth hat Simonsohn bei Vorträgen begleitet. »Sie ist gesundheitlich sehr angegriffen«, sagt sie. Interviews gibt Simonsohn nicht mehr. Für ihr Alter gehe es ihr jedoch noch gut, wie Abendroth beteuert. Am 25. März feierte Trude Simonsohn ihren 100. Geburtstag. Abendroth sagt: »Sie strahlt immer noch«, sei heiteren Gemüts. Wer Simonsohn kennt, weiß, dass sie Menschen nicht nur mit Worten mitreißt: Sie berührt auch mit ihrem Lächeln. Doch Simonsohn sei auch in Sorge. Abendroth erzählt, wie sie der steigende Antisemitismus in Deutschland bewegt. Und nicht nur der: »Auch der Hass auf Fremde«. Jetzt, wo Simonsohn nicht mehr öffentlich spricht, braucht es andere, die in diesen Zeiten mahnen. Und zum Glück gibt es ihr bewegendes Buch. Trude Simonsohn mit Elisabeth Abendroth: Noch ein Glück. Erinnerungen, 14,90 Euro, Wallstein-Verlag.
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DRANBLEIBEN
BGH bestätigt Urteil zu illegalen Waffenexporten nach Mexiko Nur selten landen deutsche Rüstungsexporte vor Gericht, umso erstaunlicher ist es, dass die Anzeige des Aktivisten Jürgen Gräßlin gegen Heckler & Koch wegen illegaler Mexikogeschäfte nach langer Ermittlung zu einem Verfahren vor dem Landgericht Stuttgart führte. Tausende Schnellfeuergewehre des Typs G36 lieferte das Rüstungsunternehmen ab 2006 mit Genehmigung der Bundesregierung an die zentrale Beschaffungsstelle in Mexiko, die auch sogenannte Endverbleibserklärungen für die Waffen ausstellte. Das Gericht stellte jedoch fest, dass mehr als 4.000 der Gewehre entgegen den zuletzt vorgelegten Erklärungen illegal an die
Bundesstaaten Chiapas, Chihuahua, Guerrero und Jalisco weitergeliefert wurden. Zwei ehemalige Mitarbeiter_innen von Heckler & Koch wurden daher zu Bewährungsstrafen »wegen bandenmäßiger Ausfuhr von Gütern aufgrund erschlichener Genehmigung« verurteilt, die Verkaufserlöse von 3,7 Millionen Euro sollen eingezogen werden. Drei weitere Angeklagte aus der Firma wurden freigesprochen; Vertreter der genehmigenden Bundesbehörden wurden nicht belangt. Der Bundesgerichtshof hat das Urteil am 30. März 2021 weitgehend bestätigt. Auch wenn Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen wurden, zeigt das Urteil Lücken
der deutschen Exportkontrollgesetze auf. Endverbleibserklärungen sind häufig wertlos. Risiken für die Menschenrechte bleiben unberücksichtigt, so auch in diesem Fall: Angesichts der Menschenrechtsverletzungen in ganz Mexiko hätten Exporte von G36 nicht erlaubt werden dürfen. Deutsche Genehmigungsbehörden haben sträflich versagt. Amnesty fordert daher weiterhin ein einheitliches Rüstungsexportkontrollgesetz mit verbindlichen Menschenrechtsklauseln und verbindlichen menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten für die Rüstungsfirmen. (»Außer Kontrolle«, Amnesty Journal 04-05/2017)
Türkei verlässt Istanbul-Konvention
PORTRÄT
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DRANBLEIBEN
walt gegen Frauen und Mädchen als Verbrechen einzustufen und entsprechend zu bestrafen – auch häusliche Gewalt. Die Konvention schreibt außerdem fest, dass Schutzeinrichtungen für Betroffene eingerichtet werden und ihnen psychologische und soziale Beratung angeboten
werden muss. Der Begriff »Gewalt« ist weitgefasst und umfasst neben physischer Gewalt auch geschlechtsspezifische Diskriminierung, Einschüchterung sowie Zwangsabtreibung und Zwangsheirat. (»Von wegen Einzelfälle«, Amnesty Journal 05/2020)
Foto: Alba Cambeiro / SOPA Images / ZUMA / REA / laif
Die türkische Regierung hat im März entschieden, aus der sogenannten IstanbulKonvention auszutreten. Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt wurde im Mai 2011 in Istanbul verabschiedet und trat 2014 in Kraft. Konservative Politiker_innen in der Türkei behaupten, die Konvention bedrohe die traditionelle Familienstruktur. Seit Monaten diskutieren sie über einen Austritt. Amnesty International betonte bereits im August 2020, dass türkische Behörden die Konvention endlich vollumfänglich umsetzen sollten, anstatt sich aus ihr zurückzuziehen. Die Zahl der Frauenmorde in der Türkei ist von 2015 bis 2019 von 303 auf 474 Fälle jährlich gestiegen. Und die Corona-Pandemie vergrößert das Problem. Frauenrechtlerinnen haben den Austritt scharf kritisiert. Vielerorts kam es zu Demonstrationen. Die Proteste verstärkten sich noch wegen eines weiteren mutmaßlichen Femizids: In der Provinz Izmir wurde eine 17-jährige Schwangere erstochen – in Medienberichten wird der Mann als Täter verdächtigt, mit dem sie zusammenlebte. Seit 2011 haben 34 europäische Staaten die Istanbul-Konvention ratifiziert und sich damit verpflichtet, Ge-
Mehr Schutz für Frauen gefordert. Protestveranstaltung am 26. März 2021 in Istanbul.
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KULTUR
Wenn Wände sprechen. Kolumbianische Murals, die an Opfer von staatlicher und paramilitärischer Gewalt erinnern.
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Verschleppt, nicht vergessen Der Schriftsteller Erik Arellana Bautista unterstützt in Kolumbien die Hinterbliebenen von Verschwundenen und Ermordeten. Er gibt den Trauernden eine Stimme, auch dank gemeinsamer Erinnerungsarbeit. Von Cornelia Wegerhoff
Fotos: Erik Arellana Bautista
GEDENKEN IN KOLUMBIEN
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ie Bilder zeigen einen Platz in der Innenstadt von Bogotá. Weiße Grablichter brennen. Menschen in schwarzer Trauerkleidung haben sich versammelt. Auf rotbraunen Pflastersteinen liegen in Dutzenden Reihen die Fotos von Ermordeten. »Quién dio la orden?«, wird zwischen den Bildern auf signalgelben Plakaten gefragt. »Wer gab den Befehl?« Es ist der 6. März 2021, in Kolumbien der nationale Gedenktag für die Würde der Opfer von Staatsverbrechen. »Ein Tag gegen das Vergessen«, sagt Erik Arellana Bautista in einem Videogespräch. Der Schriftsteller und Journalist ist Mitglied des Verbands Movice, dessen mehr als 200 Organisationen sich für die Opfer von staatlicher und paramilitärischer Gewalt einsetzen und den Gedenktag organisieren. Überall im Land gibt es Aktionen. In der Hauptstadt Bogotá entstehen Graffiti, so knallgelb wie die Poster bei der Mahnwache, nicht zu übersehen, freut sich Arellana Bautista. »Die Graffiti zeigen die Verantwortlichen für die mindestens 6.402 Todesfälle aus der Zeit von 2002 bis 2008«, berichtet der 46-Jährige. Damals hatten Soldaten der kolumbianischen Armee Zivilisten umgebracht, um deren Leichen als vermeintliche Guerilla-Kämpfer zu präsentieren. Für ihren »Erfolg« heimsten sie Prämien und Beförderungen ein. Der Massenmord ist als sogenannter »Falsos-Positivos-Skandal« bekannt. In der überwiegenden Zahl der Fälle wurden die Täter weder offiziell ermittelt noch bestraft. Die meisten Befehlshaber wurden gar erst nicht vor Gericht gestellt, klagt Arellana Bautista. Die Hinterbliebenen kämpfen immer noch um die Identifizierung und Herausgabe der sterblichen Überreste sowie um die Rehabilitierung der Todesopfer. Erik Arellana Bautista hält aus Anlass des Gedenktags eine Lesung. In seinen Gedichten und Kurzgeschichten fasst er den Schmerz der Angehörigen, die Ohnmacht, der sie über Jahre und Jahrzehnte ausgeliefert sind, in Worte. Um sie herum werden »Muros del silencios«, »Mauern der Stille« errichtet, schreibt der Kolumbianer. Er fordert auf, sie einzureißen.
MAUERN DES SCHWEIGENS Stein auf Stein und sie wollen uns trennen. Felsen auf Felsen und verlangen das Schweigen, Gräber im Freien, außerhalb des Friedhofs, Wahnsinn, der das Universum herausfordert. Unerschöpfliche Tränen auf nicht beerdigten Leichen, Pläne für Stimmen und Blicke, die Lichter und Blitze miteinander verflechten, Grenzen, geplant mit Verboten, Fallen und Strafen. Riss, geöffnet in der Zeit, Entfernung, den Versen widrig, gemeinsames Wort jedes Traums und das Bersten der Mauern des Schweigens. Übersetzung: Lars Stubbe
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Auch Arellana Bautista trägt an diesem 6. März schwarze Kleidung. Nur auf seinem T-Shirt prangt eine Schwarz-WeißAufnahme. Zu sehen ist eine Frau mit einem kleinen Jungen auf dem Arm. Sie hat das gleiche breite, fröhliche Lachen wie der Schriftsteller. »Das ist meine Mama. Und der Kleine, das bin ich«, sagt der Kolumbianer. Ihr zu Ehren hat er zusätzlich ihren Namen angenommen. Von ihr habe er gelernt, sich für Frieden und Gerechtigkeit stark zu machen. Die Aktivistin Nydia Érika Bautista wurde 1987, am Tag von Eriks Erstkommunion, von Paramilitärs entführt. »Drei Jahre später haben wir ihre Leiche in einem Massengrab gefunden«, sagt der Sohn. »Das weiße Kleid«, heißt eine Graphic Novel, in der er die traumatischen Erlebnisse schildert. Das weiße Festtagskleid seiner Mutter lag neben ihren sterblichen Überresten. Zwei der Anwälte, die damals im Auftrag der Familie vor Gericht gingen, wurden später ebenfalls ermordet. Einer von ihnen ist der bekannte Menschenrechtsanwalt Eduardo Umaña Mendoza. Movice hat den Platz in Bogotá nach ihm benannt, auf dem der Gedenktag am 6. März begangen wurde. Erik Arellana Bautista erzählt das alles auf Deutsch. Der Kolumbianer hat in Kassel und Weimar audiovisuelle Kommunikation studiert. Nachdem er in Bogotá schon zu Beginn seines Journalismusstudiums angefangen hatte, Fälle des gewaltsamen
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Kunst und Aktion. Bautista unterstützt vielfältige Projekte, die an Verschwundene und Verstorbene erinnern – unter anderem auch mit einer Kartografie des Terrors (rechts oben).
