Architektur und Alkohol – Architecture et alcool
archithese
3.2004
Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
Kellereiarchitektur – ein zeitgenössisches Phänomen
Revue thématique d’architecture
Wineries im Napa Valley Bauen für Wein in Österreich Projekte von Michael Graves, Herzog & de Meuron, Mario Botta, Steven Holl, Angonese/Boday/Köberl, Frank O. Gehry Bierbrauen und Burgenromantik Münchner Bierarchitektur um 1900 «Bierpinsel», Berlin-Steglitz Bierarchitekturen von Jean Nouvel, Foreign Office Architects Brunnschweiler/Denzler/Erb Schule Elsau Périphériques Zwei Bars in Paris
Leserdienst 124
archithese 3.2004
Mai/Juni
Preis: 28 CHF/18 Euro
Architektur und Alkohol Architecture et alcool
mit
EDITORIAL
Architektur und Alkohol «Da muss doch ’ne Wechselwirkung/zwischen Baun und Trinken sein», heisst es
Seht den Architekten schwitzen.
in dem Lied «Seht den Architekten schwitzen», das wir einem Liederbuch der Zeit
Weise: „Preisend mit viel schönen Reden...“ (A - e e a a)
um 1900 entnommen haben. Die Wechselwirkung zwischen Bauen und Trinken
1. Seht den Architekten schwitzen /: in dem engen Atelier! :/ /: Ach, der Grundriss will nicht klappen, :/ /: die Fassade schreit o weh! :/
liesse sich auf verschiedenen Ebenen erörtern – wir widmen uns jedoch nicht einem individual- oder berufspsychologischen Zugang. Eine von uns lancierte Umfrage, welcher Wein von Architekten favorisiert wird, scheiterte an mangelnder Auskunftsfreudigkeit: Trinkgewohnheiten sind Berufsgeheimnis. Tatsächlich war der Anlass für dieses Heft auch ein anderer: In den vergangengen Jahren beschäftigen sich Architekten verstärkt mit dem Bau von Weingütern. Michael Graves’ Clos Pegase Winery im kalifornischen Napa Valley stand am Anfang dieser Entwicklung, die mit der benachbarten Dominus Winery von Herzog & de Meuron vor wenigen Jahren einen wichtigen Höhepunkt gefunden hat. Seither suchen sich die Winzer in den Weingebieten der Welt mit spektakulären Bauten nachgerade zu übertrumpfen: ob in Slowenien oder Italien, Chile oder Australien, Kanada, Spanien oder Österreich. Ausgehend von Spanien gibt Hans Hartje im Eröffnungsbeitrag dieses Heftes einen Überblick über die gesamte Entwicklung; Dirk Meyhöfer beschäftigt sich mit dem Napa Valley, in dem Architektur gezielt für das Branding der grossen Weingüter genutzt wird. Anders stellt sich die Situation in Österreich dar: Wie Ursula Graf aufzeigt, ist die Weinwirtschaft hier kleinteiliger organisiert, und es kommt daher eher zu Um- und Anbauten als zur Neuerrichtung ganzer Weingüter. Doch auch hier setzen qualitätsbewusste Winzer zunehmend auf die Wirkung qualitätvoller Architektur. Dem Thema Brauereien und Bierhallen ist der zweite Teil dieses Heftes gewidmet. Im ausgehenden 19. Jahrhundert entstand mit den «Bierburgen» ein spezifischer Typus für die Bauaufgabe Brauerei. Während Bier heute in unspezifischen Produktionshallen entsteht, sind in den vergangenen Jahren immerhin einige spezifisch gestaltete Orte des Konsums entstanden. Redaktion
2. Lahmer wird und immer lahmer /: seine trockne Phantasie, :/ /: auf dem Gaumen klebt die Zunge, :/ /: es verdorret das Genie. :/ 3. Und er wirft hinweg den Zirkel, /: durstig will’s nicht länger gehn, :/ /: eilt hinab zum duft’gen Keller, :/ /: wo die Fässer mächtig stehn. :/ 4. Wie der Wein die Zunge kühlet, /: wächst ihm neu des Lebens Mut, :/ /: und es rollt mit jedem Zuge :/ /: lust’ger stets das träge Blut. :/ 5. Da erfaßt ein reges Schaffen /: die verjüngte Phantasie; :/ /: fertig steht im Geist sein Bauwerk, :/ /: klar und schön und sonder Müh’. :/ 6. Da muß doch ’ne Wechselwirkung /: zwischen Baun und Trinken sein. :/ /: Durstig werdet ihr vom Schaffen, :/ /: und zum Schaffen treibt der Wein. :/ 7. Also hört den Rat, ihr Freunde: /: Treibet’s immer mit Bedacht, :/ /: plagt am Reißbrett euch, doch trinket :/ /: zwischendurch und singt und lacht! :/ 8. Habt ihr heut’ am Tag gebauet, /: wollt ihr morgen baun mit Lust, :/ /: weiht den Abend heut’ der Flasche, :/ /: jubelnd singt aus voller Brust! :/ L. Hoffmann, vor 1877.
