archithese 2.2019 – Rückzug

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Gegenbewegung Mehr Urbanität, höhere Dichte und Interaktion; dieser Trend liegt nicht jedem.

City Quitters Die Sehnsucht nach einem neuen Miteinander auf dem Land

Ruhepole Auch in urbanen Räumen müssen Privatsphäre und Abstufungen des Rückzugs möglich sein.

Porosität Veränderungen des Wohnund Raumbegriffs aus der Sicht der Medienphilosophie

Rückzug

JUN – AUG 2.2019 CHF 28.– |  EUR  24.–


Rückzug JUN – AUG  2.2019

3 Editorial 8 Ländliche Verheissung Zwischen Rückzug und Aufbruch Eleonore Harmel / Sabeth Kerkhoff / Mathias Burke / Leon Jank 18 Rückzug nach innen Tom Avermaete im Gespräch über die Bedeutung des Hortus conclusus und die Notwendigkeit von Rückzugs­ möglich­keiten in Metropolen. Jørg Himmelreich 28 Schutz und Überschreitung Die Casa Mosogno im Tessiner Onsernone­ tal von Buchner Bründler Architekten Steffen Hägele

63 Glossar Zehn kurze Texte verschiedener Autoren beleuchten schlaglichtartig Episoden der Kulturgeschichte des Rückzugs.

86 Dezentrales Coworking Arbeit und lokales Engagement entwickeln Regionen und Orte. Remo Rusca

64 Villa Hannes Siefert

Rubriken

66 Kloster Jörg Sonntag 68 Aufklärung Felix Vogel 70 Romantik und Innerlichkeit Petra Habrock-Henrich 72 Eskapismus Julian Bruns

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BIM und andere ­Missverständnisse

An der archithavolata sprachen Odilo Schoch und Patric Furrer über Potenziale oder Übel des BIM. Christina Horisberger 94 Neues aus der Industrie 95 Premium Brands Online 96 Vorschau und Impressum

38 Ende oder Transformation

des Wohnens? Antworten der (Medien-)Philosophie Reinhard Margreiter 48 Erweiterte Sphären Thomas Kröger spricht im Interview über seine Projekte mit einem Fokus auf Rückzugs- und Referenzräume. Jørg Himmelreich / Julian Bruns

74 Utopische Gemeinschaften Julian Bruns 76 Space Age Jørg Himmelreich 78 Auszeit Mathias Gfeller 80 Urbane Eremiten Peter Volgger 82 Tourismus Jørg Himmelreich

Cover: Paulo Mendes da Rocha und MMBB architects, Kulturzentrum SESC 24 de Maio in São Paulo, 2018 ( Foto: Ciro Miguel ) Das Bild wird im Rahmen der Ausstellung Zugang für alle. São Paulos soziale Infrastrukturen gezeigt, die ab dem 13. Juni 2019 im Architekturmuseum der TU München zu sehen ist.


archithese 2.2019

Editorial

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Fit für die Zukunft Der fsai hat sich neu aufgestellt und einen neuen Präsidenten gewählt sowie seine Strukturen angepasst.

Rückzug

archithese.ch

Mehr Urbanität, Gemeinschaft und Begegnung – derzeit

Die Hälfte aller Menschen lebt mittlerweile in Städten. Bis

gibt es im Architekturdiskurs einen Imperativ, so viel Mitein-

2050 sollen es zwei Drittel der Weltbevölkerung sein. Das heisst,

ander wie möglich zu initiieren. Beim Verdichten von Städten

dass dann sechs Milliarden Menschen in Ballungsräumen zu

und neuen Quartieren bis hin zu einzelnen Bauwerken, in Büros

Hause sein werden. Mitunter bringt diese Entwicklung aggres-

und Wohnungen wird stets nach Lebendigkeit, Gemeinsamkeit

sive Formen der Ab- und Gegenwehr hervor. Dem «Dichtestress»

und Interaktion gefragt.

