15 minute read
Auf der Suche nach der beständigen Zeit
dream = Imagine( text = 'in search of the constant time', learning_rate = 5e-2, iterations = 100, save_every = 25,
dream()
Auf der Suche nach der beständigen Zeit Der Komponist Miroslav Srnka
Auf zwei Arten ist der Komponist Miroslav Srnka bevorzugt unterwegs. Zum einen zu Fuß: Im Gehen formen sich seine Gedanken. Beim Gehen – also in der Fortbewegungsgeschwindigkeit, auf die unser Körper von Natur aus optimal eingestellt ist – wird für ihn das Nachdenken buchstäblich zum Spaziergang. Am liebsten tut er es dort, wo Wasser ist, am Flussufer, wo Bewegung und Begrenzung zusammenkommen, am Rande von allem: bis hier und nicht weiter. Zum anderen im Auto: Da fährt er gerne stundenlang, empfindet eine Beruhigung im Wissen, für eine bestimmte Zeit an diesen Ort gebunden zu sein und doch schnell voranzukommen; eine Zeit, in der man sich auf etwas einlassen kann: konzentriert ein Werk hören, sei es Musik oder Literatur, neue Anregungen in sich hineinsaugen, Repertoire tanken. Beides gehört zu seiner Persönlichkeit. Natur auf der einen, Wissenschaft und Technik auf der anderen Seite sind wie zwei Pole seiner Auseinandersetzung mit der Welt. Gegensätze locken ihn, Widersprüchliches findet er reizvoll. So zielstrebig er seine Anliegen verfolgt, so verspielt entdeckt er Nebenpfade. Er ist neugierig auf neurobiologische Forschungserkenntnisse ebenso wie auf nützliche Funktionen seines Notebooks, interessiert sich für Planeten und für Pfefferminze. Für seine Arbeit nutzt er alles, was der Stand der Dinge hergibt. Dem Programmheft zu South Pole lag ein Diagramm bei, auf dem er minutiös die szenischen Vorgänge mit Dauer, Personen, Tageszeit, Wetter, Emotion, Gestus und musikalischer Temperatur entworfen hat. Solche Vorarbeiten gibt es dutzendfach, genau geplant und dabei bunt und wild. Die verschiedenen Geschwindigkeiten des Gehens und Fahrens spiegeln sich bis in die Mikrostruktur seiner Musik, in der kleinste motivische, oft fast gestalthafte Elemente wie Objekte eine Topografie der Zeit bilden – und zugleich überlagert sind von weiten, in Wellen geschwungenen Bögen.
Pfade und Alleen
Miroslav Srnka ist inzwischen Mitte 40. Das ist selbst für Weggefährten, die ihn schon lange kennen, immer wieder verblüffend, denn nicht nur seine schlanke, fast schmächtige Statur suggeriert Jugendlichkeit, auch der Blick aus seinen wachen Augen scheint eher einem Studenten anzugehören als einem arrivierten Vertreter seiner Zunft, der seit einiger Zeit seinerseits angehenden Musikern das Handwerk beibringt: Im Oktober 2019 wurde er auf die Kompositionsprofessur an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln berufen.
