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Fachartikel
from Jahrbuch 2009
by bigdetail
Franz Berghold
Die Entwicklung der Österreichischen Gesellschaft für Alpin- und Höhenmedizin 1989 bis 2009
Um diese Entwicklung zu verstehen, muss man den Bogen etwas weiter spannen – zurück zu den Anfängen der Alpinistik und der Bergrettungsmedizin.
Alpinistik und Bergrettung
Aus heutiger Sicht wirkt der Bergsport ja eher als der Inbegriff einer uralten, traditionsbewussten Tätigkeit, so alt etwa wie der Teil der Menschheit eben, der im Gebirge lebt. Tatsächlich wurden aber die Berge historisch eher gemieden, galten sie doch als Sitz der Götter und Dämonen; selbst Dante siedelte in seinem Inferno die Hölle ins Gebirge.
Erst vor rund 150 bis 200 Jahren begann man Alpengipfel zu ersteigen, und Bergsteigen als Sport entwickelte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die großen alpinen Vereinigungen sind demnach auch kaum älter als einhundert Jahre.
Mit der Breitenentwicklung des Bergsports kam es aber leider auch immer wieder zu Alpinunfällen. So war ein tödlicher Lawinenunfall auf der Rax bei Wien der Anlass, die weltweit erste alpine Rettungsorganisation zu gründen (ausgerechnet in Wien, ärgern sich auch heute noch einige Tiroler). Allerdings: in den ersten Jahrzehnten bestand die Funktion alpiner Rettungsvereinigungen in erster Linie im Bergen von Toten.
Rettungsgruppe auf der Raxalpe (1896)
Von den Wurzeln der Bergrettungsmedizin zur medCom iKAr
Wie in vielen technologischen Bereichen beruhte die Fortentwicklung auch der Bergrettungstechnik auf militärischen Bestrebungen. Die beiden furchtbaren Weltkriege fanden in besonders grauenhafter Ausprägung in Gebirgen statt. Aber erst nach dem Weltkrieg, um die Mitte des 20. Jahrhunderts, gab es im Rahmen der alpinen Rettungsorganisationen die ersten Gehversuche einer Bergrettungsmedizin. Im Mai 1956 wurde die Internationale Kommission für Alpines Rettungswesen (IKAR) gegründet, ein Zusammenschluss von nationalen Gruppen vornehmlich in den Alpen. Ihr erster und legendärer Präsident war bezeichnenderweise der praktische Arzt Rudi Campell aus Pontresina in der Schweiz. Maßgebliche Protagonisten der ersten Stunde waren übrigens die Österreicher Elmar Jenny und Gerhard Flora, die späteren Gründungspräsidenten der Österreichischen Gesellschaft für Alpin- und Höhenmedizin.
Und wieder dauerte es Jahrzehnte des Bemühens und der Erfahrungssammlung bis zur allmählichen Etablierung einer einigermaßen standardisierten Bergrettungsmedizin. Die IKAR schaffte eine eigene notfallmedizinische Subkommission (MEDCOM IKAR). Und wieder ging hier Österreich beispielgebend voran: Seit 1971 veranstaltete Gerhard Flora alle zwei Jahre die Internationalen Bergrettungsärztetagungen in Innsbruck, die sich zu den bis heute maßgeblichen Eckpfeilern in der Bergrettungsmedizin entwickeln sollten.
die Wurzeln der HöHenmedizin
Die Alpinmedizin, wie wir sie heute kennen, beruht auf zwei wesentlichen Grundpfeilern. Auf der Bergrettungsmedizin und auf der Höhenmedizin – genaugenommen: der Medizin der großen und extremen Höhen.
Auch hier kam eigentlich erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts Bewegung ins Spiel: Jahrzehntelang waren es vornehmlich britische Gruppen, die mit breiter nationaler Unterstützung die unsägliche Schmach einer früheren Weltmacht, weder den Südpol noch den Nordpol bezwungen zu haben, wettzumachen versuchten, indem sie seit den frühen Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts in mehreren, außerordentlich verbissenen Wellen den dritten Pol der Erde, den Everestgipfel, berannten. Die Geschichte ist bekannt: Am 29. Mai 1953 legten Edmund Hillary und Tenzing Norgay der eben gekrönten britischen Königin schließlich den heiß ersehnten Gipfelsieg zu Füßen.
Was aber kaum bekannt ist: Der Erfolg der Everest-Expedition 1953 war in erster Linie der ersten höhenmedizinischen Forschungsexpedition der Geschichte zu verdanken. Sie fand 1952, noch während sich Schweizer unter Raymond Lambert (und schon damals Tenzing Norgay!) am Everest verzweifelt abmühten, ganz in der Nähe, im Bereich des Achttausenders Cho Oyu statt. Sie hatte erklärtermaßen ein einziges Ziel: Die medizinisch-physiologischen Gründe für das bisherige Scheitern am höchsten Berg der Erde zu erkunden und taktische Tricks herauszuarbeiten (optimale Sauerstoffatmung, Trinken usw.). Die Erstersteigung des Mount Everest war also eng verbunden mit der Geburtsstunde der Höhenmedizin.