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Kellereiarchitektur – ein zeitgenössisches Phänomen Der Begriff «Chateau» führt in die Irre: Weinkellereien sind zunächst einmal technische Gebäude. Doch seit einiger Zeit unterliegen sie vermehrt auch einem ästhetischen Imperativ. Zeitgenössische Architektur wird von den Besitzern eingesetzt, um ihre Marke besser zu positionieren.
WELTWEIT WEIN IN NEUEN SCHLÄUCHEN
Texte français pp. 72 – 73
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Text: Hans Hartje Guter Wein wird bekanntlich besser, wenn man ihm Zeit zum Reifen lässt. Wie zur Illustration dieser Binsenweisheit stehen in Weinanbaugebieten der ganzen – und vorzüglich der alten – Welt Burgen und Schlösser, die mit Bild und Namen das Etikett der edlen Tropfen zieren. Dass dem nicht immer schon so war und auch nicht unbedingt so sein muss, davon zeugen Kellereibauten ganz anderer Art, wie sie im 19. Jahrhundert zuerst in Spanien und heute in Weinanbaugebieten der ganzen Welt errichtet wurden und werden.
Archäologie Den symbolischen Auftakt dieser alternativen Geschichte der Kellereiarchitektur markiert die Real Bodega de La Concha, welche Manuel Maria Gonzalez Angel und Robert Blake 1862 aus Anlass des Besuchs der Königin Isabel II. im südspanischen Jerez errichten liessen. Das hartnäckige Gerücht, der halbkreisförmige Fasskeller sei aus der Feder Gustave Eiffels, ist inzwischen auch offiziell widerlegt, und die freitragende, einer Jakobsmuschel nachempfundene Stahlkonstruktion als Werk des britischen Ingenieurs Joseph Koogan identifiziert. La Concha ist beileibe nicht die einzige architektonisch
interessante Bodega in der Gemarkung Jerez, wohl aber die einzige reine Stahlkonstruktion. Die meisten anderen ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Fasskeller zeichnen sich vor allem durch ihre – mehrschiffige Kirchenbauten nachah-
1 Antoni Gaudí/ Francisco Berenguer: Bodegas Güell, 1895 – 1901
gas Güell in Garraf darstellen, ein Gemeinschaftswerk von
2 Francisco Mangado: Bodega Marco Real, Olite, Navarra, 1989/90 (Foto: Francisco Mangado)
Als nächster Schritt hin zur Legitimierung zeitgenössi-
Gaudí und Francisco Berenguer, in denen beide Funktionen konvergieren.
scher Architektur im Weinberg dürfte die Anfang der Sechzigerjahre getroffene Entscheidung des Italo-Amerikaners Robert Mondavi gelten, seinem Bruder die vom Vater über-
menden – Grundrisse, ihre dicken, meist fensterlosen Wände,
nommene Krug-Winery zu überlassen und in Oakville (Napa
ihre oft extreme lichte Höhe (bis 14,50 Meter) und ihre Dach-
Valley, Kalifornien) einen Neubeginn zu wagen.
konstruktionen aus. Kellereien nach dem Modell von Kirchen zu erbauen, lag in
Robert Mondavi Winery wurde 1965 von Cliff May im
für Kalifornien typischen spanischen Missions-Stil gestaltet.
