Wohnbauprogramme – Programmes d’habitation
archithese Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur Revue thématique d’architecture
4.2003 Wohnwelten, Denkwelten Siedlungsbau in den Niederlanden – eine Standortbestimmung und vier Beispiele Wohnungsbau in Deutschland Wiener Massenwohnungsbau im Aufbruch Wohnungsbau als pädagogisches Instrument Staatliche Eingriffe in den Wohnungsmarkt – soll der Staat intervenieren, und wenn ja, wie? Kommunale Wohnungspolitik und Globalisierung Ieoh M. Pei Deutsches Historisches Museum, Berlin Herzog & de Meuron Schaulager, Basel
archithese 4.2003
Juli/August
Wohnbauprogramme Programmes d’habitation
Leserdienst 104
mit
EDITORIAL
Wohnbauprogramme Wohnbauprogramme hatten in den letzten 200 Jahren stets eine politische Dimension. So formal unterschiedlich sie ausfallen mochten, und so gegensätzliche und soziale ökonomische Ideale ihnen zugrunde lagen: Vielen Entwürfen war das Ziel gemeinsam, dem Menschen eine «richtige» Wohnform nahezulegen, um durch dieses Mittel seine Lebensweise zu beeinflussen. Sozialreformer, Politiker, philanthropische Gesellschaften, paternalistische Fabrikherren, avantgardistische Architekten, Wohnbaugenossenschaften, Spekulanten und gemeinnützige Stiftungen prägten mit ihren Wohnbauprogrammen auch Wertvorstellungen. Heute gerät dieses ideelle Engagement an seine Grenzen. Das weitgehend akzeptierte Leitbild der Kleinfamilie – und die entsprechende Wohnform in der funktionalistischen, bürgerlichen Familienwohnung – werden mehr denn je in Frage gestellt. Mobilität und Globalisierung, gewandelte Familien- und Arbeitsstrukturen, veränderte Auffassungen von Öffentlichkeit und Privatsphäre stellen Bauträger und Architekten vor neue Probleme. Flexiblen Lebensmodellen, einer Vielzahl differenzierter Bedürfnisse kann nicht eine einzige räumliche Lösung entsprechen. Auch das ehemals eindeutige, wohldefinierte Bild der Bewohner löst sich auf: Aus den Familienmenschen werden Konsumenten, Migranten, Singles, Nomaden, Alleinerziehende . . . Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, wie der statische Charakter des Wohnens mit der Möglichkeit eines steten Wandels zu vereinbaren sei. Die angebotenen architektonischen Lösungen sind unterschiedlich: undeterminierte, rohbauartige Raumfolgen stehen spezifizierten Individualwohnungen gegenüber, konsumorientierte Lebensabschnitts-Fertighäuser kontrastieren mit gemeinschaftsorientierten Siedlungen mit drakonisch geregeltem Alltag. Bei näherem Hinsehen fällt jedoch auf, dass echte typologische Neuerungen eher selten sind – bis auf einige erfreuliche Ausnahmen. Unsicherheit herrscht auch über die Rolle der öffentlichen Hand. Sinn oder Unsinn staatlicher Interventionen in den Wohnungsmarkt werden heftig diskutiert. Ein Argument besagt, dass Instrumente wie Darlehen, Landabgaben, Subventionen, etc. den Wohnungsmangel letztlich verschärften; Regelwerke dagegen, die reibungslosere Marktabläufe ermöglichen, würden langfristig zur Entspannung der Situation beitragen. Solchen Liberalisierungsversuchen stehen die Anliegen von immer zahlreicheren ökonomisch Benachteiligten gegenüber, die auf sofortige Hilfe angewiesen sind. Doch selbst in sozial engagierten Kreisen herrscht keine Einigkeit darüber, wie diese zu erfolgen hätte. In der