entspringen beispielsweise Ressentiments gegen Zuwanderung

Das ist wohl in erster Linie als Reaktion auf die negativen

oder Bautypologien wie das Hochhaus. Auch wird diese Debatte

Folgen der modernen Funktionstrennung, auf fundamentale

von verschiedenen Formen der Fortschritts- und Technikfeind-

Veränderungen innerhalb der Gesellschaft oder auch das

lichkeit begleitet. Der aktuelle Widerstand gegen das 5G-Mobil-

Schwinden tradierter Familienstrukturen zu verstehen, denn

netz nährt sich vor diesem Hintergrund vermutlich nicht nur

nach der Grossfamilie löst sich nun auch das Konzept der Kern-

aus der Angst vor schädlicher Strahlung, sondern ist vor allem

familie sukzessive auf. Entsprechend wächst die Zahl der Sing-

eine verzögerte Abwehrreaktion gegen eine als stressig emp-

le-Haushalte. Auch die Digitalisierung hat daran ihren Anteil:

fundene permanente Erreichbarkeit und die Allgegenwart des

Immer häufiger kaufen wir Waren im Internet statt in Läden,

Digitalen.

sind in den Sozialen Medien präsent statt Freunde zu treffen,

Immer häufiger keimt – wen wundert es – deshalb der

trainieren alleine im Fitnesscenter statt auf dem Sportplatz

Wunsch auf, aus dem Hamsterrad auszubrechen; zeitweise oder

Teamsport zu machen.

für immer. Doch damit verstärken sich be­­stehende ökologische

Doch die damit einhergehenden sozialen Entkoppelungs-

und logistische Probleme: Mehr Mobilität führt zu noch mehr

und Beschleunigungstendenzen gefallen nicht allen. Analysiert

Infra­struktur und Energieverbrauch; noch mehr Zweitwohnun-

man neu erscheinende Bücher, Trends in Life­style-Blogs oder

gen in Agrarwirtschafts- und Naturräumen verursachen noch

das Freizeitverhalten der Menschen, scheint genau das Gegen-

mehr Zersiedelung.

teil gefragt zu sein: Rückzug, die Möglichkeit zur Entschleuni-

Mit dieser Ausgabe der archithese versucht die Redaktion,

gung, allein und man selbst sein zu dürfen, Zeit zum Nachden-

die Bedürfnisse nach Rückzug ernst zu nehmen und ihnen im

ken oder Nichtstun zu haben. Derzeit schwillt die Zahl an Coffee

Architekturdiskurs wieder Gewicht zu verschaffen. Die Frage,

Table Books und Blogs über einsame Hütten in unberührter

die beantwortet werden muss, ist aber zugleich, wo – und dies

Natur kontinuierlich an und hat sogar einen eigenen Namen

sollte, wenn immer möglich, in den ( zu verdichtenden ) Städten

erhalten: #cabinporn. Damit in Zusammenhang steht die neue

und Agglomerationen passieren – zeitgemässe ( neue ) Rückzugs-

Lust daran, outdoor zu sein. Die Sehnsucht nach einsamen Seen

räume implementiert werden müssten und wie diese zu gestal-

und Stränden zieht die Menschen in immer entlegenere Gegen-

ten sind.

den. Der Tourismus wächst global rasant an und greift mittler-

Rückzug – das wird in vielen Essays in diesem Heft eben-

weile bis in die Antarktis aus. Damit verbunden ist oft eine

falls deutlich – ist nicht gleichbedeutend mit « sich verweigern »

Suche nach Sinn – Pilgerrouten und Yoga Retreats boomen. War im 20. Jahrhundert die häufigste Sehnsucht junger Menschen ein Leben in den aufregenden Metropolen, so scheint

und « ausklinken », sondern häufig vielmehr mit sich reformieren im Sinne von « sich überdenken » und « neu aufstellen ». Insofern könnte dieses Heft ebenso gut Reflexion oder Aufbruch heissen.

der Wunsch nach Ruhe, Abgeschiedenheit und Frieden der grosse Traum des 21. Jahrhunderts zu werden. Man mag relati-

Jørg Himmelreich

vierend einwenden, dass Sehnsüchte nach einer « anderen Welt »

Chefredaktor archithese

die menschliche Kultur seit jeher begleiten. Früher haben sich die Menschen nach grundlegenden Dingen wie einem Dach über dem Kopf, Essen, Frieden oder medizinischer Versorgung gesehnt, heute wünschen sie sich mehr Zeit und einsame Rückzugsorte.


archithese kontext 27. Juni 2019 18.30 Uhr Vitra Design Museum Schaudepot Charles-Eames-Strasse 2 79576 Weil am Rhein

Thomas Kröger

Urbanität und Leere Der Architekt Thomas Kröger aus Berlin ist einer der interessantesten Vordenker einer erfrischend provokativen Gegenposition zum derzeit vorherrschenden Streben nach mehr Urbanität. Seine Hofumbauten, Sanierungen und Neubauten in der Uckermark und in Ostfriesland sollen als temporäre Arbeits- und Freizeiträume Orte der Konzentration und Kontemplation sein. Thomas Kröger stellt in einem Werkvortrag eine Auswahl seiner Entwürfe vor und erläutert, was seine Projekte in urbanen Räumen von jenen in ländlichen Gegenden unterscheidet.

