Amnesty Journal September/Oktober 2022

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JOURNAL WWW.AMNESTY.DE/JOURNAL Massengrab Mittelmeer Bilder einer Rettungsmission: Unterwegs mit der Sea-Watch 4 Buntes Erbe der Schwarzen Panther 1.000 Wandbilder im kalifornischen Oakland erinnern an die Bürgerrechtsbewegung Gar nicht rund Die Fußball-WM in Katar und die Menschenrechte

Al Jazeera:

Höher, schneller, angesehener 17

POLITIK

Frauenrechte

gegen

Das bunte Erbe der Schwarzen Panther. Oakland an der US-West küste war ein Zentrum der Bürgerrechtsbewegung, hier gründete sich auch die mili tante Black Panther Party. Heute erinnern mehr als 1.000 Wandbilder an die Kämpfe von einst und verbinden sie mit aktuellen Forderungen der »Black Lives Matter«-Bewegung.

vom Golf: Schmutzige Energie 22

Zwischen Königshaus und Pressefreiheit 14

an Sportstrukturen: Tuğba Tekkal über Rassismus und Sexismus auf dem Fußballplatz und die WM in Katar 20

Gas

Saudi-Arabien:

15 Jahre Haft für Rechtsanwalt 25

Jemen:

Repression und Hinrichtungen 24

Wasser: Dutertes Kampf Drogen

Seit zwölf Jahren ein Menschenrecht 42 Todesstrafe in den USA: Bye bye, Death Row 44 Philippinen:

Menschenrechte

HipHop aus der Ukraine: FoSho rappt in Stuttgart in Nahost: Noam Shuster-Eliassi

Buch: Leonardo Paduras »Auch als Frau will ich frei sein.« Der Hilferuf #SaveRahaf ging 2019 auf Twitter um die Welt. Er stammte von einer jungen Frau aus einem Hotelzimmer in Bangkok: Rahaf Mohammed war auf der Flucht vor ihrer Familie und der Gesell schaft in Saudi-Arabien.

Weltmeister im Wegducken. Miserable Arbeitsschutzrechte, überwachte Frauen und queere Fans ohne Schutz: Die Kritik an Katar als Gastgeber der Fußball-WM reißt nicht ab. Haben mehr als zehn Jahre internationaler Druck das Land verändert? »Es war reine Neugier.« Die Fondation Cartier gilt als einer der

in Saudi-Arabien: Rahaf Mohammed floh vor ihrer Familie 26

Der vergessenste Krieg der Welt 28

Sonia

im

4 auf Rettungsmission: Massengrab Mittelmeer 32

Graphic

52

Sea-Watch

562610 66 Klima, Krieg und Krisen. Hunger, existenzielleUkraineKriegverschärftimhendrohendeZwangsehenzunehmendeDurst,undUnru–vorallemOstenAfrikasderinderdieNot. 40

der

64 Indigene

Kunst des Amazonas: Die Fondation

Hunger

Cartier 66

in Ostafrika: Klima, Krieg und Krisen 40

StreetKULTURArt:Das bunte Erbe

nach Wärme 60

Sportswashing:

Report: Arbeitsmigrant*innen entschädigen 18

Russische Exillyrik: Auf Suche

und die Folgen 46

nun

Saudi-Arabien:

2 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 TITEL:INHALTFUSSBALL-WM IN KATAR

62 Comedy

der Schwarzen Panther 56

Kritik

neuer Roman über Kuba 68 Film: Musikdokumentation »Liebe, D-Mark und Tod« 70 RUBRIKEN Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 06 Spotlight: Ukraine 38 Was tun 50 Porträt: Vandria Borari 54 Dranbleiben 55 Rezensionen: Bücher 69 Rezensionen: Film & Musik 71 Briefe gegen das Vergessen 72 Aktiv für Amnesty 74 Kolumne: Eine Sache noch 75 Impressum 75

Amazonasgebiet.LagecheAlbertdemlungdemgener.zeitgenössischeAusstellungsortewichtigstenfürdieKunstIndiEinGesprächmitDirektorderSammHervéChandèsundAnthropologenBruceüberunterschiedliBildkonzepteunddiederYanomamiim

auf der arabischen Halbinsel: Der WM-Gastgeber Katar im Überblick 10

& GESELLSCHAFT

Amnesty-Medienpreis: Mikich Gespräch

AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 3

»Revolutioniere die Welt wie Malewitsch!« Die drei Schwestern Betty, Siona und Miriyam Endale wuchsen als Kinder äthiopischer Einwander*innen in der Ukraine auf. Zusammen machen sie als FoSho HipHop – jetzt in Deutschland. Ein Gespräch mit Sängerin Betty über Flucht, jüdische Wurzeln und die Vorzüge von Stuttgart.

20 466232

EDITORIAL VORFREUDE IST ANDERSWO

Vor 30 Jahren griffen Neonazis ein Wohnheim für vietname sische Vertragsarbeiter*innen im Rostocker Stadtteil Lich tenhagen an – unter dem Beifall Tausender. Die Polizei griff nur zögerlich ein. Für die vietdeutsche Community sind das Pogrom und die Straflosigkeit für die meisten Tatbeteiligten »ein Trauma, das bis in die Gegenwart reicht«, sagt die Jour nalistin Nhi Le in einem Artikel von Heike Kleffner, den wir im August auf unserer Webseite veröffentlicht haben (am nesty.de/journal). Kleffner, die als Geschäftsführerin des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassis tischer und antisemitischer Gewalt arbeitet, erinnert an den »rassistischen Gewaltexzess von Rostock-Lichtenhagen«, der eine politische Zäsur markierte »und den Beginn eines rassistischen Flächenbrands in Ost- und Westdeutschland«. Wir wünschen eine gute Lektüre, im E-Paper, gedruckt, in der App oder online. Maik Söhler ist verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals. Foto: Gordon Welters Fotos oben: Mohamed Badarne | Markus C. Hurek | Annie Sakkab / The New York Times / Redux / laif Fabian Melber | Simon Maina / AFP / Getty Images | Carlo Gabuco | Arndt Peltner promo | Guilherme Gomes / Fondation

Titelbild:Cartier R. F. und ein Freund spielen Fußball in einer Unterkunft für Arbeits migrant*innen in Doha, Katar, 2019. Foto: Mohamed Bardane (@badarne1) Viele Beweise, wenig Hoffnung. Auf den Philippinen hatte ExPräsident Rodrigo Duterte den Kampf gegen Drogen ausgerufen – mit allen Mitteln. Während seiner Amtszeit sind Tausende Menschen erschossen worden, darunter viele Arme. Die Familien der Opfer fordern nun Gerechtigkeit.

DFB-Pokal, Bundesliga, internationale Clubwettbewerbe –die wenigen Wochen im Jahr, in denen der Profifußball ruht, sind längst vorbei, und Fans fiebern wieder mit ihren Ver einen. Einen besonders guten Eindruck hinterließ die Fuß ball-Europameisterschaft der Frauen im Sommer 2022. Zahl reiche Zuschauer*innen erfreuten sich an grandiosen Spie len, fairem Wettbewerb und großer Leidenschaft der Teams. Ganz anders reagieren viele, wenn das Gespräch auf die im November beginnende Fußball-Weltmeisterschaft der Män ner in Katar fällt. Da will sich keine Vorfreude einstellen, und selbst überzeugte Fußballfans überlegen, das Turnier zu ig norieren. »Ich werde mir diese WM wohl nicht anschauen«, sagt auch die ehemalige Bundesligaspielerin Tuğba Tekkal, die heute für eine Menschenrechtsorganisation arbeitet (Seite 20/21). Sie kritisiert Rassismus und Sexismus auf deut schen Fußballplätzen, vor allem aber die WM in Katar. 20 Seiten dieser Ausgabe beschäftigen sich mit der Weltmeis terschaft und den teils menschenrechtswidrigen Zuständen in Katar, aber auch mit der Situation in anderen Staaten auf der Arabischen Halbinsel wie Saudi-Arabien und Jemen.

Mittelmeer.MassengrabSeit die libysche mitwegswirdlenUnddemmehrhat,erweiterteKüstenwacheBefugnissesterbenimmerFlüchtendeaufWegnachItalien.dieArbeitaufziviRettungsschiffenschwieriger.UnterimMittelmeerderSea-Watch4.

»Ich werde mir diese WM wohl nicht anschauen.« Sie spielte in der deutschen Bundesliga und gründete nach ihrer Karriere die ProjektMädchen-Empowerment-schenrechtsorganisationMenHáwar.helpunddasScoringGirls*.TuğbaTekkalüberRassismusundSexismusaufdemFußballplatzunddieWMinKatar.

Im Bild: Indigene protestieren am 20. Juni 2022 in Quito.

INDIGENER TEILERFOLG IN ECUADOR

Foto: Rafael Rodriguez / Anadolu Agency / pa

4 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 PANORAMA

Im Juni protestierten indigene Gruppen mehr als zwei Wochen lang gegen soziale Miss stände. Bei teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei wurden sechs Demonstrierende getötet und Hunderte verletzt. Die Sicherheitskräfte nahmen Leónidas Iza, den Präsidenten des Indigenenbündnisses Conaie, vorübergehend fest. Ende Juni unterzeichneten Vertreter der ecuadorianischen Regierung und der Indigenen-Verbände eine gemeinsame Erklärung, die die Bischofskonferenz des Landes vermittelt hatte. Die Demonstrierenden erreichten, dass ihre Forderungen zumindest teilweise erfüllt werden: Die Vereinbarung sieht die Aufhebung des Ausnahmezustands vor, eine Senkung der Kraftstoffpreise sowie die Streichung von Kreditzinsen und Schulden. Außerdem sollen zwei Regierungsdekrete zur Ausweitung der Ölförderung im Amazonasgebiet und zum Bergbau überarbeitet werden. Über weitere Themen wird noch verhandelt.

WAFFENGESETZE IN DEN USA MINIMAL STRENGER Erstmals seit 30 Jahren konnte das Waffenrecht in den USA verschärft werden. Der US-Senat verabschiedete im Juni einen Kompromiss von Demokrat*innen und einigen Republikaner*innen für leicht strengere Waffengesetze auf Bundesebene. Künftig sollen Käufer unter 21 Jahren genauer überprüft werden. Weiterreichende Gesetzesänderungen fanden keine parlamentarische Mehrheit. Die öffentliche Debatte über strengere Waffen gesetze hatte wieder an Fahrt aufgenommen, nachdem im Mai ein 18-Jähriger in einer Grundschule in Uvalde, Texas, mit einem Sturmgewehr um sich geschossen und 19 Kinder sowie zwei Lehrerinnen getötet hatte. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Amok läufe in den USA stark angestiegen: 2021 zählte die Bundespolizei 61 Amokläufe mit Schusswaffen, eine Steigerung um mehr als 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Im Jahr 2020 starben in den USA mehr als 45.000 Menschen durch Verletzungen nach Schusswaffengebrauch – 124 am Tag. Im Bild: Besucher einer Waffenmesse, Houston, 27. Mai 2022. Foto: Mark Peterson / Redux / laif

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Der Journalist und Blogger Mansour Atti wurde im April freigelassen. Er war am 3. Juni 2021 von zehn bewaffneten Männern in der Nähe seiner Arbeitsstelle in der nordlibyschen Stadt Ajda biya verschleppt worden. Zu diesem Zeitpunkt war er Leiter des Roten Halbmonds und Vorsit zender der Zivilgesellschaftlichen Kommission in Ajdabiya. Danach fehlte zehn Monate lang jede Spur von ihm. Amnesty International setz te sich mehrfach für ihn ein und bat Mitglieder und Unterstützer*innen, Petitionen zu unter zeichnen, an Eilaktionen teilzunehmen, Briefe zu schreiben und in Online-Netzwerken seine umgehende und bedingungslose Freilassung zu fordern.

6 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022

EINSATZ MIT ERFOLG Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schützt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge

UKRAINE Das ukrainische Parlament hat im Juni das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ratifiziert. Die sogenannte Istanbul-Konvention definiert für die europäi schen Regierungen Mindeststandards zur Ge waltprävention, zum Schutz von Frauen und zur Strafverfolgung bei Verstößen. »Dies ist ein historischer Sieg für die Frauenrechte in der Ukraine«, sagte die Internationale General sekretärin von Amnesty International Agnès Callamard. »Die Ratifizierung wird das Leben aller Frauen im Land positiv beeinflussen.«

LIBYEN

VENEZUELA Am 22. Juni konnte ein Verleumdungsprozess gegen die Menschenrechtler Marino Alvarado und Alfredo Infante abgewendet werden. Sie erzielten eine Einigung mit dem Gouverneur des Bundesstaates Carabobo, Rafael Lacava. Alvarado und Infante sind Mitglieder der NGOs Provea bzw. Centro Gumilla, die einen Bericht über mutmaßliche außergerichtliche Hinrich tungen durch die Polizei in Carabobo veröffent licht und eine Rechenschaftspflicht entlang der gesamten Befehlskette gefordert hatten. Dar aufhin hatte der Gouverneur die beiden Men schenrechtler wegen Verleumdung angezeigt. Im Rahmen der Einigung sollen sie erklären, dass sich die Forderung nach Rechenschafts pflicht nicht auf den Gouverneur bezog. Eine Eilaktion von Amnesty trug dazu bei, dass Lacava von einem Prozess absah.

USA Am 11. Juli setzte das Berufungsstrafgericht von Texas die Hinrichtung von Ramiro Gonzales 48 Stunden vor der geplanten Vollstreckung aus. Gonzales war im September 2006 wegen eines Mordes zum Tode verurteilt worden, den er im Alter von 18 Jahren verübt hatte. Das Beru fungsstrafgericht verwies den Fall an das erstin stanzliche Gericht zurück, das nun prüfen muss, ob ein Sachverständiger die »zukünftige Ge fährlichkeit« von Gonzales falsch eingeschätzt hat. Die Feststellung der »zukünftigen Gefähr lichkeit« ist in Texas Voraussetzung für ein Todesurteil. Der fragliche Psychiater hatte Gon zales kürzlich erneut untersucht und war zu dem Ergebnis gekommen, dass von ihm »keine zukünftige Gefahr für andere« ausgehe.

Der marokkanische Journalist und Regierungskritiker Omar Radi hat im April erneut Berufung gegen seine Verurteilung zu einer sechsjährigen Gefängnisstrafe eingelegt. Der Fall liegt nun beim Kassationsgericht. Radi hatte öffentlich die Menschenrechts bilanz der Regierung kritisiert und zu behördlicher Kor ruption recherchiert. Nachdem Amnesty International im Juni 2020 einen Bericht veröffentlicht hatte, dem zufolge die Behörden das Telefon des Journalisten rechtswidrig abhörten, wurde er von behördlicher Seite schikaniert. Radi musste fast ein Jahr in Untersuchungs haft verbringen, bevor ihn ein Gericht im Juli 2021 wegen »Gefährdung der Staatssicherheit« und »Ver gewaltigung« verurteilte. Der Prozess verstieß gegen sein Recht auf ein faires Verfahren. Der einzige Zeuge, der Journalist Imad Stitou, wurde wegen Beihilfe zur Vergewaltigung verurteilt und erhielt eine sechs monatige Bewährungsstrafe. (November 2021)

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ÄGYPTEN

HedenmoFannyFoto:Foto:privat

IRAN Die iranischen Behörden haben Nahid Taghavi im Juli Hafturlaub gewährt, damit sie medizi nisch behandelt werden kann. Die 67-jährige iranisch-deutsche Staatsbürgerin ist seit Oktober 2020 im Teheraner Evin-Gefängnis inhaftiert. Ein iranisches Gericht hatte sie am 4. August 2021 zu zehn Jahren Haft wegen angeblicher Beteiligung an einer »illegalen Gruppierung« sowie zu acht Monaten wegen »Propaganda gegen den Staat« verurteilt. Taghavis Gesundheitszustand hat sich während ihrer Inhaftierung erheblich verschlechtert. Sie leidet an Diabetes und Bluthochdruck und muss am Rücken operiert werden. Amnesty betrach tet Taghavi als gewaltlose politische Gefangene und setzt sich mit Eil- und Protestaktionen für ihre umgehende und bedingungslose Freilas sung ein.

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN UPDATES Mit den Briefen gegen das Vergessen (siehe Seite 72) können sich alle gegen Unrecht stark machen – allein zu Hause oder gemeinsam mit anderen. In jedem Amnesty Journal rufen wir dazu auf, an Regierungen oder andere Verantwortliche zu schreiben und sich für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen einzu setzen. Was aus ihnen geworden ist, erfahren Sie hier. RUSSLAND Der Künstlerin Yulia Tsvetkova dro hen weiterhin bis zu drei Jahre Haft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr vor, sie habe »pornografische« Illustratio nen angefertigt und im russischen Online-Netzwerk VKontakte geteilt. Tsvetkova, die sich für die Rechte von Frauen und LGBTI+ einsetzt, hatte körperpositive Zeich nungen verbreitet, die unter anderem eine Vagina in ästhetischer Blumenform zeigen. Am 15. Juli hatte das Zentrale Bezirksgericht in Komsomolsk die Aktivistin freigesprochen. Doch legte die Staatsanwaltschaft um gehend Rechtsmittel gegen das Urteil ein. Bis Redak tionsschluss war nicht klar, wann das Rechtsmittelver fahren aufgenommen wird. Die russischen Behörden schikanieren Yulia Tsvetkova bereits seit mehr als drei Jahren mit Strafverfahren, Geldstrafen, Drohungen, Festnahmen und Reisebeschränkungen – allein des halb, weil sie sich friedlich engagierte. (April 2020) MAROKKO

Am 24. April wurde der Journalist Mohamed Salah von den ägyptischen Behörden auf freien Fuß gesetzt. Er hatte fast zweieinhalb Jahre ohne Anklage und Gerichtsverfahren in Haft verbracht. Vor seiner Inhaftierung am 26. No vember 2019 waren Vorwürfe über einen »Beitritt zu einer terroristischen Gruppe« und »Verbreitung falscher Nachrichten« gegen ihn verbreitet worden, die im Zusammenhang mit einer regierungskritischen Demonstration stan den. Obwohl ein Gericht am 19. Juli 2020 seine Freilassung angeordnet hatte, musste Salah im Gefängnis bleiben. Nach seiner Freilassung wandte er sich an die Mitglieder und Unterstüt zer*innen von Amnesty, die seine umgehende und bedingungslose Freilassung gefordert hat ten: »Ich danke euch allen für die kontinuierli che Unterstützung.«

TITEL 8 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022

Fußball-WM

Die glitzernde Skyline von Doha, Katar, 2019. Foto: Mohamed Badarne (@badarne1)

in Katar AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 9

Im November beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar – ein Großereignis, das Einfluss auf die gesamte Region am Persischen Golf haben wird. Seit Jahren kritisieren Menschenrechtler*innen die WM-Vergabe. Ob Tausende tote Arbeitsmigrant*innen im Gastgeberland Katar oder die Unterdrückung von Frauenrechten im Nachbarstaat Saudi-Arabien: Die Staaten der Arabischen Halbinsel zeichnen sich durch zahlreiche Verletzungen der Menschenrechte aus. Wird der internationale Fußball für Veränderungen sorgen oder nur der Imagepflege Katars dienen?

10 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 FUSSBALL-WM IN KATAR HALBINSELAUFMENSCHENRECHTEDERARABISCHEN Die dürftigen Unterkünfte der Vertragsarbeiter*innen. Doha, 2019.

Arbeitskräfte dringend gesucht Die Spannungen am Golf waren nicht im mer so groß. Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts spielte Katar keine große Rolle auf der Arabischen Halbinsel. Das änderte sich Anfang der 1970er Jahre mit der Unabhängigkeit von Großbritannien und der Entdeckung des weltweit größten Erdgasfeldes. Katar leitete eine Moderni sierung ein, damals noch unter dem Schutz Saudi-Arabiens. Die katarische Monarchie wünschte sich einen florieren den Staat mit seriösen Institutionen und einer glitzernden Infrastruktur. Aber da für brauchte es Arbeitskräfte. Katar hatte in den 1970er Jahren nur rund 150.000 Staatsbürger*innen. In der frühen Aufbauphase kamen die Arbeits migrant*innen überwiegend aus Ägyp ten, Jemen und den palästinensischen Gebieten. Sie sprachen Arabisch wie die Einheimischen, viele von ihnen waren aber antimonarchistisch gesinnt. Die Regierung befürchtete Opposition und »Überfremdung«, wollte aber die ökono mische Entwicklung nicht bremsen. Spä wäre ohne die Vergabe der WM im De zember 2010 wohl undenkbar gewesen. Eine entscheidende Frage ist: Hat der internationale Druck in den vergangenen zwölf Jahren den Alltag der Arbeitsmi grant*innen in der Golfregion erleichtert?

»Es ist ein wichtiger Prozess eingeleitet worden«, sagt Schäfers, der Katar seitdem oft besucht hat. »Auf den WM-Baustellen hat sich einiges verbessert. Aber dort, wo die Öffentlichkeit nicht so genau hin sieht, ist noch viel zu tun.« Im geopolitischen Wettstreit auf der Arabischen Halbinsel ist die WM für Katar von zentraler Bedeutung. Das fossile Zeit alter mit hohen Gas- und Ölexporten geht mittelfristig zu Ende, und deswegen will das Emirat neue Wirtschaftszweige etablieren. Katar konkurriert um Investi tionen, Fachkräfte und Tourist*innen vor allem mit seinen größeren Nachbarn Sau di-Arabien und den Vereinigten Arabi schen»KatarEmiraten.fühltsich von Gegnern umzin gelt«, sagt Sebastian Sons vom NahostForschungsnetzwerk Carpo. »Mit Groß projekten wie der WM will das Land seine eigene Verletzlichkeit bekämpfen.« Mili

eit Jahrzehnten reist der Ge werkschafter Dietmar Schäfers durch die Welt und macht sich für bessere Arbeitsbedingun gen stark. Er hat Ausbeutung dokumentiert, Ungerechtigkeit angepran gert, mit uneinsichtigen Minister*innen gestritten; doch sein erster Besuch in Ka tar im Jahr 2013 hat ihn besonders be drückt.Schäfers sah, wie sich viel zu viele Ar beiter*innen in enge Unterkünfte zwän gen mussten, ohne ausreichend Wasser und Lebensmittel. Er hörte, dass Mi grant*innen auf Baustellen verunglück ten und in heißen Sommermonaten er krankten oder ums Leben kamen. »Viele Arbeiter erhielten weniger oder gar kei nen Lohn«, sagt Schäfers, Vizepräsident der Bau- und Holzarbeiter Internationa len (BHI), einer internationalen Gewerk schaftsföderation. »Das war moderne Sklaverei, und ich war mir damals sicher: Wir sollten die Fußball-Weltmeisterschaft 2022Endeboykottieren.«November ist es soweit: Eines der größten Sportspektakel der Welt fin det am Persischen Golf in Katar statt, auf einer kleinen Halbinsel zwischen SaudiArabien und Iran. Die Bauarbeiten der acht Stadien sind abgeschlossen, die mo dernen Metrolinien in der Hauptstadt Doha seit Jahren in Betrieb. Im Geschäfts bezirk West Bay werden regelmäßig Ho tels, Einkaufszentren und Firmenzentra len eröffnet. Dieses rasante Wachstum

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imWeltmeisterWegducken

Miserable Arbeitsschutzrechte, überwachte Frauen und queere Fans ohne Schutz: Die Kritik an Katar als Gastgeber der Fußball-WM reißt nicht ab.

tärisch ist Katar seinen Rivalen am Golf klar unterlegen. Doch je enger die Bezie hungen zum Westen sind, etwa durch Fußball, desto unwahrscheinlicher er scheint der katarischen Regierung ein Angriff der Übermacht Saudi-Arabien.

S

Haben mehr als zehn Jahre internationaler Druck das Land verändert?

Von Ronny Blaschke mit Fotos von Mohamed Badarne Das rasante Wachstum in Katar wäre ohne die Vergabe der WM wohl undenkbar gewesen.

Es ist unwahrscheinlich, dass die FIFA ein solches Entschädigungsprogramm auflegt. Ihr Präsident Gianni Infantino und viele Funktionärskollegen wiederho len häufig, dass die WM in Katar Verbesse rungen angestoßen habe. Ein Beispiel seien »Streitschlichtungsausschüsse«, die zwischen Arbeitgeber*innen und Arbei ter*innen vermitteln sollen. Die ILO ist mit einem Büro in Doha vertreten, auch Gewerkschaftsverbünde sind für Inspek tionen vor Ort. Inzwischen sollen mehr als 20.000 Arbeiter*innen ausstehende Löhne erfolgreich eingeklagt haben. Die Zahlen lassen sich allerdings nicht unab hängig überprüfen. In Katar leben rund 2,5 Millionen Arbeitsmigrant*innen, die 90 Prozent der Bevölkerung stellen. Noch können die wenigen Beschwerdestellen die Klagen nicht in angemessener Zeit bearbeiten. »Starke Frauen«?

Bei anderen Menschenrechtsverletzun gen ist der Staat von Beschwerdestellen weit entfernt. So müssen katarische Frau en weiterhin die Erlaubnis eines männ lichen Vormunds einholen, wenn sie hei raten, im öffentlichen Bereich arbeiten oder im Ausland studieren wollen. Jahr zehntelang gab es kaum Räume, in denen sich katarische Frauen ohne die Abaya, die traditionelle schwarze Bekleidung, zeigen konnten. Weil Frauen abgeschottet werden, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie an Übergewicht, Diabetes und Depres sionen leiden, wesentlich höher als in an deren»BeiLändern.denSpielen in der Fußballliga der Frauen dürfen keine Männer zu schauen«, sagt Fatma, eine talentierte Spielerin aus Doha, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte. »Es geht12 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 testens ab den 1990er Jahren bemühte sie sich um Arbeiter*innen aus Südasien, die sich sprachlich und kulturell unterschie den und daher leichter von der eigenen Bevölkerung abschotten ließen. Seither erhielten Millionen Migran t*innen aus Indien, Nepal, Bangladesch oder Pakistan einen Kafala, einen Bürgen, der ihre Pässe einbehalten, ihre Ausreise erschweren und ihren Jobwechsel verhin dern konnte. Offiziell geschah das zur vorbeugenden Bekämpfung von Krimina lität, denn ihre Heimatländer unterhiel ten keine Auslieferungsabkommen mit Katar. Die westliche Öffentlichkeit inter essierte sich für das Kafala-System, das auch in anderen Golfstaaten praktiziert wird, erst nach der WM-Vergabe an Katar im Jahr Experten2010.wie der Gewerkschafter Dietmar Schäfers sagen, dass in den ers ten Jahren nach der WM-Vergabe wichtige Zeit für Reformen ungenutzt verstrich. Die katarische Erbmonarchie duldet bis heute keine unabhängigen Medien, Ge werkschaften und Nichtregierungsorga nisationen (NGOs). Lange konzentrierten sich internationale Menschenrechtsorga nisationen vor allem auf die Olympi schen Winterspiele 2014 und die FußballWM 2018 in Dennoch:Russland.MitKampagnen wie »Red Card for FIFA« richteten Gewerkschafts bündnisse wie die IG Bau ihren Fokus all mählich auf Katar. Organisationen wie die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) reichten Beschwerden gegen Katar ein. Berichte von europäischen Medien oder Amnesty International veranlassten einflussreiche Sportsponsoren dann doch noch zu kritischeren Stellungnahmen mit Blick auf die WM 2022. 350.000 ArbeitskräftenepalesischeinKatar »Bereits 2015 hat die katarische Regie rung behauptet, dass das Kafala-System abgeschafft wurde«, sagt die Aktivistin Binda Pandey, die sich für die Rechte ne palesischer Arbeiter*innen in Katar stark macht. »Tatsächlich wurden viele neue Gesetze auf den Weg gebracht, aber häu fig mangelt es an Umsetzung und Kon trolle.« In den vergangenen sechs Jahren hat das katarische Arbeitsministerium Richtlinien festgelegt, die europäischen Standards ähneln, was Arbeitszeiten, Ru hephasen und Beschwerdemöglichkeiten betrifft. Mitunter aber werden diese Re formen vom mächtigeren Innenministe rium untergraben.

FORGOTTEN TEAM Für sein Projekt »Forgotten Team« reiste Mohamed Badarne (@badarne1) seit 2017 immer wieder nach Katar und Nepal, um dort Vertragsarbeiter*innen und ihre Familien zu treffen. Viele der in Katar eingesetzten Arbei ter*innen stammen aus Nepal. Badarne wurde in Palästina geboren und arbeitet seit 2012 als Fotograf für verschiedene Organisationen.

Amnesty International stellte »Elemente von Zwangsarbeit« fest.

»Viele Arbeiter trauen sich nicht, ju ristisch gegen ihren Arbeitgeber vorzu gehen«, sagt Pandey. »Sie haben Angst, dass sie ausgewiesen werden und dann gar kein Geld mehr verdienen.« In Nepal sind fast 60 Prozent der Haushalte von Arbeitsmigration abhängig. Geldtransfers aus dem Ausland machen fast ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus. In Katar arbeiten rund 350.000 Nepales*innen. Auch Familien in Indien, Pakistan oder Bangladesch sind oft auf Überweisungen angewiesen.VieleArbeitgeber*innen haben eine familiäre Nähe zum Herrscherhaus und fühlen sich offenbar unantastbar. Ent sprechend dokumentierten NGOs wie Amnesty International oder Human Rights Watch zahlreiche Verstöße gegen die neuen Gesetze. Vielfach werden noch immer Reisepässe einbehalten und Löhne nicht ausgezahlt. Außerdem bedrohen Ar beitgeber*innen häufig ihre Angestellten und hindern sie an der Wahrnehmung vonNochGerichtsterminen.immerverlangen Rekrutie rungsagenturen von den Arbeiter*innen zum Teil horrende »Vermittlungsgebüh ren«. Viele Migrant*innen leben in streng überwachten Unterkünften. Amnesty International stellte bei mindestens sechs Firmen der Sicherheitsbranche »Elemen te von Zwangsarbeit« fest. So mussten Wachleute unter Androhung von Strafen zum Teil mehr als 80 Wochenstunden arbeiten. Ein Amnesty-Bericht legt nahe, dass die katarische Regierung davon KenntnisErkenntnissehatte. wie diese lassen erah nen, dass sich die Lage nicht verbessert hat. Daher fordern Gewerkschaften, Fan gruppen und Menschenrechtsorganisa tionen von der FIFA ein umfassendes Ent schädigungsprogramm für Arbeitsmi grant*innen. Als einflussreichste Institu tion im Fußball sollte der Weltverband ihrer Ansicht nach dafür mindestens 440 Millionen Dollar bereitstellen – das ent spricht der Summe des Preisgelds der anstehenden WM. »Auch wenn erlittenes Unrecht damit nicht rückgängig gemacht werden kann, kann die FIFA ein wichtiges Zeichen der Verantwortungsübernahme setzen«, sagt Katja Müller-Fahlbusch, Expertin für den Nahen Osten und Nord afrika bei Amnesty International in Deutschland.

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Oben: Ein Arbeiter kehrt nach einem harten Arbeitstag in der Nähe des Industriegebiets von Doha in seine Unterkunft zurück. 2019.

Unten: Nach der Arbeit muss M. lange warten, bis er an der Reihe ist, im Hof seiner Unterkunft eine Dusche zu nehmen. Doha, 2017.

Zwischen Königshaus und In der arabischen Welt gilt Al Jazeera als eine der wichtigsten unabhängigen Nachrichtenquellen. Wie es um die Objektivität bestellt ist, zeigt die Berichterstattung über die Fußball-WM 2022.

Die katarische Regierung hat wieder holt betont, der Sender berichte unabhän gig. Kritiker*innen vermuten jedoch, dass das Königshaus AJ nutzt, um seinen poli tischen Einfluss in der Region auszuwei ten. Damit hat sich der Sender bei den Re gierungen der Nachbarländer Katars un beliebtAJ-Journalist*innengemacht. waren in der Ver gangenheit wegen kritischer Berichter stattung immer wieder Repressionen aus gesetzt. Im Mai wurde die langjährige AJReporterin Shireen Abu Akleh im West jordanland offenbar von israelischen Sol daten getötet. 2014 setzte sich Amnesty für drei Mitarbeiter des Senders ein, die in Ägypten inhaftiert wurden.