Schweiz wurde kürzlich eine Umstellung von der Objekthilfe (die Unterstützung gemeinnütziger und günstiger Wohnbauten) auf die Subjekthilfe (Direktzahlungen an Bedürftige) in Erwägung gezogen – und verworfen. Angesichts des knappen Budgets reduziert der Bund die für die Wohnbauförderung bestimmten Mittel ohnehin laufend; eine Haltung, die auch in anderen Staaten zu beobachten ist. Zusätzlich zu all diesen Fragen sieht sich Zürich auch noch mit dem Problem konfrontiert, dass Familien und gute Steuerzahler die Stadt verlassen, weil sie keine angemessene Wohnung finden; um das drohende finanzielle und soziale Debakel zu vermeiden, wurde ein Programm lanciert, das den Bau grosser Wohnungen erleichtern soll – auch dies ein neues Phänomen unter vielen. Redaktion
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Steven Holl: Entwurf für das Wohngebiet Toolenburg-Zuid der Gemeinde Haarlemmermeer
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Wohnungsbau in Deutschland – ein Aperçu Konventionell und teuer: Eine Betrachtung der Wohnungen, die derzeit in Deutschland erstellt werden, fällt ernüchternd aus. Kurzfristiges Profitdenken, Ignoranz und mangelnder Idealismus führen häufig zu überteuerten Luxusobjekten und vermeintlich originellen Raumkonstellationen, die sich kaum noch als Wohnungen für Normalsterbliche eignen. Dennoch gibt es löbliche Ausnahmen – etwa, wenn sich die Architektur vom Diktat des Investorendenkens zu befreien vermag, oder wenn ökologische Prioritäten innovative Grundrisslösungen zur Folge haben.
DIE HELDEN SIND MÜDE Text: Falk Jaeger «Wohnhäuser? Kein Thema mehr», so hört man deutsche Ar-
Dabei gab es schon einmal andere Zeiten, als die Architekten in den Siebzigerjahren sich liebevoll um die Bewohner
chitekten klagen. Die Szenerie ist gespenstisch. Die ostdeut-
sorgten und versuchten, die Monotonie von Wohnblocks und
schen Städte leeren sich noch immer. Nicht nur ungeliebte
Punkthochhäusern zu überwinden. «High density – low rise»
Plattenbauten wandern auf die Abraumhalde, sogar der sonst
war das Credo, Bodennähe, Freiraumangebot und kommuni-
so beliebte Altbau von der Gründerzeit bis zum Ersten Welt-
kative Begegnungsräume lösten den normierten Stapelgrund-
krieg findet vielerorts keine Interessenten mehr. Auch viele
riss ab; die Architekten entwickelten komplexere Strukturen
Städte im Westen verzeichnen eine dramatisch gesunkene
mit dem Ziel, die Lebensqualität der Bewohner und deren
Nachfrage. Der soziale Wohnungsbau ist faktisch zum Erlie-
soziale Kontakte zu verbessern. Eine Vielzahl neuer Wohn-
gen gekommen, die Finanznot der öffentlichen Hand und die
typen wurde ausgedacht, vom «verdichteten Flachbau» bis
Rufe nach einem Abbau von Subventionen zeigen Wirkung.
zum Hügelhaus, und in Zusammenwirken mit engagierten
2002 sind in Deutschland nur noch 253 700 Wohnungen er-
Planungsbehörden und Baugesellschaften realisiert. Heute
richtet worden gegenüber 600 000 im Jahr 1995. Im europäi-
sind die Bauherren «Projektentwickler», die nicht eigentlich
schen Vergleich ist man mit 3,1 neu erstellten Wohnungen pro
Projekte entwickeln wollen, sondern Geschäfte. Alles, was
1000 Einwohnern vom zweiten (1996) auf den drittletzten
die Bauten strukturell, organisatorisch und betriebstechnisch
Platz zurückgefallen.