Fotos: Erik Arellana Bautista (4), Benjamin Thieme (1)
»Als wir im 30. August 2017 nach Bogotá zurückkehrten, war das zufällig der internationale ›Tag der Verschwundenen‹«, erzählt der Schriftsteller. Er nahm es als Wink des Schicksals und setzte trotz der Gefahr sein Engagement für die Opferfamilien fort. Inzwischen hat er zusammen mit anderen eine sogenannte »Kartografie des gewaltsamen Verschwindenlassens in Kolumbien« verfasst. Über 170 Karten und Dokumente informieren über Untersuchungsergebnisse, Zeugenaussagen oder Beispiele für aktiven Widerstand. Die Karten sind im Internet zu sehen und auch in einem Buch festgehalten. »Diese Erinnerungsarbeit ist wichtig, damit die Dinge sich nicht wiederholen«, sagt Arellana Bautista. Denn trotz des Friedensvertrags von 2016 zwischen der Regierung und der FARC-Guerilla werden weiterhin Menschen verschleppt und ermordet. »Leider haben wir in Kolumbien noch keinen echten Frieden«, meint der Autor. Inzwischen hilft er den Hinterbliebenen auch mit Kulturprojekten, ihre Stimme selbst zu erheben. Manche erinnern an ihre Toten, indem sie ihre Porträts als Graffiti auf die Wände in der Nachbarschaft sprühen. Andere schreiben mit seiner Hilfe Songtexte, Gedichte oder Theaterstücke. »El Palacio arde«, heißt etwa ein Stück, das sich gegen die Mächtigen Kolumbiens in Politik und Justiz richtet. Mutig treten in ihm Witwen, Mütter, Schwestern und Töchter von Todesopfern auf die Bühne. Die aktive kulturelle Erinnerungsarbeit helfe den Hinterbliebenen, sich aus der jahrelangen Passivität zu befreien, in die sie zuvor von den Behörden gedrängt wurden, sagt Erik Arellana Bautista. Die Graffiti mit den Verantwortlichen für die mindestens 6.402 Todesfälle aus der Zeit von 2002 bis 2008 wurden schon kurz nach dem 6. März wieder zerstört, schreibt der Schriftsteller später aus Bogotá. Die Stimmen der Angehörigen werde dennoch niemand zum Schweigen bringen.
Verschwindenlassens zu dokumentieren, war er auf eine Todesliste geraten und musste mit 21 Jahren erstmals das Land verlassen. In Deutschland begann er literarisch zu schreiben. Als ihm 2006 in Bogotá eine Stelle als Universitätsprofessor angeboten wurde, kehrte er in seine Heimat zurück und gründete eine Menschenrechtsstiftung, benannt nach seiner Mutter. Bald entstanden künstlerische Arbeiten wie das Projekt »Geomalla«, eine städtische Erinnerungswerkstatt, und der Gedichtband »Transitos de un hijo al Alba«. Darin setzt sich Arellana Bautista nicht nur mit dem eigenen Schicksal als Sohn einer Verschwundenen auseinander, sondern beschreibt die Geschichte eines Volkes ohne Namen. Während des über 50 Jahre dauernden Konfliktes in Kolumbien wurden mehr als 260.000 Menschen verschleppt, gefoltert, ermordet und meist namenlos verscharrt, mehr als 120.000 sind Movice zufolge immer noch vermisst. Als Erik Arellana Bautista 2013 an einer Filmdokumentation über diese Opfer arbeitete, brachen Sicherheitskräfte in Bogotá in seine Wohnung ein, nahmen seine Kamera, den Computer und Speicherkarten mit. Er begegnete den Männern noch im Hausflur. »Das nächste Mal bringen wir Dich um«, warnten sie ihn. Arellana Bautista flüchtete erneut nach Deutschland, dieses Mal mit Frau und Tochter. 2014 wurde er »Writers-in-Exile-Stipendiat« des deutschen PEN-Zentrums.
Kartografie und Kulturprojekte: www.desaparicionforzada.com
»Diese Erinnerungsarbeit ist wichtig, damit die Dinge sich nicht wiederholen.« Erik Arellana Bautista GEDENKEN IN KOLUMBIEN
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Kolonialer Blick. Frankreich hat sich bereit erklärt, berühmte Statuen aus Benin zurückzugeben. Präsentation im Pariser Musée du quai Branly.
Der Knochen, an dem die Scham nagt Vor mehr als drei Jahren versprach der französische Präsident, koloniale Raubkunst aus Afrika zurückzugeben. Viel geschehen ist bislang nicht. Afrikanische Expert_innen sehen dennoch einen kunsthistorischen Paradigmenwechsel. Von Frédéric Valin
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m November 2017 sprach Frankreichs Präsident Emanuel Macron vor Studierenden in Ouagadougou, der Hauptstadt Burkina Fasos. Es war eine Grundsatzrede über die Beziehungen Frankreichs zu den afrikanischen Ländern, insbesondere den ehemaligen Kolonien. Macron versprach eine Abkehr vom postkolonialen Konstrukt der Françafrique, das in erster Linie der Sicherung französischer Vorherrschaft diente, und skizzierte eine afrikanisch-europäische Partnerschaft. Teil der Rede war auch eine Aufarbeitung der Vergangenheit. Macron versprach unter anderem die Rückgabe geraubter Kulturgüter. Die französische Regierung beauftragte den senegalesischen Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr, der als einer
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der wichtigsten Intellektuellen Afrikas gilt, und die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, den Bestand geraubter Kunst- und Kulturobjekte zu sichten und Möglichkeiten der Rückführung zu erfassen. Sarr und Savoy identifizierten 90.000 Kunstgegenstände, die sich derzeit in französischen Museen befinden und aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara stammen, darunter 46.000, die während der Kolonialzeit geraubt wurden. Der überwiegende Teil gehört dem Musée du quai Branly – Jacques Chirac. Als der Bericht an Macron übergeben wurde, kündigte er an, auf der Stelle 26 Objekte an Benin zurückzugeben, die bereits 2016 Teil einer damals abgelehnten Restitutionsanfrage
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Foto: Gerard Julien / AFP / Getty Images
gewesen waren. Sie waren geraubt worden, während die französische Armee in den 1890er-Jahren das Königreich Dahomey annektiert hatte. »Die Rede von Monsieur Macron war eine große Erleichterung«, sagt Silvie Memel Kassi. Sie ist die Direktorin des Museums der Zivilisationen in Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste. Es gebe jetzt viele Herausforderungen zu bewältigen, juristische Fragen, aber auch technische, infrastrukturelle, logistische, dokumentarische. Und es stelle sich auch die Frage, was mit den Objekten geschehen werde, wenn sie wieder in Afrika seien. Memel Kassi spricht hier aus eigener trauriger Erfahrung: Nach den Unruhen im Anschluss an die Präsidentschaftswahl 2011 war ihr Museum gestürmt worden, 120 Werke wurden geplündert. »Wir brauchen eine Infrastruktur, und wir brauchen auch die Dynamik, die sich jetzt entfaltet, den wissenschaftlichen Austausch.« 148 Objekte hat eine Kommission zunächst ausgewählt, die sofort zurückgeführt werden sollen. Darunter befindet sich auch das Djidji Ayokwe, eine drei Meter große, heilige Kriegstrommel, die zur Warnung vor den sich nähernden Kolonisatoren diente. Andere Objekte, heilige Masken zum Beispiel, deren Raub ganze Communities destabilisierte, sollen zurück an ihre Ursprungsorte. In der Zwischenzeit baut die Elfenbeinküste ein Dutzend Museen an verschiedenen Standorten auf. »Das ist alles erst ein Anfang«, sagt Memel Kassi. »Kunstwerke aus der Elfenbeinküste lagern überall auf der Welt.« Felwine Sarr hat in seinem programmatischen Essay »Afrotopia« auch einen Hintergrundtext zur Debatte geliefert. »Das Offene Denken bedeutet, das Leben, das Lebbare, das Gangbare anders zu denken als im Modus der Quantität und der Habgier«, heißt es in Afrotopia. Neue Wege zu finden, wird dabei nicht vorrangig die Aufgabe des »westlichen Begriffskosmos« sein; Sarr will die Ideen der Entwicklung und des Fortschritts, die den afrikanischen Gesellschaften aufgezwungen wurden, und die daraus entstandenen Werte infrage gestellt sehen. Voraussetzung dafür ist auch ein eigener Umgang mit der Vergangenheit: nicht als Startpunkt einer Entwicklung im westlichen Sinne, vielmehr als eine der Grundlagen für Gesellschaften überhaupt.
Mikrokredite für Kunst »Die Diskussion ist nicht neu, seit den Unabhängigkeiten gibt es Rückführungsforderungen. Macron hat die Debatte nicht erfunden. Es ist wichtig, das festzuhalten, weil sonst in Europa der Eindruck entstehen könnte, es würden Geschenke verteilt«, sagt El Hadji Malick Ndiaye. Er ist Professor für Kunstgeschichte an der Universität Cheikh Anta Diop in Dakar und Kurator am Museum für afrikanische Kunst Théodor Monod. »Die Restitution ist ein Akt der sozialen Gerechtigkeit. Kunsthistorisch befinden wir uns in einem Paradigmenwechsel«, sagt Ndiaye. »Ethische Fragen spielen eine größere Rolle, die Idee des Museums wird dekonstruiert, die Vorstellung von Kulturerbe wird umgeschrieben.« Klangvolle Reden, wie die von Macron, habe es schon einige gegeben, aber nicht immer hätten sie zu den angekündigten Veränderungen geführt. »Institutionen wie das Museum haben ihre eigenen Widerständigkeiten, ihre eigene Mentalität der Langsamkeit«, sagt Ndiaye. »Wir brauchen eine neue Moral, was
KOLONIALE RAUBKUNST
»Die Restitution ist ein Akt der sozialen Gerechtigkeit.« El Hadji Malick Ndiaye, Kunsthistoriker aus Dakar die Bewahrung von Kunstwerken anbelangt: Und die muss davon ausgehen, dass die heiligste Dimension des Individuums die Kreativität ist.« Deswegen sei es eine kulturelle Aufgabe, jene Dinge, die die Vorfahren geschaffen und hinterlassen haben, zu bewahren. Diese Frage stellt sich gerade auch den Museen. Ein Beispiel sind die Kulturbanken in Mali: Sie funktionieren wie Pfandhäuser für Kunstwerke. Statt dass Menschen, die Geld brauchen, ihre Kunst an Sammler_innen verkaufen, stellen sie es diesen Orten zur Verfügung und bekommen dafür Mikrokredite; anschließend können sie das Objekt wieder zurückkaufen. »Das ist eine von vielen neuen Arten des Museums. Und das ist ein Teil der Antworten beim Antagonismus lebende versus tote Kultur«, sagt Ndiaye. Auch Pélagie Gbaguidis Haltung bewegt sich zwischen Freude und Skepsis: »Diese Rede hat radikal mit dem Konservatismus seiner Vorgänger gebrochen. Nichtsdestotrotz war sie wieder einmal begleitet von einer gewissen Arroganz. Ich bin mir nicht sicher, ob es sich um einen echten Bruch handelt oder ob Präsident Macron die kommunikativen Effekte im Auge hat«, sagt die Künstlerin aus Benin. Am bekanntesten ist Gbaguidis Werkserie »Le Code noir«, die die Gewalt des Sklavenhandels und die daraus folgenden Traumata behandelt. Ihre Zeichnungen sind zart und gewaltvoll gleichermaßen. Es ist viel Trauer darin, viel Schrecken. Sie selbst bezeichnet sich als eine zeitgenössische »Griot«, eine Person, die das Wissen und die Geschichten der Vergangenheit bewahrt und weitererzählt. »Diese Haltung erlaubt es mir, die Schmerzen über das Unrecht nicht als Hindernis zu sehen, sondern als Grundlage dafür, mich zu verändern. Ich bin ein Archiv. Woher kommen die Schmerzen, eure, meine, unsere? Es ist ein fortwährendes Hin und Her zwischen kollektiver und individueller Erfahrung.« Die Wunde der Kolonialzeit und des Sklavenhandels wird niemals verschlossen werden können, sagt Gbaguidi. Aber die Restitution könnte, auf spiritueller und symbolischer Ebene, nicht als Wiedergutmachung, sondern als Änderung der Beziehungen der Welt zu Afrika wahrgenommen werden. In einem ihrer Gedichte schreibt Gbaguidi: »Was ist Restitution / Ein wenig Wahrheit auf dem Knochen, an / dem die Scham längst nagt.« Ein wenig Wahrheit: Die beginnende Restitution in Frankreich ist nur ein zarter Anfang. In Belgien, in Deutschland, in Großbritannien, in den USA lagern unzählige geraubte Kunst- und Kulturgegenstände. Macron hatte für April 2019 eine große internationale Konferenz angekündigt, die diese Frage behandeln sollte; die Veranstaltung fand aber nie statt. »Wir haben Zeit«, sagt Memel Kassi. »Aber es geht in die richtige Richtung.«
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Straße statt Bühne Es ist nicht das erste Mal, dass Bortitsch aneckt. 1994 wurde sie in Swetlogorsk (Belarus) geboren. Im Alter von zehn Jahren zog sie mit ihrer Mutter nach Moskau. An ihre Schulzeit hat sie keine guten Erinnerungen. Einmal habe eine Mitschülerin sie fertigmachen wollen, erzählte sie in einem Interview. Alle anderen hätten tatenlos zugesehen, aber Aufnahmen mit dem Handy gemacht. Das sei sehr schmerzhaft gewesen. Diese negativen Erfahrungen dürften wohl auch ein Grund dafür sein, dass sich Bortitsch für die Stiftung »Schalasch« engagiert, die mit gewaltbereiten Kindern und Jugendlichen arbeitet. Ihr politisches Coming-out hat Bortitsch im Herbst 2019. Rund 300 Kulturschaffende protestierten damals in einem offenen Brief gegen die Festnahme zahlreicher Künstler_innen, die sich an Protesten gegen die Wahlen zum Moskauer Stadtparlament beteiligt hatten. Zu den Unterzeichner_innen gehört auch Alexandra Bortitsch. Am 12. August 2020 stellte sie sich vor die belarussische Botschaft in Moskau und hielt ein Schild mit der Aufschrift »Es lebe Belarus« in die Höhe. Das ist der Schlachtruf der dortigen Opposition. Auf ihrem Instagram-Account schrieb sie: »Belaruss_innen, Ihr verdient die Wahrheit, für die Ihr kämpft.« Sie habe erst reifen müssen, um einige Dinge zu verstehen. Daher erhebe sie erst jetzt ihre Stimme, weil sie gegen Gewalt sei und sich in Russland niemand mehr sicher fühlen könne, sagte Bortitsch auf die Frage eines Journalisten, warum sie sich nicht schon früher engagiert habe. Ihr Engagement könnte Bortitsch, die seit dem vergangenen Jahr Mutter eines Sohnes ist, teuer zu stehen kommen. Das russischsprachige Nachrichtenportal newsland.com berichtete Anfang Februar unter Verweis auf eine Quelle im Moskauer Kulturministerium, Bortitsch solle von einer Mitwirkung an staatlich finanzierten Filmen künftig ausgeschlossen werden. Ob diese Nachricht stimmt – wer weiß das schon. Möglich wäre es jedoch allemal.