14 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022

D er katarische Sender Al Jazeera (AJ) gilt vielen arabischsprachi gen Menschen als professionel le und zuverlässige Nachrich tenquelle. Von der US-Invasion in den Irak 2003 über den Arabischen Frühling bis hin zum Nahostkonflikt und den Men schenrechtsverletzungen autoritärer Re gime in der Region – für ein breites Publi kum ist die Berichterstattung von AJ eine Alternative zu staatlicher Propaganda undDochZensur.der Sender wird vom katari schen Königshaus finanziert. 1996 unter stützte der damalige Emir Sheikh Hamad bin Khalifa al-Thani die Gründung von AJ mit 137 Millionen Dollar. Zwar deklarierte er das Geld als Kredit, der bis 2001 zu rückgezahlt werden sollte. Da sich das Unternehmen aber nicht selbst finanzie ren konnte, wurde der Kredit auf unbe stimmte Zeit verlängert.

meisterschaft 2022. In der Folge gab es zahlreiche Vorwürfe und Kontroversen, über die weltweit diskutiert wurde. Zum einen stand der Vorwurf im Raum, Katar habe Bestechungsgeld an die FIFA bezahlt, um WM-Gastgeber zu wer den. Zum anderen deckte ein AmnestyBericht 2013 auf, wie katarische Arbeitge ber*innen ostasiatische Arbeitsmigrant*innen ausbeuteten und unter sklavenähnlichen Bedingungen festhielten. Viele wurden unter unmenschlichen Bedin gungen untergebracht und zu langen Ar beitstagen gezwungen, auch bei großer Hitze. Statistiken der katarischen Behör den zufolge starben zwischen 2010 und 2019 mehr als 15.000 Personen nicht-ka tarischer Staatsangehörigkeit. Weltweit folgte Kritik an der Ausbeutung der Mi grant*innen bis hin zu Boykottforderun gen von Fußballer*innen und Fans. Wie der hauseigene Sender des Golf staates auf die Kontroversen reagierte, hat eine israelische Forschungsgruppe 2011 bis 2013 untersucht. Sie kam zu dem

Wie aber steht es um die Objektivität bei der Berichterstattung über den eige nen Heimatstaat und Geldgeber? Das war bisher schwer zu überprüfen, denn häufig schaffte Katar es nicht in die internatio nalen Schlagzeilen. Vor zwölf Jahren dann erhielt das Emirat als erster arabischer Staat den Zuschlag für die Fußball-Welt

die Regierung das Narrativ der »starken Frau« und verweist auf weibliche Füh rungskräfte in Verwaltung und Kultur. Und auch auf »inspirierende Sportlerin nen«. Aber das sei nur Fassade, sagt Fat ma: »Von einer ernsthaften Unterstüt zung der Fußballerinnen kann keine Rede sein.«Für den Zuschlag einer Männer-WM müssen Bewerber gegenüber der FIFA auch die Förderung von Mädchen und Frauen nachweisen. In Katar wurde je doch erst 2009 eine nationale Fußball auswahl der Frauen gegründet. Im Ok tober 2010 bestritt sie ihr erstes Länder spiel. Anderthalb Monate später wurde die Männer-WM 2022 nach Katar verge ben. Danach war das Nationalteam der Frauen kaum aktiv und wurde auch nicht in der Weltrangliste geführt. Der Sport macht das Spannungsfeld zwischen dem offiziellen politischen An spruch auf »Modernität« und den konser vativen Normen in der Gesellschaft be sonders deutlich. Auf dem internationa len Universitätscampus Education City am Rande von Doha sind mehr als 70 Pro

Newsroom

AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 15

◆ Pressefreiheit Jedoch wird der Sender vom katarischen Königshaus finanziert.

Gokul Timilsina, Vertragsarbeiter: »Meine Arbeit bestand darin, Wasserflaschen zu den Geschäften zu tragen. Eines Tages fühlte ich mich durstig und hungrig. Ich beschloss, in den Supermarkt zu gehen. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass dies für Lieferanten wie mich verboten ist.« Nepal, 2022.

zent der Studierenden weiblich. Doch außerhalb der Hochschule ist die Lage anders.Während 70 Prozent der katarischen Männer erwerbstätig sind, beträgt der Anteil unter den Frauen nur 37 Prozent. Im Gender Gap Index des Weltwirt schaftsforums liegt Katar bezüglich Frau enbildung auf Platz 83 und damit immer hin im Mittelfeld der 153 bewerteten Staa ten. Im Bereich der weiblichen Gesund heit rangiert das Land hingegen auf Platz 142, was politisches Engagement angeht, sogar auf Platz 143. Bloß nicht über Homosexualität sprechen Der Emir und seine Umgebung beanspru chen die alleinige Deutungshoheit, das gilt auch für gesellschaftliche Normen und Geschlechterbilder. Nicht heterose xuelle Menschen müssen mit Einschüch terung, Verfolgung und Anklage rechnen. Immer wieder wurden schwule Männer in Online-Netzwerken geoutet und an schließend inhaftiert. Peitschenhiebe, wie sie das Gesetz vorschreibt, sollen in wie auf einem Flughafen zu: Kameras und Handys sind nicht erlaubt. Meist ver hindern die Eltern schon sehr früh, dass ihre Töchter regelmäßig trainieren.« In Katar prägt der Wahhabismus die Gesell schaft der Einheimischen, eine traditio nalistische Auslegung des sunnitischen Islams.Studien zeigen, dass Sportlerinnen in Katar als starke Frauen interpretiert wer den, aber im negativen Sinne: Sie haben mitunter Angst, wegen des Sports als maskulin oder lesbisch wahrgenommen zu werden. Die katarische Regierung will dieser Wahrnehmung etwas entgegenset zen, denn sie möchte ihre ökonomischen Netzwerke mit dem Westen nicht gefähr den. Im internationalen Austausch betont

Schluss, dass die englischsprachige Abtei lung von AJ ähnlich über Katar berichtete wie andere Medien aus Europa und den USA. Der arabische Zweig des Senders neigte jedoch zu einer überdurchschnitt lich positiven Darstellung des Emirats. Der Studie zufolge benannten alle Redak tionen seltener den katarischen Staat als Schuldigen für die Missstände.

Aktuelle Artikel des Senders im Inter net zeigen: AJ thematisiert zwar regelmä ßig die Vorwürfe gegen Katar, vor allem in Bezug auf die Ausbeutung von Arbei ter*innen. Allerdings wird staatlichen Stellungnahmen viel Platz eingeräumt und die Schuld für unmenschliche Ar beitsbedingungen eher bei den Arbeitge ber*innen als beim Staat gesucht. Hervor gehoben werden dagegen politische Re formen wie die Abschaffung des KafalaSystems – deren Wirksamkeit Kritiker*in nen allerdings bezweifeln. Von Hannah El-Hitami der arabischsprachigen Welt: Al Jazeeras Hauptstudio in Katar. Foto: Ziyah Gafic / VII / Redux / laif

denken gebracht: Anfang Juni nahm das deutsche Fußballnationalteam an einer Informationsveranstaltung mit kritischen Aktivist*innen und NGOs teil. Auch der FC Bayern München, der seit gut einem Jahrzehnt ins Wintertrainingslager nach Doha reist, lud nach langem Zögern kriti sche Fans zu einem Austausch mit katari schen Vertretern ein. Vor einigen Jahren wäre das noch undenkbar gewesen. Doch bei Runden Tischen sollte es nicht bleiben. Im Sommer 2024 findet die nächste Fußball-Europameisterschaft in Deutschland statt. Etliche Gastgeber städte wie Berlin arbeiten seit der Bewer bungsphase mit Menschenrechtsorgani sationen zusammen, um ein Nachhaltig keitskonzept zu erarbeiten. Auch einige Austragungsorte der WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko gehen in diese Richtung.»DieDiskussion um Katar wird hof fentlich dazu führen, dass Sportverbände die Vergabe von Großereignissen frühzei tig an Bedingungen knüpfen«, sagt Jonas Burgheim, Mitgründer des Zentrums für Menschenrechte und Sport. »Profiklubs sollten auf die Produktionsbedingungen ihrer Sponsoren und Trikothersteller schauen.« Selbst die FIFA hat ein Men schenrechtskonzept erarbeitet. Dennoch verlegte sie ihre Klub-WM 2021 aus dem von Corona geplagten Japan kurzerhand

Nirmala Tamang: »Mein Mann Rup Chandra Rumba war Bauarbeiter in den Stadien. Als er im Jahr 2019 starb, war er 24 Jahre alt. Uns wurde gesagt, er sei nicht versichert gewesen, also bekamen wir nur 2.000 US-Dollar und das auch erst, nachdem über seinen Tod berich tet wurde. Diese schmutzige WM sollte nicht beginnen, solange wir nicht unsere Rechte bekommen.« Nepal, 2020.

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jüngerer Vergangenheit nicht angewandt worden sein. Mehrere Männer, die für die Zeit vor und während der WM ein ge meinsames Hotelzimmer buchen woll ten, wurden ohne Angaben von Gründen abgelehnt.»Leider wurde viel zu spät begonnen, über die Rechte von queeren Menschen bei der WM zu sprechen«, sagt Piara Po war, Leiter des internationalen dieKatarFußball-WMsichqueereeinemeinekommen:überseiAntidiskriminierungsnetzwerksFußball-FARE.Esfastunmöglich,mitdenGastgebernHomosexualitätinsGesprächzu»DieKatarervermittelnallgeWillkommensbotschaften,abertatsächlicheSicherheitsgarantiefürFansgibtesnicht.«EswirdwohlnochJahredauern,bisseriösbeurteilenlässt,wiesichdieaufStaatundGesellschaftinausgewirkthat.InjedemFallhatDebattedieSportindustriezumNach in die Vereinigten Arabischen Emirate, die in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen hinter Katar plat ziertInsind.derRegion am Persischen Golf wird Katar von seinen größeren Nachbarn kri tisch beäugt. Die Herrscherhäuser in Sau di-Arabien oder den Emiraten fürchten, dass sie wegen der katarischen Reformen international in Zugzwang geraten. In den verbleibenden Wochen bis zur WM werden weitere Bücher und Dokumenta tionen zur Menschenrechtslage am Golf erscheinen. Doch die Geopolitik hat sich geändert.Seitdem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine bemühen sich westliche De mokratien wie Deutschland um Gasliefe rungen aus Doha. »Es gibt konservative Kräfte in Katar, die Reformen gern zu rücknehmen würden«, sagt der Gewerk schafter Dietmar Schäfers, der nun nicht mehr von einem Boykott sprechen will. Wenn diese Kräfte ihr Ziel erreichen, dann wohl erst nach der WM, wenn die Aufmerksamkeit woanders liegt. ◆ Diesen Artikel können Sie sich in unserer TabletApp vorlesen lassen: www.amnesty.de/app Aktuelle Informationen und Forderungen von Amnesty zur WM in Katar: amnesty.de/wm-katar-2022

Am Ende zählen die medial vermittel ten Bilder. Und wenn junge athletische Menschen in bunten Kleidern Sport trei ben, ist vieles wieder vergessen. ◆ Die Emirate wollen von Athlet*innenprofitieren,TV-Bilderndiezeigen. Sportswashing auf dem Trikot: Eddie Nketiah, London, 2022. Foto: Paul Terry / Newscom / pa

Höher, angesehenerschneller, Tote Arbeiter*innen auf Baustellen, fehlende Grundrechte und verletzte Menschenrechte verleihen einigen arabischen Staaten ein schlechtes Image. Das versuchen sie zu ändern, ohne die Missstände abzustellen –Sportswashing macht es möglich. Von Martin Krauß

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Seit 2016 setzt auch Saudi-Arabien auf Sportswashing. 2019 spielten dort die Fußballmächte Brasilien und Argentinien gegeneinander, seit einigen Jahren wird dort auch das italienische Fußball-Super cup-Finale ausgetragen. Als das Land 2017 die Blitzschach-WM veranstaltete, regte sich Widerstand, vor allem bei den Sport lerinnen. Die Veranstalter verlangten zu nächst von den besten Spielerinnen der Welt, dass sie sich verschleiert ans Brett setzen. Letztlich kam es zum »Kompro miss«, dass sie in der Halle, in der gespielt wurde, ihr Kopftuch ablegen durften.

Die Verhältnisse in den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Saudi-Ara bien sind mit Katar vergleichbar. Die Ver anstalter des Dubai- und des Abu-DhabiMarathon in den VAE investieren unge heure Summen, um die bislang für Welt klasseläufer*innen attraktivsten Stadtma rathons abzulösen. Damit die Athlet*in nen nicht kollabieren, finden die Events im Dezember und Januar statt. Bei Außentemperaturen von 25 Grad ist ein Marathon möglich. Ein Triathlon-Iron man-Wettbewerb findet in den VAE im März bei einer durchschnittlichen Tem peratur von 29 Grad statt. Die Emirate wollen von den TV-Bildern profitieren, die schwitzende Athlet*innen in der Wüs te oder vor Stränden zeigen.

D ie mendenundderFußball-WeltmeisterschaftMänner,dieimNovemberDezembermit32teilnehTeamsinKatarausge tragen wird, sorgt einmal mehr dafür, dass das Land globales Interesse auf sich zieht. Sehr viel Interesse sogar, wenn man bedenkt, dass in Katar nur 2,8 Millionen Menschen leben, von denen weniger als 300.000 Staatsbürger*innen sind; unter allen anderen Einwohner*innen überwie gen migrantische Arbeiter*innen mit deutlich weniger Rechten. Bereits seit Jahren kauft das Emirat große Sportveranstaltungen ein: In der Leichtathletik fand dort 2019 die FreiluftWM statt. Und seit 2010 ist der Qatar Athletic Super Grand Prix Teil der IAAF Diamond League, einer Serie wichtiger Wettkämpfe für Weltklasseathlet*innen. Im Radsport fand 2016 im Emirat die Straßen-WM statt. Die Schwimmer wollen ihre WM 2024 dort austragen, die TurnWM war 2018 vor Ort, im Tennis sind die Qatar Open für Männer und Frauen ein wichtiger Termin, und auch die Formel-1 gibt es. Fehlen nur noch Olympische Spie le; um die hat sich das Emirat zweimal vergeblich bemüht, doch für 2036 sieht es gutSportaus.steht für etwas, für das Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) oder das Königreich Saudi-Arabien ge meinhin nicht stehen: Weltoffenheit, Mo dernität, Jugendlichkeit und manchmal ein wenig erotisches Flair. Davon lässt sich profitieren. Sportswashing lautet der Fachausdruck für das Phänomen, ein po litisches System weißzuwaschen, das sich gegen Kritik immunisiert hat, zum Beispiel weil die Zustände für Arbeiter*innen auf Baustel len menschenunwürdig sind. Da kommt dann das positive Image gerade recht, das dank eingekaufter Sportevents medi al vermittelt wird. Wenn eine WM oder ein an deres großes Turnier ansteht, dürfen ausnahmsweise Men schen ins Land, für die ansons ten ein Bann gilt. Bis zum Jahr 2008 dauerte es, bis mit der Tennisspielerin Shahar Peer erstmals eine israelische Sport lerin ein Visum für Katar er hielt. Dafür wollten die Offi ziellen anschließend sogar noch gelobt werden. Für Menschen aus der LGBTIQ+-Community ist es noch schwie riger. Homosexuelle Handlungen unter liegen nach katarischem Recht strafrecht licher Verfolgung, wie auch jede Form von nichtehelichem Geschlechtsverkehr. Dass bislang keine Festnahmen queerer Menschen in Katar bekannt wurden, geht beinahe schon als Akt der Toleranz durch. Ein hoher Regierungsbeamter, Abdul Aziz Abdullah Al-Ansari, hatte noch im April 2022 gewarnt, Besucher*innen der Fuß ball-WM sollten besser keine Regenbo genfahnen zeigen.

entschädigenArbeitsmigrant*innen FUSSBALL-WM IN KATAR GRAPHIC REPORT 18 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022

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Die Benachteiligung von Frauen im Fuß ball fängt bei der Bezahlung an: Während meiner Fußballkarriere habe ich zwar ge spielt wie ein Profi, aber verdient wie eine Amateurin und musste mich mit Neben jobs über Wasser halten. Außerdem geht es häufig nicht um Fußball, sondern nur um das Aussehen von Frauen. Ich habe erlebt, wie Zeitungen Rankings erstellt haben, wer die schönsten Haare und Bei ne hat. Da muss sich auf jeden Fall noch einiges tun. Man hat als fußballspielende Frau auch mit vielen Vorurteilen zu kämpfen. Ein weit verbreitetes Vorurteil ist die Annahme, alle Fußballerinnen seien homosexuell. Wie beurteilen Sie, wenn die Kapitänsbinde in Regenbogenfarben ge auf den Wert von Menschenrechten, aber auch auf das Entwicklungspotenzial durch den Fußball hingewiesen. Das klare Bekenntnis zu Menschenrechten muss aber schon im Vergabeverfahren deutlich werden. Ich hoffe, dass seitens dieser Ver bände der Druck zur Aufklärung und zur Verbesserung von Missständen deutlich erhöht wird. Auch viele Profisportler*innen haben sich zur WM in Katar geäußert. Ich würde mir wünschen, dass noch deut lich mehr Sportler und Sportlerinnen Stellung beziehen. Natürlich können die Spieler*innen nichts für die WM-Vergabe, aber sie sind wichtige Vorbilder und wer den als Nationalheld*innen gefeiert. Mit dieser Strahlkraft geht auch Verantwor tung einher. Ich hoffe, dass sich die Teams dieser Verantwortung bewusst sind und diese WM nutzen werden, um die Aufmerksamkeit auf das Thema Men schenrechte zu lenken. Schauen Sie sich die WM trotz all der Missstände im Fernsehen an? Auch wenn mein Fußballherz blutet, ich werde mir diese WM wohl nicht anschau en. Denn auch wenn es mich traurig macht, würde ich mir dabei selbst nicht treu bleiben. Das gleiche gilt für meinen Freundeskreis. Sie haben schon häufiger auf Ras sismus im Fußball hingewiesen. Ha ben Sie selbst auch Rassismus im Fußball erlebt? In meiner Fußballkarriere bin ich dem FUSSBALL-WM IN KATAR KRITIK AN SPORTSTRUKTUREN

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Thema öfter begegnet, beispielsweise habe ich rassistische Sprüche von der Tri büne gehört oder wurde mit bestimmten Zuschreibungen konfrontiert. Ich habe kurdisch-jesidische Wurzeln, war aber oft nur »die Türkin«. Die meisten rassisti schen Anfeindungen habe ich allerdings abseits des Fußballfelds erlebt. Auch Sexismus und Homophobie sind im Fußball verbreitet.

Interview: Patrick Loewenstein Sie haben die Vergabe der FußballWM an Katar kritisiert. Warum? Es war eine falsche Entscheidung, die WM nach Katar zu vergeben. Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, wieso finanzielle Aspekte in diesem Verfahren mehr wiegen als Menschenrechte. Weil das Land in hohem Maße vom Turnier profitiert und durch den Imagegewinn gestärkt wird, kann die außenpolitische Dimension dieser WM nicht ignoriert werden. Die Menschenrechtsverletzun gen, der Umgang mit Gastarbeiter*innen und Minderheiten sind Probleme, die wir klar ansprechen müssen. Trotz aller Kritik wird die WM statt finden. Wir müssen die Aufmerksamkeit nutzen, um die Missstände publik zu machen und auf eine Veränderung hinzuwirken. Es braucht eine nachhaltige Verbesserung der menschenrechtlichen Lage in Katar. Eine Bilanz, ob und inwieweit sich die Verhältnisse nach dem Turnier geändert haben, werden wir erst im Rückblick zie hen können. Dass die WM einen Wandel herbeiführen kann, glaube ich momen tan allerdings nicht.   Wie bewerten Sie den Umgang des DFB und der FIFA mit dem Turnier? Sowohl die FIFA als auch der DFB haben

»Ich werde mir diese WM wohl nicht anschauen« Sie spielte in der deutschen Bundesliga und gründete nach ihrer Karriere die Menschenrechtsorganisation Háwar.help und das MädchenEmpowerment-Projekt Scoring Girls*. Tuğba Tekkal über Rassismus und Sexismus auf dem Fußballplatz und die WM in Katar. »Wieso wiegen finanzielle Aspekte bei der WM-Vergabe mehr als Menschenrechte?«

Gibt es wesentliche Unterschiede in Bezug auf Rassismus und Homopho bie zwischen Frauen- und Männer fußball? Ein wesentlicher Unterschied ist, dass der Männerfußball auf einer größeren Bühne stattfindet und der Rassismus dort des halb eine ganz andere Schlagkraft hat. Das wurde zum Beispiel beim vergange nen EM-Finale deutlich, als die engli schen Spieler nach verschossenen Elfme tern rassistisch angefeindet wurden. Die Fehlschüsse wurden sofort auf Hautfarbe und Herkunft heruntergebrochen. Ras sismus kommt auch im Frauenfußball vor, allerdings ist die Dimension anders. In Bezug auf Homophobie bestehen gro ße Unterschiede: Dass sich kaum männli che Fußballer outen, zeigt, dass Homose xualität im Männerfußball noch ein gro ßes Tabuthema ist.

Das Gefühl der Selbstbestimmung und Freiheit, das ihr der Fußball gegeben hat, will Tuğba Tek kal an junge Mädchen weitergeben. Sie hat mit ihren Schwestern die NGO Háwar.help gegrün det und Scoring Girls* ins Leben gerufen. Das Fußballprojekt soll »Safe Spaces« schaffen, in denen sich jede unabhängig von Nationalität, sozioökonomischer Herkunft, Sexualität oder Glaubensrichtung selbstbewusst entfalten kann. immer wieder, dass sie als Held*innen gefeiert werden, solange sie erfolgreich sind. Aber sobald sie sich einen Fehltritt leisten, werden sie auf ihre Hautfarbe oder Herkunft reduziert. Da braucht es eine solidarische Fangemeinschaft, die sich unabhängig vom Erfolg hinter die Spieler*innen stellt.

Was fordern Sie für den Profisport und für künftige WM-Vergaben? Ich wünsche mir, dass es nicht nur bei Zeichen für Toleranz bleibt, sondern auch strukturelle Veränderungen angestrebt werden. Dazu gehört auch mehr Druck von wirtschaftlicher Seite. Ich frage mich, warum von Sponsorenseite keine Haltung gezeigt wird. Der Fußball muss auf allen Ebenen inklusiver werden, das wird sich dann letztlich auch auf die Profistruktu ren auswirken. Und vor allem: Fußball ist für die Menschen da und sollte nicht vom Geld bestimmt werden. ◆

erleben

halten ist? Oder wenn Spieler*innen vor dem Anpfiff Transparente oder Botschaften zeigen? Fußball kann viel verändern und hat eine große gesellschaftliche Macht. Ich finde es wichtig, Zeichen für Toleranz zu setzen, insbesondere auf der großen Bühne, die der Fußball bietet, und wegen der Vor bildfunktion der Spieler*innen. In der Öffentlichkeit positionieren sich die Ver eine und Spieler*innen häufig gegen Ras sismus und Homophobie. Dennoch sieht man beispielsweise daran, dass sich im mer noch kaum Fußballer*innen öffent lich outen, dass es sich oft nur um leere Worte handelt und mehr passieren muss, als »No Homophobia« oder »No Racism« zu plakatieren. Es darf nicht bei Zeichen und Bekundungen bleiben; die Verbände und Vereine müssen handeln und sich dafür einsetzen, diskriminierende Struk turen aufzubrechen. Welche Rolle haben dabei die Fans? Gerade während der letzten Europameis terschaft der Männer ist deutlich gewor den, dass es keinen toleranten, weltoffe nen Fußball ohne eine entsprechende Fankultur gibt. Insbesondere Spieler*in nen mit Migrationshintergrund

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SCORING GIRLS*

TUĞBA TEKKAL (37) wuchs gemeinsam mit zehn Geschwistern als Kind kurdisch-jesidischer Flüchtlinge in Hannover auf. Ihre Leidenschaft für den Fußball musste sie vor ihren traditionell geprägten Eltern lange geheim halten. Mit Hilfe ihrer Geschwister setzte sie sich dann aber gegen die Vorstellungen ihrer Eltern durch und schaffte es als Spielerin bis in die 1. Bundesliga. Sie spielte unter anderem für den Hamburger SV und den 1. FC Köln. Foto: Markus C. Hurek

EnergieSchmutzige

EmirbeckschaftsministerBundeswirtRobertHaverbeugtsichvordemvonKatar,vondemer

D as Bild ging durch die deut schen Medien:

FUSSBALL-WM IN KATAR GAS VOM GOLF 22 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022

kurzfristig Gaslieferungen erwartet. Vor dem Ukraine-Krieg kamen 55 Prozent der deutschen Gasimporte aus Russland, die se Abhängigkeit will die Bundesregierung nun so rasch wie möglich reduzieren. Doch bisher fehlen nicht nur die techni schen Voraussetzungen, um deutsche Gasspeicher mit Erdgas aus Katar zu füllen. Der Emir hat auch wirtschafts politisch völlig andere Prioritäten als Deutschland. Während die Ampelregie rung erklärt hat, sich aus Klimaschutz gründen möglichst schnell von fossilen Energien verabschieden zu wollen, ver langt Katar eine 20-jährige Laufzeit des Liefervertrags sowie Preisgarantien.

Die Bundesregierung will infolge des Ukraine-Kriegs Erdgas statt aus Russland künftig aus Katar beziehen. Doch der arabische Staat ist alles andere als ein Ort der Menschenrechte. Von Annette Jensen

reduziert werden. Doch die Bundesregie rung zögert. Auch die G7-Staaten brem sen und verabschiedeten auf ihrem Gip fel im Juni einen Prüfauftrag für neue Gasinvestitionen. »Das ist ein deutlicher Rückschritt«, kritisiert Micus. »Deutsch land muss endlich seine Verantwortung als ein Hauptverursacher der Klimakrise anerkennen, Emissionen schnellstmög lich reduzieren und die am meisten be troffene Länder bei der Bewältigung der Klimakrise unterstützen.« Das wird ohne Änderungen des Lebensstils kaum mög lich sein – und Umfragen belegen, dass viele Bürger*innen dazu bereit sind. Geschäfte mit einem absoluten Monarchen Weil Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, versucht die deutsche Regierung, die wirtschaftlichen Bezie hungen zu Moskau so weit wie möglich zu kappen. Doch das sollte nicht den Blick dafür verstellen, wie die Lage bei mög

»Klimagerechtigkeit ist eine wichtige Voraussetzung zur Wahrung der Men schenrechte weltweit«, erklärt Annelen Micus, Amnesty-Fachreferentin für Kli magerechtigkeit, Wirtschaft und Men schenrechte. Schon heute haben Stürme, Überschwemmungen und Trockenheit die Lebensgrundlagen in manchen Teilen der Welt zerstört. Fällt die Erderhitzung höher als 1,5 Grad im Vergleich zur vorin dustriellen Zeit aus, beraubt das weitere Millionen Menschen ihrer fundamenta len Rechte. Viele werden durch Hitzewel len oder Hunger sterben. Die Rechte auf Nahrung, Wasser und eine intakte Um welt wären vielerorts nicht mehr durch setzbar.»Eine Beschleunigung der Energie wende ist deshalb dringend notwendig«, sagt Micus. Statt sich auf lange Sicht auf Gas- und Ölimporte festzulegen, müsste die Abhängigkeit der deutschen Wirt schaft und Bevölkerung von fossilen Energiequellen so schnell wie möglich

Zwar hat Katar offiziell das System seit 2015 schrittweise abgeschafft, und seit zwei Jahren können Arbeitsmigrant*in nen theoretisch ihre Arbeitgeber*innen wechseln. Zudem hat der Staat einen ma geren Mindestlohn in Höhe von inzwi schen 275 Dollar eingeführt sowie einen Fonds eingerichtet, der ausstehende Lohnzahlungen übernehmen soll, wenn ein Unternehmen pleitegeht.

Migrant*innen sehr schlecht. Recherchen dazu sind schwierig. »Wir können zwar mit den staatlichen Behörden sprechen«, berichtet Katja Müller-Fahlbusch, Amnes ty-Fachreferentin für den Nahen Osten und Nordafrika. »Doch gibt es in Katar keine organisierte Zivilgesellschaft, und Arbeitsmigrant*innen dürfen sich nicht in Gewerkschaften organisieren. So sind wir auf individuelle Kontakte und auf In formationen von Partnerorganisationen und Heimkehrer*innen nach Bangla desch oder in andere Herkunftsländer angewiesen.« Weil man die toten Arbeits migrant*innen fast nie obduziere, wür den die Arbeitgeber*innen jegliche Ver antwortung für Todesfälle von sich wei sen. Für die Hinterbliebenen bedeutet das nicht nur den Verlust eines geliebten Menschen, sondern sie bekommen auch keinen Schadenersatz. Eingeschränkte Freiheiten Doch auch für die etwa 300.000 Kataris, deren Durchschnittseinkommen weltweit fast an der Spitze liegt, sieht es in puncto Menschenrechte nicht gut aus. »Kritik am Emir ist verboten, und auch die mangeln de Pressefreiheit beobachten wir mit Sor ge«, erklärt Müller-Fahlbusch. So wurden im Mai zwei Rechtsanwälte zu lebenslan ger Haft verurteilt, die das vom Emir er lassene Wahlgesetz kritisiert hatten. Ein kenianischer Wachmann, der sich als Blogger für die Rechte von Arbeitsmi grant*innen eingesetzt hatte, wurde will kürlich verhaftet und durfte das Land nur gegen Zahlung einer hohen Geldstrafe verlassen. Zwei norwegische Journalisten wurden mehr als 30 Stunden festgehalten und mussten ohne ihr Filmmaterial aus reisen, weil sie bei ihren Recherchen zu Arbeitsbedingungen angeblich unbefugt Privatgelände betreten hatten. Homosexualität ist in Katar gesetzlich verboten, Frauen werden durch Gesetze und im Alltag diskriminiert. Zwar gelten die Mutter und die zweite Ehefrau des Emirs als einflussreich und haben die Bil dungschancen von Mädchen zusehends verbessert. Doch Katars Familienrecht orientiert sich weiter an der Scharia. Auf grund des Vormundschaftssystems müs sen Frauen bei allen wichtigen Entschei dungen wie Eheschließung, Auslandsrei sen oder in Finanzfragen eine Erlaubnis ihres Vormunds einholen. »Sicher ist die Lage besser als in Saudi-Arabien – und darauf weist Katar häufig hin. Aber das kann ja nicht der Maßstab sein«, sagt Müller-Fahlbusch.

»Der Wandel steht auf dem Papier, in der Praxis hat sich nichts geändert.« Ein Wachmann

◆ Objekt deutscher Begierde: Erdgasanlage in Ras Laffan, Katar. Foto: Andrew Testa / The New York Times / Redux / laif

Dabei sind sie in allen Belangen von den Arbeitgeber*innen abhängig: Diese behal ten ihre Pässe ein und regeln ihren Auf enthaltsstatus, eine frei gewählte Ausreise oder ein Arbeitsplatzwechsel ist nicht er laubt. Selbst wenn die Arbeitgeber*innen ihre Beschäftigten misshandeln, können sie so verhindern, dass diese sich andere Arbeitsplätze suchen oder ausreisen.