1 Luxus läuft noch: Auf den effektvollen Namen Classicon hört das Büro- und Geschäftshaus am Leipziger Platz in Berlin. In den vier Obergeschossen hat Christoph Langhof Wohnungen für den gehobenen Bedarf realisiert
verkompliziert, insbesondere Gemeinschaftsflächen und -anlagen, erschwert die Vermarktung. Hinzu kommt, dass das
Ökonomische und räumliche Zwänge
zahlungskräftige Publikum an einer kommunikativen Wohn-
Zwei Tendenzen ergeben sich zwangsläufig aus dieser Si-
umgebung in der Regel wenig Interesse zeigt.
tuation: Mietwohnungsbau wird nur noch frei finanziert und
Die Wohnungstypen selbst sind mehr und mehr von den
muss sich auf dem Markt behaupten, wobei mangelnde Sub-
örtlichen Situationen abhängig. Immer seltener ergeben sich
ventionen zu teuren, Marktmechanismen zu möglichst extra-
freie Gestaltungsmöglichkeiten. Die Verwertung von Rest-
vaganten Wohnungen führen. Der Bau von Eigentumswoh-
grundstücken, das Einpassen in gegebene städtebauliche
nungen verlagert sich ebenfalls in den Hochpreissektor. Die
und architektonische Zusammenhänge sind eher die Regel,
Gründe sind dieselben; zudem werden die unteren und mitt-
selbst wenn dies nicht unmittelbar ins Auge fällt. So etwa bei
leren Preislagen durch zahlreiche ehemalige Sozialwohnun-
den beiden Zwillingshäusern in Berlin-Zehlendorf mit zusam-
gen abgedeckt, die als Eigentumswohnungen auf den Markt
men acht Wohnungen, die die Architekten Maedebach und
kommen, weil ihre Sozialbindung ausgelaufen ist.
Redeleit entwarfen. Die Form der Häuser ergab sich fast auto-
Grimmige Investoren sind am Werk, Fondsmanager, Stif-
matisch aus den notwendigen Abstandsflächen, das Oberge-
tungsdirektoren, Anlagedompteure, und die sind im Ge-
schoss aus der Staffelgeschossregel der örtlichen Bauvor-
schosswohnungsbau keine Experten – schliesslich bewohnen
schriften. Die Grundrisse sortieren sich in die so entstande-
sie ihre Villen im Grunewald, in Kronberg/Taunus oder in Grün-
nen Baukörper. Ein weisser Kubus bildet jeweils den Korpus
wald im Isartal. Für sie zählt ausschliesslich die profitable
des Hauses und birgt die Wohnräume. An der Westseite ist
Vermarktung. Aktuelle Miet- und Eigentumswohnungen sind
ein Bauteil aus Backstein angefügt, darin die «dienenden
gebaute Verkaufsargumente.
Räume»: Treppenhaus, Bäder, Küchen. Hervorstechendes
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Innovation im Bau von Massenwohnungen Am Beginn eines neuen Jahrtausends stellt sich die Frage nach dem «richtigen Wohnen» mit neuer Vehemenz. Das klassische Experimentierfeld zur Entwicklung architektonisch-räumlicher und typlogischer Visionen war immer das Einfamilienhaus respektive die Villa. Dies gilt natürlich auch für die Gegenwart. Dennoch findet man heute avancierte Ansätze auch im Wohnungsbau, der für eine breite Schicht konzipiert ist. Ein Blick auf die jüngste Entwicklung in Wien.
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1 Delugan_Meissl: Wohnbau am Paltramplatz Für den geförderten Wohnungsbau untypische Extras: die Wintergartenboxen, die Gemeinschaftssauna sowie hochwertige Materialien (Foto: Margherita Spiluttini) A
Ansicht
B – E Grundrisse Dachgeschoss, 5. Obergeschoss, 2. Obergeschoss, Erdgeschoss, 1 : 400
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Text: Margit Ulama
nicht nur relativiert, sondern sogar in Abrede gestellt. Wirkli-
Sozialer Wohnungsbau bedeutet in Österreich und insbe-
che architektonische Qualität muss wahrgenommen und ge-
sondere in Wien, dass diese Wohnbauten öffentliche Förder-
lebt werden, und dies ist für eine breite Schicht nicht selbst-
gelder erhalten, um die Kosten für eine sozial schwächere
verständlich. Bei noch nicht realisierten Bauten ist die Ver-
Klientel zu senken. Voraussetzung für diese Förderungen ist –
mittlung der Architektur über Pläne und Bilder, so anschaulich
innerhalb eines komplexen Systems – die Einhaltung eines
diese auch sein mögen, ein Problem.