Sie haben sich an Protesten gegen die russische Regierung beteiligt. Auch kritische Kulturschaffende wie die Schauspielerin Alexandra Bortitsch und der Rapper Oxxxymiron geraten zunehmend unter Druck. Von Barbara Oertel und Tigran Petrosyan Alexandra Bortitsch, Schauspielerin
Foto: Maxim Shemetov / Reuters
An diese Rolle muss sich Alexandra Bortitsch wohl noch gewöhnen. Normalerweise verhandeln die Medien vor allem intime Details aus dem Privatleben der russischen Schauspielerin. Doch jetzt hat ein merklich schärferer Ton in die Berichterstattung Einzug gehalten. »Raus hier aus Russland! Ich will nicht, dass solche Damen mein Land in Unruhe versetzen und das auch noch mit meinem Geld«, erbost sich ein User in den OnlineNetzwerken. Der Regisseur und Filmproduzent Nikita Michalkow, ein Bewunderer von Präsident Wladimir Putin, geht die 26Jährige in seinem Programm »Besogon« auf YouTube direkt an: Warum Sascha Jugendliche und Kinder aufstachele, auf die Barrikaden zu gehen und gegen das Land zu rebellieren? Ein Land, wo sie an einem einzigen Drehtag 200.000 Rubel (umgerechnet 2.000 Euro) verdiene, fragt er. Dieser Frontangriff ist eine Reaktion auf den 23. Januar 2021. An diesem Tag fanden landesweite Anti-Putin-Demonstrationen statt, Tausende gingen auf die Straße. Auch Bortitsch meldete sich zu Wort. Was derzeit passiere, betreffe jeden, der in Russland lebe. Denn alle könnten sehen, dass Gesetze, die Verfassung und das Strafrecht nur Papier seien und die Machthaber mit jedem machen könnten, was sie wollten. Dagegen sollten am 23. Januar alle demonstrieren gehen, schrieb sie auf Instagram.
Foto: Anatoly Zhdanov / Kommersant / Polaris / laif
Oxxxymiron, Rapper
Vom Starlet zur Aktivistin. Die Schauspielerin Alexandra Bortitsch.
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Er ist ein Meister des Wortgefechts. So wie er seine Gegner verbal niedermacht, gelingt das sonst kaum jemandem. Das USamerikanische HipHop-Magazin The Source feierte ihn als größten Battlerapper der Welt. Oxxxymiron rappt auf Russisch und seine Botschaft lautet: für ein demokratisches Russland. Miron Fjodorow, bekannt unter dem Künstlernamen Oxxxymiron, ist in seiner Heimat ein kulturelles Phänomen. Er bricht mit allen Konventionen der Hip-Hop-Szene, ist ein Poet, hat einen Abschluss in Oxford gemacht und ergeht sich eher sparsam in derben Flüchen. Oxxxymiron wurde 1985 in Sankt Petersburg (damals Leningrad) geboren. Als er neun Jahre alt war, wanderte die Familie zunächst nach Deutschland aus, später, da war Oxxxymiron schon ein Teenager, nach Großbritannien. In Oxford studierte er Mittelenglische Literatur.
AMNESTY JOURNAL | 03/2021
Meister des Wortgefechts. Der Rapper Oxxxymiron (Mitte, mit Sonnenbrille) auf einer Kundgebung für eine freie Kommunalwahl in Moskau, 2019.
2012 kehrte er zurück nach Russland, wo er mittlerweile zu einem Gesicht der Anti-Regierungsproteste geworden war. Am 7. Oktober 2015 machten die Rapper Timati und Sascha Chest Präsident Putin ein Geburtstagsgeschenk: »Der beste Freund« heißt der Song – eine lupenreine Werbekampagne für den Mann, dem Machterhalt über alles geht. Die Antwort von Oxxxymiron erfolgte prompt. Der Lobeshymne stellte er die Realität gegenüber, so wie er sie sieht: ein Regime, das die eigene Bevölkerung in Gefangenschaft hält und aus dem es keinen Ausweg gibt. »Unser Zuhause ist zu einer Falle geworden«, rappt er auf dem Track »Poligon«. Doch dieses düstere Bild zeichnet Oxxxymiron auf eine ihm eigene Art – poetisch, metaphorisch und sarkastisch. Er entlarvt das absurde Tun der Behörden, die in ihrer Propaganda vorgaukelten, alles sei in bester Ordnung. Wenn jemand sich über Missstände aufrege, solle er das Problem in sich selbst suchen. »Nur Schweine geben die Schuld dem System«, damit wollten die Behörden sich von ihrer eigenen Verantwortung freisprechen. Oxxxymiron streitet gegen Gewalt und Justizwillkür in seinem Land. Er fordert von der Regierung die Freilassung aller politischen Gefangenen und appelliert an die Öffentlichkeit, aktiv zu werden und Verantwortung zu übernehmen. »Das Gesetz darf nicht selektiv angewendet werden. Dasselbe gilt für Solidarität, auch sie muss für alle gelten«, sagt er. Für seine Überzeugungen mobilisiert er Millionen Follower_innen auf seinem Instagram-
PROTESTE IN RUSSLAND
und Twitter-Kanal, geht aber auch selbst auf die Straße. »Ich will nicht mehr vor meinen Ängsten flüchten«, sagte er am 31. Januar 2021. An diesem Tag, seinem Geburtstag, wurde er gemeinsam mit etwa 7.000 Menschen bei einer Anti-Putin-Demonstration in seiner Heimatstadt Sankt Petersburg kurzzeitig festgenommen. Oxxxymiron hat sich auch früher schon gegen die Politik von Wladimir Putin geäußert. Doch erstmals richtig laut wurde seine Stimme nach dem »Moskauer Fall« 2019: Tausende Demonstrierende gingen damals für freie Kommunalwahlen auf die Straße, viele von ihnen wurden »wegen Massenkrawallen« inhaftiert. »Der Moskauer Fall ist unser gemeinsamer Fall. Wie wir in den kommenden Jahren leben werden, hängt auch vom Ausgang dieses Verfahrens ab«, sagte der Rapper. Er ist im Kampfmodus – gegen Putin. Deswegen ist er derzeit häufiger vor Gerichtsgebäuden anzutreffen als auf der Bühne.
Oxxxymiron ist derzeit häufiger vor Gerichtsgebäuden anzutreffen als auf der Bühne. 69
Nachklänge des Genozids. Der Historiker Yektan Turkyilmaz hört alte Schallplatten, um Hinweise auf Gräueltaten und Traumata zu finden.
»Lieder sind ein lebendiges Archiv« Der Historiker Yektan Turkyilmaz untersucht Klagelieder über den Genozid an den Armeniern. Seine Forschungstätigkeit hat ihm sowohl in Armenien als auch in der Türkei Haft eingebracht.
den emotionalen Auswirkungen solch kollektiver Gewalt auf die Spur zu kommen. Aus diesem Grund sind Klagelieder – oder genauer gesagt: mündlich überlieferte Literatur – eine einzigartige Quelle, weil sie eine Perspektive bieten, die man in den normalen Archiven nicht findet. Orale Überlieferung und Musik können uns dabei helfen, die komplexen Folgen von Gewalt und Trauma besser zu verstehen.
Interview: Thomas Winkler
Um mehr über den Genozid an den Armeniern zu erfahren, studieren Sie Klagegesänge. Wie kamen Sie dazu? Ich interessiere mich sehr für die Geschichte von Musik und Schallplatten, forsche aber auch zu Genoziden und kollektiver Gewalt. In dieser Forschung hat man es vornehmlich mit schriftlichen Zeugnissen zu tun. Doch denen fehlt, wie ich feststellen musste, meist die Perspektive der Opfer. Noch schwieriger ist es,
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Sind Klagelieder womöglich wahrer als historische Dokumente? Ich studiere Klagegesänge nicht, um herauszufinden, was während eines Genozids passiert ist. Aber man kann in ihnen den Haltungen und Gefühlen der Menschen, die diesen Genozid erlebt haben, und seiner Verarbeitung in späteren Generationen näherkommen. Lieder helfen nachfolgenden Generationen, sich zu erinnern, zum Beispiel an eine kollektive Gewalterfahrung. Sie entwickeln sich weiter mit jeder Generation, die sie münd-
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lich weitergibt, und bilden eine Art lebendiges Archiv. Ein Archiv, das nicht nur Gefühle abbildet, sondern vor allem die Geschichte dieser Emotionen.