Tatsächlich ist er ein Lernender, schon immer, bis heute. In Prag geboren und aufgewachsen, hat er seine Studien der Musikwissenschaft und der Komposition (bei Milan Slavický) in seiner Heimatstadt abgeschlossen, ist mehrmals für Studienaufenthalte ins Ausland gegangen, hat in Berlin gelebt und am Conservatoire National Supérieur de Musique in Paris ein Volontariat absolviert. Er hat in einem Musikverlag gearbeitet, als Lektor und Verlagsleiter, bis das Komponieren keinen Raum mehr dafür ließ. Denn, wie er sagt: Musik schreiben ist für ihn keine freie Entscheidung, sondern Notwendigkeit; und aus der Erkenntnis, dass er es ohne das Komponieren nicht aushält, hat er für sich die Konsequenz gezogen, diesem Bedürfnis gegenüber alles Übrige zurückzustellen. (Vielleicht mit Ausnahme seiner beiden Kinder, die in ihrer Schullaufbahn schon weit vorangekommen sind.) Die Beschäftigung mit den großen tschechischen Komponisten hat Spuren hinterlassen, und die Frage, wo sich ein Künstler verwurzelt sieht, stellt sich umso eher, je kleiner, enger umrissen die Nation ist, aus der man stammt. „Als ich zum Studium nach Paris ging, haben Kollegen dort oft gesagt, meine Musik klinge irgendwie böhmisch. Als ich dann nach Prag zurückgekehrt bin, meinten meine Freunde, meine Stücke hätten so etwas Französisches an sich. Trotzdem ist die Musik meiner Heimat Teil meiner geistigen Muttermilch. Ich bin fast ausschließlich mit dem tschechischen Repertoire aufgewachsen, ohne zu wissen, dass es überhaupt etwas anderes, gar Zeitgenössisches gibt. Das hat mit Sicherheit bestimmte Muster in meinem musikalischen Denken beeinflusst – die Musik von Antonín Dvořák und Leoš Janáček vor allem. Ich versuche in keiner Weise, ‚tschechische‘ Musik zu schreiben. Wenn überhaupt fühle ich mich persönlich als Europäer. Einmal hat jemand geschrieben, dass in einem Stück von mir Klarinetten in böhmischen Terzen spielen. Das hat mich auf die Palme gebracht. Aber wenn meine Vokalmusik mit Janáček in Beziehung gesetzt wird, kann ich nur sagen: Vielleicht ist da etwas dran, und es gibt Verbindungen, auch wenn sie unbewusst passieren.“ Sein Werdegang verläuft stetig, wenngleich mit Umwegen, auf klassischen Alleen und durch überwachsene Pfade. Seine Musik wird bei den einschlägigen Neue-Musik-Festivals und in bedeutenden Konzertreihen aufgeführt, bei den Tagen für neue Kammermusik in Witten etwa oder bei „musica viva“ in München. Andernorts wirkt er als Composer in Residence, beispielsweise als „Komponist für Heidelberg“ 2006/07 und an der Sommerakademie in Trossingen 2018. Die Erfahrung um eine erste Kammeroperninszenierung (Wall nach einem Text von Jonathan Safran Foer an der Berliner Staatsoper) entfremdet ihn dem Opernbetrieb auf einige Zeit; 2009 setzt der Förderpreis der Ernst von Siemens-Musikstiftung eine Zäsur. Parallel
dazu ermöglicht ihm ein Stipendium, sich ausführlich mit dem Musiktheater zu beschäftigen, bringt ihn zusammen mit dem australischen Dramatiker Tom Holloway, und die Kammeroper Make No Noise entsteht – 2011 uraufgeführt im Pavillon-Programm bei den Opernfestspielen der Bayerischen Staatsoper, im Sommer 2016 zum zweiten Mal inszeniert bei den Bregenzer Festspielen. Make No Noise wiederum ist Auslöser für den bislang größten Auftrag, den Miroslav Srnka erhalten hat, Kulmination seiner bisherigen kompositorischen Forschungen zu Klang, Stimme und Struktur – und ein Stück spannendes Musiktheater, ein großes erzählerisches Abenteuer: die Oper South Pole über Roald Amundsens und Robert Falcon Scotts Wettlauf zum Südpol. Die Uraufführung