begrenzten Baukostenrahmens. Aber auch die Gesetzgebung
Der Impetus für die Entwicklung in Wien geht unter ande-
hinsichtlich dessen, was baulich-architektonisch bei geför-
rem von Architekten aus, die nach besonderen Lösungen su-
derten Bauten erlaubt ist, spielt eine Rolle.
chen. Hinzu kommen das Engagement und die Strukturreform
Es mag schwierig sein, unter diesen sehr kurz und allge-
von politischer Seite. Mitte der Neunzigerjahre wurden soge-
mein formulierten Voraussetzungen wirklich auch anspruchs-
nannte «Bauträgerwettbewerbe» eingeführt, so dass Grund-
volle Konzepte zu realisieren; dennoch entstand in Wien in
stücke der Stadt Wien über dieses Wettbewerbsverfahren, an
jüngster Zeit eine Vielzahl von ambitionierten, geförderten
denen Architekten gemeinsam mit einem Bauträger teil-
Wohnbauten.
nehmen, vergeben werden. Parallel dazu wurde ein «Grund-
Diese Entwicklung wirft Fragen auf. Erzeugt der allgemeine Architekturboom einen solchen Sog, dass davon der
stücksbeirat» eingerichtet, der all jene Projekte genehmigen muss, die Wohnbauförderung erhalten.
Wohnungsbau allgemein erfasst wird? Oder liegt der Grund
So heftig das System der Bauträgerwettbewerbe in den
in der Wohlstandsnachfrage eines gesättigten Marktes, die
letzten Jahren auch diskutiert wurde, es bildet gemeinsam
höhere Ansprüche der potenziellen Mieter mit sich bringt?
mit dem «Grundstücksbeirat» eine entscheidende Rahmen-
Wie agieren heute Architekten, Politiker, Investoren und Bau-
bedingung für die Hebung der architektonischen Qualität.
träger, und wie verhält sich die Klientel, für die die Bauten
Das Engagement einzelner Bauträger, die heute ungewöhnli-
letztlich realisiert werden? Die Situation ist ambivalent, und bis zu einem gewissen
che Wohnbauten errichten, ist möglicherweise ein Resultat dieser Entwicklung.
Grad stimmt die These der Wohlstandsnachfrage. Zugleich bedeutet diese nicht unbedingt ein gestiegenes architektoni-
Neue Tendenzen im Wohnungsbau
sches Bewusstsein und Verständnis der Mieter. Von Unter-
Wovon ist nun aber im architektonischen Sinn die Rede? Vor-
nehmerseite wird die Annahme, architektonische Qualität
gestellt werden hier geförderte Wohnbauprojekte einer jün-
führe unmittelbar zu einem besseren Absatz der Wohnungen,
geren Architektengeneration in Wien, von Delugan_Meissl,
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WOHNUNGSBAU FÜR WEN? Architektur als pädagogisches Instrument Zu jedem Wohnmodell ein Menschenbild: Die Idee, der Mensch könne durch die Archi-
Geschmack und die haushälterischen Fähigkeiten, sondern auch die «geistige Gesundheit» und die weiblichen Instinkte der Hausfrau an ihrem Heim gemessen.1 Was sich seit den
tektur seiner Behausung gezielt beeinflusst werden, liess diese zum bevorzugten Erziehungsmittel für Reformer jeglicher Couleur
Sechzigerjahren allmählich ändert, ist lediglich der Rahmen, den man persönlichen Variationen zugesteht. Lange hatten
werden. Als Leitbild setzte sich die Familienwohnung durch: Bald
diese in den Grenzen der bürgerlichen Lebensweise stattzu-
galt sie als Mittel, der Arbeiterschaft bürgerliche Werte nahezu-
finden – und, räumlich gesehen, in der Familienwohnung.