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Die Liste der angestoßenen Reformen ist lang. An der Umsetzung hapert es je doch, vor allem weil es kaum Kontrollen gibt. »Der Wandel steht auf dem Papier, aber in der Praxis hat sich nichts geän dert«, berichtet ein Wachmann, der anonym bleiben möchte. Und Vani Saras wathi von Migrant-Rights.org stellt fest: »Halten die Arbeitgeber die Mindest standards nicht ein, werden sie dafür kaum oder gar nicht zur Rechenschaft gezogen.« Auch würden es viele Arbeits migrant*innen nicht wagen, eine Entlas sungsbescheinigung zu beantragen, weil sie eine Abschiebung befürchteten. Ohne dieses Papier können sie jedoch keinen Anschlussjob finden. Immer wieder sterben Arbeitsmi grant*innen, die bei ihrer Einreise nach weislich gesund waren. Während auf den international überwachten Stadionbau stellen Abkühlräume eingerichtet wur den und der Unfall- und Gesundheits schutz vorbildlich ist, sind die Arbeitsund Wohnbedingungen der meisten

Von all diesen Voraussetzungen kann in Katar keine Rede sein. Das Land, das deutlich kleiner ist als Schleswig-Hol stein, wird von einem absoluten Monar chen regiert, der sich mit Glaspalästen und Sportstätten schmückt. Zwar lässt er seine etwa 300.000 Staatsbürger*innen am Reichtum aus den Öl- und Gasvor kommen teilhaben – für sie gibt es auch ein gutes Gesundheits- und Sozialsystem. Die Arbeit in dem Wüstenstaat verrichten aber fast ausschließlich etwa 2,5 Millio nen Menschen aus Nepal, Bangladesch, Indien und Pakistan sowie Kenia, Uganda und weiteren Ländern Nord- und Ostafri kas. Sie schuften zu Niedriglöhnen und bei bis zu 45 Grad im Schatten auf gigan tischen Baustellen, halten die Öl- und Gasindustrie am Laufen, entladen Schiffe, putzen, servieren, fahren die Lastwagen undWieTaxis.inanderen arabischen Ländern waren Arbeitsmigrant*innen in Katar bis vor wenigen Jahren dem sogenannten Sponsorensystem (Kafala) unterworfen.

lichen Ersatzlieferanten aussehe, sagt Micus. Der Deal mit Katar jedenfalls steht auch aus menschenrechtlicher Sicht im Widerspruch zum Koalitionsvertrag. Dort heißt es: Der Einsatz für »Freiheit, Men schenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlich keit und Nachhaltigkeit ist für uns unver zichtbarer Teil einer erfolgreichen und glaubwürdigen Außenpolitik«.

Tödliche Arbeitsbedingungen

»Zwischen Januar und Juni wur den bereits 120 Menschen hinge richtet. Am 13. März gaben die Be hörden die Hinrichtung von 81 Menschen an einem einzigen Tag bekannt. 41 der Hingerichteten waren Angehörige der schiiti schen Minderheit.« Es könnten bald noch mehr Opfer werden. Ein aktueller Fall ist der von Abdullah al-Huwaiti. Der heute 20-Jährige wurde im Alter von 14 Jahren festgenom men, jetzt droht ihm die Hinrich tung. Am 13. Juni bestätigte ein Berufungsgericht sein Todesur teil wegen eines angeblichen be waffneten Raubüberfalls und Mordes. Al-Huwaiti wurde in Ein zelhaft genommen, er durfte keinen An walt hinzuziehen, ein Geständnis soll er zwungen worden sein. Amnesty appel lierte zuletzt in einer Eilaktion an das Höchste Gericht und an den König, die Strafe nicht zu vollstrecken. Die juristi schen Mängel in diesem Fall sind offen kundig, dennoch kann das Urteil nicht angefochten werden. Das gesamte saudi sche Justizsystem gilt als mangelhaft und grobSelbstunfair.aus dem Gefängnis entlassene Menschen unterliegen noch weiteren Res triktionen. Dazu zählen Einschränkungen der Meinungs-, Vereinigungs- und Ver sammlungsfreiheit. Vor allem aber wer den immer wieder Reiseverbote verhängt. In der Regel handelt es sich um gerichtli che oder polizeiliche Anordnungen. Manchmal bemerken die Betroffenen die Restriktionen jedoch erst, wenn sie eine Reise antreten wollen. Amnesty hat mitt lerweile 30 offizielle und 39 nicht offiziel le Reiseverbote dokumentiert. Zum Tode verurteilt mit 14: Abdullah al-Huwaiti Foto: privat

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FUSSBALL-WM IN KATAR REPRESSION IN SAUDI-ARABIEN

»Diejenigen, die ihre ›Strafe‹ verbüßt haben, werden mit einem Reiseverbot von bis zu 15 Jahren belegt«, sagt Regina Spöttl. »Prominentes Opfer dieser Praxis ist der Blogger Raif Badawi, der im März zwar freigelassen wurde, das Land jedoch weitere zehn Jahre lang nicht verlassen darf.« Badawi hatte unter anderem Texte gegen die strenge Islaminterpretation des in Saudi-Arabien verbreiteten Wahha bismus publiziert. Er war 2014 wegen angeblicher Beleidigung der Religion zu zehn Jahren Haft und tausend Peitschen hieben verurteilt worden. Seit Kronprinz Mohammed Bin Sal man im Jahr 2015 de facto an die Macht kam, wurden die Menschenrechte weiter eingeschränkt. Für internationales Aufse hen sorgte die Ermordung und Zerstücke lung des Journalisten Jamal Khashoggi 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul. Die staatlich geförderte digitale Überwa chung, zu der auch Cyberangriffe auf saudische Aktivist*innen im Ausland gehören, schüren ein Klima der Angst.

enschenrechtsverstöße

Die Lage Saudi-Arabien wird immer repressiver. Digitale Überwachung und Einschränkungen der Reise-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit häufen sich. Und es gibt deutlich mehr Hinrichtungen als in den vergangenen Jahren. Von Oliver Schulz

»Trotz vollmundiger Versprechen und Ankündigung von Reformen durch den Kronprinzen gibt die Lage der Menschen rechte in Saudi-Arabien weiterhin Anlass zu großer Besorgnis«, sagt Regina Spöttl. »Kritik an der Politik des Königshauses wird nach wie vor schwer bestraft.« Spöttl sagt, die Regierung habe auf breiter Linie jeden Protest und jede freie Meinungs äußerung erstickt: »Nach unfairen Ge richtsverfahren, bei denen auch unter Folter erpresste Geständnisse als Beweise anerkannt werden, sitzen derzeit fast alle Menschenrechtsaktivist*innen und fried lichen Reformer*innen hinter Gittern, und das nur, weil sie ihre Rechte auf Mei nungs-, Versammlungs- und Vereini gungsfreiheit ausgeübt haben.« ◆

sind in Saudi-Arabien nicht nur weiter an der Tagesord nung, sie nehmen sogar noch zu. Aktivist*innen und Opposition werden mundtot gemacht. Gerichte ver hängen nach unfairen Verfahren Todes urteile und lassen Hinrichtungen voll strecken. Die Behörden sprechen Reise verbote aus. Mindestens 3.000 politische Gefangene gibt es derzeit in dem Land.

»Amnesty International dokumentier te bereits im vergangenen Jahr einen An stieg um 140 Prozent der von den saudiarabischen Behörden vollstreckten Hin richtungen. Sie stiegen von 27 im Jahr 2020 auf 65 in 2021«, sagt Regina Spöttl, Sprecherin der Koordinationsgruppe Sau di-Arabien und Golfstaaten von Amnesty Deutschland. Und im Jahr 2022 wurden noch mehr Exekutionen dokumentiert:

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Nur vier Tage später begann das Ver fahren gegen Waleed Abu al-Khair vor dem Strafgericht in Dschidda, das ihn zu einer dreimonatigen Haftstrafe verurteil te. Das relativ milde Urteil hatte zur Folge, dass sein Fall vor das berüchtigte Sonder strafgericht gebracht wurde. Bei der Ur teilsverkündung berief sich der Richter auf ein neues Antiterrorgesetz. Im Beru fungsverfahren, das durch die Staatsan waltschaft angestoßen wurde, bestätigte

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Amnesty International betrachtet Waleed Abu al-Khair als gewaltlosen poli tischen Gefangenen, der friedlich sein Recht auf Meinungsfreiheit ausgeübt hat, und fordert seine sofortige und bedin gungslose Freilassung. Gegenüber Am nesty sagte er: »Ich bereue meine Ent scheidungen nicht. Wenn du ein Ziel im Leben hast, werden die Dinge einfacher. Meine Ziele sind Gerechtigkeit, Rechte, Meinungsfreiheit und das Recht aufzuste hen und zu sagen, die Regierung ist un fair.« ◆ Regina Spöttl ist Sprecherin der Koordinations gruppe Saudi-Arabien und Golfstaaten von Amnesty International in Deutschland. Waleed Abu al-Khair, Dschidda, 2014. Foto: privat

Seine schwangere Ehefrau, die Frauen rechtlerin Samar Badawi, durfte mit ihm telefonieren, ihn jedoch nicht besuchen. Samar Badawi brachte das gemeinsame Kind zur Welt, ohne dass ihr Ehemann bei der Geburt dabei sein durfte.

A m 6. Juli 2014 verurteilte das Sonderstrafgericht in Dschidda den saudischen rechtsverteidigerMenschenWaleedAbu al-Khair zu 15 Jahren Gefängnis, einem ebenso langen Reiseverbot und einer Geldstrafe in Höhe von 200.000 Rial (44.000 Euro). Der Richter ordnete an, dass fünf Jahre der Freiheitsstrafe aus gesetzt werden könnten, wenn der An geklagte seine »Vergehen« bereut, sich entschuldigt und die Legitimität des Sonderstrafgerichts anerkennt. Doch Abu al-Khair blieb standhaft. Das Gericht befand ihn in folgenden Anklagepunkten für schuldig: »Ungehor sam gegenüber dem Herrscher«, »Grün dung einer nicht genehmigten Organisa tion«, »Kritik an der Justiz und Infrage stellung der Integrität der Richter«, »Schädigung des Rufs des Staates durch den Austausch mit internationalen Orga nisationen« sowie »Aufbereitung und Übermittlung von Informationen, die die öffentliche Ordnung beeinträchtigen«. Der Richter ordnete an, dass Waleed Abu al-Khair die gesamte Freiheitsstrafe von 15 Jahren verbüßen müsse, weil er eine Entschuldigung und die Anerkennung des Sonderstrafgerichts verweigert habe. Waleed Abu al-Khair ist Rechtsanwalt und Vorsitzender der 2008 von ihm ge gründeten Organisation Menschen rechtsmonitor Saudi-Arabien. Er hat viele Opfer von Menschenrechtsverletzungen vor Gericht vertreten. Unter seinen Man dant*innen ist auch der Blogger Raif Ba dawi, der im März 2022 unter Auflagen aus der Haft entlassen wurde. Waleed Abu al-Khair verteidigte auch 16 friedliche Reformer, die Haftstrafen von bis zu 30 Jahren verbüßen müssen. Seit 2011 war Waleed Abu al-Khair ins Fadenkreuz der saudischen Behörden ge raten. Er und seine Familie wurden schik aniert, eingeschüchtert, überwacht, mit Reiseverboten belegt, mehrfach festge nommen und verhört. Am 2. Oktober 2013 nahmen Sicherheitskräfte Abu alKhair fest, als er in seinem Haus eine Di wanniya veranstaltete, eine informelle Zusammenkunft zur Erörterung von poli tischen Themen und Menschenrechten.

Allen Schikanen zum Trotz standhaft Wer sich in Saudi-Arabien für die Menschenrechte einsetzt, kann schnell im Gefängnis landen. Der Rechtsanwalt Waleed Abu al-Khair, der auch den Blogger Raif Badawi verteidigte, verbüßt wegen seines Engagements 15 Jahre Haft. Von Regina Spöttl

das Sonderstrafgericht das Urteil von 15 JahrenWährendHaft. seiner Inhaftierung wurde Waleed Abu al-Khair mehrfach geschla gen, misshandelt und in Einzelhaft gehal ten, wo er dauerhaft grellem Licht ausge setzt und um den Schlaf gebracht wurde.

Von November 2019 bis Mitte Januar 2020 trat Waleed Abu al-Khair in den Hungerstreik, um gegen seine Einzelhaft und die unzureichende medizinische Be handlung seiner Diabeteserkrankung zu protestieren. Seine Zelle wurde mehrfach und vor allem nachts gestürmt, man be schlagnahmte seine Bücher und über führte ihn in einen Hochsicherheitstrakt, wo er abermals misshandelt wurde.

Ein Handy-Video von damals zeigt die 18Jährige mit Panik im Gesicht und völlig erschöpft.Seitihrer Ankunft in Bangkok am 5. Ja nuar 2019 hatte Rahaf Mohammed kein Auge zugetan. Die junge Frau aus SaudiArabien nutzte einen Familienurlaub in Kuwait, um Richtung Australien zu flie gen, ohne ihre Angehörigen zu informie ren. Das nötige Visum besaß sie. Rahaf Mohammed hatte jahrelang geplant, wie sie den Misshandlungen durch ihre Fami lie und der Unterdrückung in ihrem Land entkommen könnte. Sie wollte endlich selbstbestimmt und in Freiheit leben. Doch beim Zwischenstopp in Thailand nahm ihre Flucht ein jähes Ende. Ihre Fa milie hatte die saudische Botschaft in Bangkok kontaktiert. Die thailändischen Behörden drohten, sie in ihr Heimatland abzuschieben. Immer wieder klopfte je mand an ihre Tür, versuchte sie herauszu Faustschläge, Tritte und Ohrfeigen, er zählt Rahaf Mohammed. Über diese Miss handlungen, ihren Alltag in Saudi-Ara bien und ihre spektakuläre Flucht veröf fentlichte sie im März ein Buch mit dem Titel »Rebellin«. »Auch als Frau will ich frei sein«, sagt die Autorin. Dafür habe sie ihr Leben riskiert. Denn nach einer Ab schiebung wäre sie umgebracht worden, ist sie sich sicher. Von anderen saudi schen Frauen, denen die Flucht leider nicht gelungen sei, habe man nie wieder etwas gehört. Strafen für Frauenrechtler*innen Rahaf Mohammed stammt aus Hail, einer Region im sittenstrengen Nordwesten Saudi-Arabiens, der konservativsten Ge gend des islamischen Königreichs, wie sie im Buch beschreibt. Ihr Vater ist Gouver neur der Region, einflussreich und wohl habend. Die Familie lebt in einem luxuri ösen Haus mit neun Schlafzimmern, be schäftigt einen Koch, einen Chauffeur und eine Haushälterin. Sechs Autos par ken vor der Tür. Doch es gibt keinen Bal kon, und die Fenster bleiben stets ver schlossen, damit niemand die Frauen im Haus sehen kann. Der Wahhabismus, die rigide Auslegung des sunnitischen Islam, sei in Wahrheit ein »Lalabismus«, be merkt Rahaf Mohammed ironisch. Das arabische »La« bedeutet »Nein«. Wie eine Frau zu sprechen oder zu sitzen habe, für alles gebe es in Saudi-Arabien Regeln und Verbote. »Ich durfte nicht mal die Knie locken. Der Arm des repressiven saudi schen Systems ist lang. Irgendwann schrieb Rahaf Moham med folgende Twitter-Nachricht: »Ich bin das Mädchen, das von Kuwait nach Thai land geflohen ist. Mein Leben steht auf dem Spiel. Wenn ich gezwungen werde, nach Saudi-Arabien zurückzukehren, schwebe ich in ernsthafter Gefahr.« Der dramatische Tweet machte weltweit Schlagzeilen und sorgte für internationa le Solidarität. Der Hashtag #SaveRahaf rief sogar das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge auf den Plan. Erst als dessen Vertreter*innen vor ihrer Hoteltür stan den, traute sich Rahaf Mohammed, zu öff nen. Sie erhielt den Flüchtlingsstatus und am 11. Januar 2019 ein Asylangebot aus Kanada. Einen Tag später landete sie in Toronto.»Flucht war die einzige Möglichkeit, um mein Leben zu leben«, sagt Rahaf Mo hammed, die inzwischen 22 Jahre alt ist. Sie sitzt in ihrem kanadischen Zuhause in einem sonnengelben Shirt vor dem Lap top. Zu Beginn des Videocalls streicht sie sich die langen, dunklen Haare aus dem Gesicht. In Saudi-Arabien hätte sie sich Fremden niemals so zeigen dürfen. Schon als Neunjährige musste sie ihren Körper mit einer Abaya verhüllen, einem weiten schwarzen Gewand. Mit zwölf Jahren kam der Niqab dazu, der nur noch einen schmalen Schlitz für die Augen freilässt. Wenn herauskam, dass sie ihn nicht ge tragen hatte, verpassten ihre Brüder ihr

S ie hatte sich im Zimmer des Flughafenhotels eingeschlos sen und die Sicherheitskette eingehängt. Aber das war Rahaf Mohammed noch nicht sicher genug. Die schmale, junge Frau schleppte einen Tisch vor die Tür, beschwerte ihn mit einem Stuhl, zerlegte dann kurzer hand das Doppelbett, wuchtete einen der beiden Bettkästen vor die Tür und schob noch eine Matratze hochkant hinterher.

»Auch als Frau will ich frei sein«

Der Hilferuf #SaveRahaf ging 2019 auf Twitter um die Welt. Er stammte von einer jungen Frau aus einem Hotelzimmer in Bangkok: Rahaf Mohammed war auf der Flucht vor ihrer Familie und der Gesellschaft in Saudi-Arabien. Von Cornelia Wegerhoff

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FUSSBALL-WM IN KATAR FRAUENRECHTE IN SAUDI-ARABIEN

Reformenfallejährigenüberwacht,fürMenschenrechtsverteidiger*innen,sowiedieFrauenrechtekämpfen,immernochbestraftundteilsmitmehrReiseverbotenbelegtwerden,esschwerzuglauben,dassdiesechteseien,stelltHashemfest.Das

Rahaf Mohammed: Rebellin. Meine Flucht aus Saudi-Arabien oder Wie ein Hashtag mein Leben rettete. Aus dem Englischen von Katharina Martl. C. Bertelsmann Verlag, München 2022, 256 Seiten, 18 Euro »Flucht war die einzige Möglichkeit, um mein Leben zu leben.« Rahaf Mohammed

Erhält bis heute Todesdrohungen: Rahaf Mohammed, nach ihrer Ankunft 2019 in Kanada.

Zwar wurden inzwischen einige Refor men eingeführt. Kürzlich gab ein saudi sches Gericht einer jungen unverheirate ten Frau recht, die von ihrer Familie ver klagt worden war, weil sie allein in einer Wohnung leben wollte. »Das sind wenigs tens kleine Schritte in die richtige Rich tung«, sagt die Amnesty-Aktivistin. Es gibt jetzt Kinos und Konzerte, die von Frauen besucht werden können, saudi sche Mädchen dürfen Fußball spielen, und das Land hat sogar ein Frauenfuß ballnationalteam. Im Juni 2018 wurde das Frauenfahrverbot aufgehoben. Doch wäh rend der saudische Kronprinz Moham med bin Salman sich mit dieser Neue rung als fortschrittlicher Reformer prä sentierte, saßen die Frauen, die jahrelang mutig gegen das Fahrverbot gekämpft hätten, noch weitere Jahre im Gefängnis. Der Kronprinz habe sich nicht die Schau stehlen lassen wollen. »Unter der Oberflä che sind die alten Strukturen eben immer noch da«, stellt Spöttl fest.

übereinanderschlagen«, erzählt sie. Auch was sie eines Tages studiert hätte oder wen sie einmal hätte heiraten sollen, wäre von den Männern ihrer Familie be stimmt worden. Ihre Bekanntschaften seien deshalb überwacht worden. Als sie sich als Teenagerin einmal in ihrem Zim mer eingesperrt habe, weil sie ihrem Bru der nicht ihr Handy aushändigen wollte, habe dieser die Tür mit einer Axt einge schlagen. Eine verriegelte Tür allein sei kein Schutz, wenn Mädchen und Frauen einer Gesellschaft nichts wert seien. In Saudi-Arabien gilt immer noch das Vormundschaftssystem mit seinen patri archalischen Gesetzen und Traditionen, die das Leben von Frauen rechtlich und gesellschaftlich einschränken. Jede Frau untersteht einem männlichen Vormund, der nicht von ihr selbst bestimmt werden kann. Frauen sind damit »Bürgerinnen zweiter Klasse« und bleiben »ewige Mün del«, beklagt Regina Spöttl, Sprecherin der Koordinationsgruppe Saudi-Arabien und Golfstaaten von Amnesty Deutsch land. So könne selbst ein zehnjähriger Sohn zum Vormund seiner geschiedenen Mutter werden.

Inwieweit die Reformen Frauen neue Freiheiten erlauben, lasse sich nur schwer beurteilen, sagt der Nahostexperte von Amnesty International Hashem Hashem. Amnesty hat keinen Zugang zum Land. Solange jedoch Aktivist*innen

Vormundschaftsprinzip wirke sich trotz »chirurgischer« Veränderungen immer noch sehr negativ auf das Leben der sau dischen Frauen aus. Das Land müsse das System komplett abschaffen, die vollstän dige Gleichstellung umsetzen und den Schutz von Frauen gemäß wiederdemRahafTochter.Familie:ßen.FluchtundaufmerksamrechtBuchwerdeVater,wennDingemed.Menschenrechtsstandardsinternationalergarantieren.DaswünschtsichauchRahafMohamVielleichtändertensichmancheinSaudi-Arabien,sagtsie,abereineFrauAutofahrenwolleundihrEhemannoderBruder»Nein«sage,ebennichtsdaraus.MitihremwillRahafMohammedaufdasUnandenFraueninihreraltenHeimatmachen.VonihrenElternGeschwisternwurdesienachihrerausSaudi-ArabienoffiziellverstoInKanadahatsiejetztihreeigeneeinenPartnerundeinekleineAberwirklichsicherfühltsichMohammedbisheutenicht.SeitihrBucherschienenist,erhältsieTodesdrohungen.

Foto: Annie Sakkab

/ The New York Times / Redux / laif

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m Jemen gibt es kein zentrales Menschenrecht, das faktisch garan tiert wäre – noch nicht einmal das Recht auf Leben oder das Recht auf Nahrung. Und nicht nur das macht das an Saudi-Arabien grenzende Land auf bittere Weise besonders. Hinzu kommen der außergewöhnliche Umfang aller Men schenrechtsverletzungen sowie die lange Dauer der schweren Menschenrechtskrise. Größter Treiber dieser Krise ist der be waffnete Konflikt, der 2015 begann. Alle am Krieg im Jemen beteiligten Parteien verstießen im vergangenen Jahr nach Er kenntnissen von Amnesty International weiterhin ungestraft gegen das humani täre Völkerrecht und internationale Men schenrechtsnormen. Nach Angaben von Acled (Armed Conflict Location and Event Data Projekt) starben zwischen Kriegs beginn und März 2022 mehr als 155.000 Menschen, darunter 15.000 Zivilist*in nen, die gezielt getötet wurden.

Die Menschenrechtslage im Jemen ist trotz eines Waffenstillstands katastrophal. Der Hunger breitet sich aus. Das hat auch mit dem Krieg in der Ukraine zu tun.

Von Bettina Rühl

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I

Dank eines Waffenstillstands vom 2. April 2022 hat sich die Lage leicht gebes sert. Zu den im Juli gemeldeten Errungen schaften der Feuerpause gehörten eine Verringerung der zivilen Opfer um 60 und eine Verringerung der Vertreibungen um fast 50 Prozent. Der Waffenstillstand galt zunächst bis Juni, wurde dann verlän gert und gilt jetzt bis zum 2. Oktober. Das ist die längste Periode relativer Ruhe im Jemen seit mehr als sieben Jahren. Den noch wird das Recht auf Leben weiterhin verletzt. Laut der Sprecherin des UN-Men schenrechtsbüros Liz Throssell wurden in den ersten Monaten des Waffenstillstands mindestens 19 Zivilist*innen getötet und mehr als 30 verletzt, die meisten durch Landminen. Scharfschützen töteten meh rere Menschen, und trotz des Waffenstill stands setzten die Konfliktparteien weiterhin bewaffnete Drohnen ein, auch Zivilist*innen kamen zu Tode. Amnesty befasste sich im Jahres bericht 2021 ausführlich mit der Lage im Jemen. Demnach zerstörten die Konflikt parteien weiterhin zivile Infrastruktur, dazu gehörten auch Einrichtungen, die der Verteilung von Lebensmitteln dien ten. »Die Konfliktparteien gingen mit Schikane, willkürlicher Festnahme, Ver schwindenlassen, Folter und anderen Misshandlungen sowie unfairen Ge richtsverfahren gegen Personen vor, die lediglich aufgrund ihrer politischen, reli KriegvergessenstederWelt

FUSSBALL-WM IN KATAR KRIEG IM JEMEN Der

Die jemenitische Regierung und der STC gingen 2021 mit tödlicher Gewalt ge gen überwiegend friedliche Proteste vor, bei denen Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage gefordert wur den. Die Konfliktparteien behinderten die Lieferung von Lebensmitteln, Medika menten, Kraftstoff und humanitärer Hil fe. Vertreter der Huthi, die in vielen Lan desteilen faktisch regieren, verhinderten Impfungen gegen Covid-19. Laut Amnesty trugen alle Konfliktparteien zur Umwelt zerstörung bei. Todesurteile wurden ver hängt und vollstreckt, Mitglieder des STC waren auch für summarische Hinrichtun genDasverantwortlich.Schicksalvon vier Journalisten, die im April 2020 zum Tode verurteilt wurden, ist weiterhin unklar. Die vier sind gegen das Urteil in Berufung gegan gen. Amnesty setzt sich mit einer Eil aktion für Hareth Hamid, Abdelkhaleq Amran, Akram al-Walidi und Tawfiq alMansouri ein. Die Journalisten werden seit 2015 von den De-facto-Behörden der bewaffneten Gruppe der Huthi festgehal ten. In den ersten drei Jahren saßen sie ohne Begründung oder Anklage in Haft, waren zeitweilig isoliert und ohne Kon takt zur Außenwelt. Die Journalisten wur den nach Erkenntnissen von Amnesty International geschlagen und hatten kei nen Zugang zu medizinischer Versor gung. Weizenimporte aus der Ukraine Neben der seit Jahren dramatisch schlechten Menschenrechtslage breitet sich nun auch der Hunger weiter aus. Mehr als 17 Millionen Menschen sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, warnt das Welternährungsprogramm (WFP), und ein wachsender Teil der Bevölkerung leidet unter akutem Hunger. Bis Dezem ber könnte die Zahl derer, die hungern und Nahrungsmittelhilfe brauchen, auf 19 Millionen steigen. Die Vereinten Natio nen sprechen mit Blick auf den Jemen von einer der schlimmsten humanitären Katastrophen der Welt. Die Lage wird auch wegen des Kriegs in der Ukraine im mer dramatischer, denn wegen des globa len Preisanstiegs für Getreide wird die Versorgung der Notleidenden im Jemen auch für UN-Organisationen immer schwieriger.DerJemen ist nach UN-Angaben fast vollständig von Nahrungsmittelimporten abhängig, wobei 30 Prozent der Weizen importe des Landes bis zum russischen Einmarsch in die Ukraine von dort stammten. »Viele Haushalte im Jemen sind aufgrund einer Überschneidung verschiedener Faktoren nicht in der Lage, ihren Grundbedarf an Nahrungsmitteln zu decken«, stellte Qu Dongyu, General direktor der Ernährungs- und Landwirt schaftsorganisation der Vereinten Natio nen (FAO) bereits im März fest. Seitdem hat sich die Lage weiter verschlechtert. Für besorgniserregend hält das Welt ernährungsprogramm die vermutlich weiter stark steigende Zahl der Menschen, die von katastrophalem Hunger betroffen sein könnten. Das WFP spricht von »hun gersnotähnlichen« Zuständen, die in der zweiten Jahreshälfte zu erwarten seien. Die UN-Organisation nimmt an, dass sich die Zahl der Betroffenen bis zum Ende des Jahres auf 161.000 Menschen verfünf fachenAuchwird.bei der Versorgung mit Nothilfe sind die Folgen des Kriegs in der Ukraine zu spüren: Das WFP und andere Hilfsor ganisationen bekommen wegen des dras tischen globalen Preisanstiegs nun weni ger Lebensmittel für ihr Geld. Das Welt ernährungsprogramm musste die Nah rungsrationen für acht Millionen Men schen im Jemen bereits auf etwa die Hälf te kürzen, weil die zur Verfügung stehen den Mittel nicht für die ausreichende Ver sorgung aller Notleidenden reichen. Das WFP hat für 2022 nur ein Viertel der Summe zur Verfügung, die es nach eigenen Angaben bräuchte, um die aller nötigste Überlebenshilfe leisten zu kön nen. Bei der letzten Geberkonferenz im März bekam es 400 Millionen Dollar we niger an Zusagen als im vorangegange nen Jahr. Das ist Ausdruck der wachsen den Zahl von globalen Krisen und wo möglich auch des Kriegs in Europa, der viel Hilfsgeld absorbiert.

Mehr als 17 NahrungsmittelhilfeMenschenMillionensindaufangewiesen.

Trümmer statt Bildung: Schülerinnen und Schüler in einer zerstörten Schule. Al-Radmah in der Provinz Ibb, April 2022. Foto: Xinhua News Agency / eyevine / laif

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giösen oder beruflichen Zugehörigkeit, ihres friedlichen Engagements oder ihres Geschlechts ins Visier geraten waren«, heißt es weiter. Und: »Alle Parteien übten geschlechtsspezifische Gewalt und Diskri minierung aus.« Im Jemen stehen sich mehrere Kon fliktparteien gegenüber. Die meisten ha ben mächtige Unterstützer aus dem Aus land. Eine der stärksten Gruppen ist eine Militärallianz, die von Saudi-Arabien an geführt wird und die international aner kannte Regierung des Jemen unterstützt. Zu dieser Allianz gehören auch Bahrain, Katar und Kuwait. Ihr gegenüber steht die bewaffnete Gruppe der Huthi, die zaiditi schen Glaubens sind, also grob verein facht einem Zweig des schiitischen Islam angehören. An ihrer Seite kämpft der Iran. Daneben agieren in dem Land weite

re Gruppen, darunter Ableger des Terror netzwerks Al-Qaida sowie des sogenann ten Islamischen Staats (IS). Im Süden gibt es außerdem den Südlichen Übergangsrat (STC), der Unabhängigkeit anstrebt und von den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützt wird.

INFORMIERE DICH JETZT UND BETEILIGE DICH AN DER ONLINE-AKTION! amnesty.de/wm-katar-2022 ImagesGettyviaAFP©

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Während die FIFA mit der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar große Pro昀te erzielt, sind Arbeitsmigrant*innen Menschenrechtsverstößen und Ausbeutung ausgesetzt.

AN DIE FIFA UND AN KATAR: Arbeitsmigrant*innen, deren Menschenrechte im direkten Zusammenhang mit der Fußball-WM verletzt wurden, zu entschädigen. Ihrer Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen in Katar gerecht zu werden. Die Einrichtung eines Zentrums für Arbeitsmigrant*innen zu ermöglichen, in dem sie sich u.a. über ihre Rechte informieren können. Das Zentrum für Arbeitsmigrant*innen dauerhaft zu unterstützen, sobald es eingerichtet ist.

UNSERE FORDERUNGEN

32 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 POLITIK UND GESELLSCHAFT AUF RETTUNGSMISSION Rettung naht für rund 40 Personen an Deck eines Holzbootes im Mittelmeer. Zu diesem Zweck ist die Sea-Watch 4 im Einsatz. MittelmeerMassengrab Seit die libysche Küstenwache erweiterte Befugnisse hat, sterben immer mehr Flüchtende auf dem Weg nach Italien. Und die Arbeit auf zivilen Rettungsschiffen wird schwieriger. Unterwegs im Mittelmeer mit der Sea-Watch 4. Von Fabian Melber

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Für Flüchtende ist Libyen mit seinen kaum bewachten Grenzen die Transitstre cke nach Europa. Machtkämpfe und Ge walt prägen das Land seit Jahren. Geflüch tete genießen keinen Schutz, sie sind der Willkür ausgeliefert, ihnen drohen Ent führung, Vergewaltigung, Folter, Mord. Viele Menschen werden in Lagern festge halten, von ihren Familien wird Lösegeld erpresst. Der Handel mit Migrant*innen ist lukrativ. Dennoch hoffen sie, auf ein Boot nach Europa zu gelangen. Nach zwölf Seemeilen, rund 22 Kilometern, enden die libyschen Hoheitsgewässer. Die Verantwortlichkeiten zur Rettung Schiffbrüchiger regelt das Seerechtsüber einkommen der UN. Über zentrale Ret tungsleitstellen werden Notrufe koordi niert, sie verpflichten nächstgelegene Schiffe zur Bergung. Die Fluchtroute nördlich der libyschen Hoheitsgewässer lag jahrelang in der Verantwortung des

D as Sterben auf dem Mittel meer nimmt kein Ende, un sere Aufmerksamkeit ist aber längst anderswo. Seit 2014 haben mehr als 23.000 Menschen zwischen Libyen und Italien ihr Leben verloren, mehr als auf jeder an deren Fluchtroute weltweit. Das ist so ge wollt: Die EU will die Zahl der Geflüchte ten um jeden Preis niedrig halten.