an der Bayerischen Staatsoper im Januar 2016 – unter der musikalischen Leitung von GMD Kirill Petrenko und in einer Inszenierung von Hans Neuenfels – wurde zum Ereignis, die vier Jahre Arbeit daran zur Bewährungs- und Belastungsprobe. South Pole zu komponieren hat Miroslav Srnka so erschöpft, als wäre er selbst zum Polarforscher geworden. Das Foto des Komponisten beim Schlussapplaus, wie er in einer Mischung aus Erschütterung und Erleichterung die Hände vors Gesicht schlägt, ist unzählige Male im Internet geteilt worden. Dieser Moment wirkt immer noch nach – aber in ganz positivem Sinne: Welche neue Oper dieser Dimension wird schon im zweiten Jahr von einem anderen großen Haus neuerlich inszeniert, ohne jede Koproduktionsverpflichtung? Auch am Staatstheater in Darmstadt, dem Mekka der Neuen Musik, hat South Pole seine Prüfung bestanden. Miroslav Srnka steht nun mitten im Blickfeld der zeitgenössischen Musik. Zu den weiteren wichtigen Werken der jüngeren Zeit zählt Milky Way für Trompete und Klavier oder Marimba – eine Hommage an unser Sonnensystem wie an das Können des jungen Trompeters Simon Höfele, der das Stück auf seiner Tournee als „Echo Rising Star“ 2019 zwar noch nicht auf andere Planeten, aber schon in ein Dutzend europäischer Metropolen getragen hat. Ebenfalls von 2019 ist Srnkas erstes Chorwerk, Speed of Truth für Soloklarinette, Chor und Orchester, uraufgeführt bei „musica viva“ in München (mit Jörg Widmann, dem Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Susanna Mälkki). Das Los Angeles Philharmonic Orchestra hat 2018 für die Jubiläumssaison zu seinem hundertjährigen Bestehen das Stück Overheating in Auftrag gegeben. Im selben Jahr hat der Cembalist Mahan Esfahani Triggering beim Contempuls-Festival in Prag uraufgeführt; für ihn (und das Gürzenich-Orchester mit seinem Chefdirigenten François-Xavier Roth) schreibt Miroslav Srnka gerade ein Cembalokonzert. Die enge Zusammenarbeit mit dem französischen Quatuor Diotima wurde vertieft durch das Streichquartett Future Family von 2017, das gemeinsam von der Philharmonie de Paris, dem ProQuartet, dem Bozar de
Bruxelles und dem Streichquartettfest Heidelberg beauftragt wurde. Eine besondere Beziehung zu Singularity hat das Klaviertrio Emojis, Likes and Ringtones, das als Pflichtstück beim ARD-Musikwettbewerb 2018 vielfach gespielt worden ist. Dieses Stück ist eine Vorstudie zur neuen Oper, indem es (mit seinen fünf Sätzen „List of Emojis“, „Post“, „Mixed Feelings“, „Posts and Tapbacks“, „Ringtones“) die Idee musikalischer Logos erstmals als kompositorisches Prinzip ausprobiert. Ende 2017 hat die Stiftung Mozarteum Salzburg bei ihrem Festival „Dialoge“ eine vorläufige Retrospektive seines Schaffens versucht und innerhalb von vier Tagen neun wesentliche Kompositionen präsentiert, vom Klavierlied übers Streichquartett bis zum vollen Orchesterwerk mit Vokalsolo. In der Saison 2020/21 standen Aufführungen beim Festival d’Automne in Paris, beim Warschauer Herbst und beim Festival Acht Brücken in Köln im Kalender. Kompositionsmeisterkurse bei den Ostrava New Music Days (2017 und 2019) festigten Wunsch und Begabung, unterrichtend tätig zu sein; die Berufung an die Kölner Musikhochschule hat dem nunmehr einen festen Platz in seinem Künstlerleben verliehen. Außerdem ist Miroslav Srnka Mitglied des Künstlerischen Beirats beim Festival Prager Frühling. Unabhängig, keinem Lager zugehörig, der Kinderoper ebenso zugewandt wie unbequemen (und unermesslich schwierigen) „Exerzitien“ in Virtuosität – das ist die außergewöhnliche Spannweite dieses Komponisten.
