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Titelgeschichte: „Unsichtbare Schutzengel“
from ERKER 01 2023
by Der Erker
„Unsichtbare Schutzengel“
Einmal noch das Meer sehen. Oder einen Sonnenaufgang in den Bergen. Ein letztes Mal im Kreise der Familie feiern. Oder einfach nur die alte Heimat besuchen. Wenn sich das Leben langsam dem Ende zuneigt, treten oft unerfüllte Wünsche in den Vordergrund. Und diese sind so unterschiedlich wie die Wünschenden selbst. Der Wünschewagen von Weißem Kreuz und Caritas erfüllt Menschen ihren letzten Wunsch. Franziska Brandner aus Gasteig ist von Anfang an als Begleiterin dabei. I Barbara Felizetti Sorg
Es blieb ihr nicht mehr viel Zeit, das war ihr bewusst. Ihr sehnlichster Wunsch war es daher, in Venedig noch einmal das Meer zu sehen. „Es war sehr berührend, diese Dame auf ihrer letzten Reise zu begleiten“, erinnert sich Franziska Brandner. „Wir haben auf der langen Fahrt sehr viel miteinander gesprochen – sie ging dabei auch sehr offen mit dem Thema Sterben um.“ So wie die Fahrt nach Venedig berührt jede einzelne Fahrt, jeder einzelne Mensch, jedes einzelne Schicksal – alle auf ihre Weise.
Neun Herzenswünsche erfüllt
Neunmal hat Franziska bisher eine Fahrt mit dem Wünschewagen begleitet. Einmal durfte sie einen jüngeren Mann nach Sizilien, in seine alte Heimat, begleiten. Da sich sein Gesundheitszustand nach einer schlimmen Diagnose sehr schnell verschlechtert hatte, wollte er das Ende seines Lebens bei seinen Lieben daheim in Sizilien verbringen. Ein anderer Herr wollte mit seiner Frau noch einmal an den Ort zurück, an dem die beiden sich kennengelernt hatten. Eine Familie feierte gemeinsam mit dem Opa nochmal zu Hause seinen Geburtstag. Und ein Mann, der in seinen jungen Jahren jeden Berg erklomm und nun an Demenz erkrankt ist, wollte noch einmal den Sonnenaufgang in den heimischen Bergen erleben. Eine Dame hingegen wollte bei
Einmal noch in Venedig das Meer sehen ...
der Hochzeit ihrer Enkelin dabei sein. „Im vergangenen Sommer durfte ich sogar meine eigene Oma, die inzwischen 94 Jahre alt ist und in Deutschland lebt, zu meiner Hochzeit mit dem Wünschewagen nach Sterzing holen“, freut sich die 28-Jährige. Seit 2013 ist Franziska Brandner als Freiwillige beim Weißen Kreuz Sterzing tätig, 2018 hat sie vom geplanten Projekt des Wünschewagens erfahren – und seit der Gründung am 30. August 2018 ist sie ein wichtiger Teil davon. Bereut hat sie es bis heute nicht. „Es gibt Nichts Schöneres, als all diesen Personen Herzenswünsche zu erfüllen. Man fühlt sich teilweise wie das Christkind“, schwärmt sie. „Die Emotionen und Erlebnisse während dieser Fahrten kann man gar nicht in Worte fassen. Es gibt mir selbst so unendlich viel, Teil dieses Teams zu sein.“ Entstanden ist der Wünschewagen als Gemeinschaftsprojekt des Landesrettungsvereins Weißes Kreuz und der Caritas der Diözese Bozen-Brixen. Beide Organisationen arbeiten schon seit Jahren mit schwerstkranken Menschen zusammen. Daraus ist schließlich die Idee entstanden, die Erfahrung und die Professionalität beider Einrichtungen zusammenzuführen und gemeinsam den Wünschewagen anzubieten. Damit wird Schwerkranken nicht nur ein letzter Wunsch erfüllt – das Projekt hat auch eine wichtige soziale Funktion, indem Betroffene nicht abgeschottet, sondern auch in ihrer letzten Lebensphase mitten in die Gesellschaft hineingebracht werden. Darüber hinaus werden auch Angehörige und Sanitätseinrichtungen entlastet, denen es weder organisatorisch noch
logistisch und personell möglich wäre, solche Fahrten anzubieten.
Miteinander reden, gemeinsam schweigen
Oft sind es kleine Wünsche, die der Wünschewagen erfüllt. Mit einem gewöhnlichen PKW könnten sie jedoch oft schlichtweg nicht umgesetzt werden; manchmal mangelt es auch an
geeigneten Hilfsmitteln, wie Rollator, Rollstuhl, Liege oder Sauerstoff. Wenn es nötig ist, sind auch Krankenpfleger im Wünschewagen mit dabei. Derzeit begleiten ihn neben Franzis-
ka Brandner mit Stefanie Salcher und Lucia Arnese noch zwei weitere Wipptalerinnen. Sie betreuen jedoch nicht nur Wünschende aus dem Bezirk, sondern sind im ganzen Land unterwegs. Was es den Betroffenen selbst bedeutet, den letzten Herzenswunsch erfüllt zu bekommen, wie sie darauf reagieren, ist im Vorfeld der Fahrten nicht absehbar. „Unsere Fahrgäste sind vor den Fahrten meistens aufgeregt und voller Vorfreude. Viele können bis zur Abfahrt noch nicht glauben, dass ihr Wunsch wirklich in Erfüllung gehen wird“, so Franziska. Oft habe sie festgestellt, dass die meisten von ihnen an dem Tag X auch sehr fit seien. Franziska Brandner gehört seit 2018 zum Team des „Wir bekommen Wünschewagens. vorab oft einige Infos zum Gesundheitszustand mitgeteilt, doch manchmal werden an diesem besonderen Tag einige Gebrechen oder Krankheiten von den Betroffenen selbst regelrecht in den Hintergrund gedrängt.“ Am Ziel der Fahrt Der Wünsche- angelangt, fallen die Reaktiowagen in Zahlen nen ganz unterschiedlich aus. „Viele sind einfach sprachlos und genießen still, andere lassen ih58 Fahrten ren freudigen Emotionen freien Lauf, wieder andere erzählen 24.834 Kilometer viel aus ihrem Leben, ihren Er63 Freiwillige innerungen an diesen Ort. Es ist ganz verschieden. Einige reden
Längste Fahrt: 3.052 km von auch ganz offen über ihre Krank-
Bozen nach Syrakus heit, über ihr Leben und den naKürzeste Fahrt: 5 km von hen Tod. Andere hingegen sind
Bozen Zentrum zum Friedhof nachdenklich und verarbeiten in Bozen alles innerlich. Und den Angehö-
Transportziele außerhalb Italiens: 1x Österreich, 6x Deutschland rigen geht es oft ganz ähnlich“, weiß Franziska. Ob es da oft schwierig ist, die richtigen Worte zu finden? „Schwierig ist es nicht,