Südspanien allein schon aus klimatischen Gründen nahe.
Von der ursprünglichen Anlage existieren heute noch der
Dazu kommt, dass bei der Weinherstellung ein der liturgi-
weit geschwungene Torbogen und ein Glockenturm, die
schen Wandlung von Wein in Christi Blut analoger Prozess
als Emblem denn auch das Etikett sämtlicher unter dem
abläuft. Die ausdrücklich suggerierte Parallele dürfte im Übri-
Markennamen Mondavi kommerzialisierten Weine zieren.
gen im Unterbewusstsein des Weinliebhabers eine nicht un-
Die Winery indes kann beim besten Willen nicht als Proto-
wesentliche Rolle spielen: Wo die Kelterei als säkularisierte
typ des «New World Château» durchgehen (vgl. hierzu auch
Eucharistie präsentiert wird, darf die Kellerei getrost als
den Text von Dirk Meyhöfer, S.18–21). Dieser Status kommt
Tempel des guten Geschmacks gelten.
dann schon eher Opus One zu, das Scott Johnson 1984 für
Sherryproduzenten geben als Urheber des Ausdrucks «Kathedralen des Weins» gern den englischen Reiseschrift-
ein transatlantisches joint venture zwischen Robert Mondavi und Baron Philippe de Rothschild entworfen hat.1
steller Richard Ford (1796 –1858) an, wohingegen katalani-
Opus One ist 1991 fertiggestellt worden, vier Jahre nach
sche Winzer ihn dem einheimischen Dramaturgen Angel Gui-
der ebenfalls 1984 von Jan L. Shrem als lokales Konkurrenz-
mera (1847–1924) zuschreiben. Wie dem auch sei: Heute
projekt ins Leben gerufenen Clos Pégase Winery, für die
meint der Ausdruck vor allem die zahlreichen Kellereibauten
ein Wettbewerb ausgeschrieben wurde, an dem nicht weni-
des katalanischen Modernismo, wie sie in den Jahren
ger als 96 Architektenteams teilnahmen. Die zwei Ge-
1890 – 1925 vor allem von Cesar Martinell i Brunet, Josep Puig
bäudekomplexe könnten kaum verschiedener sein, dabei
i Catafalch und Lluis Domenech i Montaner in den Winzer-
eignet ihnen ein vergleichbar imposanter Habitus, der sämt-
dörfern rund um Barcelona errichtet worden sind. Dabei
liche Sinne anzusprechen sucht, dabei allerdings Gefahr
ist keineswegs auszuschliessen, dass die erwähnten Archi-
läuft, dass dem Besucher zuerst einmal Hören und Sehen ver-
tekten – und allen voran Antoni Gaudí – sich bautechnisch
geht.
in erster Linie vom säkularen Modell der gotischen Drassanes
Ganz anders – und doch vergleichbar in dem, was sie
(Schiffswerften) haben inspirieren lassen, wie sie heute
unterscheidet – liegen die Dinge bei zwei Kellereien, die im
noch in Barcelona zu besichtigen sind ( Museu Maritim ). Eine
gleichen Zeitraum in Spanien entstanden sind. Da ist zum
Art von missing link bei der Umwidmung könnten die Bode-
einen die Bodega Raventos i Blanc in Sant Sadurni d’Anoia
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UNTER DER ERDE
Walter Angonese, Silvia Boday, Rainer Köberl: Weingut Manincor, Südtirol, 2004 Gegenüber den billigen Weinen der Region Kalterer See setzt der Önologe Michael Graf Goëss-Enzenberg auf Qualität. Nun ist ein neues Kellergebäude entstanden, das weitgehend unterirdisch organisiert wurde. Eine starke Erdschicht gewährt ein konstantes Kellerklima – und überdies gelang es, die Baumasse in die Hügellandschaft einzubetten.