Kontinuität und Komik
Für Miroslav Srnka ist Komponieren „das Hören des noch nicht Erklungenen“. Auf dem Weg dorthin nimmt er bisweilen Vektorbeschreibungen der BézierKurven zu Hilfe, aber nur, um mit ihnen organische Bewegungen in Musik zu übersetzen; dieser Entstehungsprozess selbst verschwindet wieder hinter der Werkgestalt. Oft tritt die Herausforderung hinzu, mit Musik außermusikalischen Phänomenen auf die Spur zu kommen. In Make No Noise war das die Frage nach Hören und Taubheit, in South Pole extreme Kälte und ihre Folgen. Zum Beispiel ruft dort der Sound von 40 arpeggierten Eierschneidern das schauerlich-wohlige Gefühl des allmählichen Erstarrens im Eis hervor; und an anderer Stelle lässt ein völlig unerwarteter C-Dur-Akkord dem Hörer das Blut in den Adern gefrieren. Seit rund anderthalb Jahrzehnten – beginnend mit Simple Space (2006) für Violoncello und Harmonieinstrument – sucht Miroslav Srnka nach Kontinuität. Es geht ihm um „eine ausgearbeitete Kontinuität, die imstande sein sollte, Komplexität und Schlichtheit zu verbinden“ (wie der Komponist im Beiheft zur Kammermusik-CD des Quatuor Diotima formuliert). Vieles ergibt sich durch solche scheinbaren Paradoxien: die große Linie aus kleins-
ten Partikeln; Konstanten und Variablen; Wiederholungen intensivieren durch Verschiebungen in Betonung oder Metrum, das ist in den dichtesten Orchesterstrukturen zu hören. „In allem, was die Menschen zu faszinieren scheint, gibt es die Verbindung von überraschender Schlichtheit und zugleich einer unüberschaubaren Menge von Ansichten darüber. Diese Ansichten sind heterogen, vielleicht sogar miteinander unvereinbar, aber sie zeigen alle wie Pfeile auf ein Zentrum: In einem Stück können viele Wege enthalten sein.“ Auf die Frage, woran man seine Musik erkennen kann, zitiert er zunächst andere: „Viele beschreiben, dass man sich beim Hören meiner Musik wie in einem 3D-Klangraum bewegt: ein imaginärer Raum, in dem sich das Oben und Unten erweitert um eine Tiefendimension. Nahes und Fernes fliegt an uns vorbei. Das entspricht auch meiner Absicht – aber das zu entdecken ist natürlich ein unendlicher Prozess.“ Die sprechenden Titel seiner Kompositionen (wie Eighteen Agents, Moves oder No Land No Night No Sky) öffnen schon viele Türen zum Verständnis. Am liebsten würde er sie für sich stehen lassen. Manchmal gelingt es Programmheftredakteuren, ihn zu überreden, eines seiner Werke zu erläutern. Dann hat er viel zu sagen und spricht bereitwillig über das, was ihn bewegt, achtet jedoch immer darauf, was er preisgibt und was nicht. Dinge, die ihn angehen, gehen ihm auch nah; wenn ihn etwas aufregt, spürt man es in ihm brodeln, aber er bleibt beherrscht. Diese Mischung aus Kontrolle und Entfesselung zeichnet sein Schaffen aus. Und noch etwas reizt ihn: die der Musik innewohnende Komik hervorzulocken, selbst wenn das, gerade in der zeitgenössischen Musik, lange fast ein Tabu gewesen ist. Doch das scheint sich zu wandeln. „Mir selbst ist es vielleicht nur in einem Stück gelungen, das Lustige und das Tiefe miteinander zu verbinden: Die Beckerlieder sind in ihrem Detailgestus manchmal sehr lustig, enthalten aber im Zusammenhang eine ganz ernsthafte Aussage; komische Fülle im Kleinen, überwölbt von einem existenziellen Gesamtplan.“ Die Frage nach Humor und Witz im musikalischen und musikdramatischen Kontext rückt nun ins Zentrum: In der neuen Oper geht es vorrangig um die Auseinandersetzung mit diesem kniffligen Fall.