Foto: Ksenia Les
Wie allein sind Sie mit diesem alternativen Ansatz von Geschichtsschreibung? Nicht mehr so allein, wie ich es einmal war. Es werden immer mehr Arbeiten mit diesem Ansatz geschrieben. Der Grund dafür ist, dass es in den vergangenen beiden Jahrzehnten eine sozialwissenschaftliche Hinwendung zur Emotion gab. Aber ich würde das, was ich da mache, auch nicht unbedingt alternative Geschichtsschreibung nennen. Ich finde es wichtig, auch alternative Quellen zu nutzen, die uns bislang verborgene Perspektiven eröffnen. Sind die Fragen von Dichtern komplexer als jene von Historikern? Die Geschichte der Gewalt zu studieren, ist schwierig genug. Noch schwieriger ist es, diese Geschichte zu studieren, wenn sie unterdrückt und negiert wird. In Deutschland zum Holocaust zu forschen, ist etwas ganz anderes, als in der Türkei zum Genozid an den Armeniern. Denn der wird dort nicht nur von offizieller Seite geleugnet, sondern auch von den Medien und der Mehrheit der Bevölkerung. Unter solchen Umständen kann keine vernünftige Aufarbeitung stattfinden. Man ist immer erst einmal damit beschäftigt, sich gegen die Leugnung zu wehren. Beide Seiten, die Leugner und ihre Gegner, sind besessen von Fakten, die ihre Behauptung stützen sollen. Darüber gehen die Zwischentöne verloren, die gerade wichtig wären, um solche nationalen Traumata aufzuarbeiten. Die Polarisierung verhindert, dass die Frage nach der Verantwortung und Schuld überhaupt gestellt wird. Aber Dichter und Sänger können diese Frage stellen. Es gibt viele Klagegesänge, in denen gefragt wird, ob der eigene Widerstand vielleicht erst zum Massaker geführt hat, oder die Zweifel an der gerechten Sache formulieren. Solche komplexen Überlegungen würde in der Türkei niemand zu äußern wagen – weder Opfer noch Täter, denn alle hätten Angst, der Gegenseite neue Munition zu liefern. Aber in der Musik können Überlebende, Augenzeugen oder die ihnen nachfolgende Generation sich diese Fragen stellen. In manchen Ländern gibt es eine reichere Tradition von Klagegesängen als in anderen. Warum ist das so? Je weniger Zugang es in einer Gesellschaft zu geschriebenen Quellen gibt und je mehr Analphabeten, desto wichtiger wird die orale Überlieferung. Wenn dann ein nationales Trauma hinzukommt, können Lieder und Gedichte die Funktion eines Archivs übernehmen. Ein gutes Beispiel dafür ist die kurdische Kultur, die noch viel reicher an Klagegesängen ist als die armenische. Einer der Gründe ist, dass in Armenien die Alphabetisierung viel früher begann als in Kurdistan: Das erste Buch in armenischer Sprache wurde 1812 gedruckt, das erste auf Kurdisch erst Ende des 19. Jahrhunderts. Gibt es heute noch Künstler, die eine ähnliche Rolle übernehmen wie die Dichter und Sänger, die Sie erforschen? Auf jeden Fall. Vielleicht spielt die Musik nicht mehr die herausragende Rolle wie in den 1960er-Jahren. Aber man muss sich nur mal ansehen, wie HipHop unter dem Erdoğan-Regime verfolgt und unterdrückt wird. Oder die Popband Grup Yorum, die Stadien füllte, aber wegen ihrer politischen Texte mit Gerichts-
KLAGELIEDER
verfahren überhäuft wurde, deren Konzerte gestürmt und deren Mitglieder inhaftiert wurden. Eine Musikerin der Gruppe ist im Hungerstreik gestorben. Popmusik erzählt immer von Macht und Geld, sie ist eine Ausdrucksform für Protest und Subversion. Aber Musik hat auch die Tendenz, Widerstand zu romantisieren und damit zu kommerzialisieren. Es ist ein ambivalentes Phänomen. Es gibt kurdische Klagegesänge, die das Leid und die Opfer der eigenen Bevölkerung besingen. Es gibt aber auch kurdische Klagegesänge, die die Täter besingen, weil die Sänger nun mal Geld verdienen mussten. So hinterlassen Machtverhältnisse ihre Spuren in einem oralen Archiv. Sie leben in Berlin. Könnten Sie in die Türkei zurückkehren? Ich bin schon lange weg aus der Türkei. Ich habe das Land also nicht wegen Erdoğan verlassen, aber eines ist sicher: Wegen meiner Haltung und wegen meiner Arbeit sollte ich momentan lieber nicht zurückkehren. Warum hat die Türkei immer noch so große Probleme, den Genozid an den Armeniern anzuerkennen? Darauf gibt es viele Antworten. Auch, weil es so viele verschiedene Ebenen der Leugnung gibt. Die Gründe, den Genozid an den Armeniern zu leugnen, waren in den 1920er-Jahren andere als in den 1940er-Jahren oder im Kalten Krieg. Ich glaube, aktuell ist der Umgang mit dem Genozid an den Armeniern nicht von dem mit den Kurden zu trennen. Zum Gründungsmythos des türkischen Nationalstaats gehört die Erzählung, dass die Türken die ersten Opfer der europäischen Aggression waren. Diese Opfererzählung funktioniert nicht mehr, wenn man anerkennt, selbst Millionen Menschen auf dem Gewissen zu haben. Sie haben in Ihrer täglichen Arbeit mit Gräueltaten und Mord zu tun – was macht das mit Ihnen? Die meisten Menschen, die zu Genoziden forschen, haben aus einem aktivistischen Impuls damit begonnen: Sie wollten die Welt verbessern, indem sie das Böse erforschen. So war das auch bei mir. Aber ich muss zugeben, je mehr man über die Jahre liest und erfährt, desto alltäglicher wird das Grauen. Meine Herangehensweise wurde immer intellektueller. Doch als ich an meiner Dissertation saß, gab es zwei Wochen, in denen ich kaum schlafen konnte. Ich glaube, so gut man auch verdrängen mag: Auf lange Sicht sammelt sich das Trauma an und irgendwann bricht es aus einem heraus.
YEKTAN TURKYILMAZ Der kurdische Historiker mit türkischem Pass untersucht traditionelle Klagegesänge von Genozid-Opfern. 2005 wurde ihm als erstem türkischem Forscher Zugang zum Armenischen Nationalarchiv gewährt. Bei der Ausreise wurde er allerdings verhaftet und nach zwei Monaten im Gefängnis zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe wegen des angeblichen Schmuggels von »seltenem Material von kulturellem Wert« verurteilt. Zuvor war er in der Türkei wegen studentischem Aktivismus mehrere Male verhaftet und gefoltert, aber nie verurteilt worden. Turkyilmaz lehrte unter anderem an der Duke University in USA. Seit drei Jahren arbeitet er in Berlin an einer frühen Geschichte der aufgezeichneten Musik im östlichen Mittelmeer.
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@engagiert teln und das Recht auf Abtreibung. Als im September 2020 indische Bauern massenhaft gegen die Landwirtschaftspolitik protestierten, schuf Smish ein Porträt des indischen Premierministers Narendra Modi im Stil von Obamas ikonischem »Hope«-Plakat – nur dass darunter »Shame« stand. Die Künstlerin zeichnet vor allem digital und reduziert ihre Zeichnungen auf das Wesentliche, dazu verwendet sie klare Farben – mit Erfolg, wie sie im Podcast erzählt: »Instagram ist eine tolle Plattform für Künstler und Grafikdesigner, um die eigene Arbeit zu zeigen und sich mit anderen Künstlern zu vernetzen, deren Werk man mag.« Als sie anfing, habe sie vor allem für sich selbst gemalt. »Aber dann hat mich Instagram sehr motiviert und mir geholfen, zu wachsen.«
Instagram erreicht vor allem junge Menschen. In dem bildstarken Online-Netzwerk machen sich auch Künstler_innen für Menschenrechte stark. Eine Auswahl von Malte Göbel
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nstagram rückt Fotos in den Mittelpunkt und trifft damit den Zeitgeist junger Menschen wie derzeit kein anderes soziales Medium. Der Kanal ist nicht so überladen wie Facebook, nicht so aufwändig wie TikTok, nicht so textbasiert wie Twitter. Ein Foto, egal ob lange inszeniert oder schnell geschossen, kann einen unmittelbar berühren. Kein Wunder, dass auch und gerade Künstler_innen Instagram für sich entdeckt haben – einige von ihnen machen sich mit ihrer Kunst explizit für Menschenrechte stark. Um die Accounts anzusehen, muss man sich übrigens nicht die App herunterladen – es reicht ein normaler Browser mit der Adresse: www.instagram.com/ [Accountname].
@vhils
@smishdesigns
Foto: Instangram / @smishdesigns
Die indische Künstlerin Smish ist seit 2019 auf Instagram und hat inzwischen knapp 54.000 Abonnent_innen. »Ich äußere mich zu Dingen, die mir am Herzen liegen, Diskriminierung und Ungleichheit«, beschreibt sie im Podcast Redesyn ihre Arbeit. Smish ist ein Pseudonym, ihren bürgerlichen Namen will sie im Zusammenhang mit ihrer aktivistischen Arbeit nicht angeben – aus Angst, sexistischen Repressionen ausgesetzt zu sein, denn die Rechte von Frauen sind oft Thema ihrer Werke. So fordert sie etwa einen besseren Zugang zu Verhütungsmit-
Foto: Nicola Di Nunzio (CC BY-SA 4.0)
Auf Instagram ist der Streetart-Künstler Alexandre Farto unter seinem Pseudonym Vhils ein Star – fast eine halbe Million Menschen folgen dem bärtigen Portugiesen, der Kunst per Kratztechnik schafft: Statt Farbe aufzubringen, raut er Oberflächen auf, bohrt, sprengt oder schlägt den Putz weg und visualisiert so Konturen und Muster, die sich zu meist großflächigen Bildern formen. »Scratching the Surface« nennt Vhils die Technik und beschreibt auch seinen politischen Anspruch, nicht oberflächlich schöne Bilder zu schaffen, sondern tiefer zu gehen und der eigenen Kunst eine Bedeutung zu geben. Oft setzt sich Vhils mit der Menschenrechtslage in Brasilien auseinander, 2018 hat er etwa in Kooperation mit Amnesty International ein überlebensgroßes Porträt von Marielle Franco in eine Betonwand gekratzt. Die Aktivistin wurde im März 2018 ermordet, weil sie sich in ihrer brasilianischen Heimat für Schwarze Frauen, LGBTI und
smishdesigns. Die indische Künstlerin Smish zum #WorldWaterDay.
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vhils. Der portugiesische Künstler vor einem seiner Murals in Beja.
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sie mit der Initiative Viva con Agua in Uganda und klebte dort an einen Brunnen das Schild: »Build wells not walls.« 2016 hatte sie bereits die Kampagne unterstützt und ein Schild aufgehängt: »Armut ist krass, Durst ist noch krasser, Viva con Agua, Leben braucht Wasser.« Wegen ihrer politisch bewussten Kunst wird Barbara. auch als »der deutsche Banksy« bezeichnet. Dazu passt, dass kaum etwas über ihre Person bekannt ist – ihre Kunst tauchte zunächst in Berlin auf, dann in Heidelberg und dann über ganz Deutschland verteilt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vermutete hinter dem Namen ein Kollektiv aus mehreren Künstler_innen. Zuletzt versteigerte sie ein Spruchband mit der Aufschrift: »Hass ist krass. Liebe ist krasser.« Der Erlös ging an die Seenotrettung der Mission Lifeline im Mittelmeer.
Ein Foto, egal ob lange inszeniert oder schnell geschossen, kann unmittelbar berühren. Jugendliche eingesetzt hatte. »Dass ich mit meiner Kunst auf ihre Geschichte hinweisen kann, ist für mich ein Privileg«, sagte Vhils damals. Auf Instagram postet der 34-Jährige alle paar Tage Fotos seiner Werke und Making-Of-Videos. Er ist längst in den Galerien dieser Welt angekommen und bearbeitet die verschiedensten Materialien, etwa Möbel oder Türen, er filmt und druckt, am beeindruckendsten sind jedoch seine großflächigen Werke an Häuserfassaden, inzwischen meist Auftragsarbeiten. Im Sommer 2020 schuf er vor einem Krankenhaus in der portugiesischen Stadt Porto ein Wandbild, um den Beschäftigten für ihr Engagement in der Corona-Pandemie zu danken.
@thefakepan Der Comic-Zeichner Pan Cooke hat als thefakepan rund 360.000 Abonnent_innen auf Instagram – dafür ist Cooke erstaunlich bescheiden, in seiner Kurzbiografie steht: »Still learning.« Das bezieht sich jedoch nicht auf Kunst oder Zeichnen – sondern auf Politisches. Künstlerisch ist Pan Cooke kein Anfänger, der 1990 geborene Ire wurde mit Straßenkunst in Dublin bekannt und verdient sein Geld vor allem mit Porträts. Erst 2019 startete er seinen Cartoon-Account thefakepan mit zunächst autobiografisch gefärbten Strips. Politisch wurde es ab Juni 2020, als nach dem Tod von George Floyd die Black-Lives-Matter-Bewegung laut wurde. »Meine eigene passive Unkenntnis war der Hauptgrund für meine Comics«, sagte Cooke im Interview mit der Website artshelp.net. »Ich hatte mit ihnen ein einfaches Ziel – mich selbst kreativ weiterzubilden.« Er recherchierte über Fälle von Polizeigewalt und fasste sie in kurzen Comics zusammen, etwa über Eric Garner, Tamir Rice und Breonna Taylor. Seine prägnante grafische Darstellung fand schnell Fans, die Like-Zahlen verzehnfachten sich. Inzwischen liegt sein Schwerpunkt auf Menschenrechtsverletzungen überall in der Welt, auch in SaudiArabien und der Türkei.
