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Der WM-Gastgeber Katar im Überblick
FUSSBALL-WM IN KATAR
MENSCHENRECHTE AUF DER ARABISCHEN HALBINSEL
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Die dürftigen Unterkünfte der Vertragsarbeiter*innen. Doha, 2019.
Weltmeister im Wegducken
Miserable Arbeitsschutzrechte, überwachte Frauen und queere Fans ohne Schutz: Die Kritik an Katar als Gastgeber der Fußball-WM reißt nicht ab. Haben mehr als zehn Jahre internationaler Druck das Land verändert? Von Ronny Blaschke mit Fotos von Mohamed Badarne
Seit Jahrzehnten reist der Gewerkschafter Dietmar Schäfers durch die Welt und macht sich für bessere Arbeitsbedingungen stark. Er hat Ausbeutung dokumentiert, Ungerechtigkeit angeprangert, mit uneinsichtigen Minister*innen gestritten; doch sein erster Besuch in Katar im Jahr 2013 hat ihn besonders bedrückt.
Schäfers sah, wie sich viel zu viele Arbeiter*innen in enge Unterkünfte zwängen mussten, ohne ausreichend Wasser und Lebensmittel. Er hörte, dass Migrant*innen auf Baustellen verunglückten und in heißen Sommermonaten erkrankten oder ums Leben kamen. »Viele Arbeiter erhielten weniger oder gar keinen Lohn«, sagt Schäfers, Vizepräsident der Bau- und Holzarbeiter Internationalen (BHI), einer internationalen Gewerkschaftsföderation. »Das war moderne Sklaverei, und ich war mir damals sicher: Wir sollten die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 boykottieren.«
Ende November ist es soweit: Eines der größten Sportspektakel der Welt findet am Persischen Golf in Katar statt, auf einer kleinen Halbinsel zwischen SaudiArabien und Iran. Die Bauarbeiten der acht Stadien sind abgeschlossen, die modernen Metrolinien in der Hauptstadt Doha seit Jahren in Betrieb. Im Geschäftsbezirk West Bay werden regelmäßig Hotels, Einkaufszentren und Firmenzentralen eröffnet. Dieses rasante Wachstum tärisch ist Katar seinen Rivalen am Golf klar unterlegen. Doch je enger die Beziehungen zum Westen sind, etwa durch Fußball, desto unwahrscheinlicher erscheint der katarischen Regierung ein Angriff der Übermacht Saudi-Arabien.
wäre ohne die Vergabe der WM im Dezember 2010 wohl undenkbar gewesen.
Eine entscheidende Frage ist: Hat der internationale Druck in den vergangenen zwölf Jahren den Alltag der Arbeitsmigrant*innen in der Golfregion erleichtert? »Es ist ein wichtiger Prozess eingeleitet worden«, sagt Schäfers, der Katar seitdem oft besucht hat. »Auf den WM-Baustellen hat sich einiges verbessert. Aber dort, wo die Öffentlichkeit nicht so genau hinsieht, ist noch viel zu tun.«
Im geopolitischen Wettstreit auf der Arabischen Halbinsel ist die WM für Katar von zentraler Bedeutung. Das fossile Zeitalter mit hohen Gas- und Ölexporten geht mittelfristig zu Ende, und deswegen will das Emirat neue Wirtschaftszweige etablieren. Katar konkurriert um Investitionen, Fachkräfte und Tourist*innen vor allem mit seinen größeren Nachbarn Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. »Katar fühlt sich von Gegnern umzingelt«, sagt Sebastian Sons vom NahostForschungsnetzwerk Carpo. »Mit Großprojekten wie der WM will das Land seine eigene Verletzlichkeit bekämpfen.« Mili-
Das rasante Wachstum in Katar wäre ohne die Vergabe der WM wohl undenkbar gewesen.