Diese archithese kontext-Veranstaltung ist zugleich die Vernissage von archithese 2.2019 Rückzug und ein Kooperationsprojekt mit dem Vitra Design Museum. Der Eintritt ist frei.

Partner


archithese 2.2019

Retreat More urbanity, community and encounters – there is currently an imperative in architectural discourse to initiate as much togetherness as possible. When densifying cities or planning new districts and individual buildings, whether offices or apartments, there is a constant call for vitality, commonality and interaction. This can arguably be understood first and foremost as a reaction to the negative consequences of the modern separation of functions, to fundamental changes in society or to the disappearance of traditional family structures, because after having lost the extended family, the concept of the nuclear ­family is now also starting to unravel. Hence the number of single households is growing. Our digital lifestyle is also playing a role: more and more often, we place orders on the Internet instead of going to a store, spend time on social media instead of meeting friends and exercise alone at the fitness center instead of playing on the sports field. But not everyone views the correlated tendencies toward social detachment and acceleration positively. An analysis of new books, trends in lifestyle blogs or leisure activities seems to show the exact opposite is in demand: there is a desire to retreat – to find refuge, to decelerate, to be alone and be true to one’s self, to have time to think, reflect or do nothing. Especially in print media and blogs, the number of coffee-table books and photo spreads about secluded cabins amidst unspoiled nature is growing steadily, and this trend even has a moniker of its own: #cabinporn. Related to this is a new desire to be outdoors. The longing for secluded lakes and beaches attracts people to places that are ever more remote. Tourism is growing rapidly worldwide and has now reached as far as Antarctica. This is often coupled with a search for meaning: pilgrimage routes and yoga retreats are booming. Whereas the most common desire of young people in the 20th century was an exciting life in the big city, the craving for tranquility, solitude and peace seems to be the great dream of the 21st century. One might try to put things in perspective by pointing out that longings for a ‘different world’ have always accompanied human culture. In the past, people sought basic things like housing, food, peace, medical care and so on, while today they want time and places to withdraw from it all. Half of all people now live in cities. And by 2050 it is expected to be two thirds of the world’s population, which means that six billion people will live in metropolitan areas. This development sometimes engenders aggressive forms of resistance and opposition. ‘Density stress’, for example, gives rise to hostilities toward immigration or building typologies like the skyscraper. The debate is accompanied by various forms of animosity toward progress and technology. Against this backdrop, the current resistance to the 5G mobile network presumably stems not only from the fear of harmful radiation, but also from a delayed defensive reaction to the stress of being available 24/7 and the omnipresence of the digital. So it should be no surprise that there is an increasing desire to break out of the hamster wheel, be it temporarily or forever. But this just reinforces existing ecological and logistical problems: more mobility leads to even more infrastructure and energy consumption; even more second homes in agricultural areas and natural habitats beget even more urban sprawl. With this issue of archithese, the editors seek to deal seriously with these needs for retreat and to restore their importance within the architectural discourse. The question that must also be answered, however, is where (new) contemporary spaces of retreat would need to be established – whenever ­possible in the cities and agglomerations (expecting densification) – and how these should be designed. Retreat, as many essays in this issue also make clear, is not equivalent to a ‘refusal’ or ‘dropping out’, but often much more synonymous with reforming oneself in the sense of ‘rethinking’ and ‘repositioning’ oneself. In this respect, this issue could also be titled Reflection or Awakening.