@ich_bin_barbara
ich_bin_barbara. Barbara. auf der Woche des Erinnerns in Dresden.
Foto: Instangram / @thefakepan
Foto: Instangram / @ich_bin_barbara
»Das Kleben ist schön« steht auf dem Instagram-Account von »Barbara.« (mit Punkt), der knapp 370.000 Abonnent_innen hat. Barbara. ist bekannt für ihre künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum: Ein Spruch in weißen Buchstaben auf einem schwarzen Plakat, hingeklebt und fotografiert, eignet sich perfekt für Instagram! So klebte sie zum Beispiel unter die Werbung eines Sportstudios »Gezielte Behandlung von Problemzonen« den Kommentar: »Die Missachtung der Menschenwürde ist hier die einzig wahre Problemzone.« Vor eine Kebab-Imbissbude hängte sie ein Schild mit der Aufschrift: »Fremdenhass, das ist bekannt, endet oft hungrig am Dönerstand.« 2017 war
thefakepan. Der Zeichner Pan Cooke zu Rassismus in den USA.
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Mit Worten nach Hause finden Die syrische Lyrikerin Lina Atfah ist vor sieben Jahren vor dem Assad-Regime geflohen. Sie lebt nun in Wanne-Eickel. Inzwischen befassen sich ihre Gedichte mit ihrem Leben in Deutschland. Von Elisabeth Wellershaus
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alamiyya ist hässlich«, sagt Lina Atfah. »Aber auf eine ganz romantische Art«. Ihr Mund verzieht sich zu einem breiten Lächeln, das die Zweidimensionalität des Bildschirms für einen Moment auszuhebeln scheint. Die 32Jährige sitzt in ihrem Wohnzimmer in Wanne-Eickel, ich aus Mangel eines ruhigen Raums in meinem Badezimmer in Berlin. Und ihre Erzählungen transportieren uns an einen Ort, der sie bis heute nicht loslässt. Ihre Heimatstadt habe sie als Schriftstellerin und Lyrikerin stark geprägt, erzählt Atfah. Auf den ersten Blick sei die kleine syrische Stadt am Rande der Wüste nichts Besonderes. Zwar gebe es eine große kulturelle Vielfalt, ansonsten aber vor allem unfruchtbares Land und seit jeher zu wenig Arbeit. Nur eines sei an Salamiyya bemerkenswert: die Dichte an schriftstellerischem Talent. »In meiner Kindheit schienen fast alle Menschen um mich herum zu schreiben«, erzählt Atfah. »Gedichte, Kurzgeschichten oder Romane – alles, was die Situation in der Stadt und im Land reflektierte. Es gab einfach nicht viel anderes zu tun.« Atfahs Familie wohnte in Salamiyya direkt neben einem Friedhof. Zwischen den Gräbern tobte sie zusammen mit ihrer
»Das Gedicht, das alles für mich verändert hat, war eigentlich nichts Besonderes.« 74
Schwester und den Kindern aus der Gegend umher. Im Dezember zog sie mit ihnen durch die Stadt, wenn ihr Onkel – je nach Stimmungslage – als Weihnachtsmann oder Gorilla verkleidet, in Salamiyya Geschenke verteilte. Im Frühling saß sie unter dem Orangenbaum im Innenhof ihres Hauses und ersann erste Gedichte. Als der Friedhof irgendwann in einen »kahlen Park« umgewandelt wurde, hatte sie sich bereits mit dem Tod ausgesöhnt, sagt Atfah. Doch da begannen die Probleme gerade erst.
Wegen eines Gedichts zum Verhör Bereits als Jugendliche trat Atfah regelmäßig im Literaturhaus der Stadt auf, das ihr Großonkel vor seiner Inhaftierung geleitet hatte. Sie war vier Jahre alt gewesen, als er nach zwölf Jahren Haft unter dem damaligen Präsidenten Hafiz al-Assad entlassen wurde, und zwölf Jahre, als sie ihr erstes Gedicht vortrug. Die »oppositionelle Gesinnung« innerhalb der Familie war ausgeprägt, und das spiegelte sich in ihrem Schreiben. Atfah war mit einem Bewusstsein für die politischen Verhältnisse aufgewachsen, auch mit dem Wissen um die ständige Gefahr von Verhören und Verhaftungen. Und doch war sie nicht darauf vorbereitet, eines Tages selbst ins Visier der Behörden zu geraten. »Das Gedicht, das alles für mich verändert hat, war eigentlich nichts Besonderes«, sagt Atfah heute. Das Werk einer 17-Jährigen, die sich über den desolaten Zustand ihrer Umgebung ausließ, das Militär kritisierte und sich leise fragte, ob Gott sich nicht schlecht fühle, bei all der Ungerechtigkeit. Kurz nachdem sie es vorgetragen hatte, wurde sie zum Verhör geladen. Auch ihr politisch engagierter Vater wurde in der folgenden Zeit immer häufiger verhört, Jahre später inhaftierte man ihre Schwiegermutter. Irgendwann ging es für Atfah nur noch darum, den richtigen Zeitpunkt abzupassen, um die Flucht anzutreten und ihrem Mann nach Deutschland zu folgen. Kurz vor der Flucht im Jahr 2014 hatte der syrische Geheimdienst Atfah ein Angebot gemacht: Sie müsse lediglich ein Lobgedicht auf Baschar al-Assad schreiben und man würde sie mit Freuden in Syrien behalten, ihr Talent und Schreiben fördern und feiern. Atfah entschied sich dagegen, und so gab man ihr eine Warnung mit auf den Weg: »Du hast immer noch Familie hier, also pass gut auf, was Du in Deutschland schreibst.«
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Foto: Hubert Burda Media / pa
Schreiben aus Tradition. »In meiner Kindheit schienen fast alle Menschen um mich herum zu schreiben«, sagt Lina Atfah.
Ihre Eltern, Geschwister, der Ehemann – sie alle leben heute in Deutschland. Atfahs 87-jährige Großmutter aber lebt noch in Salamiyya. Ihr Onkel Thaer, der sich nicht mehr als Weihnachtsmann verkleidet, arbeitet heute als Totenwäscher. Ihr Großonkel liegt seit zwei Jahren in Salamiyya begraben. Bis heute prägt sein Schicksal ihre Arbeit als Lyrikerin. Er hat sie in die Welt der Worte eingeführt, hat ihre Verbindung zur Lyrik geprägt, auch weil diese Welt ihm selbst nie ganz zugänglich war. Sein Vater hatte ihm das Dichten mit der Rute ausgetrieben, als er in der Religionsstunde anstatt einer Freitagsrede ein Gedicht vortrug. »Ich glaube, er hat mich deshalb schon als Kind ermutigt, mich in meinen Texten auszudrücken«, sagt Atfah heute. Aktuell schreibt sie einen Roman über jenen Mann, den sie Großvater nennt. Doch das Schreiben fällt ihr schwer. »Die Erinnerungen an Salamiyya sind übermächtig«, sagt sie und hebt hilflos die Schultern. Sie erzählt von Alpträumen, in denen die Straßen von Salamiyya mit denen von Wanne-Eickel verschmelzen. Davon, dass der Schmerz über das Zurückgelassene einen Raum braucht, in dem er sich sortieren kann.
Schlafstörungen im Gepäck Als Lina Atfah in Deutschland ankam, trug sie ein weißes Kleid, ihren Hochzeitsschleier und hatte Schlafstörungen im Gepäck. Noch immer hat sie sich nicht gänzlich vom Schock des Verlusts und des Ankommens erholt. Aber die Lyrik hat sie zurück ins Leben geholt. Über Literaturinitiativen und Kontakte fand sie Mög-
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lichkeiten, ihre Texte in Deutschland zu veröffentlichen. Nach zehn Jahren steht sie endlich wieder auf Bühnen, tauscht sich mit anderen Autorinnen aus. Manchmal schreibt Atfah noch über die Vergangenheit, aber sie schreibt auch über Wanne-Eickel, wo sie mit ihrem Ehemann Osman Yousufi lebt, der ihre Gedichte ins Deutsche übersetzt. Sie schreibt darüber, wie sie in der Stille des ersten Corona-Jahres Fahrradfahren gelernt hat oder über ihr Unbehagen mit der deutschen Einwanderungspolitik. Ohne ihren Großonkel, sagt sie, wäre es vermutlich nie soweit gekommen. Ohne ihn hätte sie als Zwölfjährige vermutlich kaum ihre erste Lesung gehalten. In den Jahren bis zur Flucht – als sie nicht mehr auftreten durfte – war er ihr Publikum, vor dem sie sich literarisch ausprobieren konnte. Vielleicht stünden ihre Geschichten sonst heute nicht in der Vogue und auf Zeit Online. Und alte Gedichte von ihr lägen nicht zusammen mit dem Hochzeitsschleier im Auswandererhaus in Bremerhaven. Doch mittlerweile wird Atfahs Stimme in Deutschland gehört. Sie hat den LiBeraturpreis und den Kleinen Hertha KoenigLiteraturpreis gewonnen – für letzteren hatte Nino Haratischwili sie vorgeschlagen. In den literarischen Briefwechseln der beiden Autorinnen lässt sich eine außergewöhnlich starke Verbindung herauslesen. »Schreib’ mir Nino«, heißt es in einem von Atfahs Briefen, »weil ich jedes Mal, wenn ich deine Worte lese, den Rückweg nach Hause finde«. Es ist der Austausch mit anderen Autorinnen, der Atfah das Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt: Mit dem Schreiben ist sie angekommen.
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Foto: Michael Kappeler / dpa / pa
Von Utopien und Realitäten
Kritischer Blick. Der Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck untersucht die Lage der Menschenrechtsarbeit.