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Text: Ursula Graf Michael Graf Goëss-Enzenberg versteht es nicht nur, eine Tradition aufrechtzuerhalten, die bis ins Jahr 1608 zurückführt, als der Gutshof Manincor errichtet wurde; er vermag auch eine visionäre Haltung mit wirtschaftlichen Überlegungen zu verbinden. Als er 1991 als ausgebildeter Önologe den Betrieb übernahm, begann eine neue Ära für das Trauben produzierende Gut, das keine eigene Vinifikation besass. Manincor ist heute mit 45 Hektar Ertrag das grösste Weingut Südtirols, das nur eigene Trauben verarbeitet. Das historische Anwesen liegt äusserst reizvoll – inmitten von Hügeln voller Rebhänge – an der Südtiroler Weinstrasse mit Blick auf den Kalterer See. Goëss-Enzenberg erkannte das Potenzial dieser Lage und beauftragte im Jahr 2001 den Architekten Walter Angonese mit dem Kellerneubau. «Weniger ist mehr», so dachte Goëss-Enzenberg: Charaktervolle, eigenständige Weine als Spiegelbild von Boden und Klima. Und dazu eine 2
passende Architektur: Die Eichenfässer sind aus dem Holz heimischer Wälder gefertigt, und auch der Architekt kommt aus der Region. Walter Angonese, bekennender Ruraler, der als Intermezzo urbane Gefilde aufsucht, um dann, mit eigenen Worten «im Weindorf Kaltern unter den Lauben zu sitzen, den Turbobooster herunterzufahren und weiterzudenken», nennt seine Tätigkeit schlicht: Weiterbauen. Angoneses Neubauten (Weinkellerei Hoffstätter, Tramin) oder Adaptierungen (Festung Kufstein-Josefsburg, gemeinsam mit Andreas Egger und Markus Scherer) frönen nicht dem missverstandenen Regionalismus. Er kultiviert durch Weiter-
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1–3 Ebenen +1 und – 1 sowie Schnitt 1 : 1000
bauen, Weiterspielen, Weitermachen den Bestand – im Falle von Manincor auch das Produkt, den Wein auf seine Weise: «Das eingeschränkte Gesichtsfeld kann eine unbestechliche
4 + 5 Der Neubau verbirgt sich im Hügel, von aussen treten nur wenige Teile in Erscheinung (Fotos: Walter Niedermayer)
Genauigkeit der Beobachtung zur Folge haben. Ein nüchterner, nicht romantisierender Blick auf das Umfeld ist gefragt. Die unsichtbaren Hilfslinien kommen zum Vorschein. Jetzt heisst es: Weiterbauen, historische Wucht von Burgmauern begreifen lernen und leichte architektonische Elemente anlehnen.» Der Architekt lud zwei Kollegen ein – die junge Meranerin Silvia Boday und den Innsbrucker Rainer Köberl –, gemeinsam den Kellerneubau zu erstellen. Rainer Köberl kann einen überschaubaren Werkkatalog vorweisen: Die Liste der Preise, Nominierungen und Ausstellungsbeteiligungen ist
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fast ebenso lang wie die der Bauten. Zeit ist ein Faktor, der sich auf die Qualität auswirken kann, und dieses Verständnis scheint das Triumvirat der Architekten mit dem Bauherren in aller Gelassenheit zu teilen. Als Resultat einer dreijährigen Planungs- und Bauphase entstand ein monolithischer, vor Ort gegossener Betonbau. Das unterirdische Gebäude wurde östlich des bestehenden Ansitzes in den Weinberg eingefügt und übernimmt alle topografischen Vorgaben dieses Ortes. Nur einzelne Bauteile (Einfahrten, Verkostung und Verkauf) der auf drei Geschosse verteilten, insgesamt 30000 Kubikmeter Bauvolumen bei 3000 Quadratmeter bebauten Fläche treten oberflächlich in Erscheinung. Das jahrtausendealte Thema Weinkeller wurde unter Ausnutzung des geophysikalischen Potenzials und auf ausgereiften önologischen Erfah-
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BIER TRINKEN ÜBER DEM STÄDTISCHEN CHAOS 1 2
Der «Bierpinsel» in Berlin-Steglitz An einer Kreuzung diverser Infrastrukturachsen entstand vor 30 Jahren in Berlin-Steglitz der «Bierpinsel», ein aufgeständertes Restaurantbauwerk, das damals die Visionen der Zeit verkörperte und heute als Ikone der Siebzigerjahre-Architektur ein neues Potenzial besitzen könnte.