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Retraite Plus d’urbanité, de vie communautaire et de rencontres : le discours architectural connaît actuellement l’impératif d’initier aussi souvent que possible la coopération. Que ce soit dans le cadre de la densification des villes, pour de nouveaux quartiers jusqu’aux immeubles pris isolément, ou pour des bureaux et des logements, la demande s’oriente constamment vers la vivacité, la recherche des points communs et l’interaction. Ceci doit probablement se comprendre d’abord comme une réaction face aux conséquences négatives de la séparation des fonctions opérée par les modernes, mais aussi comme une réaction envers les changements fondamentaux de notre société et l’amenuisement des structures familiales fragilisées : après la grande famille, c’est au tour du concept de la famille nucléaire de se décomposer partiellement. Le nombre de ménages constitués d’une seule personne augmente en conséquence. La digitalisation joue aussi un rôle : nous passons commande de plus en plus souvent par internet plutôt que de nous rendre au magasin, nous sommes présents sur les réseaux sociaux plutôt que de rencontrer des amis, nous nous entraînons seuls dans une salle de sport plutôt que de jouer sur le terrain de sport. Pourtant, les tendances à l’isolement social et à l’accélération du train de vie qui en résultent ne sont pas du goût de tout le monde. L’analyse de livres récemment parus, de tendances émanant de blogs d’influenceurs et des comportements de loisirs paraît montrer une demande contraire : désir de se retirer, possibilité de décélérer, d’être seul et d’oser être soi-même, d’avoir du temps pour réfléchir ou pour ne rien faire. C’est tout particulièrement dans la presse écrite et dans des blogs que le nombre de Coffee Table Books traitant de cabanes isolées situées en pleine nature ne fait que gonfler, jusqu’au point de porter un nom : #cabinporn. En rapport avec cela, on associe l’envie nouvelle d’une vie en plein air. La nostalgie de lacs et de plages désertes nous conduit dans des contrées de plus en plus lointaines. Le tourisme se développe globalement de manière fulgurante et étend même ses activités jusque dans l’Antarctique. Tout ceci est souvent lié à une recherche de sens : les routes de pèlerinage et les retraites de yoga font fureur. Alors qu’au 20e siècle, la nostalgie la plus courante des jeunes consistait à vivre dans des métropoles excitantes, il semble que le désir de calme, de repli et de paix est en passe de devenir le grand rêve du 21e siècle. Cela peut toutefois être relativisé car la nostalgie d’un « autre monde » nous accompagne depuis la nuit des temps. Par le passé, les gens étaient à la recherche de choses fondamentales comme le logement, l’alimentation, la paix, l’approvisionnement médical, alors que de nos jours, ils souhaitent trouver des lieux et du temps pour se retirer. La moitié de l’humanité vit aujourd’hui dans des villes. D’ici 2050, ce sera probablement les deux tiers de la population mondiale. Cela signifie que six milliards d’êtres humains seront établis dans des régions à forte concentration urbaine. Ce développement produit ­parfois des formes agressives de rejet et de contre-attaque. À titre d’exemple, l’hostilité envers l’immigration et envers des typologies telles que la maison-tour émane du stress engendré par la densification. Le débat s’accompagne de différentes formes de déni concernant le progrès et la technique. La résistance actuelle à la 5G n’est, de ce point de vue, probablement pas uniquement dictée par la peur de rayonnements nuisibles mais elle témoigne d’une réaction différée de rejet contre le fait, jugé stressant, d’être atteignable en permanence, et contre l’omniprésence du monde digital. Le désir de s’évader temporairement ou à jamais de la roue à hamster germe en nous de plus en plus souvent – qui pourrait s’en étonner ? Nous accentuons ainsi des problèmes économiques et logistiques existants : une mobilité accrue conduit à toujours plus d’infrastructures et de dépenses d’énergie ; un nombre encore plus élevé de résidences secondaires dans les zones agricoles et dans des espaces naturels mène à un mitage encore plus grand du territoire. Avec ce numéro d’archithese, la rédaction tente de prendre au sérieux le besoin de se retirer et de donner à celui-ci un nouveau corps dans le discours architectural. Il convient de répondre conjointement aux questions de savoir où – de préférence dans des villes à densifier et dans des agglomérations – et comment mettre en œuvre de nouveaux lieux contemporains de repli. Le fait de se retirer – ceci apparaît aussi clairement dans plusieurs essais de ce numéro – n’équivaut pas à « se refuser à » ou à « sortir du cadre » mais bien souvent à se « re-former » dans le sens d’une « remise en question » et d’un « repositionnement ». En ce sens, ce numéro pourrait aussi s’intituler Réflexion ou Renouveau.