Die Menschenrechte sind eine konkrete Utopie, für die es sich zu kämpfen lohnt. Davon ist der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck überzeugt. In einem Essay analysiert er aktuelle Herausforderungen und zeigt Perspektiven auf. Von Wera Reusch
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on außen betrachtet mute die tägliche Menschenrechtsarbeit wenig strategisch an, stellt Wolfgang Kaleck fest: »Oft reagieren wir zu spät, mit unzureichenden Mitteln, machtlos angesichts der gewaltigen Gefahren. Trotz oder gerade wegen dieser alltäglichen Belastungen kommen wir nicht umhin, unsere Praxis kritisch zu reflektieren.« Der 60-Jährige gründete 2007 gemeinsam mit anderen international aktiven Anwältinnen und Anwälten das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin. Die juristische Menschenrechtsorganisation hat seither in zahlreichen Fällen dafür gesorgt, dass Verantwortliche für Folter, Kriegsverbrechen, sexualisierte Gewalt und wirtschaftliche Ausbeutung nicht ungestraft davonkamen. Kaleck hat die Ruhe des Corona-Lockdowns zum Anlass genommen für eine kritische Reflektion der Praxis. In seinem gut lesbaren Essay erinnert er an die Geschichte der Menschenrechte und ihre Bedeutung für historische Freiheitskämpfe von religiösen Minderheiten, Frauen, Schwarzen und Arbeitern. Unter der Überschrift »Die konkrete Utopie der Menschenrechte und die Realität nach 1945« analysiert er die politischen Entwicklungen und Instrumentalisierungen dieser Rechte vom Kalten Krieg über den »Krieg gegen den Terror« bis hin zur Gegenwart. Sehr lesenswert ist nicht zuletzt sein Überblick über wichtige Etappen der juristischen Menschenrechtsarbeit – angefangen
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von den Nürnberger Prozessen über die Pinochet-Verhaftung 1998 bis zu den jüngsten Verfahren gegen globale Unternehmen. Ausführlich geht Wolfgang Kaleck auf aktuelle menschenrechtliche Herausforderungen und Bewegungen wie #MeToo, Fridays for Future und Black Lives Matter ein. Ein eigenes Kapitel ist Amnesty International und der Geschichte der Organisation gewidmet. Er bescheinigt ihr einen enormen Erfolg, kritisiert aber ihre »Betroffenheitspolitik«. Amnesty habe darauf gezielt, »die Substanz der Politik, das Politische schlechthin zu moralisieren und nicht darauf, die Verhältnisse, die zu Menschenrechtsverletzungen führten, grundsätzlich in Frage zu stellen oder gar umstürzen zu wollen«. Dies sei »zugleich Grund für die Erfolgsgeschichte der Organisation wie für das Dilemma, unter dem sie bis heute leidet«. Inzwischen habe sich Amnesty zwar thematisch geöffnet und sei auch im globalen Süden besser verankert, dies habe jedoch zu einem neuen Dilemma geführt: »Der allenthalben sichtbare und bekannte Markenkern löste sich zunehmend auf.« Kaleck plädiert für breite Ansätze und Allianzen: Die juristische Menschenrechtsarbeit müsse stets von politischen Strategien begleitet werden. Neben politischen und bürgerlichen Rechten sollten wirtschaftliche und soziale Rechte stärker in den Mittelpunkt rücken. Menschenrechtsarbeit müsse »dekolonial, feministisch und ökologisch konzipiert werden«. Zudem fordert er eine stärkere Zusammenarbeit mit Kunstschaffenden. Selbst wenn man nicht alle Einschätzungen Kalecks teilt – seine Standortbestimmung ist zweifellos ein sehr sinniges Geschenk zum 60-jährigen Bestehen von Amnesty! Wolfgang Kaleck: Die konkrete Utopie der Menschenrechte. Ein Blick zurück in die Zukunft, Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2021, 176 Seiten, 21 Euro
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Kindheit in Belarus
Dahlie der Azteken
Die mutigen Demonstrationen in Belarus haben das Interesse für ein Land geweckt, das zuvor nur bekannt war als »letzte Diktatur Europas« samt Todesstrafe. Der Debütroman »Camel Travel« der belarussischen Autorin Volha Hapeyeva kommt daher zum richtigen Zeitpunkt. Die Ich-Erzählerin berichtet leichtfüßig von einer Kindheit in den 1980er- und 1990er-Jahren – von Zöpfen, Buchweizengrütze, Spagat und Klavierunterricht. Abgesehen von der Scheidung der Eltern und dem Zerfall der UdSSR keine dramatischen Ereignisse, wie es scheint. Und doch deutet die 1982 in Minsk geborene Autorin mit feiner Ironie an, was für ihre Generation kennzeichnend war: ein autoritäres Schulsystem, eine dogmatische Staatsideologie, ein ambivalentes Verhältnis zur Sowjetunion, der Reaktorunfall in der benachbarten Ukraine, Mangelwirtschaft und ein reaktionäres Frauenbild. Hapeyeva hat ihr Buch zwar lange vor der gefälschten Präsidentschaftswahl geschrieben. Es bildet jedoch einen interessanten Hintergrund; man versteht, warum so viele Frauen gegen das autoritäre und patriarchale Regime von Alexander Lukaschenko protestieren, der seit 1994 an der Macht ist. Volha Hapeyeva verließ das Land bereits vor der Wahl. Sie war als Übersetzerin für die OSZE ins Visier des Geheimdienstes geraten. Literaturstipendien ermöglichten ihr Aufenthalte in Österreich und Deutschland.
»Wenn ich einmal an der Reihe bin, die Welt zu erschaffen – womit ich fest rechne! –, soll mein Mai neunzig Tage dauern.« Jamaica Kincaid hat neben dem Schreiben eine weitere Leidenschaft: ihren Garten. Und im US-Bundesstaat Vermont, wo die Schriftstellerin wohnt, ist der Mai der Wonnemonat. Geboren 1949 auf der Karibikinsel Antigua, kam Kincaid als Au-pair-Mädchen in die USA, machte sich mit Kolumnen und Romanen einen Namen und unterrichtete afrikanische und afro-amerikanische Studien an der Harvard University. In »Mein Garten(Buch)« schildert sie mit Verve ihre eigenen Vorlieben und Fehlschläge, zitiert aus Samenkatalogen und Gartenklassikern, beschreibt Besuche in Botanischen Gärten und Parks. Immer wieder kommt sie darauf zurück, dass auch Pflanzen eine Kolonialgeschichte haben: So stammt die Dahlie von den Azteken und hieß cocoxochitl, bevor der schwedische Botaniker Andreas Dahl sie weiterzüchtete. Jamaica Kincaid ist meinungsfreudig und impulsiv. Ihr rhythmischer Stil erinnert an gesprochene Sprache. Ihre häufig autobiografisch grundierten Bücher sind im Deutschen in den vergangenen Jahrzehnten in unterschiedlichen Verlagen erschienen und teilweise vergriffen. Der Kampa Verlag bereitet Kincaid nun mit einer Neuausgabe ihrer Werke erneut eine Bühne. Ihre Gartenessays sind ein guter Einstieg, um die originelle Autorin (wieder) zu entdecken.
Volha Hapeyeva: Camel Travel. Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler. Droschl Verlag, Graz 2021, 128 Seiten, 18 Euro
Jamaica Kincaid: Mein Garten(Buch). Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann, Kampa Verlag, Zürich 2021, 272 Seiten, 22 Euro
Die Welt zu Tisch
Mordnacht der Nazis
In 80 Rezepten um die Welt – die Amnesty-Asylgruppe in Münster hat ein neues Kochbuch veröffentlicht. Es ist bereits die neunte überarbeitete Auflage von »Die Welt kocht«, die erste erschien Anfang der 1980er-Jahre. »Wir sammeln seit fast 40 Jahren Rezepte von Menschen, denen wir bei unserer Arbeit begegnen«, berichtet die Gruppe. »Wir treffen uns zu Kochabenden und probieren uns gemeinsam durch die Küchen dieser Welt. Unsere Erfahrungen und kulinarischen Entdeckungen möchten wir mit allen Kochbegeisterten teilen.« Wer internationale Klassiker sucht wie Chapati oder Empanadas, Taboulé oder Guacamole, Falafel oder Borschtsch wird hier fündig. Aber auch weniger bekannte Küchen werden vorgestellt: Ob aus Afghanistan oder Eritrea, Sri Lanka oder Georgien, Myanmar oder Uganda. Fast die Hälfte der Gerichte ist vegan, ein gutes Viertel ist vegetarisch, etwa ein Viertel enthält Fleisch oder Fisch. Bemerkenswert sind neben der schönen Gestaltung des Buchs und der praktischen Spiralbindung auch die 24 informativen Länderporträts, die den jeweiligen Rezepten vorangestellt sind. Sie sorgen dafür, dass »Die Welt kocht« mehr ist als eine bunte Sammlung: Es ist eine Einladung, sich mit Menschen jedweder Herkunft zu treffen und zu kochen, gemeinsam zu essen und sich auszutauschen.
Kirsten Boie ist zugleich eine der renommiertesten und engagiertesten deutschsprachigen Autorinnen. Geradezu unermüdlich ist ihr Einsatz für Kinder, Leseförderung und gegen Rechtsextremismus. Mit »Dunkelnacht« schreibt sie nun eindrucksvoll gegen das Vergessen der nationalsozialistischen Verbrechen an: Ihre Novelle beruht auf den historischen Geschehnissen um die Penzberger Mordnacht. Am Nachmittag des 28. und in der Nacht auf den 29. April 1945 – nur zwei Tage vor Hitlers Selbstmord – wurden in der oberbayerischen Kleinstadt 16 Menschen auf Befehl der Wehrmacht als »Verräter und Verbrecher am Volke« hingerichtet. Sozialdemokratisch gesinnte Penzberger hatten versucht, das Rathaus zu übernehmen, um die Zerstörung des Ortes zu verhindern und die erwartete Ankunft der Amerikaner vorzubereiten. Mitten hinein in die dramatischen Geschehnisse kurz vor Kriegsende setzt Boie drei Jugendliche, fiktive Charaktere, die sie die Schrecken, Brutalität und Grausamkeit beobachten und miterleben lässt. Marie und Schorsch sind frisch verliebt, aber wegen ihrer Väter – der eine »Soze«, der andere Polizeimeister – im inneren Zwiespalt. Und Gustl hat sich der nationalsozialistischen Organisation »Werwolf« angeschlossen, die in dieser Nacht acht Menschen erhängt. Dicht, bedrückend und aufwühlend ist das, was Boie erzählt, auch, weil es zeigt, wozu »ganz und gar durchschnittliche Menschen fähig« sind.
Amnesty International Asylgruppe Münster – Bezirk Münster-Osnabrück: Die Welt kocht. Rezepte. Menschen. Rechte. Überarbeitete 9. Auflage, Münster 2020, 191 Seiten, 19,50 Euro. Bezug: bestellung@dieweltkocht.de
Kirsten Boie: Dunkelnacht. Oetinger, Hamburg 2021, 112 Seiten, 13 Euro, ab 15 Jahren
Bücher: Wera Reusch, Marlene Zöhrer BÜCHER
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Vergebung vor Strafe
Vergessene Frauenstimme
Vor Gericht werden Schuldige bestraft, in der Wahrheitskommission werden Reuige belohnt – nach diesem Muster sollte nach der Apartheid-Ära die Aufarbeitung von Gräueltaten in Südafrika funktionieren. Mörder, die sonst nicht gestanden hätten, gaben ihre Taten zu, und gingen dafür straffrei aus. Mit diesem Verfahren beschäftigt sich Regisseur Roland Joffé in seinem Film »The Forgiven«. Leiter der »Truth and Reconciliation Commission« (TRC) war der südafrikanische Bischof Desmond Tutu, der im Film in Gestalt von Schauspieler Forest Whitaker im Mittelpunkt steht. Es ist das Jahr 1996, und nachdem Tutu den Angehörigen eines Opfers versprochen hat, die Wahrheit über dessen Verschwinden herauszufinden, führen ihn seine Nachforschungen zu dem Mörder und Rassisten Piet Blomfeld. Der sitzt in Kapstadts Pollsmoor-Gefängnis und sucht Vergebung für seine Verbrechen. Auf erstaunliche Weise nähern sich die unterschiedlichen Charaktere an. Ein Geständnis Blomfelds würde allerdings auch frühere Komplizen benennen, und da wird es für die Beteiligten gefährlich; die Handlung nimmt ein rasantes Tempo auf. »The Forgiven« ist sowohl aufwühlendes Plädoyer gegen Rassismus als auch handfestes und zuweilen brutales Justizkino. Sehenswert, aber nichts für schwache Nerven.
Es ist eine Geschichte, die so unglaublich ist, dass sie nur wahr sein kann. Lea-Nina Rodzynek wird 1925 in einem Dorf in der Nähe von Treblinka geboren. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen wird ihre jüdische Familie umgebracht. Ihr gelingt als Kind die Flucht nach Hamburg, sie versteckt sich, wird verraten und überlebt das Konzentrationslager. Im Nachkriegsdeutschland wird sie unter den Namen Belina zum Star, singt Volkslieder und Chansons in 17 Sprachen und reist in den 1960er-Jahren im Auftrag des Auswärtigen Amtes um die ganze Welt. In mehr als 120 Ländern verkündet die polnische Jüdin die Botschaft, dass das Land der Täter zu einem neuen, friedlichen Deutschland geworden sei. Sie habe niemals vergessen, hat die 2006 verstorbene Belina einmal gesagt, aber sie habe vergeben. Dass ihre Lieder und ihr engagiertes Leben für Versöhnung und Frieden heute nahezu vergessen sind, ist nicht nur eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, sondern sagt auch viel über den Umgang dieses Landes mit seiner Schuld. Dass ihr musikalisches Werk für sich allein stehen kann, beweist nun »Music For Peace«: Erstmals erscheinen Belinas Lieder auf CD. Nun ist wieder zu hören, wie sie mit einem Timbre zwischen Hildegard Knef und Juliette Greco Klassiker wie »Sag mir wo die Blumen sind« singt, aber auch Lieder aus dem Ghetto, jiddische, spanische und französische Folklore. Zu verdanken ist die Wiederentdeckung dem Regisseur Marc Boettcher, der mit seiner demnächst zu sehenden Dokumentation über Belina eine große Frauenstimme dem Vergessen entreißt.