Die Sea-Watch 4 ist seit Mittelmeerregelmäßig2020imimEinsatz.

Offiziellen Angaben zufolge haben im Jahr 2021 auf der Route zwischen Libyen und Italien 1.553 Menschen ihr Leben ver loren, 82 Prozent davon in der libyschen Such- und Rettungszone. Im gleichen Zeitraum wurden nur 16 Prozent aller geretteten Menschen in einen sicheren Hafen gebracht, meist von zivilen Ret tungsschiffen. Vom offiziellen Informa tionsfluss sind sie ausgeschlossen, nur eine enge Kooperation untereinander sorgt dafür, dass sie ihrem humanitären Auftrag nachkommen können. 2020 und 2021 hatten viele zivile Rettungsorganisa tionen mit Repression zu kämpfen, Schif fe wurden in Häfen festgesetzt. Unter dem Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Einreise wurde im März 2021 Anklage gegen 21 Seenotretter*innen der Organi sationen Ärzte ohne Grenzen, Save the Children und Jugend rettet erhoben. Bei einer Verurteilung drohen ihnen bis zu 20 Jahre Gefängnis. Mit dem Abzug der Schiffe ziviler Rettungsmissionen stiegen die Todeszahlen im Mittelmeer wieder. Die Sea-Watch 4 gehört zu den verblie benen zivilen Rettungsschiffen. Sie ist seit 2020 regelmäßig im Mittelmeer im Ein satz. Der folgende Fotoessay entstand während eines Aufenthalts an Bord der Sea-Watch 4 von März bis Juni 2021. ◆ Fabian Melber war Teil der Sea-Watch-Crew und ist dort als Medienkoordinator tätig. Maritime Rescue Coordination Centers in Rom, Italien war zur Seenotrettung ver pflichtet. Auch nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Libyen sorgte Italien 2013 und 2014 mit dem Programm Mare Nos trum für die Rettung Schiffbrüchiger. Ab 2015 folgten Mandate der EU-Staaten un ter dem Titel EUNAVFOR MED mit Schif fen, die offiziell der Bekämpfung von Schmuggel und Schleuserkriminalität dienten. Da diese Schiffe vor Ort waren, waren auch sie zur Rettung verpflichtet. Im Jahr 2018 erkannte die Internatio nale Seeschifffahrtsorganisation (IMO) eine libysche Such- und Rettungszone an. Sogenannte Such- und Rettungszonen tei len internationale Gewässer in die Zu ständigkeit bestimmter Staaten auf. Dem nach war Libyen fortan in einem größe ren Radius für die Bergung Schiffbrüchi ger zuständig. Verantwortlich in dieser Region ist seither die libysche Küsten wache, die journalistischen Recherchen zufolge in Teilen am Menschenhandel beteiligt ist. EU-Staaten, darunter auch Deutschland, haben die Küstenwache aus gebildet, die italienische Regierung stellte ihr Schiffe zur Verfügung, Millionen Euro wurden seit 2016 dafür freigegeben. Als Gegenleistung werden seither Flüchtende »rückgeführt«: Mindestens 82.000 Menschen wurden in den ver gangenen Jahren nach Libyen zurückge bracht, viele von ihnen landen abermals im Lager. Für eine hohe Rückführungs quote sorgt die EU-Grenzschutzagentur Frontex. Mit Flugzeugen und Drohnen organisiert sie die Luftüberwachung und koordiniert libysche Kapitäne, oft auch unter Umgehung des Seerechts.

Auf der Suche nach Flüchtenden. Zur Sea-Watch 4 gehört auch das Aufklärungsflugzeug Seabird.

Die Sea-Watch 4 ist ein ehemaliges Forschungsschiff, das im Jahr 2020 als Rettungsschiff ausgebaut wurde. Sie ist 61 Meter lang und elf Meter breit. An Bord arbeiten 29 Crewmitglieder. In der Nacht erreicht die Sea-Watch 4 ein Schlauchboot in Seenot, das Stunden zuvor einen Notruf abgesetzt hatte.

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Die libysche Küstenwache (am Horizont) mischt So versuchen die Soldaten, Flüchtende von Europa Seenotrettung zu verhindern.

sich in eine Rettungsaktion der Sea-Watch 4 ein. fernzuhalten und die humanitäre

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Wenn die Sea-Watch 4 ein Fluchtboot erreicht, werden zuerst Rettungswesten an die Passagiere verteilt, um die Situation zu entspannen. Dann wird das Boot entlastet, indem Menschen in kleinen Gruppen auf das Rettungsschiff gebracht werden. Insbesondere Holzboote bergen ein großes Risiko, bei Wellengang zu kentern.

Der Bug der Sea-Watch 4 am frühen Morgen. Im Windschatten der italienischen Insel Lampedusa ist das Schiff vor schlechtem Wetter und starken Wellen geschützt. Viele Flüchtende dieser Gruppe sind nicht älter als 16 Jahre.

Eine Rettungsdecke, die von Bord der Sea-Watch 4 ins Meer geweht wurde.

Schwimmwesten.dienenaufgeblasenemit,AutoreifenalsErsatzfür

Ein Holzboot, dessen Passa giere von der Sea-Watch 4 gerettet wurden. Die Schlepper geben einen billigen Kompass zur Orientierung

Dariush Beigui auf der Sea-Watch 4 vor Sizilien. Er steht als ehemaliger Kapitän des Rettungs schiffes Iuventa in Italien vor Gericht. Beigui arbeitet auf der Sea-Watch 4 als Schnellbootfahrer sein erster Einsatz, seit die Iuventa von den italienischen 2020beschlagnahmtBehördenwurde.erhieltdieCrewderIuventadenAmnesty-Menschenrechtspreis.

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AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 37 Geflüchtete Männer tanzen erleichtert auf dem Achter deck der Sea-Watch 4. Sie haben gerade erfahren, dass das Schiff einen sicheren Hafen anlaufendarf. Die Ankunft der Sea-Watch 4 in Trapani auf Sizilien. Dort treffen die Passagiere auf die dauern.manchmalAnlandenUnterkünftewerdenBürokratie.europäischeAlleFlüchtlingeregistriertundaufverteilt.DaskannStunden,aberauchTage

SPOTLIGHT: RUSSLANDS INVASION

»Mal sind es fünf, mal sind es zehn, mal sind es 20 Tote.« Rechtsanwältin Tamila Bespala über den Beschuss Charkiws

Die Erklärung wirft ukrainischen Streit kräften vor, dass sie wiederholt aus Wohngebieten heraus operierten, damit Zivilpersonen in Gefahr brachten und gegen humanitäres Völkerrecht verstie ßen. Die Leiterin der ukrainischen Amnesty-Sektion Oksana Pokalchuk kritisierte, die Erklärung sei einseitig und berücksichtige die ukrainische Posi tion nicht ausreichend. Aus Protest trat sie von ihrem Posten zurück. Amnesty hat auf internationaler Ebene einen Pro zess eingeleitet, in dem die Umstände der Veröffentlichung der Erklärung überprüft werden sollen. ◆ Bernhard Clasen

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Fast überall Zerstörung: Popasna, Mai 2022. Foto: Maxar Technologies / AP / pa

Auch Amnesty International hat in der Vergangenheit in mehreren umfangreichen Berichten russische Kriegsverbre chen dokumentiert. Noch größere Öffent lichkeit erregte aber eine Anfang August erschienene Presseerklärung zur Ukraine.

KRIEGSVERBRECHEN DOKUMENTIERT

»Haben Sie schon einmal ein Kind gese hen, das weint und Angstzustände be kommt, wenn es ein Feuerwerk sieht? Solche Kinder haben wir in der Region Charkiw zuhauf«, sagt die Rechtsanwältin Tamila Bespala. Sie arbeitet mit der Char kiwer Menschenrechtsgruppe zusammen, dokumentiert Kriegsverbrechen der rus sischen Armee und der Militärs der »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk. In ihren Schränken liegen Akten von fast 300 derartigen Verbrechen, die sie an den Internationalen Strafgerichtshof und an den Europäischen Gerichtshof weitergibt. Sie betreffen allein Personen aus Charkiw. »In den von Russland besetzten Ge bieten sind Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Personen, die aus russischer Sicht unzuverlässig sind, wer den ohne Gerichtsverfahren inhaftiert, misshandelt und gefoltert.« Vier Männer aus der von Russland besetzten Kleinstadt Kupjansk bestätigen das in einem Recher chegespräch in Charkiw. Russische Solda ten nahmen sie aus unterschiedlichen Gründen fest – einer von ihnen hatte die ukrainische Nationalhymne auf dem Handy, ein anderer hatte einen russi schen Panzer mit ausgestrecktem Mittel finger begrüßt. Alle vier berichteten, dass sie während der Haft mit Stromstößen gefoltertRusslandwurden.hatmit seinem völkerrechts widrigen Angriffskrieg Orte wie Popasna, Sjewjerodonezk, Isjum, Lisitschansk, Hu lajpolje, Saltowka und Mariupol weitge hend zerstört. Sollte der Krieg nicht bald enden, werden weitere ukrainische Städte hinzukommen. Vom 24. Februar bis zum 21. August sind nach Angaben des UNHochkommissariats für Menschenrechte mindestens 5.587 Zivilpersonen in der gesamten Ukraine getötet worden, hinzu kommen nach BBC-Angaben rund 9.000 getötete ukrainische Soldat*innen.

Interview: Bernhard Clasen Wie ist die Situation von Zivilpersonen, die nahe der Front leben? Am schlimmsten ist die Situation von Kranken, alten Menschen und Menschen mit Behinderungen. Wer alt und alleine ist, kann in einer Stadt, die beschossen wird, kaum überleben. Die meis ten von ihnen sterben dort. Und zwar nicht durch Bomben oder Granaten, sondern weil sie nicht an Lebensmittel, Wasser und Medikamente kommen. Wenn ein Ort stark beschossen wird, bricht irgendwann die Versorgung zusammen, dann gibt es kei nen Strom und kein Wasser mehr, und die Geschäfte sind leer. Einmal haben wir erst an der Wohnungstür erfahren, dass die Person, die wir abholen wollten, schon tot war. Wie ich von Kol leg*innen weiß, ist das kein Einzelfall. Warum bleiben viele Menschen so lange in Frontnähe?

KurzÜBERLEBEN«KAUMnachBeginndesrussischenAngriffs

Die Ukraine hat angekündigt, die Menschen aus dem Donbass auf sicheres ukrainisches Gebiet zu bringen. Wer sich nicht eva kuieren lassen will, muss unterschreiben, dass er oder sie auf eigene Verantwortung bleibt. Aber im Donbass denken manche auch prorussisch. Und Menschen, die freiwillig nach Russland möchten, sollte man dies auch ermöglichen. Gleichzeitig gibt es Berichte, wonach russische Streitkräfte Tausende von Ukrai ner*innen gegen ihren Willen nach Russland verschleppt haben sollen. Sie arbeiten auf der ukrainischen Seite. Wissen Sie, was auf der anderen Seite los ist?

Patrick Münz von der Berliner Organisation Leave NoOneBehind mit einem Unterstützungstransport auf den Weg in die Ukraine. Im April 2022 änderte sich seine Arbeit schlagartig, nachdem Dutzende Zivil personen beim Beschuss des Bahnhofs in Kramatorsk gestorben waren. Seitdem haben er, sein Team und ukrainische Partnerorganisationen 1.300 Menschen aus Kriegsgebieten in der Ukraine evakuiert.

Ich habe keinen Kontakt zur anderen Seite. Einige Helfer*innen aus dem medizinischen Bereich, mit denen wir zusammenge arbeitet haben, haben sich irgendwann entschieden, auf der anderen Seite der Front zu bleiben. Weil Russland in den be setzten Gebieten schnell ein eigenes Mobilfunknetz aufbaut, gibt es dann keinen Kontakt mehr. Diese Netze haben nur Nummern mit einer russischen Vorwahl. Wer von einem russi schen Telefon aus Verwandte in der Ukraine anruft, macht sich bei den russischen Behörden verdächtig und bringt möglicher weise auch die ukrainischen Verwandten in Gefahr, weil die dort erklären müssen, warum sie in Kontakt mit Russland stehen.

Viele haben den Bezug zur Realität verloren nach den vielen Wochen und Monaten des Krieges. Wir sind immer wieder mit Schutzausrüstung in umkämpfte Gebiete gefahren und trafen dort auf Kinder, die mit ihren Fahrrädern vor uns standen und uns anstarrten, als ob wir im falschen Film seien. In den Städten ist es ähnlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass die dort zurückge bliebenen Menschen sterben, ist hoch. Warum werden die Menschen nicht evakuiert?

◆ privatFoto:

Der ukrainische Staat hat sehr viele Menschen evakuiert. Aber wenn der Beschuss zu heftig ist, müssen die Evakuierungen ein gestellt werden. Außerdem lehnen viele Bewohner*innen um kämpfter Ortschaften das Angebot einer Evakuierung zunächst ab. Sogar an regelmäßiges Artilleriefeuer kann man sich gewöh nen, denn es geht langsam los: Zuerst sind es zehn Schüsse pro Tag, dann 50, dann 100 und so weiter. Viele denken: Wenn es bis jetzt gut gegangen ist, wird es auch weiter gut gehen. Sie verlie ren den Realitätssinn. Was kann man dann noch tun?

machte sich

AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 39 » WER ALT UND ALLEINE IST, KANN

»Also kaufen wir für ihn trotz des Preises oft ein Mandazi«, sagt Omoni. Das kleine Gebäck ist mit 10 kenianischen Shilling derzeit doppelt so teuer wie vor dem Krieg. Und während die Eltern ihren mor gendlichen Tee nun aus Kostengründen ungesüßt trinken – was bis zum Beginn des Krieges in Kenia praktisch undenkbar war –, bekommt Regan ihn zumindest noch leicht gesüßt, weil er seinem Unmut sonst allzu laut Luft macht. Staatseinnahmen verzweifelt gesucht In Kenia sind die Lebenshaltungskosten in den vergangenen Monaten drastisch gestiegen. Der Preis für Speiseöl hat sich teilweise verdoppelt, auch Milch, Haus haltsgas und Maismehl – in Kenia das wichtigste Grundnahrungsmittel – sind

40 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 OSTAFRIKA

J eden Tag um kurz nach sechs steht Thomas Omoni auf und weckt sei nen jüngsten Sohn Regan, der in die Schule muss. Früher hat Omoni das gemeinsame Frühstück genossen, neuerdings ist es weniger harmo nisch. »Regan beschwert sich jetzt häufig über das Essen«, bedauert Omoni, der sein Geld als Fahrer in Nairobi verdient.

»Früher gab es morgens Mandazi«, er zählt er. »Aber Speiseöl ist so teuer gewor den, dass wir uns Frittiertes nicht mehr leisten können.« Mandazi sind frittierte Teigbällchen, für die außer Speiseöl auch Weizen gebraucht wird. Beides ist seit dem Krieg in der Ukraine auch in Kenia deutlich teurer geworden. Weil sie sparen müssen, essen Omoni und seine Frau nun morgens Kochbananen. Regan folgt ih rem Beispiel bestenfalls unter Protest.

Klima, Krieg und Krisen

Hunger, Durst, zunehmende Zwangsehen und drohende Unruhen –vor allem im Osten Afrikas verschärft der Krieg in der Ukraine die existenzielle Not. Von Bettina Rühl

Viele Regionen am Horn von Afrika lei den außerdem unter der schlimmsten Dürre seit vier Jahrzehnten. Das zeigt sich auch in Turkana, einer wüstenähnlichen Region im Nordwesten Kenias. Unter ei nem großen Baum im Westen Turkanas herrscht Hochbetrieb, dort haben Helfe r*innen eine mobile Klinik errichtet. Im Schatten der ausladenden Krone werden Kleinkinder gewogen und gemessen, die Helfer*innen notieren auch den Umfang des Oberarms – an ihm lässt sich ablesen, ob ein Kind unterernährt ist oder nicht. Als eine Helferin dem kleinen Lopeto Ebe nyo das Maßband um den Oberarm legt, liegt das Maß im roten Bereich: Der Zwei jährige ist schwer unterernährt. Seine Mutter Emunia Emariau ist besorgt, aber nicht überrascht: »Das liegt an der Dürre«, sagt sie. »Alle unsere Ziegen sind tot, wir haben keine Milch und nichts zu essen.«

Schlimmste Dürre seit 40 Jahren

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»Speiseöl ist so teuer geworden, dass wir uns Frittiertes nicht mehr leisten können.«

Foto:

viel teurer geworden. Das liegt zum Teil daran, dass die Regierung die Steuern auf viele Produkte deutlich erhöht hat, weil das Land in einer Schuldenkrise steckt und die Regierung fast verzweifelt weite re Einnahmequellen sucht. So hat sie bei spielsweise den Mehrwertsteuersatz auf Propangas von acht auf 16 Prozent ver doppelt. Preise steigen rapide Seit Februar kommen die Folgen des rus sischen Angriffs auf die Ukraine hinzu. Vor dem Krieg produzierten die Ukraine und Russland zusammen zwei Drittel des weltweit exportierten Speiseöls, und ein Drittel des weltweit exportierten Weizens. Mais, in vielen Ländern ebenfalls ein wich tiges Grundnahrungsmittel, stammte zu 15 Prozent aus der Ukraine und Russland. Nach neueren UNO-Schätzungen impor tierten die Länder südlich der Sahara rund 44 Prozent ihres Weizens aus Russland und der Ukraine. Somalia sogar über 90 Pro zent. Durch den Krieg ist der Export von Getreide und Speiseöl aus der Ukraine er schwert, die Preise sind durch die Knapp heit gestiegen, laut der Afrikanischen Ent wicklungsbank auf dem Kontinent um 60 Prozent. Und das zu einer Zeit, in der im Osten und Westen des Kontinents wegen eigener Produktionsausfälle nach einer schweren Dürre besonders viele Importe nötig wären. »Das macht es für Menschen in den Ländern schwierig, die ohnehin ei nen Großteil ihres Einkommens für Le bensmittel ausgeben müssen, weil sie arm sind und sich dann entsprechend weniger leisten können, wenn die Preise nach oben gehen«, betont Matin Qaim, Professor für Agrarökonomie sowie Agrarwissenschaftler und Direktor des Zentrums für Entwicklungsforschung (ZEF) in FranciscoBonn.Mari, Referent für Welter nährung, Agrarhandel und Meerespolitik bei Brot für die Welt, weist darauf hin, dass Weizen in vielen afrikanischen Län dern zwar nur begrenzt zu den täglichen Kalorien beiträgt. In Kenia zum Beispiel sind es durchschnittlich knapp 18 Pro zent. Hinzu kommt allerdings noch Spei seöl, das weitere fünf Prozent ausmacht. Und die gestiegenen Transportpreise

treibe mehr äthiopische Familien dazu, ihre minderjährigen Kinder in Ehen zu zwingen, erklärte Russell. »Die Schlie ßung von Kinderehen nimmt in Dürre zeiten oft zu, weil Familien ihre Töchter in der Hoffnung verheiraten, dass diese so besser ernährt und beschützt werden, auch geht es um die Mitgiften«. Unicef sammelte Daten von verschiedenen Lo kalregierungen. Demnach kam es etwa in der Region Oromia im Süden des Landes zwischen Februar und August vergange nen Jahres zu 672 Fällen von Kinderheirat. Zwischen September 2021 und März 2022 habe die Zahl bei 2.282 gelegen – eine Ver dreifachung.Amnesty International dokumentierte 2021 die Auswirkungen der Dürre auf die Menschenrechte im Süden Madagaskars und forderte die internationale Gemein schaft auf, die Klimakrise konsequent zu bekämpfen und die Menschenrechte der jenigen zu schützen, die durch die Folgen der Erderhitzung besonders gefährdet sind. Das Land, ebenfalls im Osten Afrikas gelegen, gehört wie Kenia und Äthiopien auch zu 20 »Hunger-Hotspots«, die die beiden UNO-Organisationen für Land wirtschaft und Ernährung (FAO und WFP) ausgemacht haben. Dort seien dringende humanitäre Maßnahmen nötig, um Le ben und Lebensgrundlagen zu retten und eine Hungersnot zu verhindern. Die Lage sei hochgradig alarmierend. WFP-Exeku tivdirektor David Beasley warnte zudem vor möglichen politischen Folgen des Hungers. »Die Bedingungen sind jetzt viel schlimmer als während des Arabi schen Frühlings 2011 und der Lebens mittelpreiskrise 2007 und 2008, als 48 Länder von politischen Unruhen, Auf ständen und Protesten erschüttert wur den«, so Beasley. »Wir müssen handeln, und zwar schnell.« Auch die Bundesregierung müsse die betroffenen Länder stärker unterstützen, fordert Annelen Micus, Amnesty-Referen tin für Klimagerechtigkeit: »Beim nächs ten Klimagipfel im November muss end lich eine angemessene Klimafinanzie rung vereinbart werden.« ◆ schlagen sich durch eine Verteuerung auf fast alle Lebensmittel und anderen Pro dukte nieder.

Thomas Omoni, Fahrer in Nairobi Nicht mehr im grünen Bereich: Im Bezirk Marsabit im Norden Kenias wird am Umfang des Oberarms gemessen, ob das Kind unterernährt ist. Juli 2022. Simon Maina AFP Getty Images

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Den Vereinten Nationen zufolge kön nen sich am Horn von Afrika bis zu 18 Millionen Menschen nicht ausreichend ernähren. Die Zahl könnte bis September auf 20 Millionen steigen. Die Gründe für die katastrophale Lage sind vielschichtig. Wegen der Klimakrise werden extreme Wetterereignisse wie schwere Dürren, Starkregen und Überschwemmungen häufiger. Für die vom Hunger geschwäch ten Tiere sind die kalten Regenfluten nach langer Trockenheit oft ebenfalls töd lich. Hinzu kommen die geringe Produk tivität auf den bewirtschafteten Flächen, ein rasches Bevölkerungswachstum und bewaffnete Konflikte. Zudem hat sich die Region noch nicht von den schweren wirtschaftlichen Krisen der vergangenen Jahre erholt: einer Heuschreckenplage bi blischen Ausmaßes sowie den Folgen der Corona-Pandemie.BeieinemBesuch in der Somali-Re gion von Äthiopien warnte Catherine Rus sell, Chefin des Kinderhilfswerks der Ver einten Nationen, laut Medienberichten vor den Folgen von Hunger, Durst, Armut und Vertreibung für Mädchen. Die exis tenzielle Not aufgrund vieler Faktoren

Nehmen Länder wie Deutschland, wo sauberes Wasser jederzeit verfügbar ist, den drohenden Mangel ernst ge nug? Wir glauben an den Mythos des Überflus ses, dabei wird Wasser auch in reichen Ländern immer knapper. In Deutschland sinkt der Grundwasserspiegel rapide. Noch schlimmer ist es in den USA: Die Menschen verstehen nicht, dass es Kali fornien bald nicht mehr geben wird. Dort wird eine Wüste sein. Eine Million Men schen in der Region Los Angeles haben keinen Zugang zu sanitären Anlagen, Zehntausenden in Detroit wurde das Was ser abgestellt, weil sie es nicht mehr be zahlen konnten. Und das in einem der reichsten Länder der Welt! Während in Dürreregionen, Flücht lingslagern oder armen Wohngebieten Wasser fehlt, ist es in reichen Ge sellschaften zum Accessoire gewor den. Es gibt Sprudelwasser in Dosen, »Detox-Wasser«, »Mondwasser«. Wie blicken Sie auf diese Entwicklung? Wir sehen Wasser als Ressource für unser Vergnügen, unseren Komfort und unse ren Profit. Wir nehmen es dort weg, wo die Natur es platziert hat, und bringen es dorthin, wo wir es haben wollen. Die Rei chen und Schönen tragen ihr cooles Was ser mit sich herum, während es in ande ren Ländern kein sauberes Trinkwasser gibt. Das nutzen Firmen wie Coca-Cola und Nestlé aus, um ihr »sicheres und sau beres« Wasser in Plastikflaschen anzubie ten. Sie profitieren von der Vulnerabilität der Menschen. Das ist der neoliberale An satz: Wasser auf den Markt werfen und den Markt entscheiden lassen. Dem ent gegen steht die Überzeugung, dass Wasser ein Menschenrecht ist, das beschützt wer den muss. Wer sind die Top-Wasserverschwen der und -verschmutzer? Die industrielle Landwirtschaft ist einer der größten. Wie dabei Nahrung angebaut wird, ist eine furchtbare Wasserver schwendung. Auch Energieproduktion verschwendet jede Menge Wasser. Dazu kommen Pools, Golfplätze, Springbrun nen. Wasser in Plastikflaschen ist ein Rie senproblem – jede Minute werden eine Million Plastikflaschen Wasser gekauft. Auch für die Produktion von Kleidung, Computern und anderen Gebrauchs gegenständen wird sehr viel Wasser ge nutzt. Die großen Konzerne machen Ge schäfte mit verzweifelten Ländern, die be reit sind, ihr Wasser zu verkaufen. Wasser ist ein Exportgut geworden. Es gibt Lände reien, auf denen Bäuerinnen und Bauern das Wasser verkaufen, statt etwas anzu bauen.

»Repariere

42 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 RECHT AUF WASSER

Interview: Hannah El-Hitami

»Wir glauben an den Mythos des Überflusses, dabei wird Wasser immer knapper.« den Teil des denUniversums,duberühren kannst«

In Ihrem Buch »Blaue Zukunft« hat ten Sie Wassermangel als größtes Menschenrechtsproblem der Welt ausgemacht. 2010 hat die UNO Wasser zum Menschenrecht erklärt. Was hat sich seither getan? Mehr als 50 Länder haben seit 2010 ihre Verfassung geändert oder Gesetze erlas sen, die das Menschenrecht auf Wasser festschreiben. Zudem gibt es die kommu nale Ebene, auf der die Blue Communities den Menschen die Möglichkeit geben, dieses Recht in die Tat umzusetzen. Was leisten die Blue Communities? 2009 wollte unsere rechtskonservative Regierung in Kanada die Wasserversor gung privatisieren. Wir hatten damals die Idee, dass Kommunen sich verpflichten können, Wasser nicht zu privatisieren. Wasser muss Allgemeingut bleiben. Nach und nach begannen Menschen in ande ren Ländern, die Bedrohung durch Priva tisierung wahrzunehmen, und sie schlos sen sich uns an. In Deutschland gibt es in zwischen elf Blue Communities, zum Bei spiel in Berlin, Marburg oder Neu-Strelitz. Die Communities versprechen zudem, dass ihre Konzerne Ländern im Globalen Süden das Wasser nicht wegnehmen wer den. Es ist ein schönes Gefühl, mit einem Plan und einer Vision voranzuschreiten.

Vor zwölf Jahren wurde Wasser zum Menschenrecht erklärt. Dazu hat auch Maude Barlow beigetragen, die ihr Leben einem gerechten und nachhaltigen Umgang mit Wasser widmet. Die Aktivistin erklärt, wer die größten Wasserverschwender sind und wie sie trotz der katastrophalen Lage hoffnungsvoll bleibt.

Zum Menschenrecht auf Wasser gehö ren auch sanitäre Anlagen.

◆ AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 43

Foto: Verlag Antje Kunstmann Wasser als Statussymbol: Golfplatz in der Mojave-Wüste in Kalifornien, USA.

Ich kann eine Mehrwegflasche nut zen und beim Duschen oder Zähne putzen Wasser sparen. Bringt das was ohne politischen Wandel? Wir brauchen dringend einen System wandel. Wir müssen aufhören an Wachs tum zu glauben, an mehr Handel, Dere gulierung und Privatisierung, bis Konzer ne alles entscheiden. Wenn mich jemand fragt, was sie oder er tun kann, sage ich: Hör auf, Flaschenwasser zu kaufen, wenn sauberes Wasser aus dem Hahn kommt; achte darauf, welche Chemikalien du zum Putzen nimmst. Aber das ist nicht genug. Man muss Teil einer Bewegung werden und auf ein langfristiges Ziel hinarbeiten: Wasser ist ein Menschenrecht, das bedeu tet sicheres, öffentlich zugängliches Was ser für alle, überall. Ihr neues Buch heißt »Still hopeful«. Wie schaffen Sie es, trotz aller schlechten Entwicklungen hoff nungsvoll zu bleiben? Ich denke langfristig. Man muss sich als Aktivistin klarmachen, dass man das Er gebnis nicht direkt kontrollieren kann. Veränderung ist möglich: Repariere den Teil des Universums, den du berühren kannst. Gleichzeitig musst du Vertrauen haben, dass andere dasselbe tun. Maude Barlow, geboren 1947, ist eine kanadische Ak tivistin und Autorin. Sie setzt sich für eine gerechte Vertei lung von und einen nachhal tigen Umgang mit Wasser ein – unter anderem in ih rem weltweiten Netzwerk der Blue Communities. Sie hat die UNO zum Thema Wasser beraten und mit da für gesorgt, dass der Zugang zu sauberem Wasser und sa nitärer Grundversorgung im Jahr 2010 von der UN-Voll versammlung als Menschen recht anerkannt wurde. Für ihr jahrzehntelanges Enga gement erhielt sie 2005 den Alternativen Nobelpreis, den Right Livelihood Award.

Das Wasser gehört uns allen: Wie wir den Schutz des Wassers in die öffentliche Hand nehmen können. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Kunstmann, München 2020, 176 Seiten, 16 Euro Still hopeful: Lessons from a Lifetime of Activism. Englisch. ECW Press, Toronto 2022, 240 Seiten, 21,95 Kanadische Dollar

Foto: Jim West / imageBROKER / pa

4,2 Milliarden Menschen auf der Welt ha ben keinen Zugang zu sanitären Anlagen. Als wir vor zweieinhalb Jahren das erste Mal von Covid hörten, sagten die Gesund heitsbehörden, dass man seine Hände mit Seife und warmem Wasser waschen solle. Die UNO erwiderte, dass dazu mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung die Möglichkeit fehle. Es gibt Gegenden, in denen selbst Kliniken kein fließendes Wasser haben – was schon ohne eine Pandemie schlimm genug ist. Welche Gruppen sind vom Wasser mangel am stärksten betroffen? Vor allem Frauen sind die Leidtragenden. In vielen Regionen der Welt sind sie dafür zuständig, Essen anzubauen und zu ko chen, sich um die Familie zu kümmern, sie mit Wasser zu versorgen. Oft laufen Frauen kilometerweit, um Wasser zu ho len, und nehmen ihre Töchter mit, die dann nicht in die Schule gehen. Und Kin der sind besonders vulnerabel. Es sterben mehr Kinder an verschmutztem Wasser als an allen anderen Ursachen zusam men, inklusive Krieg. Auch indigene Men schen und Bauern sind besonders betrof fen, wenn zum Beispiel Bergbaukonzerne in einer Region den Zugang zum Wasser an sich reißen. Generell sind häufig eth nische Minderheiten betroffen, zum Bei spiel in ärmeren Gegenden von Großstäd ten. Es gibt also einen eindeutigen Zu sammenhang zwischen Rassismus, dem Patriarchat und dem ungerechten Zugang zu Wasser.

44 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 TODESSTRAFE IN DEN USA

Der Todestrakt des Gefängnisses ist überfüllt. Das soll sich bald ändern. San Quentin, Juli 2020.