Ländliche Verheissung Wie der Rückzug zum Aufbruch wird. Auch in der Grossstadt Berlin verschwinden die Freiräume und wird der Wohnraum zunehmend teurer. Der ländliche Raum Ostdeutschlands, der lange mit abwertenden Klischees verbunden wurde, ist dabei zu einem Sehnsuchtsort geworden, der Platz für Selbstverwirklichung und Gemeinschaftsutopien bietet. Die Dynamik dieses Aufbruchs führt aber auch zu einem gesellschaftlichen Wandel der Dörfer. Autorinnen : Eleonore Harmel, Sabeth Kerkhoff, Mathias Burke und Leon Jank Fotos : studio amore


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Über die Onlineplattform Meetup lädt die Gruppe « Stadt, Land, Work » in Berlin in einen Kreuzberger Hinterhof zu einer Veranstaltung ein, an der Visionen für die Zukunft des Landlebens präsentiert werden. Etwa 60 Menschen folgen dem Aufruf. Die meisten sind zwischen 30 und 40 Jahre alt. Die Luft ist sommerlich mild. Ein Flatscreen steht für die Präsentation im Hof, der eingefasst ist von Coworking-Spaces und einem Streichelzoo. Die Anwesenden im Kreuzberger Hinterhof lassen sich mit Mate-Flaschen in den Händen auf den Bänken nieder. Sie diskutieren über die Yuppisierung von Dörfern und Brandenburger Kreativorten. Denn fast alle haben den Wunsch, dem Tumult der Stadt den Rücken zu kehren; für immer oder zumindest fürs Wochenende. Sie wollen lieber im Matsch der Landwege als täglich in der U-Bahn stecken. Sie tauschen sich aus über das moderne Landleben, wie es gelingen und woran es scheitern kann. Die Hoffnung ist spürbar, dass sich das Beste aus beiden Welten – der urbanen und ländlichen – verbinden lässt. In Kreuzberg liegen unterschiedlichste Lebenswelten direkt nebeneinander : das hippe Café neben dem etwas heruntergekommenen « Späti » ( Nachtkiosk ), die vegan-fair pro­ du­zierende Designwerkstatt ist Nachbarin der Eckkneipe und des türkischen Sprach- und Kulturvereins. Aber die Freiräume – sowohl die stadträumlichen Ressourcen als auch die gedanklichen – werden kleiner, nicht nur hier. Was in vielen Städten unter dem Begriff Gentrifizierung schon länger problematisiert wird, ist nicht nur eine Diskussion um verfügbare Flächen fürs Wohnen und Gewerbe, sondern beschreibt auch eine Gefühlslage, ein gesellschaftliches Klima. Der Trubel und die Dichte der Grossstadt gerinnt zur Stickigkeit.

Felder in Berlins Osten so weit das Auge reicht. Der Eindruck, es gäbe reichlich Platz, trügt jedoch. Boden ist umkämpft und die Landpreise steigen. Für Neuzugezogene ist es so fast ummöglich, mit alternativen ( L and- )Wirtschaftsideen durchzustarten, die über die Nutzung der eigenen Immobilie hinausgehen.


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Rückzug nach innen Tom Avermaete sprach mit Jørg Himmelreich über die Notwendigkeit zeitgemässer Rückzugsmöglich­keiten in Metropolen. Weltweit wachsen die Städte und werden immer dichter. Das gefällt nicht allen : In immer mehr Menschen gärt der Wunsch nach Alternativräumen. Tom Avermaete, der seit einigen Monaten an der ETH Zürich ­Geschichte des Städtebaus unterrichtet, rückt bei seiner Reflexion über gute Beispiele aus der Stadtgeschichte insbesondere den Hortus conclusus ins Zentrum.

Jørg Himmelreich  Die Autoren dieser Ausgabe der archithese thematisieren häufig, dass sich immer mehr Menschen von ihrem Alltag überfordert fühlen und – zeitweise oder für immer – die Städte verlassen möchten. Die einsame Hütte am See oder im Wald wird derzeit in den Medien regelrecht zu einem Fetisch stilisiert, der symbolisch für eine wachsende Sehnsucht nach Freiräumen und dem Wunsch nach Entschleunigung steht. Wir als Redaktion versuchen diese Bedürfnisse ernst zu nehmen und herauszulesen, ­welche Defizite in den Städten damit indirekt adressiert werden. Zugleich wollen wir jedoch nicht das « Haus im Grünen » promoten, denn das hiesse ja die fortschreitende ­Zer­siedelung schönzureden und der Zunahme der Zahl von Zweitwohnungen in ländlichen Regionen Vorschub zu leisten. Du hast dich in deiner Forschung und Lehre mit Fragen des Rückzugs im urbanen Kontext auseinandergesetzt. Können wir darin ­Anregungen finden, wie ein Rückzug nach innen (wieder) gestaltet werden kann ?