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1 Rückansicht von der Schnellstrasse aus (Fotos 1+3: Mila Hacke) 2 Gesamtansicht von der Strassenebene aus (Foto: Udo Meinel) 3 Innenansicht Gaststättenebene
A3-Mappe aufgelegt, welche die vielen Nutzungsmöglichkeiten darlegte (zwischenzeitlich hatte die sowjetische Handelsmission ernstes Interesse gezeigt; am Bild der «Roten Faust» dürfte sie Gefallen gefunden haben), es war ein Baustopp verhängt – und leider auch ein Architektenwechsel vollzogen worden. Denn nun gehörte das neue Wahrzeichen des Berliner Südwestens der Wohnungsgesellschaft BEWOGE, und die hatte ihre eigenen Vorstellungen von gastronomischem Ambiente: Anders als etwa beim ICC am Autobahndreieck Funkturm, welches dieses Jahr seinen 25. Geburtstag feiert, blieb es den Schülers jedenfalls verwehrt, ihr futuristisch anmutendes Objekt adäquat auszustatten – etwa im Sinne einer «Luftschiffkanzel».
Text: Ulrich Brinkmann
Langwierige Planungsgeschichte
Mit einer geballten roten Faust habe er seine Karriere be-
Unzählige Ordner, darin unübersehbar viele Mappen, darin
gonnen, scherzt Ralf Schüler im Rückblick auf den gemeinhin
unabschätzbar viele Zeichnungen stapeln sich auf dem Tisch
als Bierpinsel bekannten, 1976 fertig gestellten Turmbau,
in der von Erich Mendelsohn entworfenen Wohnung der Ar-
welcher sich, weithin sichtbar, über dem U-Bahnhof Schloss-
chitekten in der Charlottenburger Cicerostrasse. Die beiden
strasse im Berliner Bezirk Steglitz erhebt. Die Zeit ist reif, mit
spielen sich die Stichworte und Erinnerungen zu, dass es
dem 73-jährigen und seiner Büro- und Lebenspartnerin Ursu-
eine Freude ist, aber zugleich volle Konzentration abverlangt,
lina Schüler-Witte über ihren Erstling zu sprechen. Denn zu
um die Ereignisse nicht zu verwirren. Alles begann mit dem
entdecken ist ein vielleicht skurriles, gewiss eigenwilliges,
Auftrag, den neuen U-Bahnhof Schlossstrasse zu gestalten.
architektonisch aber wohl durchdachtes Gebäude, welches
Fünf Ebenen sollten sich mit dem Umsteigebahnhof an die-
viel zu lange die Schmähungen all jener auf sich gezogen hat,
sem Punkt des Stadtplans mit grossstädtischem Treiben
die am liebsten die ganze Stadt in Wärmedämmverbundsys-
gegenseitig überbieten: zwei Ebenen für die U-Bahnlinien 9
tem-Klassizismus einpackten hätten, um allenfalls als Ikone
und 10 (letztere wurde allerdings nie in Betrieb genommen),
im Zuge des Seventies-Revival Gnade zu finden. Denn warum
eine Verteilerebene mit Läden, die Schlossstrasse, Hauptge-
eine Architektur wie diese heute, in Zeiten fortdauernder
schäftstrasse des Berliner Südwestens, zuletzt die Hoch-
Krise und allgemeiner Ratlosigkeit, wieder zu faszinieren ver-
trasse der Schildhornstrasse, welche zum Autobahnkreuz
mag, liegt weniger in ihrer formalen Eigenwilligkeit begrün-
Wilmersdorf und zu einer weiteren Ikone der Siebziger-
det als im Überschuss ihres Optimismus, in ihrem Glauben an
jahre-Architektur, der Autobahnüberbauung Schlangen-
die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft.