Foto: Carlos Avila Gonzalez / San Francisco Chronicle / Polaris / laif Bye bye, Death Row Kalifornien will den Todestrakt im Staatsgefängnis von San Quentin auflösen und die Verurteilten auf andere Gefängnisse verteilen. Der Plan stößt nicht überall auf Zustimmung. Aus Oakland von Arndt Peltner

Newsom damals. Nach der Schließung der Death Row sollen alle zum Tode Ver urteilten in andere Gefängnisse des Bun desstaats verlegt werden. Langanhaltender Todeskampf Seit 2006 gab es in Kalifornien keine Hin richtung mehr. Ein Richter hatte damals angeordnet, der Bundesstaat müsse eine »humane Exekutionsmethode« finden, um unnötige Schmerzen der Todeskandi dat*innen zu vermeiden. Im Dezember 2005 war Stanley Williams mit einem Giftcocktail hingerichtet worden, und haftiert, nachdem man ihn für mehrere Morde verurteilte. »Ich bin hier schon zu lange. Der Teufel, den man kennt, ist besser als der Teufel, den man nicht kennt«, sagt er. Nach mehr als vier Jahr zehnten in der Death Row ist ihm diese kleine Welt vertraut. Das Justizministe rium kennt die Bedenken und schrieb an die Gefangenen: »Wenn Sie zu irgendei nem Zeitpunkt Hilfe in diesem Über gangsprozess benötigen, gerade auch in den Monaten, bevor die neuen Richtli nien umgesetzt werden, reichen Sie bitte das CDCR-Formular 7362 ein. Eine Fach kraft für Psychologie wird sich dann mit Ihnen in Verbindung setzen und Sie ent sprechend unterstützen.« Debatte um Todesstrafe geht weiter Außerhalb des Gefängnisses formiert sich sogar Widerstand. Einige der Opferver bände Kaliforniens sind alles andere als erfreut über die Pläne des Gouverneurs und drohen mit Klagen. Nina Salarno Besselman ist die Vorsitzende von Crime Victims United, einer Organisation, die sich selbst »Die Stimme für Opfer und öffentliche Sicherheit« nennt. Sie und an dere unterstützten 2016 die Proposition 66, nun kritisieren sie Newsom: »Die kali fornischen Wähler stimmten zweimal für die Todesstrafe, zuletzt mit der Proposi tion 66. Er hält sich nicht an das Gesetz, das da besagt, die Todesstrafe müsse schneller umgesetzt werden. Er ist arro gant. Er glaubt, er steht über dem Gesetz und dem Willen des Volkes.« Selbst wenn alle Pläne zum Ende der Death Row verwirklicht würden, wäre die Debatte um die Höchststrafe in Kalifor nien noch nicht beendet. Gouverneur Newsom hat noch einiges zu tun, um sein Ziel zu erreichen, die Todesstrafe ganz abzuschaffen. Bis dahin heißt es, kleine Schritte zu gehen, zum Beispiel bei der Raumnutzung. Die Death Row in San Quentin ist derzeit noch im East Block untergebracht. Sollten alle Verurteilten verlegt werden, soll aus dem Gebäude ein Rehabilitationszentrum für Häftlinge werden. Auch das ist ein deutliches Signal des Gouverneurs: Aus einem Ort des Hor rors soll ein Ort der Hoffnung werden. ◆ sein langanhaltender Todeskampf war von Gegner*innen der Todesstrafe als Be weis dafür angeführt worden, dass diese Art der Hinrichtung eine brutale Bestra fung sei, die das Gesetz nicht zulasse. In den folgenden Jahren füllte sich die Death Row wieder mit zum Tode Verur teilten. Dann kam das Wahljahr 2016 und mit ihm ein Referendum, bei dem eine knappe Mehrheit der kalifornischen Wäh ler*innen nicht nur für die Beibehaltung der Todesstrafe votierte, sondern auch für die Proposition 66, die Hinrichtungen so gar noch beschleunigen sollte. Die Befür worter*innen der Todesstrafe wollten sich nicht länger damit abfinden, dass zwar weiterhin Mörder*innen zum Tode ver urteilt wurden, gleichzeitig aber keine Hinrichtungen mehr stattfanden und die Death Row mit mehr als 700 Inhaftierten aus allen Nähten platzte.

»Ich bin nicht wirklich glücklich darüber.« Reno,imGefangenerTodestrakt

N

ach wie vor haben 27 Bun desstaaten der USA die Todesstrafe in ihren Gesetz büchern verankert, auch wenn elf davon sie nicht mehr anwenden. Die Zahl der Menschen, die die Todesstrafe befürworten, sinkt ste tig, doch noch immer halten sechs von zehn US-Bürger*innen sie für richtig, wie das Pew Research Center bei einer Umfra ge im Jahr 2021 herausfand. Mehr als die Hälfte der Befragten – und damit mehr als in früheren Umfragen – kritisierte je doch, dass Schwarze eher zum Tode ver urteilt werden als Weiße. 78 Prozent der Befragten erklärten, es bestehe durchaus die Gefahr, dass Unschuldige zum Tode verurteilt würden. Die Zahlen belegen, dass die Todes strafe in den USA weiterhin umstritten ist und dass zugleich die Kritik daran zu nimmt. Vor allem in Kalifornien. Die Ab schaffung der Höchststrafe ist dem kali fornischen Gouverneur Gavin Newsom seit seinem Amtsantritt 2018 ein wichti ges Anliegen. Und er verfolgt sein Ziel auch und erst recht im Wahljahr 2022 weiter. Vor wenigen Monaten kündigte Newsom an, die Death Row, den berühmtberüchtigten Gefängnistrakt im kaliforni schen Staatsgefängnis von San Quentin, zu schließen. Er setzt damit eine Politik fort, die er kurz nach seiner Vereidigung im Frühjahr 2019 eingeleitet hatte, als er den Vollzug der Todesstrafe aussetzte. Newsom stoppte damals nicht nur alle Hinrichtungen in Kalifornien, er ließ auch die giftgrüne Hinrichtungskammer abbauen, um diesen Schritt symbolisch zu unterstreichen.ZurBegründung verwies der Gouver neur auf einen Bericht der National Aca demy of Science, wonach einer von 25 zum Tode Verurteilten unschuldig sei: »Wenn das stimmt und wir damit begin nen, die 737 Todeskandidaten in Kalifor nien hinzurichten, dann haben wir am Ende etwa 30 Unschuldige exekutiert. Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken. Ich kann das nicht unterschreiben«, sagte

Drei Jahre später folgte dann aller dings das Moratorium von Gouverneur Newsom. Außerdem ließ er Alternativen zu einer Unterbringung der Todeskandi dat*innen in San Quentin prüfen. Akti vist*innen gegen die Todesstrafe, die die Zustände in der Death Row schon seit Langem kritisiert hatten, forderten, die Verurteilten müssten mehr Bewegungs spielraum bekommen. Denn bisher dür fen sie weder an Arbeits- noch an Freizeit programmen teilnehmen. Jedes Mal, wenn sie ihre Zellen zum Duschen, zum Hofgang oder zu Gottesdienstbesuchen verlassen, werden ihnen Hand- und Fuß fesseln angelegt. Ihre Mahlzeiten neh men sie nicht im Speisesaal, sondern in ihren Zellen ein. All dies führe zu psychi schen Krankheiten, und das müsse sich ändern, argumentierten die Aktivist*in nen.Newsom reagierte und startete 2019 ein zweijähriges Pilotprojekt, das zeigen sollte, ob die zum Tode Verurteilten auf freiwilliger Basis in andere Gefängnisse verlegt werden können – zum Beispiel in Strafvollzugsanstalten, die näher an den Wohnorten ihrer Familien liegen. In dem Projekt sollte auch geprüft werden, ob eine Verlegung in andere Gefängnisse, in denen nicht die massiven Sicherheits vorkehrungen des Todestrakts von San Quentin herrschen, überhaupt möglich sei. Weil dieses freiwillige Programm nach Angaben des Justizministeriums erfolgreich war, soll es nun zum Pflicht programm werden. Doch nicht jeder in San Quentin freut sich über die anstehenden Veränderun gen. »Ich bin nicht wirklich glücklich dar über«, sagt zum Beispiel Reno, der früher Harold Memro hieß. Der 77-Jährige ist seit 1980 im Todestrakt von San Quentin in

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H ier knieten sie auf dem Bo den und flehten, dass nicht geschossen wird«, sagt Lea Nervar und deutet hinter die Metalltür eines einstö ckigen Hauses am Rande der philippini schen Hauptstadt Manila, in dem sie noch heute wohnt. »Die Männer waren ver mummt und trugen Kapuzen. Mein Freund Wesley und sein Vater wussten überhaupt nicht, worum es ging. Aber die Männer diskutierten nicht groß und schossen.« Die damals 17-Jährige stand direkt daneben, als zwei ihrer Liebsten starben.DieTäter waren schnell verschwun den. In den nächsten Tagen berichtete eine lokale Zeitung, zwei Drogendealer seien von einer Bürgerwehr erschossen worden. »Aber das ist nicht wahr!«, ruft Nervar und bricht in Tränen aus. Mittler weile ist sie 22 Jahre alt. »Hier im Viertel nehmen viele Drogen. Aber Wesley hatte damit nichts zu tun. Er arbeitete als Fah rer und hat Leute von A nach B befördert. Mehr nicht!« Einen Augenblick später fragt sie: »Ob es irgendwann Gerechtig keit geben wird?« Das ist eine Frage, die sich derzeit vie le Menschen auf den Philippinen stellen. Sechs Jahre lang hat die Regierung des südostasiatischen Landes einen brutalen »war on drugs« geführt, einen Anti-Dro genkrieg. Offiziell sollte er für Sicherheit auf den Straßen sorgen und die soziale Misere beenden, die viele Drogenabhän gige erleben. Der Populist Rodrigo Duter te hatte in seinem Wahlkampf angekün digt, einige der damals rund 1,8 Millionen Süchtigen erschießen zu lassen. Als er im Frühjahr 2016 zum Präsidenten gewählt worden war, ließ er der strammen Rheto rik Taten folgen.

Knapp 7.000 Menschen wurden Poli zeiangaben zufolge zwischen 2016 und 2022 erschossen. Nichtregierungsorgani sationen, die neben Polizist*innen im Dienst auch vermummte Erschießungs kommandos in ihre Zählung aufnehmen, sprechen sogar von knapp 30.000 Fällen. Für den Tod von Menschen wie Wesley Fernandez, dem Freund Lea Nervars, ist kein Polizist in Uniform verantwortlich. Aber Nervar ist sich sicher: Ohne Dutertes Anti-Drogenkrieg hätte es den Mord kaum gegeben. In Caloocan, einer armen Gegend im nördlichen Randgebiet der Millionenme tropole Manila, hat man in den vergange nen Jahren viele grausame Geschichten gehört. Von Polizist*innen, die Quoten zu erfüllen hatten, sodass sie auch auf Men schen schossen, die mit Drogen nie etwas zu tun hatten. Und von Augenzeug*innen, die nach einem Mord kurzerhand gleich mit eliminiert wurden. »Hier sind sehr

46 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 TÖTUNGEN AUF DEN PHILIPPINEN

HoffnungwenigBeweise,Viele

Auf den Philippinen hatte Ex-Präsident Rodrigo Duterte den Kampf gegen Drogen ausgerufen – mit allen Mitteln. Während seiner Amtszeit sind Tausende Menschen erschossen worden, darunter viele Arme. Die Familien der Opfer fordern nun Gerechtigkeit. Aus Manila von Felix Lill (Text) und Carlo Gabuco (Fotos)

gebäudes, in dem das Children’s Legal Rights and Development Center eigene Räume hat. Legaspi leitet die Sozial- und Rechtshilfeorganisation. »Wir setzen uns im Moment für 60 Familien ein«, sagt die Sozialarbeiterin. Nach einem Mord litten neben den Partner*innen der Getöteten vor allem die Kinder. Das liege an der plötzlichen Abwesen heit eines Elternteils – aber auch die Ge walttat, die zum Tode führte, könne ein Trauma auslösen. »Die Opferfamilien müssten Entschädigungen erhalten, und die Schützen müssten ins Gefängnis.« Legaspi, die auch Lea Nervar juristisch vertritt, spricht absichtlich im Konjunk tiv. »Theoretisch haben wir in den Philip pinen eine Justiz, die von der Regierung unabhängig ist«, sagt sie. »Aber nur theo retisch.« schon gut.« Was sie nicht gedacht hatte: dass der Staat selbst des Drogenhandels unverdächtige Menschen aus ihrer Um gebung als Gefährdung dieser Sicherheit sehen

viele Unschuldige gestorben«, sagt Ner var und kämpft fünf Jahre nach dem Tod ihres Freundes wieder mit den Tränen. Kein Geld für einen Anwalt Drogen zu verkaufen, zu kaufen und zu konsumieren, steht auf den Philippinen unter Strafe. Über Art und Schwere von Strafen lässt sich streiten, aber kein Dro genvergehen rechtfertigt eine Tötung. Ein Teil der philippinischen Bevölkerung ist in diesem Punkt allerdings anderer Mei nung. Rodrigo Duterte warb im Wahl kampf nicht nur mit Tötungen. Er hatte zuvor auch bewiesen, dass er es ernst meint: Als Bürgermeister der südphilippi nischen Stadt Davao war er stolz darauf, dass ihm nahestehende Todesschwadro nen dort »für Sicherheit gesorgt« hatten, wie er das nannte. »Am Anfang waren wir auch eher da für«, sagt Lea Nervar. »Wir dachten, etwas mehr Sicherheit auf den Straßen wäre

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Diewürde.Opfer der Todesschwadrone sind fast ausschließlich Menschen aus ärme ren Vierteln. Sie haben weder einflussrei che Kontakte noch Geld für einen Anwalt. Rowena Legaspi vertritt diese Menschen. Der Weg zur Gerechtigkeit darf ihrer An sicht nach nicht dort enden, wo die Ar mut beginnt. In Quezon City, einer Stadt die zur Metropolregion Manila gehört, eilt sie über den Gang eines kleinen Büro »Wir setzen uns derzeit für 60 Familien ein.« RowenaSozialarbeiterinLegaspi, Lea Nervar und zwei Porträtbilder, die ihren Freund und dessen Vater zeigen. Manila, Juli 2022.

Randy Delos Santos, Stiftung AJ Kalinga

»Drei Polizisten sind jetzt im Gefängnis.«

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Die exhumierten Überreste Ermordeter auf dem Weg zur forensischen Untersuchung. Quezon City, Juni 2022.

Auf den Philippinen war das öffentli che Vertrauen in die Justiz schon lange gering, aber unter Rodrigo Duterte ver schwand es fast völlig. Der Präsident ließ Journalist*innen verhaften, unterstellte seinen Kritiker*innen, sie seien Kommu nist*innen und Terrorist*innen. Auch prominente Politiker*innen, die Dutertes Anti-Drogenkrieg verurteilten, mussten ins Gefängnis. Die Jurist*innen des Präsi denten fanden das jeweils passende Ver gehen und gründeten darauf ihre Ankla gen. Die Gerichte stellten solche Anklagen nur selten infrage. Nun sammeln Nichtregierungsorgani sationen wie das Children’s Legal Rights and Development Center Beweise, um trotzdem vor Gericht zu ziehen. »Einfach hinzunehmen, dass Zehntausende getötet werden, ist keine Lösung«, sagt Rowena Legaspi. Ihre NGO setzte sich früher vor allem für Kinder ein, die auf Mülldepo nien arbeiten. Seit Dutertes Anti-Drogen krieg liegt der Fokus auf den Erschießun gen.»Sobald wir einen Kontakt zu Famili enmitgliedern der Opfer erhalten, inter viewen wir sie und weitere Personen in ihrer Umgebung, um ihre Versionen des Tathergangs zu dokumentieren. Dann ge hen wir zur Polizei und gleichen alles mit deren Version ab.« Bei der Polizei verlan gen Legaspis Mitarbeiter*innen Einsicht in wichtige Dokumente wie die Todesur kunde. Sollte es sich um einen offiziellen Polizeieinsatz gehandelt haben, der zum Tode eines Menschen führte, wird auch der Einsatzbefehl angefordert. Nicht im mer macht die Polizei alles zugänglich, häufig erweisen sich die protokollierten Begründungen für Polizeischüsse als plumpe Erfindung. Eine funktionierende Justiz? Von fingierten Beweisen und Falschaussa gen spricht auch Randy Delos Santos, ein wohlgenährter Mann mit schütterem Haar und großer Brille. An einem Sonn tag stapft Delos Santos im Zentrum von Manila die Treppen des Katholischen Handelszentrums hinauf. »Nachdem sie meinen Neffen erschossen hatten, legten sie ihm eine Waffe in die Hand, damit es nach Notwehr aussah«, sagt er und schüt telt bitter lächelnd den Kopf. »Bei allen Familien, mit denen ich seitdem gespro chen habe, ist etwas Ähnliches passiert.«

Randy Delos Santos arbeitet für die Stiftung AJ Kalinga. Sie ist organisatorisch mit der katholischen Kirche verbunden, unterstützte früher Obdachlose und nimmt sich mittlerweile ebenfalls der Opferfamilien des Anti-Drogenkriegs an. Bevor sein damals 17-jähriger Neffe Kian im August 2017 erschossen wurde, arbei tete Delos Santos in einem kleinen Logistikbetrieb im Norden Manilas. Als die Polizei behauptete, Kian sei ein Lauf bursche im Drogenmilieu, verlor der On kel seinen Job. »Mein Boss sagte mir, dass er auf das Ansehen seiner Firma achten muss.«Randy Delos Santos kam mit der Stif tung AJ Kalinga in Kontakt, sammelte Be weise zum Tod Kians, ließ Anklage erhe ben und zog damit vor Gericht. Ende 2018 gab ihm ein Gericht in Manila teilweise recht: Die Polizisten hatten gelogen, Kian war nicht bewaffnet, als sie auf ihn schos sen. »Drei Polizisten sind jetzt im Gefäng nis«, sagt er. Heute hat Delos Santos ein kleines Büro unter einem Schrägdach. Für die Stiftung befasst er sich mit Fällen, die dem Mord an seinem Neffen ähneln.2022

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Eine Mutter mit der Urne ihres Sohnes, der ermordet wurde. Quezon City, März 2022.

Lässt seit dem Mord an seinem Neffen nicht locker: Randy Delos Santos. Manila, Juni 2022.

Kian Delos Santos machte vor vier Jahren landesweit Schlagzeilen. Dass er vor Gericht zumindest teilweise Recht bekam, befriedigt Randy Delos San tos. Doch Zweifel bleiben: »Ich glaube, das ist nur ein Feigenblatt, damit behauptet werden kann, es gebe hier eine funktio nierende Justiz.« Genau diese Justiz habe es aber versäumt, mit einem Schuld spruch zu gefälschten Beweismitteln einen Präzedenzfall zu schaffen, der zu weiteren Verurteilungen hätte führen können. Internationale Strafverfolgung Tausende Kilometer entfernt auf der an deren Seite des Pazifiks macht sich Ra phael Pangalangan Notizen, während er spricht. Der auf den Philippinen bekannte Jurist ist derzeit für einen Forschungsauf enthalt an der Harvard Law School in den USA. Aus der Ferne fällt sein Blick auf die seines Landes mit dem Gericht auf, doch bleibt der Strafgerichtshof für Verbre chen zuständig, die in der Zeit davor begangen wurden. Ist es realistisch, einen Schuldspruch gegen Duterte zu erwarten? Raphael Pan galangan möchte keine großen Erwartun gen wecken. Neben Zeugenberichten be legten auch zahlreiche Exhumierungen, dass philippinische Polizist*innen häufig gelogen hätten. »Trotzdem sind bei straf rechtlichen Fällen die Hürden vor einer Verurteilung hoch.« Fraglich sei auch, inwieweit man Duterte eine direkte oder indirekte Verantwortung für die Tötun gen nachweisen könne. Unklar ist zudem, inwieweit die philippinischen Behörden mit der inter nationalen Strafverfolgung kooperieren werden. Als im Mai der Nachfolger von Rodrigo Duterte gewählt wurde, gewann Ferdinand Marcos Junior die Wahl. Der Sohn des Diktators Ferdinand Marcos, der von 1965 bis 1986 über die Philippinen herrschte, ist mit Familie Duterte be freundet. Dutertes Tochter Sara ist sogar die Vizepräsidentin von Marcos Junior. Als die neue Regierung im Juli ihre Arbeit aufnahm, erklärte sie umgehend, dass der Anti-Drogenkrieg noch nicht beendet sei. In Caloocan raubt diese politische Ent wicklung Lea Nervar fast den Mut. »Ich hatte so sehr gehofft, dass Marcos nicht gewinnt. Jetzt wird alles weitergehen«, sagt sie, und sieht wieder auf die Stelle hinter der Tür, wo vor fünf Jahren ihr Freund erschossen wurde. »Jetzt glaube ich nicht mehr an Gerechtigkeit.« ◆

»Wir haben jetzt 260 Fälle beisammen. Eigentlich müssen sie alle zugunsten der Opfer entschieden werden.« Randy Delos Santos spricht diesen Satz nur zögerlich aus. Als es um die Fälschung der Beweis lage im Fall seines Neffen ging, entschied das Gericht nicht im Sinne der von ihm vorbereiteten Anklage: »Da haben sie be hauptet, das lasse sich nicht abschließend entscheiden!«DerFallvon

Strafverfolgung in seinem Heimatland nüchtern aus: »Die Philippinen hatten schon länger Probleme mit Fragen der Gewaltenteilung.«Dochnichtnur philippinisches Recht lässt sich gegen jene anwenden, die für die Tötungen verantwortlich sind. Auch internationales Recht könnte geltend ge macht werden, sagt er. Er spricht für Cen ter Law, eine NGO, die sich überall dort, wo das nationale Rechtssystem in Men schenrechtsfragen scheitert, auf interna tionales Recht beruft. Pangalangan ist vorsichtig optimistisch, damit in einigen Fällen er folgreich zu sein: »Es ist völlig klar, dass Dutertes Regierung

2019kündigteHaagStrafgerichtshofauchren,Gerichtennurkumente,rundCenterRightsdemStiftungurteiltExpräsidentendenStreifenVerurteilungennichtDiemelt,JahrenhabegangenrechtsverletzungenMenschenbehat.«CenterLawindenvergangenenBeweisegesamsagtPangalangan.Organisationwillsichmitvereinzeltenvonpolizistenzufriegeben.Manwilldenselbstversehen.NebenCenterLaw,derAJKalingaundChildren’sLegalandDevelopmentsammelnderzeit60InstitutionenDoumdiesenichtvorphilippinischenzupräsentiesondernsieeventuelldemInternationaleninDenzuübergeben.ZwarDuterteimMärzdieZusammenarbeit

Der kolumbianischen Regierung zufolge will Deutschland künftig mehr Steinkohle aus Kolumbien importieren. 2021 bezog Deutsch land noch mehr als die Hälfte seiner Importe aus Russland (18,34 Millionen Tonnen). Seit dem Ukraine-Krieg werden diese Importe massiv gedrosselt – zugunsten kolumbia nischer Kohle, deren Import sich im März im Vergleich zum Vormonat verdrei fachte – auf knapp 690.000 Tonnen. In der kolumbianischen Region La Guajira befindet sich das größte Kohlebergwerk Lateinamerikas. Eigner ist der Schweizer Kon zern Glencore, der nun seine Produktion erhöhen will. Er hat bereits die Genehmi gung, dafür einen Zulauf des einzigen Flusses in der wüstenähnlichen Gegend umzuleiten. Damit ist die Wasserversorgung von Tausenden Menschen akut gefährdet

Journalist*innen festzunehmen. In New York konnten Recherchen von Amnesty International belegen, dass Demon strant*innen, die 2020 an »Black Lives Matter«-Protesten teilnahmen, mithilfe von Gesichtserkennung überwacht wur den. Dies hat dramatische Folgen für die Wahrnehmung der Menschenrechte: Wer weiß, dass er überwacht wird, ändert sein Verhalten oder verzichtet aus Sorge vor Konsequenzen ganz auf die Ausübung persönlicher Rechte. Obwohl Gesichtserkennungstech nologie alle Menschen gefährdet, trifft der Einsatz marginalisierte Gruppen be sonders. Die Technologie ist bei Schwar zen Menschen, People of Colour, Frauen und Kindern besonders fehleranfällig, führt zu Falscherkennungen und ver stärkt bestehende Diskriminierungen sowie Benachteiligungen. Sie ist ein mächtiges Mittel der Repression, das ge zielt eingesetzt wird. Sehr deutlich wird dies in der chinesischen Provinz Xinjiang, wo Uigur*innen mit Unterstützung der Technologie überwacht, verhaftet und gefoltert werden. In einer Petition an die UN-General versammlung fordert Amnesty daher ein sofortiges Verbot für die Entwicklung, den Handel mit und den Einsatz der Tech nologie. Auch Europa steht in den kom menden Monaten im Fokus unserer Arbeit – die EU wird über ein mögliches Verbot dieser Technologie entscheiden. Kristina Hatas WAS SAGT AMNESTY EIGENTLICH ZU GESICHTSERKENNUNGSTECHNOLOGIE?...

WAS TUN? 50 AMNESTY JOURNAL | 05/

Ein weltweiter Zusammenschluss von NGOs fordert mit der Kampagne »Le ben statt Kohle« ein Ende der Men schenrechtsverletzungen und des stei genden Kohle-Abbaus in der Region. 2023 tritt in Deutschland das Sorgfalts pflichtengesetz in Kraft. Es verpflichtet Importeure von Rohstoffen, Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsstandards vor Ort einzuhalten. Kritiker*innen geht das Gesetz nicht weit genug.

Quellen: Bundesamt für Statistik, Unidas por la Paz Alemania, Misereor, Fridays for Future und andere. Foto: Wirestock Creators / shutterstock 2022 Programme, die in der Lage sind, Gesich ter mit Fotos abzugleichen und zuzuord nen, ermöglichen eine tausendfache Identifizierung von Personen und eine Massenüberwachung in nie dagewese nem Maße. Amnesty International setzt sich für ein weltweites Verbot von Ge sichtserkennungstechnologie ein. Diese massenhafte, anlasslose Über wachung ist aus Sicht von Amnesty un verhältnismäßig und eine Verletzung des Rechts auf Privatsphäre. Auch andere Rechte – wie die Versammlungs- und Meinungsfreiheit – sind so direkt be droht. Die russischen Behörden undAufnahmenGesichtserkennungstechnologiesetzenein,umvonProtestenauszuwertenfriedlicheDemonstrant*innenund

Die Ausbeutung der Region hat in den vergangenen Jahrzehnten zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen geführt. Der Tagebau verlangt enorme Flächen, Anwohner*innen wurden von ihrem Land vertrieben, oft nicht ausreichend entschädigt. Die Verschmut zung und Umleitung von Wasser hindert den Nahrungsmittelan bau, die Feinstaubbelastung verursacht Atemwegserkrankungen.

DAS STECKT DRIN: KOHLE AUS KOLUMBIEN

Der Tagebau liegt auf dem Gebiet der indigenen Gemeinschaft der Wayúu. Diese sind nach eigenen Angaben zu der geplanten Umleitung des Wasserlaufs nicht befragt worden.

Das Spiel führt durch die Erfahrungen von drei Protagonist*innen, die mit rea len Menschenrechtsverletzungen kon frontiert sind: Der Karikaturist Ahmed Kabir Kishor wurde in Bangladesch zu Unrecht angeklagt.

Virtuelle Charaktere, krasse Geschichten, realer Hintergrund: Wer spielerisch ler nen will, welchen Einfluss Menschenrech te auf unser Leben haben, ist bei dem On line-Spiel »Rights Arcade« von Amnesty International richtig.

BESSER MENSCHENRECHTEMACHEN: ALS ONLINE-SPIEL 

Unternehmen in der Gesamtbewertung

entlang seiner Lieferkette

Umgang mit Kleinbäuer*innen und Frauenrechte. Damit ein 100 Prozent erreicht, muss es die Einhaltung der Menschenrechte umfänglich garantieren und dies dokumentieren.

Die Spielerin oder der Spieler schlüpft in die Rolle der drei Hauptfiguren und steuert sie durch ihre Erlebnisse. Entschei dungen müssen getroffen, Ungerechtig keiten durchlebt werden. Charakteristisch ist ein selbstbestimmter Ansatz, der es den Spieler*innen ermöglicht, in ihrem eigenen Tempo zu lernen, zu reflektieren

AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 51

Die Bürgerjournalis tin Zhang Zhan soll für vier Jahre ins Ge und zu handeln, während sie durch die Geschichten des Spiels navigieren. Rights Arcade wendet sich vor allem an ein jüngeres Publikum und klärt unter anderem über die Rechte auf Meinungsund Versammlungsfreiheit auf. Es will aber auch dazu ermutigen, in Menschen rechtsfragen aktiv zu werden. Das Online-Spiel ist kostenlos und derzeit auf Englisch, Chinesisch (verein facht), Thai und Koreanisch verfügbar. Die App kann auf iOS- und AndroidGeräte heruntergeladen werden. fängnis, weil sie in China über Corona be richtet hat. Und die studentische Aktivis tin Panusaya Sithijirawattanakul muss wegen ihrer Proteste in Thailand mit mehr als 25 Anklagen rechnen.

Die Menschenrechte in El Salvador sind bedroht. Seitdem Präsi dent Nayib Bukele am 27. März den Ausnahmezustand ausgeru fen hat, haben die Behörden unter dem Vorwand, Kriminelle zu bekämpfen, unzählige Menschenrechtsverletzungen begangen. Werde aktiv! Fordere von Präsident Bukele, dass die Menschen in El Salvador frei von Drohungen, Folter, Misshandlungen und Unterdrückung leben können und ihre Rechte garantiert werden!

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Arbeiter*innenrechte 65%65%63%58%17% 46%63%67%54%13% Umgang Kleinbäuer*innenmit 50%46%54%54%13% Frauenrechte 40%48%43%29%0%

Transparenz, Arbeiter*innenrechte,

EL SALVADOR: STOPP MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN!

Quelle: Oxfam 2022 Grafik: The Noun Project20% 40% 60% 80% AldiLidl Süd Aldi EdekaReweNord 48%49%56%59%11%

Fortschritte gegeben Edeka

Supermarkt Gesamtbewertung MALEN NACH ZAHLEN: SUPERMÄRKTE Seit 2018 veröffentlicht die Organisation Oxfam ihren Supermarkt-Check. Seitdem hat es deutliche bleibt allerdings das eindeutige Schlusslicht. Bewertet werden

Transparenz

»Wer, wenn nicht wir, Amnesty oder Journalisten, soll sich um Aufklärung kümmern?« nicht zu nett« Sonia Mikich war Auslandskorrespondentin in Moskau und Chefredakteurin des WDR. Sie ist Schirmherrin des diesjährigen Marler Medienpreises von Amnesty International. Zeitenwenden in Russland, investigative Geschichten und leise Rebellion.

Ein Gespräch über

Interview: Anton Landgraf Vermissen Sie Moskau?

Putin war von Anfang an ein Macht mensch, der Russland wieder groß ma chen wollte. Viele Menschen, die zu den Verlierern der Wirtschaftsreformen ge hörten, waren froh, dass nach Boris Jelzin ein starker junger Mann antrat, der das Land wieder nach vorne bringen wollte. Darin bestand Putins Popularität. Gleich zeitig hat er vom ersten Tag an die russi sche Gesellschaft, Politik und Wirtschaft auf sich zugeschnitten. Er hat jegliche Konkurrenz beiseite geschafft, und zwar ziemlich schnell. Er hat die Gouverneure entmachtet und die Parteienvielfalt durch massive Wahlmanipulationen zer stört. Anschließend hat er die Massenme dien, allen voran das Fernsehen, auf Linie gebracht. Im Westen dachten viele: Viel leicht braucht Russland einen starken Po litiker. Eine autoritäre Regierung ist im mer noch besser als ein Machtvakuum oder Unruhen. Die Wirtschaftsbeziehun gen sollten nicht gefährdet werden. Viele westliche Politiker sind erst aufge schreckt, als Putin bei der Münchner Si cherheitskonferenz 2007 plötzlich Dro hungen aussprach. Aber die Empörung versickerte schnell. Selbst nach der Anne xion der Krim gab es noch ein gewisses Verständnis.