Tom Avermaete  Es ist sehr wichtig, nennt das « Domus ». Für Lyotard ist dies darüber zu diskutieren. Möglichkeiten ein Ort, der nicht von den Kräften der des Rückzugs müssen und sollten nicht Wirtschaft und Politik dominiert wird, zwangsläufig ausserhalb der Stadt ge- sondern an dem andere Werte, Logiken sucht werden. Im Gegenteil : Wenn wir und Erfahrungen im Mittelpunkt stehen. ihre Geschichte reflektieren, zeigt sich, Er ist mit der Natur verbunden, mit der dass es eine lange Tradition des Schaf- natürlichen Ordnung, und wird von fens von Rückzugsräumen – kleinen und einem natürlichen Rhythmus getrieben, grossen, gewöhnlichen und ausserge- der alles bestimmt. Andererseits betont wöhnlichen – innerhalb des Stadtge­füges Lyotard aber auch, dass es sich dabei gibt. Man kann von ihnen einiges für die nicht um einen realen Ort handelt, sonGestaltung der zeitgenössischen Stadt dern um ein Wunschbild, das den Defizilernen. ten und Fantasien der Städter entsprunIch möchte aber einen anderen, gen sei. Deshalb sind für ihn Stadt und weiter gefassten Begriff an den Anfang Domus unmittelbar mit­ einander verunseres Gesprächs stellen. Wir sollten knüpft. Er argumentiert dafür, dieses nicht – oder zumindest nicht nur – über Bedürfnis der Menschen ernst zu nehdas Bedürfnis nach Rückzug sprechen, men. Jedoch folgert er daraus nicht, dass sondern, allgemeiner gesagt, über das wir alle in frei stehende Häuser in der Bedürfnis nach dem « Anderen ». Es gab « Natur zurückkehren » sollten, sondern in den Städten schon immer Sehnsüchte plädiert für die Schaffung von Rückzugsnach alternativen Realitäten, nach dem oder Zufluchtsorten in der Stadt, die dieNicht-Standardisierten und nach ande- ses Bedürfnis – so gut es geht – erfüllen ren Zeitlichkeiten. Ich möchte hier auf können. Dem stimme ich zu. Jean-François Lyotards Essay « Domus und Megalopolis » aus dem Jahr 1988 1 Jean-François Lyotard, « Domus und ­verweisen.1 Der französische Philosoph Megalopolis », in  : Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 2001. schreibt darin, dass es ein ständiges Verlangen nach anderen Bedingungen gibt, wenn man im urbanen Raum lebt. Er


Oben  Picnic Allée, Paris, 2000 ( Foto: Massimo Vitali ) Unten  Philippe Rahm architectes /  Ricky Liu & Associates / mosbach paysagistes, Jade Eco Park, Taichung, seit 2019 ( Foto : © Philippe Rahm architectes )


Der ruinĂśse Bestand der Casa Mosogno wird mit einem neuen Blechdach vor dem weiteren Zerfall geschĂźtzt.


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Schutz und Überschreitung Die Casa Mosogno im Tessiner Onsernonetal von Buchner Bründler Architekten Über zehn Jahre begleiteten die Architekten ihre Bauherrschaft, bis die Casa Mosogno im Onsernonetal als Rückzugsort bewohnbar wurde. Zugespitzt formuliert besteht das Programm aus der Sicherung einer Ruine und der Schaffung eines winterfesten « Schutzraums ». Zwischen diesen Polen entfaltet sich eine rituelle Gegenwelt zum Alltäglichen – eingenistet in die marode Bausubstanz eines urtümlichen Weilers; mit spek­ takulären Eingriffen, die mehr rückbauen als hinzufügen. Autor : Steffen Hägele Fotos aussen  © Buchner Bründler Architekten Fotos innen : Georg Aerni

