BDP BLATT 01/2020

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THEMA

RÄUME FÜR ALLE eine sexualpädagogische Bestandsaufnahme Wie und wo entstehen Ideen über menschliche Sexualität und Identität? Wie und wo werden uns diese vermittelt? Und wie wandeln wir sie in Handlungen um?

Bücher, Zeitschriften, und soziale Medien agieren wie eine Art Anleitung für das Sexualleben und sagen uns, mit wem und warum wir Sex haben sollen oder nicht. Innerhalb der Gesellschaft begegnen uns immer wieder Handlungsanleitungen, z.B. in Form von Erzählungen, Kommunikationsweisen, Gesten, Orten, Rollen, Zeitpunkten, Objekten, Zielen, bis hin zu den passenden Empfindungen aller Beteiligten. In diesem Artikel möchte ich mich mit einem ganz konkreten Aspekt meiner sexualpädagogischen Arbeit beschäftigen. Dieser scheint mir für die aktuellen queer*feministischen Auseinandersetzungen im BDP und überall wichtig zu sein. Es geht um das Thema Gender und Identität.

Diese Geschlechterrollen beeinflussen unser ganzes Leben, unser Verhalten und unsere Sexualität. Geschlechterrollen zeigen sich in unserer Sprache, Gestik, in unseren Handlungen, unserem Auftreten, in der Art, wie wir uns kleiden oder auch in der Art und Weise, wie wir andere Menschen wahrnehmen, ansprechen und behandeln. Ein solches Geschlechtersystem bringt immer Ausschlüsse und Abweichungen hervor, denn alle, die sich jenseits von diesem System verhalten, werden als Normabweichung definiert.

Schauen wir auf den praktischen Alltag in Schule, Kindergarten, Freizeitzentrum oder Elternhaus, so ist dort eine hohe Anzahl von Kindern und Jugendlichen aufzufinden, die sich nicht geschlechtseindeutig verhalten. Es gibt viele Berichte von Kindern und Jugendlichen, die nicht in die ihnen zugeschriebene Rolle passen und/ oder Wie Identität und Gender entstehen und sich festigen ist ein lan- die nicht verstehen, warum sie bestimmte Kleidung tragen sollen. ger Prozess, den alle Menschen durchleben. Die genderorientier- Wer sich in diesen Rollen und Verhaltensweisen nicht wiederfindet, te Sozialisationstheorie (Gender Studies) geht davon aus, dass hat oft zunächst keine Wörter parat, um das zu beschreiben oder der Erwerb von Geschlechtsidentität und Geschlechterrollen ein trifft auf Unverständnis von Erwachsenen. sozialer Prozess ist. Das weltberühmte Zitat von Simone de Beauvoir bringt es auf den Punkt: Auch in Aufklärungsbüchern sind hauptsächlich cis-Mädchen* und cis-Jungs* zu sehen. Abbildungen von verschiedenen Geschlechtsidentitäten oder sexuellen Orientierungen sind in Aufklärungsbüchern kaum zu finden. Es scheint so, als würden nur Menschen angesprochen, die heterosexuelle Beziehungen führen. Hinzu kommt, dass auch Behinderungen, dicke Körper und Fluchtund Migrationshintergründe nicht angesprochen werden Die Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht (Sex) und sozialem Geschlecht (Gender) wird somit zu einem gesellschaftli- und die abgebildeten Personen meistens weiß sind. Somit werchen Konstrukt, also zu etwas Erlerntem und Anerzogenem. Über den die Realitäten und Bedürfnisse von Schwarzen Menschen und die Erziehung im Elternhaus oder durch Institutionen wie Kin- Menschen of Color nicht beachtet. Es gibt inzwischen immer wiedergarten, Schule oder Uni werden bestimmte „weibliche“ oder der Nischenbücher, Zeitschriften oder Zines für genau die oben „männliche“ Rollen und Funktionen vermittelt und verinnerlicht. genannten Zielgruppen. Aber leben wir nicht in einer Zeit, in Dabei sind es besonders die folgenden drei kulturellen Konstruk- der alle gleichermaßen, nebeneinander angesprochen und mit tionen, die unsere Geschlechterrollen scheinbar „natürlich“ be- abgebildet werden können? Ebenso beunruhigend ist es, dass Mädchen* und Frauen* immer noch nur eingeschränkten Zugang stimmen: zu sexuellem Wissen haben. Das Wissen um Körperfunktionen, Anatomie und auch zur sexuellen Lust ist theoretisch zugänglich, 1. B iologisch gibt es nur die zwei Geschlechter – Mann und Frau dennoch bestätigen sowohl meine Auseinandersetzung als auch 2. Es gibt dazu analog ein soziales Geschlecht (Gender) mit ganz Studien, dass es Kindern und Jugendlichen immer noch an grundlegendem Wissen fehlt. Dies beeinträchtigt die Möglichkeit, sexubestimmtem Verhalten und Rollen ellen Selbstwert und sexuelles Selbstbewusstsein zu entwickeln. Viele junge Frauen* entdecken ihre Sexualität weiterhin erst im 3. Männer und Frauen beziehen sich scheinbar selbstverständlich

„Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird dazu gemacht“.

aufeinander. 26

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