bringen, bald als Möglichkeit für dieselben Arbeiter, ein eigenes Selbstverständnis zu entwickeln. Doch selbst Villen waren vor ästheti-
Dass heute unterschiedliche Wohn- und Lebensformen als legitim gelten, ist selbst in liberalen westlichen Ländern ein relativ neues Phänomen.
schem Missionarismus nicht sicher. Heute scheint dieser erzieheriEbenso tief verwurzelt ist der Gedanke, dass nicht nur die
sche Anspruch einer pragmatischen Erfüllung marktgerechter
Bewohner ihre Behausung beeinflussen, sondern dass sie
Bedürfnisse zu weichen; dennoch sind auch weiterhin pädagogische
umgekehrt auch von dieser beeinflusst würden. Die daraus
Ansätze erkennbar.
folgende Idee, Menschen mittels der Architektur ihrer Wohnung zu erziehen, prägt unübersehbar die jüngere Geschichte
Text: Judit Solt
des europäischen Wohnungsbaus.2 Feurige Manifeste und
Wohnzeitschriften haben Hochkonjunktur; Beiträge, die Ein-
empörte Klagen zeugen von der breiten Palette der teils offen
blick in die Wohnsituation mehr oder minder prominenter
deklarierten, teils impliziten Manipulationsversuche. Die Be-
Zeitgenossen gewähren, zählen zu den beliebtesten Rubriken
weggründe der diversen Bauträger, Architekten und Planer,
seriöser Magazine und bunter Klatsch-Publikationen. Dieses
die Menschheit nach ihrem Gusto zu verbessern, umfassen
anhaltende Interesse für fremde Wohnräume lässt sich nicht
politisches Kalkül, wirtschaftliche Interessen, künstlerisches
allein mit der Inspirationssuche für die Gestaltung des eige-
Sendungsbewusstsein, philanthropischen Idealismus – und
nen Heimes erklären. Mit der Wohnung werden auch die
nicht selten eine abenteuerliche Mischung aus alldem. Dem-
Menschen begutachtet, die in ihr leben: Über deren Eigen-
entsprechend bilden auch die Menschen, deren Erziehung
tümlichkeiten sollen Grösse, Form und Einrichtung des Inte-
zum Ziel gesteckt wurde, keine homogene Gruppe: Adolf
rieurs Auskunft erteilen. Dies impliziert eine Interpretation der Privaträume als in-
Loos’ Fabel Von einem armen reichen Mann und die Berichte über Mies van der Rohes Überwachung seiner Bauherren be-
dividuellen Ausdruck ihrer Bewohner. Dem tut auch die Tat-
legen, dass nicht nur jene pädagogischen Bemühungen aus-
sache keinen Abbruch, dass innerhalb einzelner Lifestyle-
gesetzt waren, die es sich nicht anders leisten konnten.
Gruppen nicht nur der Kleidungsstil, sondern auch die Woh-
Hinsichtlich dieses erzieherischen Anspruchs scheint sich
nungen verdächtig uniform sind: Schliesslich ist man in
eine Veränderung anzukündigen, die unter anderem an der
westlichen Gesellschaften frei, sich zur einen oder anderen
Neubewertung der Familienwohnung erkennbar ist. Diese er-
«Szene» zu schlagen. Wie die Kleidung kann auch die Woh-
weist sich heute mit ihren kleinen, monofunktionalen Räumen
nung einer bis ins Theatralische gesteigerten privaten Selbst-
bekanntlich als wenig adäquat, veränderte Familien- und Ar-
darstellung dienen. Was jedoch den Einblick in eine fremde
beitsstrukturen aufzunehmen. Eine Wohnform, die sich als
Wohnung so unwiderstehlich macht, ist mit der Anziehungs-
neues Leitbild durchsetzen könnte, ist jedoch nicht in Sicht,
kraft einer Theateraufführung kaum vergleichbar. Ein Teil der
ebenso wenig wie eine allgemein akzeptierte Vorstellung
besonderen Faszination mag sicher darin liegen, dass die
über eine richtige Lebensweise, wie sie das bürger-
Wohnung die Kulisse eines verbotenen, weil ursprünglich
liche Familienmodell lange geliefert hatte. Der politische, so-
nicht für Aussenstehende bestimmten Spektakels darstellt.