Eine neue Oper
Niemand kann in die Zukunft blicken, nicht einmal die schlauesten Wissenschaftler. Aber wenn sich technischer Sachverstand und kreativer Geist miteinander verbinden, können aufregende Ideen entstehen, Visionen für eine vielleicht gar nicht so ferne Gegenwart. Ideen wie die Vorstellung von der technologischen „Singularität“: dem Zeitpunkt, an dem die künstliche Intelligenz ein Niveau erreicht, das den menschlichen Fähigkeiten entspricht und sich
dadurch rasant weiter verbessert. Solche Szenarien spielt ein Teil der Wissenschaft schon seit Jahrzehnten durch; populär wurde das Konzept vor allem durch Ray Kurzweil und sein Buch The Singularity Is Near, in dem er das Phänomen ungefähr für das Jahr 2045 vorhersagte. Für manche mag diese Aussicht unheimlich sein. Was braucht es uns Menschen noch in solch einer Welt? Begriffe wie Transhumanismus und Posthumanismus sind für eine Gesellschaft, die sich Humanität auf die Fahnen schreiben möchte, eher abschreckend. Gerade das könnte jedoch eine positive Option sein. Wenn ein allgemeiner, umfassender Geist all die kleinlichen Empfindlichkeiten und gefährlichen Vorurteile überwindet und das Große Ganze ebenso wie das Wohlergehen aller Einzelnen in Einklang bringt – vielleicht schlummert darin Potential für Zukunftsträume. Für ihr drittes gemeinsames Stück haben Miroslav Srnka und Tom Holloway die Sache mit der Singularität noch eine Windung weitergedreht: Implantierbare Mikrochips und Nanotechnologie eröffnen neue Möglichkeiten der Kommunikation, aber sie machen die Menschheit anfällig für Störungen im vernetzten System. Genau das passiert den Figuren in Singularity. Dank der neuen Technik können sie miteinander reden, ohne etwas zu sagen, direkt von einem Kopf in den anderen. Doch ein Update des Betriebssystems gerät außer Kontrolle, die Nachrichten fangen an, wie wild umherzufliegen. Drei Menschen, die sich bei der Installation der neuen Version Zeit gelassen haben und von dem Bug verschont geblieben sind, werden auf einen anderen Planeten in Quarantäne geschickt. Dort finden sie nach und nach heraus, was geschehen ist, wer sie eigentlich sind und was ihnen am Herzen liegt. Zwei Ziele haben sich Miroslav Srnka und Tom Holloway gesetzt: Ihre neue Oper soll ein Stück für junge Stimmen sein; sie wurde eigens für das Opernstudio der Bayerischen Staatsoper geschrieben, rechnet mit dem kommunikativen Erfahrungshorizont junger Menschen und ihrer Offenheit und Entdeckerfreude hinsichtlich neuer Vokaltechniken. Und sie ist ausdrücklich als Komödie gedacht: Denn wenn es um die Kommunikation zwischen Menschen geht, ob klassisch oder elektronisch, liegen überall Fallstricke herum. Missverständnisse, Bosheiten, Streitereien lauern auf jeder Seite, und wie sich bald herausstellt, haben die vier Personen eine Menge miteinander zu klären. Komik entsteht in der Zeit, in einer Inkongruenz von Idee und Tempo. Die Gleichzeitigkeit konkurrierender Geschwindigkeiten ist ein Phänomen, das Miroslav Srnka überall begleitet – wie schon bei seinen bevorzugten Fortbewegungsarten. So war die selbstgestellte Herausforderung wie für ihn gemacht. Tom Holloway hat dazu ein Libretto geschrieben, das ein
schnelles Sprechtempo vorgibt; er spielt Pingpong mit der Sprache, seine Figuren denken fix, sie quatschen keine Opern. Umso größer der Effekt, wenn an manchen Stellen das Staccato der Konversation zum Stillstand kommt, weil eine Erkenntnis ihre Zeit braucht. Und dafür gibt es viele Momente. Die vier Figuren, je ein Vertreter der Stimmfächer Sopran, Mezzosopran, Tenor und Bariton (und quasi prototypisch mit Buchstaben benannt: S, M, T, B), können ja nicht nur wie normale Menschen miteinander sprechen, sondern zusätzlich durch ihre digitalen Konterparts: ein zweites Quartett (eS, eM, eT und eB), das ständig mit dabei ist und die Aussagen ihrer leibhaftigen Symbiosepartner