»The Forgiven«. GB 2017. Regie: Roland Joffé, Darsteller: Eric Bana, Forest Whitaker. Video on Demand und DVD
Der echte Messias Am 3. Mai ist Festtag in Siculiana, einer kleinen Stadt an der südlichen Grenze Europas. An diesem Tag ehren die Einwohner die Statue eines schwarzen Jesus mit einer Prozession. Schon seit Jahrhunderten geht das so. Die Figur hat viele Fans, man freut sich das ganze Jahr auf den Umzug. Woher die schwarze Färbung des Holzes kommt, darin ist man sich nicht einig, und auch Regisseur Luca Lucchesi, der aus dem sizilianischen Ort stammt, klärt in seinem Film »A Black Jesus« nicht darüber auf. So bleibt es bei dem Mythos: Der Jesus sei schwarz, weil er die Sünden der Menschen habe auf sich nehmen müssen. Der 19-jährige Edward, der aus Ghana stammt und im Flüchtlingszentrum der Stadt hängengeblieben ist, fühlt sich von dem Brauch angesprochen. Weil der Mann am Kreuz aussehe wie er, sei es nur folgerichtig, dass er die Statue am Prozessionstag trage. Siculianas Einwohner müssen sich ihrer Geschichte stellen, aber schließlich begeben sie sich auf eine interessante Reise zu sich selbst, auch wenn diese von Angst vor dem Fremden und Vorurteilen gegenüber »dem Anderen« gekennzeichnet ist. Um das Andere geht es in diesem Fall aber letztlich nicht, denn keiner kann sich schließlich mit der Statue so identifizieren wie Edward. Und bald ist auch den Siculianern der echte Mensch lieber als ein Holzstück. Lucchesis Film ist Kino pur, die Kamera hält auf den Alltag der Leute an Europas Rand – und dokumentiert so ganz beiläufig, wie sich alte Grenzen auflösen und das Menschliche zum Vorschein kommt. »A Black Jesus«. D 2020. Regie: Luca Lucchesi. Kinostart: 13. Mai 2021
Belina: »Music for Peace« (Unisono Records/Edel)
Schwarze Lehrstunde Ja, was ist das? Lehrstunde oder Popmusik? Materialsammlung, Geschichtsvorlesung, Propaganda oder DiscothekenFutter? Wohl alles auf einmal. Mit »The American Negro« entwirft Adrian Younge einen komplexen, durchaus widersprüchlichen und unbedingt faszinierenden Beitrag zur aktuellen Rassismus-Diskussion. Während Spoken-Word-Stücke und Songs sich abwechseln, verschränkt der Filmkomponist, Musikproduzent, Labelbetreiber, Plattenladenbesitzer und Rechtsanwalt aus Los Angeles historische Quellen und philosophische Gedanken, gesellschaftspolitisches Essay und persönliche Erfahrungen mit Soul, Funk, HipHop und R&B – und lässt so diese Musiken Schwarzer Tradition in Korrespondenz treten mit der Geschichte von Sklaverei, Unterdrückung und Diskriminierung. Flankiert wird das Album von einem Kurzfilm auf Prime Video und dem Podcast »Invisible Blackness«. Ein Mega-Projekt, das den Hörer fordert und durchaus überfordern soll: Auf dem Cover ist Younge selbst zu sehen, inszeniert als Opfer eines Lynchmordes, fotografiert im Stil sogenannter Lynch-Postkarten, wie es sie in der US-Geschichte Jahrzehnte lang tatsächlich gegeben hat. Dass der Rassismus heutzutage besser getarnt daherkommt, so die Botschaft von Adrian Younge, macht ihn nicht weniger grausam. Adrian Younge: »The American Negro« (Jazz Is Dead/Indigo)
Film: Jürgen Kiontke | Musik: Thomas Winkler 78
AMNESTY JOURNAL | 03/2021
Foto: jip-film
Nein zum Schweigen sagen
Gefährdet. Carmen Aristegui ist eine der bekannstesten politischen Journalistinnen Mexikos.
Die Regisseurin Juliana Fanjul hat einen grandiosen Film über die mexikanische Radiomoderatorin Carmen Aristegui gedreht. Von Jürgen Kiontke
D
ie Demonstration ist laut, bunt und wütend. Javier Valdez, der Journalist, dem der Protest gewidmet ist, war bekannt für seine Recherchen zum Drogenkrieg in Mexiko. Nun haben Auftragskiller ihn ermordet – er war Verbindungen zwischen Politik und Bandenwesen auf der Spur. Es ist das Jahr 2017, und Nachrichten wie diese sind in Mexiko keine Seltenheit. Die Wahrheit herauszufinden, kann das Leben kosten. Investigative Journalisten und missliebige Politiker, Staats- und Rechtsanwälte zu töten, ist an der Tagesordnung. Unter welchen Bedingungen da noch gearbeitet werden kann, ist auch das Thema von Juliana Fanjuls mitreißendem Dokumentarfilm »Silence Radio« über die engagierte Reporterin Carmen Aristegui, die in Funk und Fernsehen immer wieder auf die Verflechtungen von Politik und Verbrechen aufmerksam gemacht hat. Täglich hörten mehr als 18 Millionen Menschen ihre Sendungen im Radio. Auch sie berichtete über Javier Valdez. Fanjul begleitet Aristegui bei ihrer Arbeit, bis die Journalistin Opfer eines politischen Skandals wird. Weil sie über Absprachen von Präsident Enrique Peña Nieto mit chinesischen Unternehmern über den Bau einer Bahnstrecke berichtet, kündigt ihr der Sender. Sie hatte berichtet, China habe Nieto für den Zuschlag eines Bauauftrages eine Villa spendiert. Aber Aristegui ist eine Berühmtheit: Mehr als 200.000 Menschen demonstrieren und unterschreiben eine Petition, in der ihre Rückkehr zum Sender gefordert wird. Das Unternehmen reagiert darauf zwar nicht, aber die engagierte Journalistin lässt sich nicht beirren und berichtet im Internet weiter.
FILM
Als ihr Laptop mit Recherche-Ergebnissen und Kontakten gestohlen wird, beginnt Carmen Aristegui sich bedroht zu fühlen. Die Diebe haben keine Scheu, ihr öffentlich zu drohen. Eines Tages erscheint in ihrer Timeline der Tweet »Ich twittere am Computer von Carmen«. Angst ist bei mexikanischen Medienschaffenden kein unbegründetes Gefühl. Seit dem Jahr 2000 wurden 104 Journalisten ermordet; 25 weitere gelten laut Amnesty International als »verschwunden«. Mexiko gleiche einer Verbotszone für Medienmitarbeiter, die den Mut hätten, über Themen wie organisierte Kriminalität und Komplizenschaft der Machthaber zu berichten, sagt Erika Guevara-Rosas von Amnesty International. Reporter ohne Grenzen spricht von einem Krieg gegen Medienschaffende – nirgendwo sonst würden so viele gezielt ermordet wie in Mexiko, und so gut wie nie finde eine vollständige Aufklärung statt. Landet ein Fall vor Gericht, müssen sich die Zeugen mehr fürchten als die Täter. Nur selten kommt es zu Verurteilungen. Juliana Fanjul fängt die Stimmung dieses Kampfes in ihrer Dokumentation gut ein, schildert aus der Perspektive der Betroffenen und bezieht so Position. Sie arbeitet mit drastischem Material, etwa aus Überwachungskameras: So ist zu sehen, wie ein Attentäter während einer Wahlkampfveranstaltung die Pistole zieht und einen oppositionellen Politiker erschießt. Der Film liefert Bilder von den gefährlichen Auseinandersetzungen mit einem autoritären und korrupten politischen System, das durch Drohungen und Einschüchterungen von Drogenkartellen ausgehöhlt ist. Aber er zeigt auch Menschen, die sich mit außergewöhnlichem Mut der Aufgabe stellen, einen Raum für die Pressefreiheit zu schaffen, um die Missstände öffentlich zu machen. »Silence Radio«. CH/MEX 2019. Regie: Juliana Fanjul. Kinostart: 15. April 2021
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BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.
Foto: Amnesty
ACHTUNG! Wegen der Verbreitung des CoronaVirus ist die weltweite Briefzustellung momentan eingeschränkt. Deshalb bitten wir Sie, Ihre Appellschreiben per E-Mail oder Fax bzw. an die Botschaft des jeweiligen Ziellandes zu schicken.
RUSSISCHE FÖDERATION ELENA MILASHINA Die russische Journalistin Elena Milashina, die im Zuge ihrer Arbeit Menschenrechtsverletzungen in der russischen Teilrepublik Tschetschenien aufdeckt, wird erneut mit dem Tode bedroht, eingeschüchtert und tätlich angegriffen. Milashina veröffentlichte am 15. März 2021 in der unabhängigen russischen Zeitung Novaya Gazeta die Geschichte eines ehemaligen Polizisten unter dem Titel »Ich arbeitete für die tschetschenische Polizei und wollte keine Menschen töten«. Seither gehen die tschetschenischen Behörden mit einer Verleumdungs- und Einschüchterungskampagne gegen Elena Milashina und die Novaya Gazeta vor. Repressalien, Drohungen, Einschüchterungen, Verleumdungen und körperliche Gewalt gegen Journalist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen sind in Tschetschenien an der Tagesordnung. Bereits im Jahr 2020 war die Journalistin
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angegriffen und mit dem Tode bedroht worden. Bisher sind die Verantwortlichen immer straffrei ausgegangen. Angesichts der erneuten Schikanen besteht große Sorge um die Sicherheit von Elena Milashina. Bitte schreiben Sie bis zum 30. Juni 2021 höflich formulierte Briefe an den russischen Generalstaatsanwalt und fordern Sie, dass Elena Milashina vor Angriffen und Einschüchterungen geschützt wird und ihrer journalistischen und menschenrechtlichen Arbeit in einem sicheren Umfeld und ohne Angst vor Repressalien nachgehen kann. Bitten Sie ihn, umgehend eine zielführende und unparteiische Untersuchung der Drohungen gegen die Journalistin und die Novaya Gazeta einzuleiten. Fordern Sie zudem eine Untersuchung der in dem Artikel gegen tschetschenische Sicherheitskräfte erhobenen Vorwürfe, Menschen rechtswidrig festgenommen, gefoltert und außergerichtlich hingerichtet haben.