ziale oder künstlerische Idealismus, Grundlage vieler früherer
Der wahre voyeuristische Reiz gründet indes in der still-
Wohnbauprogramme, weicht oft einer pragmatischeren Hal-
schweigenden Annahme, dass diese Selbstdarstellung bis zu
tung. Etwas holzschnittartig gesagt: Es geht heute weniger
einem gewissen Grad unwillkürlich und daher unverfälscht
darum, den Menschen durch seine Wohnung neu zu formen,
sei: Zu Hause manifestiert sich die «wahre» Natur
als vielmehr um eine effiziente Bedienung des Wohnungs-
eines jeden.
marktes. Natürlich muss diese Aussage sogleich relativiert werden.
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Pädagogisches Feuer, liberaler Pragmatismus
Auch heute gibt es Wohnbauprogramme, die darauf abzielen,
Das Verständnis der Wohnung als architektonischer Finger-
bestimmte Verhaltensweisen zu fördern und andere zu unter-
abdruck hat Tradition: Jahrzehntelang wurden nicht nur der
binden; auch heute wird versucht, mittels Wohnbaupolitik
1 Vom Werkswohnungsbau des 19. Jahrhunderts über das Neue Bauen bis hin zu Genossenschaftssiedlungen – das Kleinhaus nach dem Vorbild der bürgerlichen Villa wurde in verschiedenen Variationen verwirklicht. Grundrisse 1 : 200 im Vergleich
1
A Aktienbauverein Zürich: Grundrisse eines Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in ZürichHottingen gebauten Hauses. Nach dem Vorbild der Cité ouvrière in Mulhouse sind vier Wohnungen kreuzweise angeordnet, um auf einer minimalen Grundfläche (ca. 13,4 auf 11 Meter) möglichst unabhängige Einheiten zu verwirklichen.
B Margarete Schütte-Lihotzky: zwei Häuser für die Werkbundsiedlung, Wien, 1930 – 32. Die quadratische Grundfläche hat eine Seitenlänge von 6 Metern, die Formensprache ist dezidiert modern. Grundrisse und Ansicht
C Baugenossenschaft Kleeweid: Überbauung Leimbach-Tuschgenweg, Zürich, 1949. Die Raumanordnung ist pragmatisch, die Formensprache eher konservativ. Grundrisse und Ansicht
A
B
C
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de) reichten damals die Kommentare, bis
ARCHITEKTUR AKTUELL
schliesslich die «Vereinigung für die Renovierung
«Bescheiden im Massstab, monumental in der Wirkung»
des Louvre» gegründet wurde, deren Ziel es war, das Projekt zu verhindern. Selbst als ein Modell in Originalgrösse in der Mitte des Cour Napoléon aufgebaut wurde, konnten sich die erhitzten Gemüter kaum beruhigen. Dass ein Chinese aus New York in ihr Allerheiligstes eindringen sollte, war nicht nur für die lokalen Architekten ein harter Brocken. Der Streit um die Erweiterung des Louvre hat sich zwar an der äusseren Form der Pyramide entzündet, im Grun-
IEOH MING PEI NEUBAU FÜR DAS DEUTSCHE HISTORISCHE MUSEUM
de ging es jedoch um die Frage, wie und nach wel-
BERLIN, 2003
chen Prämissen ein modernes Museum geführt 1 A B C D
A D
Lageplan Neubau Wechselausstellungsgebäude Neue Wache Zeughaus Palais am Festungs graben
2 Modell des Erweiterungsbaues
B
3 Blick vom gläsernen Treppenhaus auf die Fassade des Schlüterbaus (Foto 3 + 4: Ulrich Schwarz) C