Nach Ihrer Zeit in Russland waren Sie für WDR-Sendungen wie »Monitor« und »Die Story« verantwortlich. Für Ihre Arbeit erhielten Sie mehrfach den Marler Medienpreis, unter ande rem für einen Beitrag über den Tod von Oury Jalloh in einer Polizeiwache in Dessau. Der Fall von Oury Jalloh hat mich damals zutiefst gepackt, denn ich hatte eine sim ple Frage und eine einfache Motivation: Es kann doch nicht sein, dass ein Mensch in einer Polizeizelle in Deutschland ein fach so verbrennt. Warum wird das nicht aufgeklärt? Wir haben diesen Fall bei »Monitor«, aber auch in der Reihe »Die Story« immer wieder aufgegriffen. Bei mir hat das starke Zweifel am Rechtsstaat ausgelöst. Ist es nicht frustrierend zu sehen, dass sich wie im Fall von Oury Jalloh auch 15 Jahre später nicht viel geändert hat? Natürlich könnte man resignieren und sa gen: Aufklärung nützt nichts, es passiert immer wieder dasselbe, die Menschen lernen nicht dazu. Da, wo ein Licht auf ein Verbrechen oder eine Menschenrechts verletzung fiel, wurde es ziemlich schnell auch wieder zappenduster. Aber wer, wenn nicht wir, soll sich um Aufklärung kümmern? Also NGOs wie Amnesty, aber natürlich auch kritische Journalisten. Wenn man nur eine einzelne Geschichte aufdeckt, wenn man eine einzelne Person rettet, wenn man einen einzelnen Um stand verbessert, dann hat sich schon viel gelohnt. Inzwischen sind TV-Formate von Joko und Klaas oder Jan Böhmermann po pulär, die Unterhaltung und investi gative und politische Beiträge mitein ander verbinden. Sind solche Sendungen eine Konkurrenz für die klassi schen Polit-Magazine? Ich finde Jan Böhmermann fabelhaft. Er macht immer mehr investigative Ge schichten. Ich war besonders angetan von seiner Sendung über das Schwarzfahren. Wer kein Geld hat, um die Strafe zu bezah len, kommt irgendwann ins Gefängnis –was absurd ist, weil man dort erst recht nichts bezahlen kann. Und diese Strafe kostet den Staat täglich sehr viel mehr Geld, als er durch das verhängte Bußgeld eingenommen hätte. Böhmermann hat diese Fälle aus allen Winkeln betrachtet –aus wirtschaftlicher, juristischer und his torischer Perspektive. Offensichtlich

Ich wäre gerne in Moskau, aber ich wüsste nicht, wie gut ich verdrängen kann, dass dort ein Kriegspräsident das Sagen hat. Ich habe Moskau geliebt, es war für mich magisch. Warum? Weil es damals, in den 1990er Jahren, ebenfalls eine Zeitenwen de gab. Die Jelzin-Ära war für Journalisten eine aufregende Zeit. Es herrschte eine Aufbruchstimmung, Freiheiten waren möglich, die Menschen waren demokra tiefähig.

52 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 AMNESTY-MEDIENPREIS

»Seid

Ich habe natürlich auch die Bil der von den Massendemonstrationen 2011 im Kopf. Hunderttausende waren auf den Straßen und schrien: »Putin muss weg!« Meine russischen Freunde sind auch heute keine Putin-Anhänger, sie ver abscheuen und verdammen den Krieg. Aber sie sagen das nicht mehr laut, son dern lassen die Schultern hängen. Sie warten und hoffen, dass es irgendwann vorbei ist mit diesem Präsidenten. Warum haben so viele Putin falsch eingeschätzt?

Die heutigen Rebellen sind in der Tat nicht laut. Sie rotzen ihre Wut nicht mehr so her aus wie in meiner Generation. Braucht man das? Ich finde ja. Ich finde Regelver stöße fruchtbar, auch im Individuellen. Natürlich ist es schwierig, etwas zu be wegen und gleichzeitig das System, das be wegt werden soll, völlig infrage zu stellen. Das ist eine etwas schizophrene Situation. Aber ich persönlich neige eher dazu, zu sa gen: Seid nicht zu nett! Seid nicht zu höf lich! Versucht, Verständnis zu gewinnen, und ab einem bestimmten Punkt, wenn es gar nicht klappt, seid radikal. ◆

Beim Marler Medienpreis vergeben in diesem Jahr erstmals auch AmnestyJugendgruppen eine Auszeichnung, also Menschen, die zumeist kein line ares Fernsehen mehr schauen… Ich glaube auch nicht, dass sich viele Ju gendliche am Donnerstagabend vor den Fernseher setzen, um »Monitor« anzuse hen. Aber dafür gibt es ja Mediatheken. Und wir müssen gleichzeitig auf vielen Plattformen präsent sein. Das ist für Älte re oft schwieriger, für die Jüngeren hinge gen eine Selbstverständlichkeit. Sie haben vielleicht kein so großes Interesse am Fernsehen, aber dann ploppt irgendeine ben. Vermissen Sie solche Rebell*in nen heute?

SONIA SEYMOUR MIKICH Sonia Seymour Mikich wurde 1951 in Großbri tannien geboren und wuchs in Deutschland auf. Sie arbeitete ab 1992 als Korrespondentin in Moskau und leitete später das ARD-Studio in Paris. Ab 2002 moderierte sie das Polit-Magazin »Monitor«. Von 2014 bis 2018 war sie Chef redakteurin Fernsehen beim Westdeutschen Rundfunk (WDR). Sie lebt in Köln. Der Marler Medienpreis von Amnesty Interna tional wird am 24. September 2022 zum zwölf ten Mal vergeben. Der Preis würdigt Beiträge, die in außergewöhnlicher Weise das Thema Menschenrechte behandeln. Die Jurys bestehen aus Mitgliedern von Amnesty International. Weitere Informationen unter https://m3.amnesty.de Foto: Annika Fußwinkel / WDR

stammt das entsprechende Gesetz noch aus der Nazizeit. Am Ende ging es sehr praktisch darum, Geld zu sammeln, um Leute aus dem Gefängnis zu holen. Das war für mich absolut rund und fantas tisch. Ist das eine Konkurrenz für »Moni tor«? Nein. Ich hätte vielleicht das Thema mit einem Beitrag erweitert, hätte Politi ker gefragt: Warum tut ihr nichts dagegen, warum gibt es zum Beispiel keinen kos tenlosen öffentlichen Nahverkehr?

AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 53

Der 12. Marler Medienpreis Menschenrechte findet am 24. September um 15 Uhr im GrimmeInstitut, Eduard-Weitsch-Weg 25, 45768 Marl, statt. Alle Leser*innen sind herzlich zum Besuch der Preisverleihung eingeladen, die auch online übertragen wird.

»Monitor«-Recherche auf den üblichen Plattformen auf. Und siehe da, sie neh men es wahr, finden es gut und erzählen es weiter. Was will man mehr? Was zeichnet eine gelungene Doku mentation oder einen Magazinbei trag aus? Hatte der Beitrag eine Wirkung? Ist irgendjemand aufgeschreckt? Ein Un recht wurde deswegen vielleicht nicht so fort abgeschafft, aber wurde darüber dis kutiert? Flossen die Erkenntnisse in eine Bundestagsdebatte ein? Wurde jemand dadurch aus einem Gefängnis geholt? Hat der Beitrag motiviert, sodass Aktivisten oder Journalisten sehen, dass ihre Arbeit wahrgenommen wird? Wir haben Werte, die immer wieder verteidigt und umge setzt werden müssen. Und Medienschaf fende sind dafür da, dass die Demokratie immer wieder Sauerstoff bekommt und nicht eines Tages völlig ausgehöhlt und schwach ist.

Sie haben zu Beginn Ihrer journalistischen Karriere über Punk oder Musi kerinnen wie Patti Smith geschrie

54 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 PORTRÄT

NAH AN DER NATUR

◆ apoenafotosFoto:

Als Teil eines amazonischen Anwaltskollektivs trat Borari Anfang November 2021 bei einem Panel der UN-Klimakonferenz in Glasgow auf. Es war nicht das erste Mal, dass sie in Europa ihre Stimme erhob. Borari kooperiert mit internationalen Um weltorganisationen und hält regelmäßig Vorträge über die Situ ation im Amazonasgebiet. Sie hofft auf internationale Solida rität, um politischen Druck auf Jair Bolsonaros Regierung und die Agrarkonzerne auszuüben, die im Amazonas Soja anbauen. Deren Felder werden durch Brand und Abholzung immer weiter vergrößert. Dabei werden Existenzen von Kleinbäuer*innen zer stört und Agrochemikalien benutzt, die Gewässer und Tiere ver giften und die Gesundheit der Bewohner*innen gefährden. »Ich wünsche mir, dass den Menschen in Europa unser Leid bewusst wird und sie uns unterstützen, zum Beispiel, indem sie keine Produkte von Firmen kaufen, die die Existenz unseres Landes bedrohen«, sagt Borari. Nicht nur als Aktivistin wird sie oft nach Europa eingeladen, sondern auch als Keramikkünstlerin. Sie versucht diese Kunst form, die sie von ihrer Großmutter und anderen älteren Frauen im Dorf lernte, mit ihrer politischen Arbeit zu verknüpfen. Als sie 2021 eine Zeit lang in Basel war, wiederholte sie bei jeder Gelegenheit eine Botschaft, die ihr besonders am Herzen liegt: »Ohne den Amazonas hat die Welt keine Zukunft, ohne ihn gibt es kein Leben.«

Vandria Borari kämpft gegen Umweltzerstörung im brasilianischen Amazonasgebiet – auch mit Hilfe ihrer Keramikkunst. Bereits als Teenagerin setzte sie sich für bessere Lebensumstände in ihrem Dorf ein. Von Luciana Ferrando S ie trägt nicht nur den Namen ihrer Bevölkerungsgruppe, der Borari aus dem brasilianischen Bundesstaat Pará, mit ten im Amazonasgebiet. Vandria Borari wurde auch zu de ren Anführerin und Sprecherin, kämpft für deren Rechte und führt deren Tradition in der Keramikkunst fort. Schon mit 16 Jahren engagierte sie sich als Aktivistin, heute setzt sich die 38Jährige als Juristin für die Borari ein. Um »hilfreicher« für ihre Leute zu sein, studierte sie Rechtswissenschaften und schloss 2019 als erste indigene Frau ihrer Region das Studium ab. »Wir Menschen sind eins mit der Natur. Wenn wir sie zerstö ren, zerstören wir uns selbst.« Mit dieser Gewissheit wuchs Bo rari im Dorf Alter do Chão am Ufer des Rio Tapajós auf. Schon als Kind konnte sie beobachten, wie der Regenwald abgeholzt wurde und sich ihre Umgebung schnell veränderte. Als Jugend liche fing Borari an, sich in ihrer Gemeinde zu engagieren. Sie kam mit anderen Teenager*innen aus der Region zusammen, die wie sie davon träumten, ihre Lebensumstände zu verbes sern. Sie beschäftigten sich vor allem mit Umweltbildung, aber auch mit den allgemeinen Belangen der Dorfbewohner*innen. 2006 nahm Borari an einem großen Protest von Greenpeace gegen den Konzern Cargill teil. Im Hafen der Stadt Santarém verschiffte Cargill Soja aus dem Amazonasgebiet nach Europa. Damals gelang es den Aktivist*innen, den Hafen lahmzulegen. »Diese Aktion war wesentlich in meinem Leben. Sie zeigte mir, dass wir gemeinsam mehr erreichen können, aber auch, dass jede von uns wichtig ist«, sagt Borari. »Seitdem habe ich nie mehr aufgehört, für die Erhaltung unseres Territoriums sowie gegen die Vernichtung des Regenwalds zu kämpfen.« Deshalb sei sie zur Universität gegangen. »Rechtskenntnisse sind ein wertvolles Werkzeug, wenn es darum geht, unsere Rechte zu ver teidigen und zu garantieren«, sagt sie.

RECHTSWIDRIGE ABSCHIEBUNGEN IN BULGARIEN

Die Diskussion über antisemitische Wer ke und Positionen auf der Kasseler Kunst schau documenta fifteen geht weiter. Nachdem das umstrittene Wandbild »People’s Justice« des indonesischen Kunstkollektivs Taring Padi abgehängt worden war, entschuldigte sich das Kura torenteam ruangrupa öffentlich. Die Or ganisator*innen der Ausstellung kündig ten an, alle weiteren Werke auf antisemi tische Inhalte zu prüfen.

Doch auch an der Aufarbeitung gibt es Kritik. Der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, hat sich inzwi schen von seiner Beratungsfunktion zu rückgezogen. Auch die deutsche Künstle rin Hito Steyerl entfernte ihre Arbeiten aus der Ausstellung. Inzwischen wurde bekannt, dass mindestens 84 Teilneh mer*innen der documenta Aufrufe zu einem Israel-Boykott unterschrieben hatten, darunter auch Mitglieder der

ANTISEMITISMUS

geschlagen, bedroht und in Nachbarlän der abgeschoben worden. Damit habe Bulgarien gegen geltendes europäisches Recht verstoßen. (»Entschiedener auftreten!«, Amnesty Journal 01/2021) tional fordert, dass die Klage gegen sie und andere Aktivist*innen fallen gelassen sowie der Zugang zu Schwangerschaftsab brüchen vollständig entkriminalisiert wird. Erst im Juni wehrte die nationalkonservative Regierung einen Gesetzent wurf zur Liberalisierung des Abtreibungs rechts ab. Seit der Verschärfung der Rechtslage treiben betroffene Polinnen zunehmend illegal oder im Ausland ab. (»Furchtlos füreinander da«, Amnesty Journal online, November 2020)

Für Selbstbestimmung, gegen Verbote. Protest in Warschau, November 2021. Foto: Grzegorz Żukowski AUF DER DOCUMENTA

künstlerischen Leitung und des Beirats. Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann legte Mitte Juli ihr Amt nie der.Die Ausstellung soll grundlegend reformiert werden, seit August begleitet ein aus sieben Wissenschaftler*innen bestehendes Gremium die Ausstellung. Sie endet am 25. September. (»Zusammen in der Reisscheune«, Amnesty Journal 04/2022).

Der polnische Gesundheitsminister Adam Niedzielski unterzeichnete Anfang Juni eine Verordnung, die Ärzt*innen ver pflichtet, die Schwangerschaft einer Pa tientin zu erfassen. Abtreibung ist in Po len praktisch verboten – seit 2021 auch, wenn der Fötus stark geschädigt ist. Aus nahmen sieht das Gesetz nur vor, wenn eine Schwangerschaft das Leben der Mut ter gefährdet, Folge von Inzest oder einer Vergewaltigung ist. Menschenrechtsakti vist*innen und Jurist*innen fürchten nun, dass Ermittler*innen die Daten nut zen könnten, um Schwangerschaftsab brüche zu verfolgen oder Schwangere un ter Druck zu setzen. Die polnische Regie rung betont, mit der Verordnung nur eine EU-Richtlinie zur Registrierung von Pa tientendaten umzusetzen. Wer gegen das Abtreibungsverbot ver stößt, muss mit bis zu drei Jahren Haft rechnen. Mitte Oktober wird die Frauen rechtsaktivistin Justyna Wydrzyńska in Polen vor Gericht stehen, die sich für ei nen Zugang zu sicheren und Schwangerschaftsabbrüchenlegaleneinsetzt. Sie hatte einer schwangeren Frau zu Abtrei bungspillen verholfen. Amnesty Interna POLEN ERFASST SCHWANGERSCHAFTEN Geflüchtete, die in Bulgarien Schutz und Sicherheit gesucht haben, wurden ohne Zugang zu fairen Asylverfahren gewalt sam abgeschoben. Die unabhängige Men schenrechtsorganisationen Center for le gal aid – Voice und die Nichtregierungs organisation Mission Wings haben Ende Juni 2022 Interviews mit Geflüchteten auf YouTube veröffentlicht.

Sie dokumentieren Menschenrechts verstöße gegen Schutzsuchende in Bulga rien. Betroffene, insbesondere unbeglei tete Minderjährige und Frauen mit Kin dern, berichten, nach ihrer Ankunft in Flüchtlingsunterkünften von Polizeibe amten abgeholt worden zu sein. Diese hätten sie in Gefängnisse gebracht und dort festgehalten. Im Anschluss seien sie

AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 55 DRANBLEIBEN

56 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 KULTUR SCHWARZE STREET ART

Rachel

»OurWolf-Goldsmith:Liberation«.

Das bunte Erbe der

Von Arndt Peltner (Text und Fotos) BAMP Collective: »Justice for my Ancestors«.

Oakland in den Folgejahren prägte und noch immer deutlich nachwirkt. Im Jahr 2016, 50 Jahre nach der Gründung der BPP, wurde die Geschichte der Gruppe in einer vielbeachteten Ausstellung im Oak land Museum of California nachgezeich net, die aufgrund der großen Nachfrage später zu einer Dauerausstellung wurde. Patrouille in Lederjacken Ziel der Black Panther Party war es, die Schwarzen in den innerstädtischen Ghet tos zu organisieren und gegen Polizeige walt zu einen. Die Black Panthers kleide ten sich in schwarzen Lederjacken, trugen dazu schwarze Baretts und patrouillierten bewaffnet durch die afroamerikanischen Nachbarschaften. Sie suchten nicht nur die Konfrontation mit den »pigs«, wie Po lizist*innen von ihnen genannt wurden, Area Mural Programs (BAMP), einer ge meinnützigen Organisation, die die Stadt durch öffentliche Kunst verschönert. »Für mich ist Oakland einfach ein Ort, an dem die Leute wissen, hier können sie sich ausdrücken und konnten das schon immer. Viele brachte genau das hierher, sie blieben und ließen ihre Stimmen hö ren«, sagt Andre Jones, der Gründer und Geschäftsführer der Organisation. Der 44-jährige Afroamerikaner kam selbst vor etlichen Jahren aus Philadelphia in diese Stadt, die bekannt, berühmt und auch be rüchtigt ist für ihren politischen Aktio nismus. Hier wurde 1966, wenige Monate nach der Ermordung von Malcolm X und den tödlichen Polizeikugeln auf einen unbewaffneten, afroamerikanischen Ju gendlichen in San Francisco, die radikale Black Panther Party (BPP) gegründet, die

AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 57

PantherSchwarzenOaklandanderUS-WestküstewareinZentrumderBürgerrechtsbewegung,hiergründetesichauchdiemilitanteBlackPantherParty.Heuteerinnernmehrals1.000WandbilderandieKämpfevondamalsundverbindensiemitaktuellenForderungender»BlackLivesMatter«-Bewegung.

F ährt man von San Francisco über die Bay-Bridge nach Oak land, dann liegt direkt neben dem Freeway 580 das California Hotel. Auf den ersten Blick wirkt es, als hätten die Eagles einst genau für dieses Gebäude die folgende Textzeile geschrieben: »You can check out any time you like, but you can never leave!‹« Doch der Eindruck täuscht, das trutzburgartige, denkmalgeschützte Backsteingebäude aus den 1930er Jahren war einst ein Zen trum der afroamerikanischen Communi ty. Oakland galt lange Zeit als eine »Black City«. Jazz, HipHop und Black Power sind tief verwurzelt in »The Town«, wie Oak land auch genannt wird. Und dieses kul turelle Erbe wird im Erdgeschoss des Cali fornia Hotels gewissermaßen verwaltet. Dort befinden sich die Räume des Bay

sondern auch mit lokalen Drogendea ler*innen und Kriminellen, die das tägli che Leben in den Communities erschwer ten. Außerdem organisierten die Akti vist*innen kostenfreie Gesundheitszen tren und Schulspeisungen. Das Modell aus Oakland machte in anderen US-Städ ten Schule. 1968 war die Black Panther Party mit rund 2.000 Mitgliedern in Städ ten wie Chicago, New York, Philadelphia und Los Angeles aktiv. Für die beiden Gründer und Führungspersonen der Pan thers, Huey Newton und Bobby Seale, bil dete der Marxismus die Grundlage ihres politischen Zehn-Punkte-Programms. Es ging ihnen um ein Ende der Polizeige walt, um faire Arbeitsbedingungen und eine gleichberechtige Teilnahme Schwar zer am vielgepriesenen »American Dre am«.Die Black Panther Party war ein be sonders lauter Teil der damaligen »Black Power«-Bewegung, die Bürgerrechte for derte. FBI-Chef J. Edgar Hoover betrachte te die BPP als »eine der größten Gefahren für die nationale Sicherheit« und ließ sie unterwandern. 1982 löste sich die Organi sation offiziell auf, doch ihre Geschichte blieb im Stadtraum von Oakland leben dig, insbesondere auf vielen Wandbildern, sogenannten Murals. Heute berufen sich die »Black Lives Matter«-Aktivist*innen auf diesen Teil der Stadtgeschichte. Das Black Panther-Erbe aufgreifend, fordern sie ein Ende der Polizeigewalt, politische und soziale Gleichberechtigung, bezahl baren Wohnraum, eine ehrliche Aufarbei tung der US-amerikanischen Geschichte und, nicht zu vergessen, »Black Pride«. All das drückt sich in gut 1.000 Wand bildern im gesamten Stadtgebiet aus, die teils mehrere Stockwerke hoch sind. »Sie sind nicht unbedingt politisch«, erklärt Andre Jones. »Mir und anderen geht es nicht darum, das Denken von Politikern zu verändern. Murals drücken vielmehr soziale Gerechtigkeit aus. Sie sollten ei nen sozialen Kontext haben, der die Leute anspricht.« Die öffentliche Kunst an den Häuserwänden soll Stellung beziehen, und die Künstler*innen sollen eine mah nende Rolle an den Brennpunkten der Stadt spielen, so Jones. »Kunst ist eine Möglichkeit, darüber aufzuklären, was vor sich geht. Und genau das machen die se Kunstwerke in Oakland.« Stolz auf die eigene Geschichte Tatsächlich kann man sie überall in der Stadt sehen: an jeder Ecke, an Hauptver kehrsadern, in Seitenstraßen und unter Brücken. Ganz Oakland ist eine riesige und kostenlose Open-Air Galerie. Die Mu rals sind oft knallig und farbenfroh, mit viel Liebe zum Detail geschaffen und an keinen Stil und keine Technik gebunden. Sie regen zum Nachdenken an, vermitteln den Stolz auf die eigene Geschichte und schlagen eine Brücke zwischen dem eins tigen und dem heutigen Kampf gegen Rassismus, Polizeigewalt und Unterdrü ckung.Nur ein paar Straßenblocks vom Cali fornia Hotel entfernt, an der Ecke 30th Street und San Pablo, befindet sich ein Mural, das Andre Jones gemalt hat. Es ist fünf Meter hoch und acht Meter breit. An der Entstehung war die Community betei ligt: Jones wollte vorab wissen, was sie an dieser Stelle sehen will. Man wünschte sich eine Ehrung der Black Panthers – ein immer wiederkehrendes Thema der »Street Art« in Oakland. Jones hat in sei nem Bild einer sitzenden Kämpferin der Black Panthers die Reiterin Brianna Noble zur Seite gestellt. Noble wurde bekannt dafür, dass sie nach dem Mord an George Floyd 2020 als »Urban Cowgirl« zu den Protesten ritt. Und genau so hat sie Jones in seinem Wandbild verewigt: hoch zu Ross, eine stolze, mutige und furchtlose Afroamerikanerin.In80Stundenschuf Jones ein Bild, das man am besten vor Ort erfahren und erleben sollte. Der Verkehr rauscht vorbei, es ist nicht gerade die beste Gegend. Und doch drückt es all das aus, was Oakland ausmacht. Private Hauseigentümer*in nen, aber auch Firmen treten an BAMP mit der Bitte heran, doch ein Wandbild an ihrem Gebäude zu realisieren,

»Kunst ist

erzählt Jo58 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022

aufzuklären,Möglichkeit,einewasvorsichgeht.« Andre Jones Troy Lovegates: »Portrait of Derrick Hayes mural«.

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nes. Und die Künstler*innen seiner Orga nisation sind nicht die einzigen, die in »The Town« auf mächtigen öden Außen wänden eine andere, buntere Realität schaffen. Die öffentlichen Kunstwerke sind in Oakland äußerst beliebt, vor allem diejenigen, die sich laut und klar für sozi ale Gerechtigkeit und »Empowerment« sowie gegen Rassismus und die alltägli che Polizeigewalt gegen Minderheiten aussprechen.EinRundgang in Downtown und klei ne Abstecher in die Paralellstraßen Tele graph Avenue und Franklin Street bieten einen faszinierenden Einblick in diese Freiluftgalerie. Die Murals dort tragen Ti tel wie »Justice for our ancestors«, »Our liberation« oder auch »Youth Empower ment«. Und in vielen dieser Wandbilder tauchen Personen und Symbole der Black Panthers auf. Die Community wolle die sen Teil der Geschichte vor dem Verges sen bewahren und stolz darauf verweisen, dass die Black Power im Zentrum des ge sellschaftlichen Bewusstseins stehe, er klärt Jones. Diese Botschaft sei wichtig für die Stadt, die immer im Schatten San Franciscos stehe. »Wir haben zwar nicht die finanziellen Mittel, um politisch Ein fluss nehmen zu können, aber wir haben People Power«, sagt Jones. Die große Be reitschaft, sich für die eigene Community einzusetzen, zähle zum wichtigsten Erbe, das die Panthers Oakland und dem gan zen Land hinterlassen hätten. ◆ Rachel Wolf-Goldsmith: »Our Movement«. Community Rejuvenation Project: »AscenDance«.

Anzhelina Polonskayas Widerstand wurde bereits in Kindertagen angelegt.

Foto: Oliver Lückmann / PEN Deutschland

60 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 RUSSISCHE EXILLYRIK

Auf der Zuerst tanzte sie auf dem Eis, dann schrieb sie Gedichte und wurde zur politisch Unbequemen: Die Lyrikerin Anzhelina Polonskaya musste Russland verlassen. In ihrer Arbeit thematisiert sie Gefühle der Traurigkeit und Leere. Von Elisabeth Wellershaus

Suche nach Wärme

In anderen Kontexten zieht das Meer sie durchaus an, in gefrorener Form aber ist Wasser ihr Alptraum. »Ich hasse Schnee«, ruft sie eindringlich ins Compu termikro, und ihre Werke bestätigen das. »Der Schnee singt alle tot und fort«, heißt es an einer Stelle in »Unvollendete Mu sik«. Zwar zeigt Polonskaya in ihrem Kurzprosaband »Grönland« zögerliches Interesse an eisigen Regionen. Doch schreibe keineGedichte.«fröhlichen

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us der Ferne schillert ihr Le ben. Schon als ganz junge Frau war Anzhelina Polons kaya als Eiskunstläuferin er folgreich. Die spätere Karrie re als Lyrikerin, Autorin und Librettistin hat ihr internationales Renommee ver schafft. Sie stand auf der Shortlist ver schiedener großer Lyrikpreise, ihre Ge dichte sind in viele Sprachen übersetzt worden. Und doch erzählen ihre Texte von einer zerrissenen Seele. Als wir im Juni dieses Jahres zoomen, wirkt Anzhelina Polonskaya erschöpft. Seit 2015 lebt sie mit kurzen Unterbre chungen im deutschen Exil. In Russland war es immer schwerer geworden, Texte zu veröffentlichen, in denen Kritik am System durchschien. Als die Repressionen gegenüber regimekritischen Kulturschaf fenden vor einigen Jahren weiter zunah men, war auch sie betroffen. Hass-Mails und Einbrüche in ihre Wohnung standen am Beginn einer Zeit, in der die Machtha benden in Moskau sie einzuschüchtern versuchten. Es folgten Beschlagnahmun gen von Computern und Textmaterial. Die Ermordung des oppositionellen Politikers Boris Nemzow war schließlich der Weckruf, erzählt sie – Polonskaya wur de klar, dass kritische Autorinnen wie sie in akuter Gefahr schwebten. Dass sie den lyrischen und politischen Widerstand, den sie leistete, vor Ort nicht fortsetzen konnte.Wahrscheinlich wurde ihr Widerstand bereits in Kindertagen angelegt. 1969 wurde Polonskaya in Malakhova, wenige Kilometer von Moskau entfernt, geboren und wuchs in einem ausgesprochen libe ralen Haushalt auf. Die kritische Haltung ihrer Eltern gegenüber dem Sowjetregime ging nach dessen Auflösung bald in die Enttäuschung nicht eingelöster demokra tischer Versprechen über. Während das Land sich Mitte der 1990er Jahre in einer ökonomischen Abwärtsspirale befand, packte sie ihre Koffer, verließ Russland und ging mit einer Eiskunstshow nach La teinamerika. Ihre Mutter war Trainerin gewesen, und so hatte auch die Tochter früh den Weg aufs Eis gefunden. Doch die andere Leidenschaft, die sie seit Kindertagen verfolgte, war das Schreiben. Irgendwo zwischen Kolumbien und Costa Rica entschied Polonskaya sich für das literarische Verarbeiten ihres be reits bewegten Lebens. 1997 hängte sie die Schlittschuhe an den Nagel und kehrte Ende des Jahrtausends als Lyrikerin zu rück nach Moskau. In den vergangenen 20 Jahren sind zahlreiche Gedichtbände entstanden, in denen Anzhelina Polonskaya vor allem die bleibt das Fremdeln mit dem »weißen Tod«, wie sie den Schnee nennt, mit der verschwiegenen Kälte, die vor allem gro ße Teile Russlands über weite Strecken des Jahres bedeckt. Nur wenn sie an die beiden Jahre in Lateinamerika zurückdenkt, beginnt ihr Gesicht zu leuchten. In warmen Regionen fühle sie sich zu Hause, sagt sie. Weit weg von ihrem Geburtsland, zu dem sie bis heute eine gewisse Distanz pflegt. Ohne hin deutet ihre Herkunft ins Internatio nale: familiäre Verbindungen gibt es nach Schweden, Deutschland, Polen. Auch ihre Arbeit ist der russischen Literaturszene schon vor geraumer Zeit entwachsen. Je schwerer das Publizieren in Russland für sie wurde, desto mehr wandte sie sich Verlagen im Ausland zu. Seither scheint sie in der Zusammenar beit mit Übersetzerinnen und Überset zern auf: die Verbindung zu all den Län dern, die Polonskaya in vergangenen Jahrzehnten bereist hat und die ihre lyri sche und politische Stimme verstärkt haben.Doch die Erschöpfung hat sie ins Exil begleitet. Sie gehört zu ihrem deutschen Leben, wo sie zwar in Sicherheit ist, aber auch getrennt von geliebten Menschen. Ihre Mutter lebt noch immer in Malakho va. Seit Jahren haben die beiden einander nicht mehr gesehen; sie telefonieren täg lich, um die Verbindung aufrechtzuhal ten. »Zu Hause ist dort, wo sie ist«, sagt die Lyrikerin. Und vielleicht meint sie da mit auch den Ort, an dem ihre politische Stimme sich entwickelte – das Elternhaus. »Meine Mutter zurückzulassen, war eine der schwersten Entscheidungen, die ich im Leben getroffen habe«, sagt sie. »Aber sie ist zu alt, um noch einmal neu anzu fangen.«»Keine Fragen über den Krieg«, hatte Polonskaya vor unserem Gespräch deut lich gesagt. Sie will nicht den wichtigsten Menschen in Gefahr bringen, über den sie Verbindung zum alten Leben hält. Doch in ihren Gedichten deutet sie an, wie sehr Krisen und Verwerfungen uns alle global verbinden. Ihr erster Lyrikband, der ins Englische übersetzt wurde, trägt den Titel »The Voice«. Denn Stille ist auch keine Option. ◆ Verluste in ihrem Leben betrauert. Mal in stiller, mal in brutaler, mal in lauter und oft in leiser Melancholie schreibt die Dichterin über all die Abschiede, die sie seit Jahren erlebt. Sie schreibt über Men schen und Orte, die sie verloren hat, über die Leere des Verlusts und die Ungewiss heit, die das Leben im Exil mit sich bringt. Du, Traurigkeit, allmächtige, irdische Maske alter Leier, kein Schlaf wird sein in deinen Nächten bis zu der letzten, jener einen… Eine Strophe aus ihrem Gedicht »Unvoll endete Musik« macht deutlich, wie sehr die Schwermut ihr von außen besehen abenteuerliches Leben umhüllt. »Ich schreibe keine fröhlichen Gedichte«, sagt sie im Gespräch und bekräftigt das Offen sichtliche. Denn die Schwere zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Oeuvre. Sie rahmt die Auseinandersetzung mit priva ten Verlusten und mit politischen Tragö dien, die ihr Land immer wieder heimsu chen. Als Polonskaya um die Jahrtausend wende aus Lateinamerika nach Russland zurückkehrte, fand sie eine Literaturszene vor, die sie als zerstört beschreibt, ein zerrissenes Land.

Die Erschöpfung begleitet sie ins Exil Im August 2000 sank das Atom-U-Boot K-141 Kursk, und riss 118 Menschen mit sich in den Tod. Nach einer Explosion ging das Schiff in der Barentsee unter, et liche Menschen an Bord waren zu diesem Zeitpunkt noch am Leben. Doch Rettungs versuche scheiterten, internationale Hilfsangebote wurden viel zu spät ange nommen, und so starben sie. In dem zehnteiligen Gedichtzyklus »Kursk« setzt Polonskaya sich mit dem tragischen Vorfall auseinander. Ohne je direkt darauf einzugehen, beschreibt sie in ihrem Text die Angst, die Klaustropho bie, die an Bord geherrscht haben könnte, das hilflose Gefühl, den Elementen ausge setzt zu sein. Der australische Komponist David Chisholm hat das Werk 2011 mit dem viel beachteten Libretto »Oratorio Requiem Kursk« vertont. Auch zur Musik wirken ihre Beschreibungen über die drü ckende Last des Wassers berührend.