Erst Jahrzehnte später wandte man sich auch den so genannten Mittleren Höhen zu, den alpinen Höhenlagen also. Immerhin bevölkern alljährlich 40 bis 60 Millionen Touristen die Hochgebirge der Alpen. Nicht ohne Stolz darf man erwähnen, dass hier österreichische Forscher – Karl Inama, Egon Humpeler, Martin Burtscher, Wolfgang Schobersberger u.a.m. – weltweit bahnbrechende Resultate erzielt haben, die heute aus der modernen Urlaubs- und Rehabilitationsmedizin nicht wegzudenken sind.
die gründung der medCOm uiAA
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte die immer breitere Palette der Bergsportarten einen bis heute ungebrochenen Boom. Damit stieg auch das Interesse nicht nur an der Bergrettungsmedizin – darum kümmerte sich ja die MEDCOM IKAR – sondern auch an der Höhenmedizin, an der Höhenakklimatisation, am Kinderbergsteigen und an vielen anderen gesundheitlichen Aspekten der Alpinistik. Der Weltbergsportverband UIAA (Union Internationale des Assoziations d`Alpinisme)
gründete daher 1979 eine Medizinischen Kommission (MEDCOM UIAA). Sehr bald sollte sich zwischen den beiden MEDCOMs eine sehr intensive Kooperation entwickeln, zumal ja die Grenzen zwischen der Bergrettungsmedizin (aus der sich die alpine Notfallmedizin und die alpine Hubschrauberrettung entwickelten) und der Höhenmedizin mit ihren mannigfaltigen alpinmedizinischen Aspekten fließend waren.
Der Pferdefuß von MEDCOM IKAR und MEDCOM UIAA bestand aber von Anfang an darin, dass es sich dabei um reine Delegiertenclubs handelte. Außenstehende, also nicht von den nationalen Institutionen und Verbänden entsandte ÄrztInnen waren quasi ausgeschlossen. Im Wissen um dieses Manko gründete die MEDCOM UIAA 1985 in Chamonix die International Society for Mountain Medicine (ISMM). Diese war sowohl als öffentlich zugängliche Fachgesellschaft als auch als Träger und Förderer der wissenschaftlichen Forschung gedacht.
die ersten nAtionAlen Vereinigungen für Alpin- und HöHenmedizin gründeten siCH
Sehr bald erwiesen sich ihre weltumspannende Anonymität ebenso wie die gelegentliche Tendenz zu wissenschaftlicher Abgehobenheit als Pferdefüße der ISMM. Die nationalen Interessen und Gegebenheiten waren zu unterschiedlich, als dass sie unter einem gemeinsamen Dach hinreichend repräsentierbar erschienen. Die ISMM kam also jahrelang nicht vom Fleck. Für interessierte ÄrztInnen in den einzelnen Gebirgsländern war die Society zu anonym und fremd. Es regte sich der Wunsch, überschaubare Identitäten zu schaffen, nämlich nationale Gesellschaften.
Dass die Österreicher die weltweit ersten sein würden, die eine nationale Gesellschaft für Bergmedizin gründen würden, war aber im Rückblick eigentlich bloß purer, schicksalhafter Zufall. Die Geschichte war folgende:
Im Mai 1987 fand in Davos ein erster großer Weltkongress für Höhenmedizin statt – mit stolzen 5 (fünf!) Teilnehmern aus Österreich (davon waren drei geladene Referenten und nur zwei Teilnehmer, nämlich mein bester Freund Karl und meine spätere Frau Hildegard). Unglaublich aber wahr: In Österreich wusste praktisch keiner von den vielen an der Alpinmedizin interessierten Kolleginnen und Kollegen von dieser Veranstaltung direkt vor unserer Haustüre. Ich war als Delegierter Österreichs bei der MEDCOM UIAA informiert. Dieses beschämende Dilemma, vor dem seltsamen Hintergrund der paradoxen Tat-
sache, dass die österreichische Bergrettungsmedizin unter Elmar Jenny und Gerhard Flora ja Weltspitze war, veranlasste noch vor Ort Egon Humpeler, Wolfgang Schobersberger und mich, in einem Davoser Kaffeehaus die Idee einer österreichischen Fachgesellschaft zu überlegen. Ihr Hauptzweck sollte in einer gegenseitigen Informations- und Kooperationsplattform bestehen, zumal damals, 1987, das Internet noch in den Kinderschuhen steckte. So ein beschämendes Informationsdefizit wie damals in Davos sollte jedenfalls nie mehr möglich sein.
Jenny und Flora waren einverstanden, und so fand dann am 15.4.1989, vor über 20 Jahren, die Gründungsversammlung der Österreichischen Gesellschaft für Alpin- und Höhenmedizin statt. Sie wurde damals übrigens bald die heute noch mitgliederstärkste nationale alpinmedizinische Fachgesellschaft.
Weitere Gesellschaften folgten bald: In den USA, in Frankreich, Japan, Deutschland, Schweiz, Italien, Spanien, Tschechien usw.
Mittlerweile gibt es das Web, und damit würde sich eine Gesellschaft wie die unsrige eigentlich wieder erübrigen. Man erhält ja heute jede gewünschte Information auf Knopfdruck frei Haus. Trotzdem gibt es uns noch – warum eigentlich? Ich weiß es nicht, ich ahne nur irgendwie, dass es daran liegen mag, für mich zumindest, dass hinter der alpinmedizinischen Wissenschaft und der fachlichen Wissensvermittlung Menschen stehen.
So sind die von der Österreichischen Gesellschaft für Alpin- und Höhenmedizin gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Berg- und Expeditionsmedizin seit 18 Jahren durchgeführten, bis heute 87 einwöchigen Internationalen Lehrgänge für Alpinmedizin zum International Diploma in Mountain Medicine (seit 1992 3.494 Teilnehmer) nach wie vor überfüllt und gelten als weltweit größte „Bergärzteschmiede“. Dort treffen sich nämlich Gleichgesinnte, denen das Bergsteigen ebenso am Herzen liegt wie die Medizin.