werden sollte – und wie es auf das veränderte Konsum- und Freizeitverhalten einer immer kunstinteressierteren Massengesellschaft reagieren könnte. Diese Debatte scheint mittlerweile aus dem letzten Jahrhundert zu stammen: Museen sind längst fester Bestandteil der Tourismusbranche, und je mehr Menschen hineingehen, desto besser das Museum. Ganz anders als in Paris waren die Reaktionen in Berlin: Bei der Eröffnung des Deutschen Historischen Museums hinterfragte kaum jemand die Entscheidung, den Auftrag für den Bau dieses öffentlichen Gebäudes ohne Wettbewerb zu ver-
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geben. Zu gross ist der Erfolg des schmächtigen, seit 68 Jahren in Amerika lebenden Chinesen. Mit über zwölf gebauten Museen auf drei Kontinenten, sowie mit drei weiteren, die der 86-jährige in Planung hat, ist er der ungekrönte Star unter den Museumsarchitekten. Ein Star ohne Allüren: Der stets freundliche Pei nimmt trotz seines Erfolgs und seines hohen Alters jeden für sich ein – eine Haltung, die aus der Mode gekommen zu sein scheint. So ist es auch mit seinen Museen: Pei vermittelt, dass er für den Besucher baut. Seine Räume stimmen einen heiter, zeugen vom souveränen Umgang mit Geometrien, mit primärgeometrischen Formen, spiegeln den Ort wider, an welchem sie stehen,
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lassen den Besucher zum Flaneur zwischen Kunst
Berlin ist um eine architektonische Attraktion
sche Historische Museum (DHM) wurde nach sie-
und Architektur werden – eine promenade archi-
reicher. I. M. Peis Anbau an das ehemalige
benjähriger Bau- und Planungszeit eingeweiht.
tecturale par excellence.
Zeughaus von Andreas Schlüter, der künftig
Und ebenso wie in Frankreich erhielt der Architekt
die Wechselausstellungen des Deutschen
einen Direktauftrag vom höchsten Politiker; da-
«between the two Schinkels»
Historischen Museums beherbergen wird,
mals war es François Mitterrand, diesmal dessen
Ebenso wie der Grand Louvre war auch das Berli-
zeugt von der Virtuosität des Altmeisters im
Freund Helmut Kohl. Mit seiner zielstrebigen –
ner Gebäude von einer komplizierten historischen
Spiel mit geometrischen Formen, platoni-
oder besser: undemokratischen – Vorgehensweise
Situation, einer langwierigen Planungsgeschichte
schen Körpern und räumlichen Wirkungen.
hatte der französische Präsident nicht nur den
und einem komplexen politischen Kontext ge-
grössten Medienwirbel jener Jahre in Paris herauf-
zeichnet. Für Pei eine gezielte Herausforderung,
Anlässlich der Eröffnung des Grand Louvre 1989
beschworen; die heftig ausgetragene Kontrover-
als ortsfremder Architekt die «richtige» Lösung zu
antwortete Ieoh Ming Pei auf die Frage, ob er nicht
se, vornehmlich zwischen dem linken und dem
präsentieren. Die Planung geht auf das Jahr 1987
einmal in Deutschland bauen wolle: «Well, I do no
rechten Lager, ist als «Pyramidenkrieg» in die Ge-
zurück, in welchem anlässlich der 750-Jahr-Feier
competitions!» Nun hat er es also doch geschafft,
schichte eingegangen. Von «Grössenwahn» (Le
Berlins die Einrichtung eines Deutschen Histori-
sein einziges Gebäude in Deutschland: Das Deut-
Figaro) bis «Disneyland an der Seine» (Le Mon-
schen Museums beschlossen wurde, in bester
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