Schreiben Sie in gutem Russisch, Englisch oder auf Deutsch an: Igor Viktorovich Krasnov Prosecutor General’s Office Ul. Bolshaya Dmitrovka, 15a Moscow GSP-3, 125993 RUSSISCHE FÖDERATION Fax: 007 - 495 987 58 41 Twitter: @Genproc (Anrede: Dear Prosecutor General / Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Russischen Föderation S. E. Herrn Sergei Nechaev Unter den Linden 63–65, 10117 Berlin Fax: 030 - 229 93 97 E-Mail: info@russische-botschaft.de (Standardbrief: 0,80 €)
AMNESTY JOURNAL | 03/2021
Foto: privat
CHINA YU WENSHENG Yu Wensheng ist ein bekannter Menschenrechtsanwalt, der bereits zahlreiche Angeklagte in öffentlichkeitswirksamen Menschenrechtsfällen vertreten hat – bis er selbst wegen »Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt« verurteilt und inhaftiert wurde. Nachdem die von ihm eingelegten Rechtsmittel zurückgewiesen worden waren, wurde er am 26. Januar 2021 ohne vorherige Ankündigung in das Gefängnis von Nanjing überstellt – 1.000
Kilometer vom Wohnort seiner Familie entfernt. Yu Wensheng wurde in der Haft gefoltert und anderweitig misshandelt, zudem hat sich sein Gesundheitszustand aufgrund der Haftbedingungen massiv verschlechtert: Er hat bereits vier Zähne verloren, weist Zeichen von Unterernährung auf und kann seinen rechten Arm aufgrund eines Nervenschadens kaum noch bewegen. Dies berichtete seine Frau Xu Yan, die am 5. Februar mittels eines Video-Calls eine halbe Stunde mit ihrem Mann sprechen konnte. Wenn Yu Wensheng nicht umgehend medizinisch behandelt wird, steht zu befürchten, dass sich sein Gesundheitszustand weiter verschlechtert und er sich davon nicht mehr erholen wird. Bitte schreiben Sie bis 30. Juni 2021 höflich formulierte Briefe an den Direktor der Haftanstalt von Nanjing und fordern Sie ihn auf, dafür zu sorgen, dass Yu Wensheng umgehend und bedingungslos freigelassen wird. Bis dahin muss er un-
Foto: Amnesty
Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de
GUINEA DIALLO AISSATOU LAMARANA Seit sechs Jahren fordert die Guineerin Aissatou Lamarana Diallo die Aufklärung der Erschießung ihres Ehemanns Thierno Sadou Diallo durch Sicherheitskräfte. Am 7. Mai 2015 hatte die Opposition in Conakry zu Protesten aufgerufen. Thierno Sadou Diallo nahm nicht daran teil, wurde jedoch am selben Abend von Personen in Gendarmerie-Uniform getötet, als diese eine Razzia im Stadttteil Ratoma durchführten. Fünf Sicherheitskräfte ka-
BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN
eingeschränkten Zugang zu angemessener Ernährung und medizinischer Versorgung sowie zu einem Rechtsbeistand seiner Wahl und seiner Familie erhalten. Er darf nicht gefoltert oder anderweitig misshandelt werden. Schreiben Sie in gutem Chinesisch, Englisch oder auf Deutsch an: Director Zhu Yonghong Nanjing Prison 9 Ning Shuang Lu Yuhuatai Qu, Najing City Jiangsu Sheng, 210012, CHINA (Anrede: Dear Director / Sehr geehrter Herr Direktor) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Volksrepublik China S. E. Herr Ken Wu Märkisches Ufer 54, 10179 Berlin Fax: 030 - 27 58 82 21 E-Mail: de@mofcom.gov.cn (Standardbrief: 0,80 €)
AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de
men auf Thierno Sadou Diallo und seine Freunde zu, die auf der Straße standen, und richteten eine Waffe auf sie. Als die Gruppe aus Angst in eine Seitenstraße floh, feuerten die Gendarmen zwei Schüsse ab, von denen einer Thierno Sadou Diallo in den Rücken traf. Aissatou Lamarana Diallo war zum Zeitpunkt der Tötung ihres Mannes schwanger und brachte zwei Wochen später ein Kind zur Welt. Sie hat drei Kinder und ist nun alleinerziehend. Auch sechs Jahre nach dem Vorfall hat sie weder Gerechtigkeit erfahren noch eine Entschädigung erhalten. Auch wurde bislang niemand für die rechtswidrige Tötung von Thierno Sadou Diallo zur Rechenschaft gezogen. Bitte schreiben Sie bis zum 30. Juni 2021 höflich formulierte Briefe an den Justizminister von Guinea und fordern Sie ihn auf, die Tötung von Thierno Sadou Diallo umgehend unabhängig und unparteiisch untersuchen zu lassen und die Verantwort-
lichen in Verfahren vor Gericht zu stellen, die internationalen Standards entsprechen. Fordern Sie zudem eine umfassende Entschädigungszahlung für Aissatou Lamarana Diallo, damit sie für ihre drei Kinder sorgen und in Würde leben kann. Schreiben Sie in gutem Französisch, Englisch oder auf Deutsch an: Minister of Justice Maitre Mory Doumbouya BP: 564 Conakry, GUINEA E-Mail: maitredoumbouya@yahoo.com (Anrede: Dear Minister / Sehr geehrter Herr Minister) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Guinea S. E. Herrn Mamadou Siradiou Diallo Jägerstraße 67–69, 10117 Berlin Fax: 030 - 200 74 33 33 E-Mail: t.knoechel@amba-guinee.de (Standardbrief: 0,80 €)
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Foto: Nika Kramer
AKTIV FÜR AMNESTY
Berliner Wandkunst mit Engagement. Katerina Voronina.
»IHR MUT IST UNGLAUBLICH MITREISSEND« Anlässlich des Weltfrauentags am 8. März 2021 wurde eine Berliner Hauswand in ein Kunstwerk verwandelt. Die in Moskau geborene Künstlerin Katerina Voronina (32) hat das Motiv entworfen. Es soll auf Frauenrechtlerinnen weltweit aufmerksam machen. Das Wandgemälde ist Teil des sogenannten »Brave Walls«-Projekts, einer internationalen Kooperation zwischen Amnesty International und der globalen Street Art-Community. Im Interview erzählt Katerina Voronina, was das Projekt für sie bedeutet.
schaft des Bildes verstehen, die Marielles Fall nicht kennen. Deshalb sind neben ihr weitere Frauen zu sehen. Ich habe sie bei alltäglichen Tätigkeiten gemalt: Frauen in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung, eine Frau beim Musizieren. Es sind Aktivitäten, die für viele leider keine Selbstverständlichkeit sind. Was macht das Projekt für Sie besonders? Es inspiriert mich, dass Frauen trotz aller Gefahren für ihre Rechte kämpfen. Ihr Mut ist unglaublich mitreißend. Hoffentlich lassen sich Betrachter_innen davon anstecken.
Interview: Parastu Sherafatian
Wie wurden Sie Teil des »Brave Walls«-Projekts? Ich gewann im Herbst 2020 den künstlerischen Wettbewerb, den das Urban Nation Museum for Contemporary Modern Art in Kooperation mit Amnesty International durchführte. Dabei ging es darum, das Motiv für die Hauswand in Berlin auszuwählen. Ich war sehr aufgeregt, in Berlin ein Kunstwerk kreieren zu dürfen, das in der Öffentlichkeit sichtbar ist. Von so einer Möglichkeit habe ich schon lange geträumt. Auf der »Brave Wall« in Berlin ist auch die brasilianische Menschenrechtlerin Marielle Franco abgebildet, die 2018 ermordet wurde. Wieso haben Sie sich dafür entschieden? Als ich in Vorbereitung für den Wettbewerb von bewundernswerten Frauenrechtlerinnen las, berührte mich ihr Schicksal besonders. Es war sehr schmerzlich für mich, von ihrem bis heute unaufgeklärten Mord zu erfahren. Ich entschied mich für sie als Protagonistin meines Motivs, um an ihre Geschichte zu erinnern. Gleichzeitig war es mir wichtig, dass auch Menschen die Bot-
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Manche Menschen behaupten, die Gleichberechtigung der Geschlechter sei bereits erreicht. Was entgegen Sie? Menschen, die das behaupten, müssen sich einfach die vielen Berichte über Femizide, sexualisierte Gewalt und Diskriminierung von Frauen anschauen. In meinem Heimatland Russland kämpfen wir zum Beispiel immer noch für ein Gesetz gegen häusliche Gewalt. Viele Länder sind von dem Ziel der Geschlechtergleichstellung noch weit entfernt. Was haben Sie sich für den Weltfrauentag gewünscht? Mein Wunsch war, dass wir Themen offen ansprechen, die uns Frauen betreffen. Um Probleme angehen zu können, muss man sie benennen. Das bedeutet auch, dass wir gegenüber Ungerechtigkeiten aufmerksam bleiben müssen. Und zwar weltweit. Es wäre einfacher, wegzuschauen und sich einzureden, dass uns die Rechte von Frauen oder LGBTI in Brasilien nichts angehen. Doch der Einsatz von mutigen Menschenrechtsverteidiger_innen wie Marielle hat Auswirkungen für uns alle: Er gibt uns den Mut, an eine bessere Welt zu glauben.
AMNESTY JOURNAL | 03/2021
FUSSBALL GEGEN RASSISMUS Der Fußballverein SV Darmstadt 98 unterstützt eine Amnesty-Kampagne gegen Rassismus.
Foto: SV 98
»Wir sind nicht nur ein Sportverein, sondern auch eine Wertegemeinschaft«, sagte Markus Pfitzner, der Vizepräsident des SV Darmstadt 98. »Es geht darum, rassistischen Tendenzen konsequent entgegenzuwirken. Egal, ob auf dem Platz, der Tribüne oder an irgendeinem anderen Ort.« Der Darmstädter Verein will nicht wegschauen, sondern dem Rassismus aktiv entgegentreten und verhindern, dass er sich in der Gesellschaft weiter verbreitet. »Viele Menschen in Deutschland werden Tag für Tag rassistisch diskriminiert, ausgegrenzt oder angegriffen«, heißt es in einer Mitteilung des
Fußballvereins. »Trotzdem wird Rassismus in unserer Gesellschaft weiterhin normalisiert.« Die Lilien, wie der Verein wegen seines Logos auch genannt wird, haben gemeinsam mit Amnesty ein Video produziert, das für Rassismus sensibilisieren soll. Darin zeigen die Spieler Haltung und positionieren sich klar gegen Diskriminierung. »Ich nehme Rassismus persönlich«, sagen Spieler nacheinander und deuten auf einen Amnesty-Button, den sie sich angesteckt haben. Der Spieler Erich Berko berichtet davon, wie er im Alltag Rassismus erlebt – etwa, wenn er darauf hingewiesen werde, wie gut sein Deutsch sei. Jeder Spieler hat eines der kostenlosen Amnesty-Aktionspakete gegen Rassismus erhalten, damit er auch in seiner
privaten Umgebung auf die Menschenrechte und das Thema Rassismus aufmerksam machen kann. In den kommenden Wochen will der SV Darmstadt 98 eine seiner Werbeflächen auf der vereinseigenen Homepage Amnesty zur Verfügung stellen, um auch an dieser Stelle auf das Thema hinzuweisen. »Alle haben den gleichen Anspruch auf Menschenrechte und Freiheit, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft oder Religion«, sagte Amnesty-Generalsekretär Markus N. Beeko. »Aber die Realität ist, dass in Deutschland Tag für Tag Menschen rassistisch beleidigt, bedroht und benachteiligt werden.« Beeko freute sich deshalb über das Engagement des SV Darmstadt 98. »Die Lilien beziehen Stellung und sagen: ›Kein Platz für Rassismus!‹ Nicht auf dem Platz, nicht im Stadion, nicht im Fanclub, nicht in Darmstadt.«
Erstklassiger Antirassismus eines Fußball-Zweitligisten. Der SV Darmstadt 98 bekennt sich.
IMPRESSUM Amnesty International Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Maik Söhler (V.i.S.d.P.), Jessica Böhner, Lea De Gregorio, Anton Landgraf, Tobias Oellig, Pascal Schlößer, Uta von Schrenk
AKTIV FÜR AMNESTY
Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Lisa Anke, Tamana Ayazi, Jamil Balga-Koch, Markus N. Beeko, Agnès Callamard, Jan Eckel, Peter Franck, Malte Göbel, Oliver Grajewski, Annette Hartmetz, Claudia Hülsken, Annette Jensen, Jürgen Kiontke, Felix Lill, Frank Odenthal, Barbara Oertel, Tigran Petrosyan, Teresa Quadt, Ralf Rebmann, Wera Reusch, Bettina Rühl, Thore Schröder, Parastu Sherafatian, Klaus Ungerer, Frédéric Valin, Wolf-Dieter Vogel, Elisabeth Wellershaus, Cornelia Wegerhoff, Thomas Winkler, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck
Spendenkonto: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
ISSN: 2199-4587
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