bader Strasse, führt. Warum das Ganze nicht mit einem
Als die Kanzel mit ihren drei Restaurant-Ebenen 1977 er-
Ruhepunkt krönen, von wo aus sich die städtische Betrieb-
öffnete, waren neun Jahre Planung und fünf Jahre Bauzeit
samkeit überblicken liesse; einem Ruhepunkt, der in den bei-
verstrichen, waren fünf Projektstufen durchgearbeitet und
den Sichtachsen Schlossstrasse und Schildhornstrasse für
drei Eigentümerwechsel überstanden, hatte man für die Su-
Orientierung sorgen könnte? Der Senat zeigte sich aufge-
che nach Mietern eigens eine im Chic der Zeit gestaltete DIN
schlossen für die Idee der Architekten, sofern sich denn ein
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ABENDLICHES MIRAKEL
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Jean Nouvel: Brasserie Schützenberger, Strasbourg Im Zentrum von Strasbourg ist vor vier Jahren eine Brasserie
Text: Uwe Hinkfoth Trocken-melancholisch und spröde am Tag, aber feuchtfröhlich und schillernd in der Nacht zeigt sich diese Brasserie im
eingerichtet worden, welche den Namen der elsässischen Brauerei
Herzen von Strasbourg. An der Einmündung der Rue des
Schützenberger trägt. Sind die Zeichen der Abnutzung auch
Grandes Arcades in die Place Kléber gelegen – also unweit
tagsüber unübersehbar, so fasziniert die irritierende Belichtung
der legendären Aubette, deren Innenräume Theo van Does-
des Abends stets aufs Neue.
burg, Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp in den Jahren 1926 – 1928 im Stil der Neuen Sachlichkeit umgestaltet hatten — ist auch hier das Thema Sanierung, Umwidmung: Begriffe, die Jean Nouvel an sich nicht mag. Folgt man seinen Worten, so leben wir in einer Epoche der Veränderung: «Aujourd’hui la piste la plus productive c’est celle de la modification.» Der Auftrag bestand darin, zwei historische Gebäude, die durch einen überbauten Innenhof miteinander verbunden sind und zusammen einen längsrechteckigen, allzu schmalen Grundriss bilden, für eine Brasserie heutigen Geschmacks dienstbar zu machen – den Architekten reizte die Aufgabe, das Vorhandene mit Leben zu füllen. Im verdichteten Wohnen und Arbeiten der Altstadt von Strasbourg findet sich wenig Spielraum für Neues, – und wenn, dann im Innern eines historischen Gebäudes, dessen Aussenbild aber von Eingriffen weitgehend bewahrt sein soll. Bei der Einrichtung der neuen Brasserie liess man den Bereich der beiden unteren Stockwerke nicht unangetastet. Das Geschäftshaus aus den Zwanzigerjahren, dessen Geschoss-, Trauf- und Firsthöhe und dessen Fensterformate nicht am historisch gewachsenen Umfeld orientiert waren, erhielt durch Nouvel eine sachliche Eingangszone. Zwischen mächtigen Pfeilern aus rotem Sand-
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ARCHITEKTUR AKTUELL
PÉRIPHÉRIQUES : NOUVEAU CASINO UND DE LA VILLE CAFÉ, PARIS
Dreiecke, zersplittert