Arbeitskräfte dringend gesucht
Die Spannungen am Golf waren nicht immer so groß. Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts spielte Katar keine große Rolle auf der Arabischen Halbinsel. Das änderte sich Anfang der 1970er Jahre mit der Unabhängigkeit von Großbritannien und der Entdeckung des weltweit größten Erdgasfeldes. Katar leitete eine Modernisierung ein, damals noch unter dem Schutz Saudi-Arabiens. Die katarische Monarchie wünschte sich einen florierenden Staat mit seriösen Institutionen und einer glitzernden Infrastruktur. Aber dafür brauchte es Arbeitskräfte.
Katar hatte in den 1970er Jahren nur rund 150.000 Staatsbürger*innen. In der frühen Aufbauphase kamen die Arbeitsmigrant*innen überwiegend aus Ägypten, Jemen und den palästinensischen Gebieten. Sie sprachen Arabisch wie die Einheimischen, viele von ihnen waren aber antimonarchistisch gesinnt. Die Regierung befürchtete Opposition und »Überfremdung«, wollte aber die ökonomische Entwicklung nicht bremsen. Spä-
testens ab den 1990er Jahren bemühte sie sich um Arbeiter*innen aus Südasien, die sich sprachlich und kulturell unterschieden und daher leichter von der eigenen Bevölkerung abschotten ließen.
Seither erhielten Millionen Migran t*innen aus Indien, Nepal, Bangladesch oder Pakistan einen Kafala, einen Bürgen, der ihre Pässe einbehalten, ihre Ausreise erschweren und ihren Jobwechsel verhindern konnte. Offiziell geschah das zur vorbeugenden Bekämpfung von Kriminalität, denn ihre Heimatländer unterhielten keine Auslieferungsabkommen mit Katar. Die westliche Öffentlichkeit interessierte sich für das Kafala-System, das auch in anderen Golfstaaten praktiziert wird, erst nach der WM-Vergabe an Katar im Jahr 2010.
Experten wie der Gewerkschafter Dietmar Schäfers sagen, dass in den ers ten Jahren nach der WM-Vergabe wichtige Zeit für Reformen ungenutzt verstrich. Die katarische Erbmonarchie duldet bis heute keine unabhängigen Medien, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Lange konzentrierten sich internationale Menschenrechtsorganisationen vor allem auf die Olympischen Winterspiele 2014 und die FußballWM 2018 in Russland.
Dennoch: Mit Kampagnen wie »Red Card for FIFA« richteten Gewerkschaftsbündnisse wie die IG Bau ihren Fokus allmählich auf Katar. Organisationen wie die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) reichten Beschwerden gegen Katar ein. Berichte von europäischen Medien oder Amnesty International veranlassten einflussreiche Sportsponsoren dann doch noch zu kritischeren Stellungnahmen mit Blick auf die WM 2022.
350.000 nepalesische Arbeitskräfte in Katar
»Bereits 2015 hat die katarische Regierung behauptet, dass das Kafala-System abgeschafft wurde«, sagt die Aktivistin Binda Pandey, die sich für die Rechte nepalesischer Arbeiter*innen in Katar stark macht. »Tatsächlich wurden viele neue Gesetze auf den Weg gebracht, aber häufig mangelt es an Umsetzung und Kontrolle.« In den vergangenen sechs Jahren hat das katarische Arbeitsministerium Richtlinien festgelegt, die europäischen Standards ähneln, was Arbeitszeiten, Ruhephasen und Beschwerdemöglichkeiten betrifft. Mitunter aber werden diese Reformen vom mächtigeren Innenministerium untergraben.
»Viele Arbeiter trauen sich nicht, juristisch gegen ihren Arbeitgeber vorzu gehen«, sagt Pandey. »Sie haben Angst, dass sie ausgewiesen werden und dann gar kein Geld mehr verdienen.« In Nepal sind fast 60 Prozent der Haushalte von Arbeitsmigration abhängig. Geldtransfers aus dem Ausland machen fast ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus. In Katar arbeiten rund 350.000 Nepales*innen. Auch Familien in Indien, Pakistan oder Bangladesch sind oft auf Überweisungen angewiesen.