62 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 HIPHOP AUS DER UKRAINE

Die ukrainische Sprache eignet sich ei gentlich nicht so gut für HipHop und R’n‘B. Ohnehin dreht sich slawische Mu sik stärker um die Melodie als um die Texte. Aber genau das hat uns gereizt.

Bisher haben wir zwei Songs veröffent licht, die komplett auf Ukrainisch sind. Dass wir auf Ukrainisch singen und rap pen ist allerdings keine Reaktion auf den russischen Angriffskrieg. Die Songs sind schon etwas älter. Ihre Eltern kamen Ende der 1980er aus Äthiopien in die Sowjetunion. Sind Ihre Songs auch von äthiopi scher Musik beeinflusst? Dort gibt es ja eine lange Tradition interessanter Pop- und avancierter Jazzmusik. Unsere Eltern kamen damals als Aus tauschstudierende in die UdSSR und ha ben uns natürlich auch Musik aus Äthio pien hören lassen. Den Popsänger Mah mud Ahmed etwa oder religiöse Musik. Aber ehrlich gesagt hat uns das damals nicht sehr interessiert. Genauso wenig wie russische Musik. Wir hörten Boney M., Michael Jackson, Spice Girls, Beyoncé oder Destiny’s Child. Das klang für uns einfach cooler, weltläufiger. Inzwischen wertschätzen und entdecken wir unser äthiopisches Erbe aber immer mehr. Wir müssen unbedingt mal dorthin! Spielt Ihre jüdische Identität in Ihrer Musik auch eine Rolle? In Äthiopien würden wir darüber gern mehr herausfinden: Was ist das kulturelle

Interview: Till Schmidt FoSho, das sind Sie, Betty Endale, und ihre beiden jüngeren Schwestern Miriyam und Siona. Wie haben Sie angefangen, Musik zu machen? Wir haben schon länger gerne zusammen gesungen. Vor drei Jahren gab es dann ein Foto von uns, auf dem wir einfach wie eine coole Band aussahen (lacht). Das war der Startschuss für FoSho. Seitdem ist viel passiert. Wir sind auf einen Zug gesprun gen, der mit der Zeit immer schneller wurde. Vor vier Monaten sind wir dann nach Deutschland geflüchtet. Wie konnten Sie Deutschland errei chen ? Meine Schwestern und unsere Eltern leb ten in Charkiw, direkt an der Grenze zu Russland. Ich selbst war bei Kriegsaus bruch gerade in Kiew und bin von dort zusammen mit einer Freundin nach Odessa. Dann nach Moldawien, weiter nach Bukarest und von dort mit dem Flugzeug nach Deutschland. Meine Fami lie konnte nach zwei Wochen im Luft schutzbunker über die Westukraine und Polen ebenfalls nach Deutschland gelan gen. Durch die Bomben traumatisiert, war es uns in den ersten Monaten un möglich, Musik zu hören oder gar zu komponieren. Selbst Geräusche wie das Sirren der Waschmaschine haben uns fast einen Herzinfarkt bereitet. Zum Glück wohnen wir nun sehr ruhig. In Schwie berdingen, das ist etwa 30 Minuten von Stuttgart entfernt.

Malewitsch!«die»RevolutioniereWeltwie

Deutschland.

Die drei Schwestern Betty, Siona und Miriyam Endale wuchsen als Kinder äthiopischer Einwander*innen in der Ukraine auf. Zusammen machen sie als FoSho HipHop –jetzt in Ein Gespräch mit Sängerin Betty über Flucht, jüdische Wurzeln und die Vorzüge von Stuttgart.

Wie haben Sie Ihre neue Bleibe gefun den? Eine Bekannte eines Freundes meines Vaters hat uns in ihrem Haus aufgenom men. Nun sind wir hier, und ich entdecke jeden Tag weitere Gründe dafür, warum es gut ist, hier zu sein! Zum Beispiel habe ich herausgefunden, dass Stuttgart die Hauptstadt des deutschen HipHop ist. Ich liebe deutschen HipHop, der hat einen tol len Vibe. Irgendwann einmal wollen wir auch einen Song auf Deutsch schreiben. Die meisten Ihrer Songtexte sind auf Englisch, einige zum Teil oder ganz auf Ukrainisch. Wie kam es dazu?

Im Schwäbischen haben die drei Schwestern Betty, Siona und Miriyam (v. l. n. r.) Ruhe gefunden vor dem Bombenlärm. Foto: promo

zukehren. Doch der Krieg wird nicht so schnell aufhören, und dort sind wir nicht in Sicherheit. Wenn wir nicht in der deut schen Bürokratie festhängen, dann berei ten wir uns aktuell auf die europäische Festivalsaison vor. Eigentlich hatten wir das schon letztes Jahr vor. Doch wegen Covid wurde daraus nichts. Wo in Europa werden Sie auftreten? Dieses Jahr spielen wir unter anderem auf dem Sziget-Festival in Ungarn, in Frank reich und wir haben einige Shows in Deutschland. Viele unsere männlichen Musiker-Kollegen können das übrigens nicht. Sie dürfen die Ukraine nicht verlas sen – sie müssen kämpfen. In Charkiw hatten wir eine interessante HipHop-Sze ne. Wir haben uns gerne abends auf dem Platz vor der Oper getroffen. Ich weiß gar nicht, ob das Gebäude noch existiert. ◆

Erbe der äthiopischen Jüdinnen und Juden? Die meisten sind wegen der Un terdrückung vor Ort nach Israel ausge wandert. Auch Israel ist daher natürlich ein interessantes Land für uns. Aber ak tuell befinden wir uns ja in der aschkena sischen Welt. Vielleicht sollten wir daher erstmal mit Klezmer-Elementen anfan gen (lacht)?

Wird diese Botschaft auch im Musik video zu »Xtra« reflektiert?

FOSHO Das HipHop-Projekt FoSho gründete sich 2019 in Charkiw (Ukraine): »Fo Sho« steht im USamerikanischen Slang für »for sure« (klar). Auf Ukrainisch bedeutet »Sho?« soviel wie »Was?«.

Das spontane, kreative Spiel mit ver schiedenen Stilelementen ist auch das übergeodnete Thema Ihres Songs »Xtra«. »Xtra« war unser allererster Song. Noch immer macht er für mich sehr viel Sinn. Ich selbst bin nicht nur extra-size, son dern auch eine Schwarze Frau aus der Ukraine, dazu noch jüdisch und nun in Deutschland. Alles in allem also: Xtra. Und jede*r kann die eigene xtra-Seite finden. Jede Person hat eine Superkraft. Du musst sie nur finden, polieren und ein Diamant werden!

Ja. Wir tragen zum Beispiel immer wieder unsere beruflichen Outfits: Miriyam ihre Bürokleidung, Siona eine Schuluniform und ich, als Zahnärztin, einen OP-Kittel. Ich spiele aber auch mit einer Handbohr maschine. Das fanden wir lustig. Wir sind also alle drei ganz normale Leute, nur ein bisschen xtra.

Eins Ihrer Lieder ist nach dem »Schwarzen Quadrat« des ukraini schen Avantgardemalers Kasimir Malewitsch (1879 – 1935) benannt. Worum geht es in diesem Song? Zunächst hat es uns genervt, dass Male witsch häufig als russischer Maler präsen tiert wird. Tatsächlich ist er jedoch aus Kiew. Zudem kann man in Malewitschs Schwarzem Quadrat mehr entdecken als es auf den ersten Blick scheint: Leb’ dein Leben, entdecke dich selbst und deine Besonderheiten, verschwende deine Zeit nicht mit Nonsens, revolutioniere die Welt wie Malewitsch. Darum geht es in unserem Song. Was wir tun, ist wichtiger als woher wir kommen. Was planen Sie für die Zukunft? Kurz nach unserer Flucht hofften wir, schnell wieder in die Ukraine zurück »Wir sind ganz normale Leute, nur ein bisschen xtra.«

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64 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 Noam Shuster-Eliassi hat mit Tacheles Erfolg in Israel und der arabischen Welt. Foto: Corinna Kern / laif COMEDY IN NAHOST Humor ist, wenn trotzdemmanlacht Wie die israelische Comedienne Noam Shuster-Eliassi mit satirischen Sketchen die Politik im Nahen Osten entwaffnet. Von Tobias Griessbach

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NOAM SHUSTER-ELIASSI geboren 1988 in Israel und Kind iranischer und rumänischer Jüdinnen und Juden, wuchs in Neve Shalom/Wahat al-Salam auf. Zum Stu dium ging sie in die USA. Sie verweigerte den Wehrdienst in Israel, leistete Ersatzdienst. Für die UN arbeitete sie in Ruanda und der Schweiz. vereint sie zudem eine Menge Geschichte und Aspekte der Region auf sich, und das nicht nur im Positiven: Bereits als Kind erfuhr Shuster-Eliassi Rassismus und Vor urteile wegen ihrer »arabischen« Erschei nung. Dieser Rassismus betrifft nicht nur muslimische Araber*innen, sondern auch Jüdinnen und Juden arabischer und irani scher Herkunft und ist mindestens so alt wie der Staat Israel selbst. Der Soziologe Natan Sznaider nennt die Unterschei dung zwischen europäischem und »orientalischem« Judentum eines »der wichtigsten Kriterien der sozialen, kultu rellen und auch politischen Differenzie rung der Gesellschaften in Israel.« Shuster-Eliassi wuchs also nicht nur im Spannungsfeld zwischen Israelis und Palästinenser*innen auf, sondern auch im innerisraelischen Disput zwischen Ashkenazim (europäische Jüdinnen und Juden) und Mizrahim (»orientalische« Jü dinnen und Juden). Ihr Werdegang zeigt aber, dass diese Ressentiments kein un überwindbares Hindernis sind; ShusterEliassis Humor zielt genau auf die Über windung dieser Vorurteile ab. Dabei be schritt sie den Weg zur Comedy recht spät. Ihre zweite Karriere war eher dem Umstand geschuldet, dass ihre Stelle bei Interpeace abgewickelt wurde. In einem Interview mit dem »Middle East Monitor« sprach sie über fehlenden Erfolg ihrer Strategien im Kampf gegen politischen Extremismus, der zur Entlassung führte. Befreit von den Fesseln der Diplomatie In der frisch entlassenen Friedensstifte rin reifte die Idee, aus Notizen von Reden, die bereits mit bissigen Witzen gespickt waren, ein erstes Stand-Up -Programm zu entwickeln. Damit konnte sie sich laut ei gener Aussage von den rhetorischen Fes seln der Diplomatie befreien und »Tache les« reden. Damit hatte sie schnell Erfolg: mit einem Stipendium der Harvard Divi nity School in Boston schrieb Shuster-Eli assi in den USA ihr erstes Programm, mit dem sie in kleineren Clubs überall im Land auftrat. 2019 konnte man sie bereits im Vorprogramm des iranisch-amerikani schen Comedian Maz Jobrani sehen. Im selben Jahr kann Shuster-Eliassi für sich in Anspruch nehmen, als einzige weibliche Comedian in der arabischen Welt viral gegangen zu sein. Auslöser da für war ihr Heiratsantrag an den umstrit tenen saudischen »Reformer«, Kronprinz Mohammed bin Salman, live im israeli schen Fernsehen. Hintergrund war die sukzessive, informelle Annäherung Is raels und Saudi-Arabiens unter der Ägide des ehemaligen israelischen Ministerprä

ie internationale Bericht erstattung zu dem mehr als ein Jahrhundert währenden Konflikt in Israel und Paläs tina zeichnet ein Bild, wel ches von Hass, Gewalt und Zerstörung ge prägt ist. Die öffentliche Aufmerksamkeit beschränkt sich meist auf die traurigen Höhepunkte und übersieht allzu oft die konstruktiven und inklusiven Aspekte. So will es denn auch nur schwer in das gängige Bild von Israel und Palästina pas sen, dass eine junge, engagierte Frau poli tische Missstände, Stereotypen und die irrwitzigen Momente des Alltags in der Region mit Humor auf die Schippe nimmt. Die Rede ist von Noam ShusterEliassi. Mit Stand-Up Comedy, Liedern und TV-Sketchen beweist die 38-Jährige, dass politischer Unmut sich nicht aus schließlich in politischem Aktivismus entladen muss. Als ehemalige Co-Direkto rin der Organisation Interpeace, einer Unterorganisation der Vereinten Natio nen, die sich auf die Vernetzung und Unterstützung lokaler Friedensinitiativen spezialisiert, hat sie einige Erfahrung mit Diplomatie und politischem Arbeitsalltag gesammelt. Doch seit ein paar Jahren zieht sie die Show-Bühne dem Konferenz saalShuster-Eliassivor. wuchs in einem sehr politischen Umfeld auf. Mit sieben Jahren zog sie mit ihrer Familie in den Ort Neve Shalom/Wahat al-Salam (»Oase des Frie dens«), ein in den 1960er Jahren gegrün detes Projektdorf mit dem Ziel, einen Ort für ein gleichberechtigtes Miteinander von Israelis und Palästinenser*innen zu schaffen. Auf halber Strecke zwischen Tel Aviv und Jerusalem gelegen, ist NSWAS, so die gängige Abkürzung, der einzige Ort in Israel mit einer bilingualen Grundschule, deren Schüler*innen nicht nur aus dem Dorf, sondern aus der ganzen Umgebung kommen. Direkt neben der Grundschule ist die »School for Peace«, ein internatio nales Seminar- und Workshopzentrum mit einem eigens entwickelten Konzept für die Friedensarbeit. Synagogen, Mo scheen oder Kirchen wird man dort hin gegen vergeblich suchen. In Neve Sha lom/Wahat al-Salam findet man nicht viel Politisches in der Öffentlichkeit, das Dorf und seine Bewohner*innen sind ein poli tisches Statement an sich. So wurde der Ort in den vergangenen Jahren auch im mer wieder Ziel rechtsextremer Attacken und Brandanschläge, teils mit verheeren denNoamAuswirkungen.Shuster-Eliassi wurde im Frie densdorf mehrsprachig und interkultu rell erzogen. Als Nachfahrin iranischer und rumänischer Juden und Jüdinnen

sidenten Benjamin Netanyahu. Was als satirisches Statement gedacht war, ver schaffte ihr ein unerwartetes Publikum, nicht zuletzt auch wegen ihres nahezu muttersprachlichen Arabisch. Das Jahr 2019 brachte für Shuster-Eli assi enorme Popularität, ihre Arbeit wur de allerdings durch den Beginn der Coro na-Pandemie 2020 jäh unterbrochen. Aber ihre private und teils sehr intime Berichterstattung aus einem Jerusalemer Quarantänehotel, dem Hotel Dan, wo sie sich mit anderen Personen aufgrund ei ner Corona-Infektion aufhielt, machte sie schon fast zu einer legendären Persön lichkeit in Israel, denn auch dieser Situa tion konnte sie etwas Humorvolles, Kämpferisches und Positives abgewin nen. Nach ihrer Genesung kehrte sie mit gewohntem Biss zurück, vor allem ihr sa tirisches Statement »Dubai, Dubai« zu den sogenannten Abraham-Friedensver trägen zwischen Israel und einer Reihe arabischer Staaten wurde populär: »Es gibt Licht am Ende des Tunnels/ Wenn alle Araber so wären wie/Dubai, Dubai, Dubai, Dubai, Dubai/Sie wollen in Israel leben/Sie werden uns nicht ins Meer werfen Dubai, Dubai, Dubai, Dubai, Dubai« Mit ihrem analytischen Blick entlarvt Shuster-Eliassi die Scheinheiligkeit der Mächtigen im Nahen Osten, appelliert aber zugleich an die Menschlichkeit eines jeden Einzelnen. Dabei macht sie keinen Unterschied, ob sie vor einem mehrheit lich jüdischen Publikum in Tel Aviv oder vor einem palästinensischen Publikum in Ost-Jerusalem auftritt. Mit ihrer Mehr sprachigkeit und ihrer Unvoreingenom menheit ist sie eine Ausnahmeerschei nung in der tragischen Komplexität des Nahen Ostens. Von der Frau wird noch viel zu erwarten sein. ◆

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KronprinzensaudischenstelltesieliveimisraelischenTVeinenHeiratsantrag.

Albert: Die Fondation hat inzwischen eine gewisse Vorbildfunktion für süd amerikanische Kunstinstitutionen. Was in Paris gezeigt wird, muss interessant sein, so denkt man in Brasilien. So präsentierte das Instituto Tomie Ohtake in São Paulo 2014 – zehn Jahre nach der YanomamiAusstellung in Paris – zum ersten Mal in digene Kunst. Inzwischen gibt es einen re gelrechten Boom. Im vergangenen Jahr wurden mit Daiara Tukano, Sueli Maxaka li, Jaider Esbell, Uýra und Gustavo Caboco fünf indigene Künstler*innen zur Bienna le von São Paulo eingeladen. Das ist ein schöner Erfolg seit unseren Anfängen vor 20 Jahren.

Chandès: Wir sammeln die indigene Kunst, die wir zeigen, in derselben Weise wie zeitgenössische Kunst im Allgemei nen. Der einzige Unterschied ist viel leicht, dass wir mit den indigenen Künst ler*innen in direktem Kontakt stehen. Das Geld geht an sie, es gibt keine Gale rien oder Kunsthändler dazwischen.

66 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 INDIGENE KUNST DES AMAZONAS

»Bolsonaro ist eine Art Wiedergänger des kolonialen Brasiliens.« Bruce Albert reinewarNeugier«

Ihre Ausstellungen basieren also auf Ihrer Chandès:Sammlung? Ja, unsere Sammlung macht es auch möglich, unsere Ausstellungen auf Reisen zu schicken. Das ist für die indige nen Künstler*innen und ihre Gruppen sehr wichtig, weil sie sich auf diese Weise ausdrücken können, sichtbar werden und sich über ihr Leben und ihre Anliegen austauschen können. Wir wissen, dass diese Ausstellungen große Aufmerksam keit erregen. Derzeit präsentieren wir in

»Es

Die Fondation Cartier gilt als einer der wichtigsten Ausstellungsorte für die zeitgenössische Kunst indigener Völker. Ein Gespräch mit dem Direktor der Sammlung Hervé Chandès und dem Anthropologen Bruce Albert über unterschiedliche Bildkonzepte und die Lage der Yanomami im Amazonasgebiet.

Albert: Unser Ziel war es, die indigene Kunst zu dekolonisieren und sie nicht mehr in die Schublade »wildes Denken« zu stecken. Indigene Kunst ist genauso zeitgenössisch wie die Kunst, die in Lon don oder Paris entsteht. Als erstes haben wir mit der kolonialen Vorstellung ge brochen, dass indigene Kunst nur in ethnografischen Museen Platz hat. Wir haben sie in einem modernen weißen Raum gezeigt, wo eben zeitgenössische Kunst ausgestellt wird.

Interview: Brigitte Werneburg Sie unterscheiden sich von anderen Institutionen, die zeitgenössische Kunst zeigen, weil Ihr Schwerpunkt auf indigener Kunst liegt. Wie kam es Hervédazu?Chandès: Es war reine Neugier. Die Fondation wollte von Anfang an ein Aus stellungsort sein, an dem alle Künste und Künstler*innen zusammenkommen und die gleiche Aufmerksamkeit erhalten. Konkreter Anstoß war jedoch meine Be gegnung mit der Fotografin und Aktivis tin Claudia Andujar in São Paulo. Sie hat ihr fotografisches Werk und ihr Leben der Rettung der Yanomami gewidmet, einer indigenen Gruppe im brasilianischen Amazonasgebiet, die etwa 35.000 Men schen umfasst. Claudia Andujar stellte mich dem französischen Anthropologen Bruce Albert vor. Das war eine wichtige Begegnung für mich. Albert kennt diese Menschen und ihren Überlebenskampf. Wie sah Ihre erste Zusammenarbeit Bruceaus?Albert: Zunächst lud ich Hervé Chandès ein, mich zu einem großen Yanomami-Treffen zu begleiten. Im De zember 2000 versammelten sich etwa 300 Yanomami eine Woche lang im Dorf des Schamanen Davi Kopenawa, der die Organisation Hutukara Associação Yano mami gegründet hat.

Chandès: Danach war mir klar, dass ich eine Ausstellung über die Yanomami machen muss. So entstand »Yanomami. Spirit of the Forest« im Jahr 2003.

Albert: Die Ausstellung war in ihrer Anla ge ganz neu und sehr abenteuerlich. Das Bild spielt in der Yanomami-Kultur eine wichtige Rolle, allerdings ausschließlich als mentales Bild. Deshalb dachten wir, dass es interessant wäre, westliche Künst ler*innen, die materielle Bilder produzie ren, mit den Yanomami-Schamanen zu sammenzubringen, um sich über ihre unterschiedlichen Bildkonzepte auszu tauschen. Die westlichen Künstler*innen besuchten dann ihre Gastgeber*innen im Amazonasgebiet. Wie kommen Sie mit indigener Kunst in Chandès:Kontakt? Auf die Künstler*innen aus Paraguay, die 2019 in der Ausstellung »Southern Geometries« vertreten waren, machte uns der Direktor des Muséo del Barro, Ticio Escobar, aufmerksam. Ich wurde dann in die Ateliers weiterer Künstler*innen mitgenommen und ih nen vorgestellt. Eigentlich gibt es immer jemanden, der einen Vorschlag oder eine Anregung hat und dem ich vertraue.

Wie präsentieren Sie indigene Kunst?

HERVÉ CHANDÈS leitet seit 1994 als Directeur artistique général alle Aktivitäten der Fondation Cartier, das Aus stellungsprogramm in Paris, das internationale Programm, die Sammlung und die Künstler aufträge.

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Chandès: Als es losging, haben wir mit der Comissão Pró-Yanomami überlegt, wie wir helfen können. Cartier stellte den NGOs im Amazonasgebiet dann Masken, Desinfektionsmittel und Medikamente zur Verfügung, vor allem aber Geräte, die medizinischen Sauerstoff produzieren. Die NGOs vor Ort sind die einzigen, die sich um die Menschen im Amazonas gebiet kümmern. ◆

Albert: Zum ersten Mal bekennt sich eine brasilianische Regierung klar zu den ille galen Aktivitäten im Regenwald. Die Ma fia wird eingeladen, sich zu bedienen: Illegale Goldsucher das Gold geht nach Indien und in die Golfstaaten, wie Unter suchungen belegen , illegale Holzfäller, illegale Jäger und Fischer. Neuerdings nutzt auch die Drogenmafia die illegale Ausbeutung des Amazonasgebiets, um ihre Gewinne zu waschen. Die Situation im Amazonasgebiet ist heute gefährlicher denn je. Präsident Jair Bolsonaro ist eine Art Wiedergänger des kolonialen Brasi liens. Wenn er spricht, glaubt man, die Portugiesen des 17. Jahrhunderts zu hö ren. Sein Ziel ist es, die Einheimischen zu töten, um das Land auszubeuten und sei ne Reichtümer zu stehlen.

Albert: Ich arbeite seit mehr als 45 Jahren mit den Yanomami. So schlimm wie der zeit war die Situation noch nie. Sie brau chen dringend Unterstützung. Wir müs sen mit allen Mitteln der Kunst, der Wis senschaft, der Literatur und natürlich der Politik über die Bedrohung informieren,

BRUCE ALBERT setzt sich seit 1975 für die Yanomami ein. Er ist Autor zahlreicher Artikel und ethnografischer Bücher über die Yanomami, die Situation der indigenen Völker des brasilianischen Amazonas gebiets sowie über die Ethik der anthropologi schen Forschung. 1987 trug er zusammen mit Claudia Andujar und Carlo Zacac zur Gründung der Comissão Pró-Yanomami bei. der sie ausgesetzt sind, denn sonst wer den sie vernichtet. Was macht die Situation so gefährlich?

Lille »Living Worlds« mit Werken aus un serer Sammlung. In den Arbeiten geht es darum, dem Anthropozentrismus Gren zen zu setzen, um ein neues Zusammen leben mit den Pflanzen und Tieren auf dieser Erde zu ermöglichen. Und dann planen wir bereits für New York, wo im Januar 2023 »Claudia Andujar. The Yano mami Struggle« gezeigt wird, und für die Triennale in Mailand nächstes Jahr im Juni.

Was geschah während der CoronaAlbert:Epidemie? Die Yanomami waren nicht so stark betroffen wie der Rest Brasiliens, weil sie vergleichsweise jung sind. Sie haben in der Vergangenheit viele Epide mien durchgemacht wie Masern oder Tuberkulose, die dazu führten, dass die Älteren starben.

Foto: Guilherme Gomes / Fondation Cartier

Die tropischen Fabelwesen des brasilianischen Malers Bruno Novelli sind in Lille in der Ausstellung »Living Worlds« zu sehen.

Albert: In den westlichen Gesellschaften sind wir recht gut über die Katastrophen in der Welt informiert, doch wissen wir viel zu wenig über die Menschen, etwa im brasilianischen Regenwald, die davon betroffen sind. Die Kunst der indigenen Völker und Stämme, die vielfältig und eigensinnig ist, macht uns mit dem intel lektuellen und ästhetischen Reichtum dieser Menschen bekannt. So verstehen wir den Verlust, den die Zerstörung ihres Lebensraums und ihrer Kultur bedeutet. Wie dramatisch ist ihre Lage?

»Wie Staub im Wind« ist ein großer Kubaroman und eine tiefgründige Aus einandersetzung mit dem Thema Exil, vor allem aber eine universal gültige Hymne auf die Freundschaft. ◆

Seit den 1990er Jahren haben unzählige Menschen Kuba verlassen, auf der Flucht vor Mangel, Korruption und Repression. Um ihre Erfahrungen kreist Leonardo Paduras neuer Roman. Von Wera Reusch

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag, Zürich 2022, 528 Seiten, 26 Euro

Vorhaben ist gewagt: Um die Erfahrungen seiner Generation zu schildern, macht er einen gesamten Freundeskreis zum Protagonisten. Der »Clan«, wie er sich nennt, umfasst rund ein Dutzend Personen, die sich in den 1980er Jahren in einem Haus am Stadt rand von Havanna treffen, um ausgelas sene Feste zu feiern. Diese »romantische und opferbereite Generation«, wie es an einer Stelle heißt, hat nur das revolutio näre Kuba kennengelernt, ist gut ausge bildet und will ihren Beitrag leisten »zum endgültigen Sieg«. Doch dann folgt der Zusammenbruch des Ostblocks mit sei nen fatalen Folgen für Kuba: Die folgen den Jahrzehnte sind von Mangelwirt schaft, Korruption und Repression ge prägt. Unzählige Menschen verlassen das Land – so auch der Großteil des Clans. In »Wie Staub im Wind« entfaltet der Autor auf gut 500 Seiten die Lebensläufe der Clanmitglieder und verwebt die ver schiedenen Schauplätze auf kongeniale Weise: Schließlich erstreckt sich das Netz des Freundeskreises von Kuba über Ar gentinien und die USA bis nach Spanien und Frankreich. Einfühlsam schildert Padura, der selbst in Havanna lebt, die Motive der Exilierten und derjenigen, die bleiben, ihre Hoffnungen und Ängste, ihre Kämpfe und Widersprüche, vor allem aber ihre Verbundenheit – über alle Dis tanzen und Wirren hinweg. Bemerkens wert ist nicht zuletzt seine differenzierte Darstellung der Frauenfiguren und der homosexuellen Protagonisten.

Hymne auf Freundschaftdie

Leonardo Padura schreibt von Havanna aus Weltliteratur. Foto: Francesco Gattoni / opale.photo / laif

ekannt wurde der derzeit wohl be rühmteste Schriftsteller Kubas mit sozialkritischen Romanen, in de nen der Polizist Mario Conde in Havanna ermittelt. Leonardo Padura als Krimiautor zu bezeichnen, wurde ihm jedoch noch nie gerecht. Er nutzte das Genre vielmehr, um die kubanische Wirklichkeit darzu stellen. Nachdem er Conde in Pension ge schickt hatte, veröffentlichte er viele wei tere Romane. Und spätestens sein neues Werk »Wie Staub im Wind« macht klar, dass der 1955 geborene Schriftsteller Welt literaturPadurasschreibt.jüngstes

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Der Roman zeugt nicht nur von enor mer Lebensklugheit, sondern weist Padu ra auch als handwerklich enorm versiert aus: So verschiebt er gekonnt den Schwer punkt von einer Figur auf die nächste und managt souverän die verschiedenen Zeitebenen. Dank seiner Krimierfahrung schafft er es zudem, Spannung aufzubau en – ein Todesfall und eine Vaterschaft sind rätselhaft … Schließlich nimmt der Schriftsteller auch noch die nächste Ge neration in den Blick und lotet eine kom plizierte Mutter-Tochter-Beziehung aus.

Benjamin Derin, Tobias Singeln stein: Polizei – Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion einer mächtigen Organisation. Econ, Berlin 2022, 437 Seiten, 24,99 Euro

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Fehlbare Held*innen Der Rechtsanwalt Benjamin Derin und der Polizeiwissenschaftler Tobias Singeln stein haben eine kritische, wissenschaft lich fundierte und prägnante Bestands aufnahme der deutschen Polizei in Buch form vorgelegt. Im Fokus stehen insbe sondere (Polizei)Gewalt, Rassismus sowie eine mangelnde Fehlerkultur. Neben po sitiven Entwicklungen leiten die Autoren demokratietheoretisch bedenkliche und diskussionswürdige Verselbständigungs prozesse wie die Ausweitung polizeilicher Eingriffsbefugnisse nachvollziehbar ab und diskutieren mögliche Alternativen. Damit legen sie den Finger in die Wunde einer Organisation, die sich nach ihrem eigenen Selbstverständnis eher als Super heldin denn als Schurkin wahrnimmt. Dabei widmen sich die Autoren insbe sondere der Rolle der Polizei innerhalb der Gesellschaft. Sie zeigen auf, dass die Polizei eine ambivalente Organisation ist, die als Sicherungsinstanz der sozialen Ordnung dient und mit einer exklusiven Gewaltlizenz ausgestattet ist. Diese Zwie spältigkeit begreifen sie als »tief verwur zeltes Resultat der polizeilichen Aufgaben und Funktionen«, die in den gesellschaft lichen sowie rechtlichen Rahmenbedin gungen selbst angelegt ist. Die öffentliche, emotional aufgelade ne Debatte über »die« Polizei folgt häufig einer binären Schwarz-Weiß-Logik, sei tens einiger polizeilicher Vertreter*innen rangiert sie zwischen »Beschwichtigungs ritual und Generalverdachtsrhetorik«. Dieses Buch macht die Grauschattierun gen dazwischen auf verständliche Weise sichtbar. Innerhalb der Polizei kann es einen wertvollen Beitrag zum selbstkriti schen Umgang leisten, indem der dem Heldenhabitus entsprechenden Losung »aus großer Macht folgt große Verantwor tung« auch die Gleichung »Polizist = Mensch = fehlbar« zur Seite gestellt wird. Eine dringende Leseempfehlung für alle, die das #Polizeiproblem etwas angeht.