mal bekräftigt und mal konterkariert. So bilden sich wechselnde Allianzen – und während man über künstliche Kanarienvögel, obsessives Computerspielen und vergebliche Annährungsversuche in Streit gerät, mündet der Austausch auch in entwaffnende Liebeserklärungen. Sogar ein Computer findet eine Art von Seele. Und auf der Erde bahnt sich, von den Quarantäne-Patienten unbemerkt, eine weltverändernde Wendung an. Das Geschehen entfaltet sich in fünf Teilen und 13 Szenen; der erste Teil auf der Erde, Teil zwei bis vier auf einem anderen, zum Wellness-Center eingerichteten Planeten, der fünfte in der sogenannten Singularität. Alles spielt in der Zukunft, wobei zwischen dem zweiten und dritten Teil zehn, zwischen dem dritten und vierten Teil etwa 40 Jahre vergehen. Ein Ensemble von 15 Instrumentalisten vereint klassisches Instrumentarium samt Akkordeon und E-Gitarre inklusive einiger zweckentfremdeter Gebrauchsgegenstände mit einer Batterie von elektronisch vorproduzierten „sprechenden“ Geräuschen und Klängen. Dabei greift Miroslav Srnka aktuelle, von der Online-Welt inspirierte Kommunikationsformen von Shortcuts und Emojis als integralen Bestandteil seiner Musik auf. Ein ganzes Bündel an Smileys unterschiedlichen Ausdrucks („Laughing tears“, „Hugs and love to you“, „Angry eyes“) hat das Libretto verbalisiert. Die Partitur ordnet ihnen wiedererkennbare akustische Signets zu; diese klingenden Vignetten haben, egal wer sie wann ausspricht, stets dieselbe Gestalt. Parallel dazu verfügen alle vier Figuren über individuelle Eigenheiten, die sich in sprachlicher und musikalischen Ausdrucksweisen manifestieren: T beispielsweise stottert, wenn er aufgeregt ist, M neigt zu zynischer Lakonie, und wenn B seine Freundin S für deren Beflissenheit verspottet, mit der sie das aktuelle Update installieren will, äfft er sie im selben Tonfall nach („Know what you mean by ‚message‘!“). Und immer wieder kommt es zum Innehalten, Stillwerden, Annähern, wenn sich die Gesangslinien zu intimen Momenten sammeln oder zu emotionalen Äußerungen aufschwingen.
Miroslav Srnka ist überzeugt, „dass alle Genies ihr ganzes Leben das Gefühl hatten, Scharlatane zu sein“, und erläutert: „Ich mag die Theorie von Mihály Csíkszentmihályi, die besagt, dass in der Persönlichkeit hochkreativer Menschen sich stärkste Kontraste vereinen: In den Genies ist einerseits etwas Bahnbrechendes und andererseits eine große Bescheidenheit gegenüber der Tradition. Diese Persönlichkeiten tragen in sich ein großes Selbstbewusstsein und gleichzeitig entsetzliche Selbstzweifel. Und daher fürchten sie immer wieder, eigentlich Scharlatane zu sein.“ Als Komponist, der viele Instrumentalwerke geschrieben hat und seit einigen Jahren immer intensiver über den Gesang nachdenkt, findet er, dass da eigentlich ein Instrument fehlt: eines, das die Lücke zwischen der menschlichen Stimme und dem Instrument, das der Stimme am nächsten ist (welches man auch immer dafür hält), überbrücken würde. Manche Dinge gibt es nur in der Fantasie, und in der Realität kann man nur versuchen, sich ihnen so weit wie möglich anzunähern. Ganz ähnlich ist es mit dem Vorankommen. Im Traum, erzählt Miroslav Srnka, gibt es noch eine weitere Fortbewegungsart für ihn. Da schwebt er nämlich – mit jedem Schritt, 30 Zentimeter über dem Boden, mühelos zwölf Meter weit.
Malte Krasting ist seit 2013 Dramaturg an der Bayerischen Staatsoper; zuvor war er am Meininger Theater, an der Komischen Oper Berlin und an der Oper Frankfurt beschäftigt. Eine langjährige Zusammenarbeit verbindet ihn mit dem Dirigenten Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern. Außerdem unterrichtet er an der Bayerischen Theaterakademie August Everding und an der Universität Mozarteum Salzburg. In der Buchreihe „Opernführer kompakt“ (Bärenreiter/Henschel) veröffentlichte er eine Einführung zu Così fan tutte.