Zwei Entwürfe der Pariser Gruppe Périphériques bereichern bestehende Gastronomielokale um neue Räume, welche mit feiner Ironie den Eingriff in historische Strukturen thematisieren. Die Beschäftigung mit Form, Material, Raum und Oberfläche und das Spiel mit den Erwartungen des Betrachters lassen erstaunliche Effekte entstehen. Beiden Projekten gemeinsam ist die Verwendung dreieckiger Paneele als dreidimensionales Mosaik. Nouveau Casino, 2000 – 2001 Die Pariser Rue Oberkampf hat sich in den letzten Jahren zu einem beliebten Ziel für Nachtschwärmer entwickelt. Einen Anziehungspunkt bildet der im Sommer 2001 eröffnete Konzertsaal Nouveau Casino: Er beherbergt eine Bühne, eine Bar, eine Galerie mit Lounge und Regie-Pult sowie Raum für 400 Zuschauer und ermöglicht es, mitten im äusserst dichten städtischen Gefüge Veranstaltungen mit einer Lautstärke von bis zu 135 dBA durchzuführen. Der besondere Reiz mag indes in der Kombination mit dem traditionellen Café Charbon und in der gelungenen Gestaltung des Innenraumes liegen. Das Café Charbon stammt vom Anfang des 20. Jahrhunderts und weist diverse Charakteristika auf, die Einheimische wie Touristen mit einem typischen «Café Parisien» assoziieren: hohe Decke, bunter Mosaikboden, Schiefertafel, grosse Spiegel und Wandmalereien tanzender Damen und Herren. Daran hat sich auch nach dem Umbau durch Périphériques nichts geändert; neu ist lediglich, dass das Café Charbon dank der neuen Küchen im Erd- und Untergeschoss als Restaurant betrieben wird. Der rückwärtige Teil mit dem Konzertsaal dagegen ist ein Neubau und auch deutlich als solcher zu erkennen. Erschlossen wird der Raum, der
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1+ 2 Die projizierten Bilder zerschellen an der aus Dreiecken zusammengesetzten Oberfläche (Simulation Architekten)
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3 Innenansicht mit Bar aus transluzentem Harz und Projektionen (Fotos: Luc Broegli) 4 Grundriss 5 Schnitt
mitten in die dichte Blockrandbebauung eingefügt wurde, entweder durch einen Gang direkt von der Strasse aus oder durch einen Zugang vom Café her, welcher vollständig mit schwarzen Stahlplatten ausgelegt ist. Auch im Inneren herrscht roher Stahl als Baustoff vor: Über den Hartbetonboden wölbt sich eine zersplitterte, aus dreieckigen Stahlpaneelen zusammengesetzte Struktur, die einen höhlenartigen Raumeindruck entstehen lässt. Ziel der Architekten war es, eine an Starwars gemahnende Atmosphäre zu erzeugen; die Kombination von uriger Höhle und metallischem Hightech ist jedenfalls eindrücklich. Die Stahlplatten unterscheiden sich nicht nur in der Grösse, sondern
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auch in der Oberflächenbeschaffenheit: Es gibt
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sie glatt, perforiert – und daher Schall absorbierend – oder verspiegelt. Die Fugen zwischen den Paneelen sind offen, dahinter verbergen sich sämtliche technische Installationen. Insgesamt ist die Wand des Gebäudes ein Meter dick, und der Konzertsaal ist als Box in der Box konstruiert, um Schallemissionen zu verhindern. Die Schwere der Metalloberfläche wird durch den Einsatz des Lichtes gemildert. Kronleuchter hängen von der Decke, und die Bar – ein längliches, organisches Gebilde aus transluzentem Harz – kann in verschiedenen Farben von innen beleuchtet werden. Eine ausgeklügelte Video-
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installation ermöglicht es zudem, den ganzen Raum mit Projektionen zu bespielen, die man durchaus als moderne Nachfolger der Wandmalereien im Café betrachten kann. Die Bilder zerschellen an der fragmentierten Oberfläche, werden gespiegelt oder überblendet – und das heavy metal verwandelt sich in eine bewegte Tapete.
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