BÜCHER

Die für ihre neue Publikation adaptierte und von Nursima Nas, Mitbegründerin und künstlerische Leiterin des rassismusund machtkritischen Vereins MOSAIQ, illustrierte Ausgabe macht die wegwei senden Ausführungen der Autorin nun unter dem Titel »Warum ich Feministin bin« auch einem jungen Publikum zu gänglich. Die pastellig-bunten Illustratio nen wie auch die typografische Gestal tung, mit der einzelne Textpassagen her vorgehoben werden, kombinieren aktuel le gestalterische Trends mit traditionellen afrikanischen Stoffmustern. Derart vi suell eingebettet präsentieren sich die Überlegungen der renommierten Autorin als persönlicher Erfahrungsbericht und als Appell, tradierte Geschlechterrollen zu korrigieren: »Wir alle, Frauen und Män ner, müssen unseren Teil dazu beitragen, um es besser zu machen.« Adichie spürt dem nach, was Femi nismus für sie bedeutet, sie begegnet Vor urteilen, mit denen sich Feministinnen konfrontiert sehen, schreibt über Wut, Angst, Erziehung, soziale Normen, Kultur und zeigt nicht zuletzt die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Diskurses über Ge schlechterrollen unmissverständlich auf. »Feminismus ist ein Teil der Menschen rechte, aber wenn wir den Begriff ›Men schenrechte‹ benutzen, verleugnen wir die besonderen und spezifischen Proble me, die Geschlechterrollen mit sich brin gen.« Dabei ist es der anekdotische und persönliche Charakter des Textes, der ihn einerseits verständlich und nachvollzieh bar macht und der andererseits mit sei nen humorvoll-pointierten und reflek tierten Beobachtungen auf eine sozial, politisch und ökonomisch gleichberech tigte Zukunft hoffen lässt. Chimamanda Ngozi Adichie, Nur sima Nas (Ill.): Warum ich Feminis tin bin. Übersetzt von Alexandra Ernst. Fischer Sauerländer, Frank furt/M. 2022, 64 S., ab 10 Jahren

Bücher: Nina Apin, Maren Wegner und Marlene Zöhrer

Für’s Frausein bestraft Afghanistan. Ein Mädchen überredet ih ren kleinen Bruder, sie zu einem abgele genen Felsen zu begleiten, damit sie dort singen kann. Er soll ihr auch von der Schule erzählen, die sie selbst nicht mehr besuchen darf. Bosnien. Eine Mutter ver brennt sich selbst, nachdem ihre zwölf jährige Tochter vor ihren Augen von Sol daten zu Tode vergewaltigt wurde. USA. Eine junge Frau nimmt an einem GangBang-»Wettbewerb« teil. Bricht sie den Rekord von 919 Samenergüssen in 24 Stunden, bekommt sie ein Preisgeld und kann denen entkommen, die sie seit ihrer Teenagerzeit sexuell ausbeuten. Tibet. Eine Feldarbeiterin schätzt sich glücklich, dass ihr chinesischer Vorgesetzter sie nicht sterilisieren lässt, sondern ihr nach Jahren die Erlaubnis zum Heiraten gibt. Die französische Theaterautorin Ema nuelle Delle Piane macht in ihrer Samm lung kurzer Bühnenstücke auf die funda mentale Verletzung von Frauenrechten in aller Welt aufmerksam. »Stille Stimmen« heißt der Zyklus von 17 Monologen, in An lehnung an die 17 Artikel der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die 1789 von der französischen Nationalversamm lung verabschiedet wurden, und an die »Variations sérieuses für Klavier« von Fe lix Mendelssohn. Den Variationen der Er wachsenen sind zehn Monologe aus dem Blick von Kindern beigestellt. Angelehnt an die UN-Kinderrechtskonvention len ken die Geschichten aus dem Alltag von Pablito, Nefertari, Nora und anderen den Blick auf Verbrechen wie Organhandel oder Rekrutierung von Kindersoldat*in nen. Die individuellen Geschichten ma chen strukturelle Hintergründe der Ent rechtung deutlich, klammern aber auch die Mitverantwortung von Frauen nicht aus, die Praktiken wie Beschneidung mit tragen. »Stille Stimmen« ist eine dichte, erschütternde Lektüre, die aber Raum für Hoffnung lässt. Etwa, wenn die Diploma tentochter heimlich der Haussklavin den Pass und die Freiheit zurückgibt. Emanuelle Delle Piane: Stille Stim men/Voix silencieuses. Aus dem Französischen von Samuel Mach to. edition spoken script, Luzern 2022, 192 Seiten, 12 Euro Feminismus für alle Die ursprünglich live als TED-Talk auf einer Konferenz vorgetragene Rede von Chimamanda Ngozi Adichie »We Should All Be Feminists« aus dem Jahr 2012 hat bis heute weder an Aktualität noch an ge sellschaftspolitischer Relevanz verloren.

70 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 W enn es einen besonderen Star gibt unter den vielen Stars in Cem Kayas rasanter Musikdo kumentation »Aşk, Mark ve Ölüm« – zu deutsch: Liebe, D-Mark und Tod –, dann ist es wohl Derdiyoklar Ali. Per Kamera sind wir mitten in einem seiner wilden Konzerte. Seine E-Gitarre trägt er lässig wie Frank Zappa, zieht, schleift sie über die Bühne, spielt mal auf dem Boden, mal hinter den Ohren … Ein explosives Gitar rensolo jagt das andere; locker einge streut die Gesangsfetzen auf Türkisch, Kurdisch und Arabisch. Nicht minder eindrucksvoll, aber von völlig anderer Basis, dem Schlager, aus gehend, ist der Gesang Yüksel Özkasaps, unter Türk*innen in Deutschland als »Nachtigall von Köln« bekannt, unter Deutschen, wie Gitarrist Ali auch, gar nicht. Dabei hat Özkasap goldene Schall platten gesammelt – und das, obwohl der Großteil ihrer Arbeit auf Kassetten in tür kischen Supermärkten über den Tresen ging. Asyk Metin Türköz? Veröffentlichte über 70 Singles! Ismet Topcu? Psychede lik-Meister auf der Langhalslaute Saz!

Und im Herkunftsland Türkei? Zu Zei ten der Militärdiktatur wurden die Werke der Künstler*innen von Geheimdienst und Polizei als Protestform eingestuft –mit durchaus ernsten Folgen, wenn sie auf Familienbesuch kamen und im Ge fängnisAberlandeten.derFilm bleibt nicht in der Ver gangenheit stehen. Mit der Wiederverei nigung erlebte die Musik mit türkischen Wurzeln in Deutschland abermals einen Politisierungsschub, dem sich auch der einfache Hochzeitssänger nicht entzie hen konnte – vor dem Hintergrund rassis tischer Anschläge wie jenem in Solingen 1993, bei dem fünf Menschen starben. Musik und Texte wurden härter und direkter. Und so gibt der Film auch einen Ausblick auf die Gegenwart und die heu tigen»Liebe,Protagonist*innen.D-MarkundTod« setzt diesen vielfältigen Musikformen ein Denkmal, lässt das Publikum eintauchen in eine un bekannte Kultur direkt um die Ecke. Wie Ali sind die Protagonist*innen im Inter view schlagfertig, politisch bewusst, neh men souverän Stellung zu ihrer Migra tionsgeschichte, die mit Archivmaterial, Ausschnitten aus TV-Dokumentationen und privaten Konzertaufnahmen zu tur bulenten Sequenzen montiert ist. Ein Meisterwerk filmischer Geschichtsschrei bung, das einen bisher verborgenen, au thentischen Musikschatz zugänglich macht. ◆ »Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod«. D 2022. Regie: Cem Kaya. Kinostart: 29. September 2022 Yüksel Özkasap ist unter Türk*innen in Deutschland bekannt als »Nachtigall von Köln«. Foto: Rapid Eye Movies

Lieder aus der fremden Heimat Regisseur Cem Kaja hat mit »Liebe, D-Mark und Tod« eine spektakuläre Musikdokumentation über 60 Jahre türkischer Migration gedreht. Von Jürgen Kiontke

Sie alle begannen in den späten 1960er Jahren mit Karrieren, die dem of fiziellen Musikbetrieb verborgen blieben. Wie rund 3.000 anderen Künstler*innen ist ihnen gemein, dass sie als »Gastarbei ter*innen« nach Deutschland kamen, in Autowerken und weiteren Industriebe trieben am Band standen, bis sich eine andere Zukunft auftat. Die türkischen Musiker*innen traten zunächst recht bieder auf Hochzeiten auf, trauten sich mit dem Aufkommen der Rockmusik aber bald mehr zu. Ein neuer Stil entstand: »Gurbetçi-Lieder«, Lieder aus der Fremde; eine originär in Deutsch land gespielte Musik, deren Texte meist von den Härten der Migration, von Ras sismus, Heimweh und Arbeitsalltag (»Statt Fleisch und Knochen habe ich nur noch Sägemehl im Körper«) reichte.

Menschen kaufen Menschen Sandra aus Deutschland ist 29 Jahre alt, in ihrem Jurastudium steht sie kurz vor dem ist ihr Thema, und das ist kein Zufall: Bereits als Schüle rin wurde sie ins Prostitutionsmilieu ver und erfuhr rohe Gewalt am eige nen Körper. Grizelda aus Südafrika enga giert sich gegen den »Verkauf« junger Mädchen in die Prostitution. Auch sie wurde entführt. Stepanka aus Tschechien teilt das Schicksal der beiden, sie war lan ge Zeit eine Gefangene, hatte 30 Freier am Tag. Anders als die beiden Aktivistin nen lebt sie heute zurückgezogen auf ei nem Bauernhof und ist dabei, eine Fami lie zuDiegründen.dreiFrauen sind Opfer von Men schenhandel geworden. Nun sind sie die Hauptdarstellerinnen in Helen Simons Dokumentarfilm »Voices from The Fire«. Der Titel stammt aus einem Gedicht, das übers Bild läuft. Dort heißt es: »Wir wer den ein Licht in der Dunkelheit sein.« Die Frauen in Simons Film konnten den Strukturen der Prostitution nur mit erheblicher Eigenenergie und einer Portion Glück entkommen. Was sie da rüber berichten, geht oft an die Grenzen des Erträglichen. Sandra und Grizelda halten darüber Vorträge in der Öffent lichkeit und werden durch ihre Arbeit regelmäßig zurückgeworfen in die Zeit, in der sie schwerer Gewalt ausgesetzt waren.Die Internationale Arbeitsorgani sation der UNO geht von 20, andere Ver einigungen gehen gar von 40 Millionen Menschen weltweit aus, die von dieser Art der organisierten Kriminalität betroffen sind. Simons Film benennt auch Hinter gründe: Armut, Diskriminierung und frühe Gewalterfahrungen machten den Nährboden aus, auf dem sich diese totale Ausbeutung überhaupt erst entfalten könne.Ebenso aber berichtet sie von konkre ten Hilfen und Ausstiegsmöglichkeiten. »Voices from The Fire« ist ein zutiefst bewegender und wichtiger Film. »Voices from The Fire« CZE/D 2021. Regie: Helen Simon. Kinostart: 25. August 2022

Examen. Menschenhandel

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Marokkanische Rituale Als »Gnawa Music of Marrakesh: Night Spirit Masters« im Jahr 1991 zum ersten Mal erschien, konnte Bill Laswell nicht wissen, was er anrichten würde. Bevor der heute legendäre Jazz-Bassist, der sich im Westen als einer der ersten tiefer mit dem auseinandersetzte, was man damals Welt musik nannte, die Compilation veröffent lichte, hatte außerhalb Marokkos kaum jemand von der Musik der Gnawa gehört: Eine marginalisierte ethnische Minder heit, deren Vorfahren vermutlich als Schwarze Sklaven aus der Sahelzone ins arabische Marokko gebracht wurden. Ihre auf Instrumenten wie Langhalslaute, Ge fäßklapper und Fasstrommel gespielte Musik kann auch als Methode der Identi tätssicherung verstanden werden. Die polyrhythmische, hypnotische Musik be gleitet zudem ihre Rituale, die dem Su fismus verwandt sind und eine ganze Nacht lang dauern. Man hätte bereits da mals die Frage stellen können, ob die elf Stücke wirklich die Trance induzierende Qualität der Gnawa-Musik transportieren und ihre heilige Bedeutung angemessen repräsentieren können. So trug »Night Spirit Masters«, das nun wiederveröffent licht wird, zwar zu einem Paradigmen wechsel bei. Musik aus fernen Kulturen wurde nicht mehr bloß als exotisch wahr genommen, sondern sollte ernsthaft ge würdigt werden. Andererseits aber steht das Album auch für ein Dilemma: Das re gionale Phänomen der Gnawa-Kultur wurde zum global vermarktbaren Thema, die Maâlem genannten Zeremonienmeis ter wurden von Festivals eingeladen und von Pop- und Jazzgrößen wie Peter Ga briel zur Zusammenarbeit aufgefordert. Aber, so fragten Kritiker*innen, ist es Gnawa-Musik, wenn sie von ihrer spiri tuellen Dimension befreit ist? Heute exis tiert beides nebeneinander: Während Bands wie die New Yorker Innov Gnawa für den Grammy »Bester Dance-Track« nominiert werden, finden die Rituale, aus denen diese faszinierende Musik geboren wurde, meist im Verbor genen statt. »Gnawa Music of Marra kesh: Night Spirit Masters« (Zehra) Der Klang von Lagos Busse hupen, Autos hupen, Mopeds hupen. Stimmfetzen fliegen vorbei, werden platt gewalzt von vorbeizischenden Motoren geräuschen, ein Lachen, jemand lobt den Namen des Herrn, jemand anderes will einen Energydrink, Fahrräder klingeln. Zu Beginn setzt uns Emeka Ogboh mitten in der Fremde aus , lässt uns allein im hekti schen Verkehr, im tobenden Leben. Aber wo? Der Titel verrät es: »6°30’33.372’’N 3°22’0.66’’E« sind die geografischen Koor dinaten eines Busbahnhofs in Lagos. Die Ojuelegba Bus Station liegt im wohl ge schäftigsten Stadtviertel in ganz Nigeria, das nicht zum ersten Mal für ein Stück Musik Material liefert. Schon Fela Kuti porträtierte das damals für sein wildes Nachtleben ebenso wie für das Verkehrs chaos bekannte Ojuelegba auf seinem klassischen Album »Confusion« als Chif fre für das postkoloniale, im Umbruch be findliche Nigeria. Diesen Faden nimmt der in Lagos und Berlin lebende Klangkünstler Ogboh wieder auf, in dem er Techno-Ein flüsse mit den westafrikanischen Wurzeln sowie mit Alltagsgeräuschen verschmilzt. Afrikanische Trommeln verwandeln sich übergangslos in pluckernde Club-Beats und transformieren sich nahezu unbe merkt wieder zurück, während man über einen Markt schlendert und in einer Bar in »Ayilara« landet, dem Rotlichtviertel, das einen eigenen Track bekommt. Ogboh, der schon mit einer Klanginstallation auf der Biennale in Venedig vertreten war, hat seit seinem Kunststudium an der Uni versity of Nigeria immer wieder Lagos kompositorisch porträtiert. Aus Melodien und Beats, Geräuschen und Stimmen ent steht auch auf »6°30’33.372’’N 3°22’0.66’’E« eine akustische Topografie der brodeln den Metropole – ihrer Probleme, aber mehr noch ihrer Vielfalt und Schönheit. Plötzlich bricht der Rhythmus ab, irgend wo im Hintergrund klingt noch eine ver lorene Melodie nach, einen Moment lang scheint die Zeit stehen zu bleiben – dann wieder Hupen und Stimmengewirr, Hek tik und Chaos, Überwälti gung. Das Leben lässt sich nicht aufhalten. Emeka Ogboh: 6°30′33.372″N 3°22′0.66″E (Danfotronics)

FILM & MUSIK

Film: Jürgen Kiontke, Musik: Thomas Winkler

schleppt

der der Organisation erlebten im Kontext der Wahlen erhebliche Schikanen durch die Behörden. Mehrere Mitarbeiter*innen von Viasna befinden sich aktuell in Haft. Trotz besorgniserregender Symptome und einer Verschlechterung ihres Gesundheits zustands wird Marfa Rabkova in der Unter suchungshaft nicht angemessen medizi nisch versorgt. Laut ihrer Familie hat sie Zahnschmerzen, die seit fast einem Jahr nicht behandelt werden. Nachdem sie sich mit dem Coronavirus infiziert hatte, entzün deten sich zudem ihre Lymphknoten und sie hatte mehrere Monate lang Schmerzen im Unterleib. Bitte schreiben Sie bis 31. Oktober 2022 höflich formulierte Briefe an den belarussi schen Generalstaatsanwalt und fordern Sie ihn auf, dafür zu sorgen, dass Marfa Rabko va umgehend freigelassen wird und alle Anklagen gegen sie fallen gelassen werden. Bitten Sie zudem darum, dass sie bis zu ihrer Freilassung angemessen medizinisch versorgt wird. Schreiben Sie in gutem Belarussisch, Russisch, Englisch oder auf Deutsch an: Ul.AndreiGeneralstaatsanwaltShvedInternatsiyanalnaya 22 220030 Minsk, BELARUS E-Mail: (Anrede:info@prokuratura.gov.byDearProsecutorGeneral / Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: S. E. Herrn Denis Sidorenko Am Treptower Park 32, 12435 Berlin Fax: 030 53 63 59 23 E-Mail: germany@mfa.gov.by (Standardbrief: 0,85 €)

MARFABELARUSRABKOVA

AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht an dieser Stelle regelmäßig Geschichten von Betroffenen, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.

Die belarussische Menschenrechtsverteidi gerin Marfa Rabkova ist seit September 2020 allein wegen ihrer legitimen Men schenrechtsarbeit als Koordinatorin des ehrenamtlichen Netzwerks der Menschen rechtsorganisation Viasna in Untersu chungshaft. Es liegen insgesamt elf An

Spring96.orgFoto: klagepunkte gegen sie vor, was eine Ge fängnisstrafe von bis zu 20 Jahren bedeuten könnte. Unter anderem wird ihr »Mitglied schaft in einer kriminellen Vereinigung« (Paragraf 285 (2) des Strafgesetzbuchs) vor geworfen. Insgesamt fanden in ihrem Pro zess bereits 30 Anhörungen statt, bisher jedoch ohne Ergebnis. Die umstrittene Präsidentschaftswahl im Jahr 2020 führte in Belarus zu Protesten, auf die die Behörden mit massiven Repres sionen reagierten. Viasna ist eine der wich tigsten Informationsquellen über Men schenrechtsverletzungen in Belarus. Mitglie

• IRB E FE GEGE N DAS VE R NESSEG SCHREIBEN SIE EINEN BRIEF

72 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Herkunft oder aus rassistischen Gründen inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden.

Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 42 02 48 0, Fax: 030 42 02 48 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de

ihn bei ihrem Besuch nur in Unterwäsche, extrem abgemagert und voller Mückensti che vorfanden. Der Oppositionssprecher leidet seit einiger Zeit an diversen Gesund heitsbeschwerden, die auf frühere Gefäng nisaufenthalte zurückgehen. Seine Familien angehörigen haben immer wieder ange prangert, dass er im Gefängnis von Mar Ver de, wo er seit mehr als einem Jahr inhaftiert ist, physischer und psychischer Folter sowie erniedrigender Behandlung durch die Ge fängnisbehörden ausgesetzt ist. Er ist ein gewaltloser politischer Gefangener und muss umgehend und bedingungslos frei gelassen werden. Bitte schreiben Sie bis 31. Oktober 2022 höflich formulierte Briefe an den Präsiden

Die philippinische Senatorin Leila de Lima stellte sich am 24. Februar 2017 der Polizei, nachdem ihr Drogendelikte vorgeworfen wurden. Seither ist sie in einer Hafteinrich tung der Polizeizentrale Camp Crame in Quezon City in der Region Metro Manila inhaftiert. Die ehemalige Vorsitzende der Menschenrechtskommission war eine laut starke Kritikerin des sogenannten »Kriegs gegen Drogen« unter dem damaligen Präsi denten Rodrigo Duterte, im Zuge dessen die Behörden unzählige Menschenrechtsverlet zungen begingen. Im April und Mai 2022 zogen drei Personen, die gegen die Senatorin ausgesagt hatten, ihre Aussagen zurück. Alle drei Zeugen sag ten aus, von der Polizei und hochrangigen Regierungsangehörigen genötigt und be droht worden zu sein, um die Senatorin

Schreiben Sie in gutem Filipino, Englisch oder auf Deutsch an: Secretary Jesus Crispin C. Remulla Department of Justice, Padre Faura Street Ermita, Manila 10020, PHILIPPINEN E-Mail: communications@doj.gov.ph oder Fax:osec@doj.gov.ph006328526 26 18

ten von Kuba und fordern Sie ihn auf, José Daniel Ferrer García umgehend und bedin gungslos freizulassen, da er sich nur des halb in Haft befindet, weil er friedlich von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht hat. Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Miguel Díaz Canel Presidente de la República de Cuba Hidalgo Esquina 6, Plaza de la Revolución La Habana, CP 10400, KUBA E-Mail: Sehr(Anrede:Facebook:Twitter:despacho@presidencia.gob.cu@DíazCanelB/PresidenciaCubaDearPresidentDíazCanel/geehrterHerrPräsident)

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LEILAPHILIPPINENDELIMA

FERRERJOSÉKUBADANIELGARCÍA

fälschlich mit Drogendelikten in Verbindung zu bringen. Am 9. August wies das Amt des philippinischen Ombudsmanns auch die Be stechungsvorwürfe gegen Leila de Lima auf grund von Ungereimtheiten in verschiede nen Zeugenaussagen zurück. Somit wird immer deutlicher, dass die Vorwürfe gegen Leila de Lima konstruiert wurden, um sie strafrechtlich zu verfolgen. Am 1. Juli kam es auf den Philippinen zu einem Machtwechsel, und ein neuer Prä sident trat das Amt an. Der neue Justiz minister erwägt eine Überprüfung des Falls.

Online-Netzwerken

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Kuba I. E. Frau Juana Martínez González Stavanger Straße 20, 10439 Berlin Fax: 030 44 73 70 38 E-Mail: recepcion@botschaft-kuba.de (Standardbrief: 0,85 €)

José Daniel Ferrer García, der Vorsitzende der informellen Oppositionsgruppe Unión Patriótica de Cuba, wurde am 11. Juli 2021 in Verbindung mit einer Protestveranstaltung festgenommen und wegen »Störung der öffentlichen Ordnung« angeklagt und in haftiert. Seit dem 4. Juni 2022 wird ihm der Kontakt zur Außenwelt verweigert – bis auf einen kurzen Besuch seiner Familie am 12. 2022 hatte der UN-Ausschuss über das Verschwindenlassen bekanntgegeben, dass er die kubanische Regierung aufgefor dert habe, Informationen über die Situation von José Daniel Ferrer an seine Familie und Rechtsbeistände weiterzugeben. Kurz da rauf konnte seine Schwester Ana Belkis Fer rer in den bekanntge ben, dass die kubanischen Behörden ihrer Familie erlaubt haben, José Daniel Ferrer am 12. Juli für kurze Zeit zu besuchen. Seine Angehörigen berichteten später, dass sie

privatFoto:

Bitte schreiben Sie bis 31. Oktober 2022 höflich formulierte Briefe an den Justiz minister der Philippinen und fordern Sie ihn auf, Leila de Limas Fall unverzüglich und un parteiisch zu überprüfen, um die Senatorin bei entsprechender Beweislage umgehend freizulassen und die Anklage gegen sie fal len zu lassen.

AmJuli.7.Juli

(Anrede: Dear Secretary / Sehr geehrter Herr Justizminister) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)

4.0)BY-SA(CCRisoTorresOsvaldoFoto:

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Philippinen Frau Lillibeth Pono, Gesandte (Geschäfts trägerin a. Luisenstraßei.) 16, 10117 Berlin Fax: 030 873 25 51 E-Mail: info@philippine-embassy.de (Standardbrief: 0,85 €)

(Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)

Interview: Sandra Lüderitz-Korte

Wenn Sie Amnesty International oder weitere Organisationen bedenken möch ten, ist es sinnvoll, sich vorab bei den be treffenden Organisationen zu melden. So können Sie sich über Ihre Wünsche und deren Umsetzbarkeit näher abstimmen. Allen, die Amnesty im Testament mitbe günstigen möchten, bieten wir als Hilfe stellung ein kostenfreies juristisches Erst gespräch mit Fachanwältin Rump per Telefon an. ◆ Mehr dazu unter: amnesty.de/testament Ihre Ansprechpartnerin für Testamentsspenden bei Amnesty in Deutschland: Sandra LüderitzKorte, zu erreichen unter 0170 889 89 65, sluederitz@amnesty.de

Cornelia Rump (links) und Sandra Lüderitz-Korte (rechts) auf der Amnesty-Jahresversammlung in Köln 2022. Foto: Amnesty »Nach mir die Freiheit!« Mit dem Testament die Menschenrechte verteidigen, damit auch nach dem eigenen Ableben Geld für menschenrechtliches Engagement da ist. Wie geht das? Brauche ich ein Testament? Welche Form muss es haben? Und wo bewahre ich es auf? Cornelia Rump, Fachanwältin für Erbrecht und Beraterin von Amnesty International in Deutschland, beantwortet die wichtigsten Fragen.

AKTIV FÜR AMNESTY

74 AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022

Wenn für den Todesfall nichts gere gelt ist, die Form nicht gewahrt oder das Geregelte nicht gefunden wird, können individuelle Wünsche nicht in die Tat umgesetzt werden. Wem empfehlen Sie ein Testament? Wer seinen Nachlass anders regeln möch te, als es die gesetzliche Erbfolge vorsieht, braucht ein Testament. Also alle, die ei nen Menschen begünstigen möchten, mit dem sie zum Beispiel nicht verwandt oder verheiratet sind. Oder man will eine Or ganisation im Testament bedenken. Mit einem Testament können Sie selbstbestimmt festlegen, wer erbt und wer sich nach dem Tod um alle Angele genheiten kümmern soll. Außerdem kann man bestimmen, wer einen Teil des Nachlasses als Vermächtnis erhält. Auch Organisationen wie Amnesty International können als Erbe oder mit einem Vermächtnis bedacht werden. Amnesty kennt sich übrigens auch mit der Abwicklung von Nachlassangelegen heiten aus. Welche Form muss ein Testament ha ben? Man kann ein Testament handschriftlich verfassen oder notariell beurkunden las sen. Beide Formen sind grundsätzlich gleichwertig. Damit ein handschriftliches Testament auch in der Form wirksam ist, muss der gesamte Text des Testaments von Hand niedergeschrieben und – natür lich – unterschrieben werden. Eine ent sprechende Überschrift wie »Testament« oder »Mein letzter Wille« hilft dabei, es einzuordnen. Ich kann sehr empfehlen, das Testament mit einem Datum zu ver sehen. Wie bewahre ich ein Testament auf? Beim notariellen Testament wird das Tes tament automatisch in amtliche Verwah rung gegeben. Wenn Sie Ihr Testament von Hand geschrieben haben, können Sie es selbst in amtliche Verwahrung geben. Das kostet ungefähr 100 Euro. Mit der Verwahrung ist garantiert, dass Ihr Testa ment aufgefunden wird und nicht abhan den kommt. Zusammengefasst: Wenn Sie Ihren Nach lass nach Ihren individuellen Vorstellun gen weitergeben möchten, ist es wichtig, das zu Lebzeiten zu regeln und dafür zum Beispiel ein Testament aufzusetzen. In Deutschland gilt sowohl das notarielle als auch das handschriftliche Testament. Da mit ein Testament später zur Abwicklung kommt, ist es am sichersten, Ihr Testa ment amtlich verwahren zu lassen, es also zu einem Nachlassgericht zu geben.

KOLUMNE: EINE SACHE NOCH

JETZT MAL EHRLICH

Von Markus N. Beeko Kennen Sie das? »Genau …«, Pause, Luft holen, sprechen: So beginnen Menschen im Gespräch öfters ihren Wortbeitrag, zumindest in meiner Berliner Blase. Will man sich damit vergewissern, dass man jetzt dran ist? Als ich meine Beobachtung mit der Familie teilte, entgegnete man mir: »Stimmt, hast Du vorhin auch ge macht!« Eine Erinnerung, wie schnell wir uns Floskeln und Phrasen unbewusst an eignen. Eine Phrase, die mich immer irri tiert: »Jetzt mal ehrlich.« Was will man damit sagen? Jetzt ausnahmsweise wirk lich mal »ehrlich«? Auch auf ein »Ich muss Dir ehrlich sagen …« folgt selten ein wahrhaftes Eingeständnis, sondern meist die Verkündung des eigenen Weltbilds. Wie ehrlich schauen wir auf uns und die Welt? In seinem Buch »Warum es so schwer ist, ein guter Mensch zu sein« be schreibt Armin Falk uns alle als »Welt meister*innen im Geschichtenerzählen«. Wir erzählen uns und anderen Geschich ten, die uns helfen, etwas »Falsches« zu tun, ohne das eigene Selbstbild zu gefähr den.Zur Wahrheit gehört, dass die meisten von uns daran scheitern, immer zu tun, was wir »eigentlich« richtig finden. Die Klimakrise – eine existenzielle Bedrohung? Klar! Unser Leben entschieden danach ausrichten? Fehlanzeige. Kein Platz für Rassismus? Klar! Aber was tue ich, wenn jemand in der U-Bahn belästigt wird? gungssicherheit zu gewährleisten und gleichzeitig (!) aus fossilen Energien aus zusteigen, so gilt es, Handels- und Sicher heitsbeziehungen aufzubauen und dabei (!) die Achtung von Völkerrecht und Men schenrechtsstandards zum »Teil des Deals« zu machen. Wenn Katar seinen selbst ausgerufe nen Wandel »ehrlich« meint, dann gehört zu einer »Energie-Partnerschaft« unser aktives Dringen auf die Verbesserung der Arbeitnehmer*innenrechte. Wenn die Türkei anerkanntes Mitglied der interna tionalen Staatengemeinschaft sein will, dann muss sie die europäische Men schenrechtskonvention achten – und die Urteile gegen den Kulturmäzen Osman Kavala und den Amnesty-Ehrenvorsitzen den Taner Kiliç aufheben. Im Grundgesetz, Artikel 1, Absatz 2, bekennen wir uns zu »Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Ge meinschaft, des Friedens und der Gerech tigkeit in der Welt«. Tun wir das? Oder ist dies auch nur eine unserer vielen »Erzäh lungen«? ◆ Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

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AMNESTY JOURNAL | 05/ 2022 75 IMPRESSUM Amnesty International Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 42 02 48 0 E-Mail: Internet:info@amnesty.dewww.amnesty.de Redaktionsanschrift:

/HartungBerndFoto:Amnesty Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: Adressänderungenjournal@amnesty.debittean:info@amnesty.de Redaktion: Maik Söhler (V.i.S.d.P.), Nina Apin, Anton Landgraf, Tobias Oellig, Pascal Schlößer, Uta von Schrenk, Lena Wiggers Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Markus N. Beeko, Ronny Blaschke, Bernhard Clasen, Hannah El-Hitami, Luciana Ferrando, Oliver Grajewski, Tobias

Wir finden »gute« Gründe, nicht das zu tun, was wir richtig finden. Weil es mit Aufwand, Kosten, Risiken oder Unan nehmlichkeiten verknüpft ist. Es finden sich Erzählungen, die das eigene (Nicht-) Handeln rechtfertigen, wenn das Gewis sen beruhigt werden will. Eine solche Erzählung ist die der »Realpolitik«: »Wir würden ja gerne, aber die Realitäten sind leider andere.« Oder frei nach Bertolt Brecht: »Wir wär’n gern gut, anstatt so roh, doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.« Brecht übte damit aller dings Kritik an diesen Verhältnissen und wollte sie verändern. Der russische Angriffskrieg konfron tiert uns mit unangenehmen Realitäten. Eine ist, dass wir Verstöße gegen Völker recht und Menschenrechte von Russland, der Türkei, China oder den Kriegsparteien im Jemen-Konflikt hingenommen haben – Business as usual. Man hat weggeschaut und nun scheinen die Handlungsspiel räume durch globale Abhängigkeit und akute »Sachzwänge« erschreckend ein geengt. Robert Habeck, gepriesen für ehrliche Worte, formuliert zur Energie versorgung: »Wir können nicht alle Län der von Lieferungen ausschließen.« Es ehrt ihn, dass er dieses Dilemma aus spricht. Und richtig ist: Wir werden nicht mit einem Rutsch alle Sünden der Ver gangenheit heilen können. Richtig ist aber auch: »Ehrlich sein« reicht nicht. »Sich ehrlich machen« braucht ein ehr liches »Machen«: So wie es gilt, Versor

Griessbach, Aza Gudieva, Kristina Hatas, Annette Jensen, Jürgen Kiontke, Martin Krauß, Felix Lill, Patrick Loewenstein, Sandra Lüderitz-Korte, Fabian Melber, Arndt Peltner, Wera Reusch, Bettina Rühl, Till Schmidt, Oliver Schulz, Regina Spöttl, Cornelia Wegerhoff, Maren Wegner, Elisabeth Wellershaus, Brigitte Werneburg, Thomas Winkler, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Zeitfracht GmbH, Nürnberg Spendenkonto: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) ISSN: 2199-4587 Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr.

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