Magazin #3

Page 13

gewonnen. „Das Internet“, wo auch immer dieses seltsame Monster beginnt und endet, ist natürlich eine Art Weltarchiv, wenn auch mit sehr dominanten Archivaren wie Facebook oder Google. Die globale Gesellschaft schreibt, zeigt, verhandelt sich heute im Netz. Und die oben bereits erläuterte Politisierung von Archivpraktiken setzen sich in der digitalen Sphäre fort. Man könnte sogar sagen, dass die Politisierung des Netzes in seiner Funktion als Weltarchiv begründet liegt. Politische Aushandlungsprozesse, verstanden als Prozesse des Wissens und, in Folge Foucaults, der „Wissbarkeit“, finden heute vor allem online statt. Die Digitalapostel der frühen Netzjahre hatten dem Internet noch ein immenses befreiendes Potenzial zugesprochen. Ihr radikaler Optimismus dürfte heute als verflogen gelten. Man muss nicht mal den Kampfbegriff einer marxistisch angehauchten Soziologie verwenden und die Vorstellung eines Siegeszuges des Neoliberalismus über das Netz in Anschlag bringen,3 um zu verstehen: Natürlich ist das Internet und sind speziell die sozialen Medien angreifbar und von antiliberalen Kräften okkupierbar. Auch „der Staat“ hat einen Einfluss darauf, was im Netz geschieht. Das heißt, digitale Freiheit und Kontrolle, Liberalität von Ideen und Unterdrückung der Kreativität finden im Netz als heutigem Weltarchiv immer parallel statt. Archiv und Innovation Die bisherigen Überlegungen zeigen: Es ist plausibel, den archivologischen Analysen von Derrida eine anhaltende Legitimität zuzubilligen. Dies gilt gerade auch im Kontext kultureller und technologischer Neuerung. Derrida hatte darauf verwiesen, dass die modernen, die medialen Archive aus einer „jeweils selektiven Zusammenstellung des Sag- und Sichtbaren bestehen“.4 Wer das Archiv hat, bestimmt nicht nur, was gesagt werden kann. Er entscheidet auch, was sichtbar ist, sichtbar gemacht werden kann oder sichtbar gemacht werden soll. Wissensproduktion und Diskurslenkung gehen mit der Verhandlung von künstlerischen Positionen und Forschungshaltungen einher. Gesellschaftliche, wirtschaftliche, technologische und kulturelle Innovationen sind gleichermaßen von der Struktur des Wissens abhängig. Das muss nicht schlecht sein. Es bedeutet nämlich auch, dass Gesellschaften über ihre Verhandlung der mediatisierten Archive auch gesellschaftlich entscheiden, wohin die jeweiligen Innovationsprozesse steuern. Was bedeutet, dass Innovation nicht mehr nur ein Prozess einiger weniger abgeschlossener Eliten ist. Wir alle entscheiden mit, was als innovativ gilt und in welche Richtung Künstler wie Forscher arbeiten. Wir müssen uns dieser Rolle, dieser Verantwortung aber bewusst sein. Räume des Wissens Bezogen auf die Sagbarkeitspolitiken unserer Tage existiert eine spannende Diskussion, die an die Thematik

14

dieser Heftreihe – die nämlich eines Raumes für ein Archiv der Zukunft – anschließt. Die Frage nämlich vom Verhältnis von Archiv und Räumlichkeit. Die Slawistin Julia Fertig thematisiert diese mit den Begriffen „onsite“ und „offsite“, also reiner Virtualität und physischer Verortung.5 Archive sind demnach virtuelle Orte, die auf Physisches verweisen. „Wir werden beim Betrachten der […] nonsite gesammelten Objekte ab- und unsere Aufmerksamkeit auf den site hingelenkt. So erhält das Archiv seine Existenzberechtigung erst durch den anderen Ort, während dieser seine Authentizität erst durch das Archiv erhält.“ Genau diese Logik ist nun aber durch die globalisierte Digitalisierung in eine Krise geraten. „Dem digitalen, globalisierten Archiv ist […] sein ‚Außen‘ gänzlich verloren gegangen.“ Die Digitalisierung kreist heute zunehmend um sich selbst. Und das führt uns zurück zur Architektur. Wenn nämlich das Innen und das Außen der Wissensgesellschaft ineinanderfallen, dann erscheint es nur konsequent, einen Raum des Wissens zu schaffen, eine physische Kon­ struktion, die der Archivierung der Zukunft buchstäblich Raum gibt. Das Gebäude fängt dann divergierende Innovationsprozesse ein, verleiht diesen einen physischen Resonanzkörper und verortet diese im sozialen Kontext eines konkreten Ortes. Das Wissen kann besucht werden, die Zukunft lässt sich hier räumlich erleben. Die Distanz zwischen digitaler Sphäre und gelebtem Lebensraum der Menschen wird verringert. Der Mensch erfährt das Archiv als Reales. Und er arbeitet idealerweise sogar in Auseinandersetzung mit dem konkreten Raum am Prozess der Archivierung von Zukunft mit. Für die Architektur ist das kein so artfremder Akt, wie es zunächst erscheinen mag. Denn in gewisser Hinsicht bringen wir damit die Praxis des Konstruierens von Gebäuden wieder zu sich selbst. Denn die Architektur stellt immer einen Prozess kultureller Archivierung dar. In jedem Gebäude spiegeln sich die Vorstellungen der Gesellschaft von Innovation, von Fortschritt, von der eigenen Zukunft. Eine Architektin, ein Architekt entwirft nie nur für das Heute, sondern auch für das Morgen. Sie oder er betreibt damit raumpraktische Aktualisierung der Idee eines Archivs der Zukunft. Für das Archiv der Zukunft in Lichtenfels gilt dies insofern nur in expliziterem, programmatischem Maße. Das Gebäude reiht sich aus dieser Perspektive ein in ein Verständnis, dass wir von Architektur ohnehin haben. Einer Architektur, die für die Wissensgesellschaft funktional ist, aber vor allem auch aus dieser hervorgeht.

Dr. Alexander Gutzmer ist Publizist, Marketing­ direktor bei Euroboden und Professor in Berlin. Der Kulturwissenschaftler und Betriebswirt war Editorial Director beim Callwey-Verlag. Dort verantwortete er die Zeitschrift Topos über Urban Design und Stadtentwicklung. 2011–20 war er Chefredakteur der Zeitschrift Baumeister.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.