Morphologisch oder phänomenologisch ? Im Fall der Casa Mosogno im Onsernonetal ist es unmöglich, einer Betrachtungsweise den Vorzug zu geben. Zu klein ist das von Buchner Bründler Architekten zum Wochenendhaus und Rückzugsort umgebaute Gehöft im Kontext des Strukturwandels sowie der gelebten Kraftfelder der Bewohner über den Gotthard hinweg und darüber hinaus. Zu gross wiederum erscheinen seine räumliche Ambition und strukturelle Wucht, als dass diese ausschliesslich auf das schroffe Tal oder gar den Bestand zurückzuführen sind. Die Casa Mosogno ist nicht einfach nur ein Haus. Versinnbildlicht wird dies unmittelbar von den scharfen Konturen des industriell anmutenden Satteldachs aus dunklem Blech, welches auf das alte Gemäuer aufgelegt wurde. Herrschaftlich steht das Gehöft, bestehend aus Hauptbau mit Annex und einem zurückversetzten frei stehenden Nebengebäude an der Geländekante eines steilen Südhangs, der sich hier in das enge, aber dank seiner Ausrichtung sonnenverwöhnte Tal vorschiebt. Unterhalb fällt das dicht bewaldete Gelände abrupt zum Gebirgsbach Isorno ab, dessen Rauschen im Tal allgegenwärtig ist. Oberhalb der Casa hingegen verläuft der Hang etwas flacher. Von einem Plateau zu sprechen, wäre aber vermessen. Und doch bündelte sich auf dieser Fläche die vormalig rurale Lebensgrundlage der Hofbewohner sowie des eng gedrängten Dorfteils Mosogno Sotto.

Auf der dem Dorf zugewandten Nordseite wirkt die Casa Mosogno auch nach dem Umbau hermetisch. Wie bei einer Festung tritt man durch zwei alte Tore zwischen die rechtwinklig zueinanderstehenden, gedrungenen Gebäudeteile und erreicht einen verschwenderisch grosszügigen Hof. Die hier neu angelegte Terrasse gibt den Blick frei auf die dicht bewaldete Wildnis des Tals. Der ruinöse Charakter der additiven Bauten findet eine Entsprechung in den wenigen sichtbaren Eingriffen : Zu erkennen sind ein hinzugefügtes zweites Blechdach, eine aufgesetzte Betonkuppel und rohe Stabilisierungsanker in der Fassade. Umso mehr fallen am Hauptbau die teils drastischen Spuren des Verfalls sowie Narben von abgebrochenen Gebäudeteilen auf : von fehlenden Decken unterbrochene Putzflächen vormaliger Zimmer, abgesägte Balkenköpfe, eine frei stehende Mauer mit Durchgangstor als Fragment eines Treppenhauses. Gleichsam wirkt die aneinandergefügte Kubatur vertraut : Wie die Sakristei einer Basilika lehnt sich der Kuppelbau an das lang gestreckte Haupthaus. Die intensive sinnliche Wahrnehmung der Umgebung und die Präsenz des Verfalls setzen sich im Inneren fort : Vom Hof steigt man entweder über eine niedrige Treppe hinauf in einen schummrig-behaglichen Holzraum. Dieser neu gebaute Schlaf- und Schutzraum mit Küche ist der einzige winterfeste Bereich. Oder man wählt eine der knarrenden Holztüren und betritt den Hauptbau. Hier stockt der Atem : Statt in einem gedrungenen Raum – wie aufgrund der Fensteranordnung zu erwarten wäre –, findet man sich in einer mehr als acht Meter hohen, zugigen Halle wieder. Die Stirnseiten am Giebel sind offen. Wind und Wetter treiben das Laub herein.


Das Haus am Deich in Ostfriesland ( 2017  ) von Thomas Kröger Architekten für eine kleine Familie wurde aus der lokalen Bauernhaustypologie der sogenannten Gulfhäuser entwickelt. ( Fotos : Jan Steenblock ) in Leserichtung Grundrisse Erd-, erstes und zweites Obergeschoss, Schnitt A und Lageplan

A


Erweiterte Sphären Thomas Kröger sprach mit Jørg Himmelreich und Julian Bruns über seine Projekte – mit einem Fokus auf Rückzugsräume und Referenzen. Thomas Kröger hat sich mit An-, Um- und Neubauten in der brandenburgischen Uckermark und Häusern in anderen ländlichen Gegenden Deutschlands einen Namen gemacht. Er beobachtet dabei den Trend, dass es immer mehr Städter regelmässig aufs Land zieht. Mit seinen Projekten reflektiert er lokale Kontexte und lässt zugleich Reiseerlebnisse und Eindrücke aus seiner Kindheit in die Projekte einfliessen.