Viele Arbeitgeber*innen haben eine familiäre Nähe zum Herrscherhaus und fühlen sich offenbar unantastbar. Entsprechend dokumentierten NGOs wie Amnesty International oder Human Rights Watch zahlreiche Verstöße gegen die neuen Gesetze. Vielfach werden noch immer Reisepässe einbehalten und Löhne nicht ausgezahlt. Außerdem bedrohen Arbeitgeber*innen häufig ihre Angestellten und hindern sie an der Wahrnehmung von Gerichtsterminen.
Noch immer verlangen Rekrutierungsagenturen von den Arbeiter*innen zum Teil horrende »Vermittlungsgebühren«. Viele Migrant*innen leben in streng überwachten Unterkünften. Amnesty International stellte bei mindestens sechs Firmen der Sicherheitsbranche »Elemente von Zwangsarbeit« fest. So mussten Wachleute unter Androhung von Strafen zum Teil mehr als 80 Wochenstunden arbeiten. Ein Amnesty-Bericht legt nahe, dass die katarische Regierung davon Kenntnis hatte.
Erkenntnisse wie diese lassen erahnen, dass sich die Lage nicht verbessert hat. Daher fordern Gewerkschaften, Fangruppen und Menschenrechtsorganisationen von der FIFA ein umfassendes Entschädigungsprogramm für Arbeitsmigrant*innen. Als einflussreichste Institution im Fußball sollte der Weltverband ihrer Ansicht nach dafür mindestens 440 Millionen Dollar bereitstellen – das entspricht der Summe des Preisgelds der anstehenden WM. »Auch wenn erlittenes Unrecht damit nicht rückgängig gemacht werden kann, kann die FIFA ein wichtiges Zeichen der Verantwortungsübernahme setzen«, sagt Katja Müller-Fahlbusch, Expertin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International in Deutschland.
FORGOTTEN TEAM
Für sein Projekt »Forgotten Team« reiste Mohamed Badarne (@badarne1) seit 2017 immer wieder nach Katar und Nepal, um dort Vertragsarbeiter*innen und ihre Familien zu treffen. Viele der in Katar eingesetzten Arbeiter*innen stammen aus Nepal. Badarne wurde in Palästina geboren und arbeitet seit 2012 als Fotograf für verschiedene Organisationen.
Es ist unwahrscheinlich, dass die FIFA ein solches Entschädigungsprogramm auflegt. Ihr Präsident Gianni Infantino und viele Funktionärskollegen wiederholen häufig, dass die WM in Katar Verbesserungen angestoßen habe. Ein Beispiel seien »Streitschlichtungsausschüsse«, die zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeiter*innen vermitteln sollen. Die ILO ist mit einem Büro in Doha vertreten, auch Gewerkschaftsverbünde sind für Inspektionen vor Ort. Inzwischen sollen mehr als 20.000 Arbeiter*innen ausstehende Löhne erfolgreich eingeklagt haben. Die Zahlen lassen sich allerdings nicht unabhängig überprüfen. In Katar leben rund 2,5 Millionen Arbeitsmigrant*innen, die 90 Prozent der Bevölkerung stellen. Noch können die wenigen Beschwerdestellen die Klagen nicht in angemessener Zeit bearbeiten.
»Starke Frauen«?
Bei anderen Menschenrechtsverletzungen ist der Staat von Beschwerdestellen weit entfernt. So müssen katarische Frauen weiterhin die Erlaubnis eines männlichen Vormunds einholen, wenn sie heiraten, im öffentlichen Bereich arbeiten oder im Ausland studieren wollen. Jahrzehntelang gab es kaum Räume, in denen sich katarische Frauen ohne die Abaya, die traditionelle schwarze Bekleidung, zeigen konnten. Weil Frauen abgeschottet werden, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie an Übergewicht, Diabetes und Depressionen leiden, wesentlich höher als in anderen Ländern. »Bei den Spielen in der Fußballliga der Frauen dürfen keine Männer zuschauen«, sagt Fatma, eine talentierte Spielerin aus Doha, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte. »Es geht