Jørg Himmelreich  Wenn du die Lebensweise

Neue Landliebe

deiner Eltern reflektierst : Haben sie

Julian Bruns  Zum Studieren hat es dich dann

das ­Bedürfnis gehabt, sich zurückzuziehen ?

aber in die Grossstadt London gezogen.

Und falls ja, wie und wohin ?

Thomas Kröger  Meine Eltern haben die Nähe zur Natur gesucht und sind daher relativ jung von der Stadt aufs Land gezogen. Ein weiterer Grund für diesen Schritt war, dass sie grosse Lust hatten, ein eigenes Haus zu bauen. Wir haben am Rand eines kleinen Ortes zwischen Göttingen und Kassel gewohnt. Die Landschaft ist dort recht hügelig und kleinteilig. Da unser Haus unmittelbar an einem grossen Wald lag, bin ich automatisch naturverbunden aufgewachsen. JH  Es war typisch für die Generation unserer Eltern in den 1970er-Jahren, aus den Städten wegzuziehen und sich Häuser an den Stadt­ rändern errichten zu lassen. Auch wenn es derzeit eine Renaissance des Wohnens in der Stadt gibt, ist das Haus am Stadtrand ein halbes Jahrhundert später noch immer die beliebteste Wohnform.

Letztlich war das auch kein echter Rückzug. Meine Eltern sind eigentlich immer Städter geblieben und täglich zur Arbeit gependelt. Es war mehr die Lust, etwas Neues auszuprobieren, die sie zu diesem Schritt bewogen hat. Unser eigentlicher Rückzugsort war unser Boot. Segeln ist die grosse Leidenschaft meiner Eltern. In den Schulferien waren wir oft mehrere Wochen auf dem Meer unterwegs. Ein Segelschiff ist ein besonderer Ort. Man lebt auf sehr engem Raum zusammen und hat gleichzeitig das intensive Erlebnis von absoluter Weite und geniesst die Freiheit, sich bewegen zu können, wohin man mag. Meine Architektur ist heute ein Stück weit von der Faszination für die wunderschönen, kompakten und multifunktionalen Ausbauten geprägt, die beim Schiffsbau notwendig sind.

Zunächst habe ich an der TU Braunschweig Architektur studiert; dann war ich drei Jahre in London. Ich bin dort relativ unvorbereitet hin. Weil ich ein DAAD-Stipendium in Aussicht hatte, ging ich mir die Schulen vor Ort anschauen. An der Bartlett University traf ich auf Peter Cook, den damaligen Direktor. Er wollte mich direkt als Student dabehalten, doch ich habe erwidert, dass ich zuerst Geld verdienen möchte – am liebsten bei Cedric Price. Cook schmunzelte und gab mir zu verstehen, Price habe keine Projekte. Stattdessen hat er mir die Adresse von Norman Foster gegeben. Für ihn habe ich dann tatsächlich zwölf Monate lang gearbeitet. Gewohnt habe ich direkt gegenüber seines Büros im Chelsea Harbour, auf einem Hausboot an der Battersea Bridge. Ich hatte in dem kleinen Hafen einfach an jedes Boot geklopft. Sehr nette Leute luden mich dann zum Abendessen ein. Weil ich ihnen sympathisch war, durfte ich das freie Nachbarboot beziehen, das ihnen ebenfalls gehörte. An diesem speziellen, wunderbaren Ort auf der Themse habe ich dann ein Jahr lang gelebt.


Vorschau Chile September 2019 Chile bedeutet in der Sprache der Aymara « am Ende der Welt ». Das hat sich geändert, jedenfalls auf der architektonischen Landkarte.

Der Kreis Dezember 2019 In vormoderner Zeit eine beliebte Grundfigur für Bauwerke, hat der Kreis in der Architektur ein schlechtes Renommee. archithese zeigt auf, dass diese starke Geometrie jedoch derzeit ein Revival erlebt, und spekuliert über Ursachen.

Swiss Performance 2020 März 2020 Im « inoffiziellen Jahrbuch der Schweizer Architektur » versammelt die Redaktion wieder die besten Neubauten der vergangenen zwölf Monate.

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