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Bio mit Mehrwert

Bio mit Mehrwert

Immer mehr ist nicht mehr

Minimalismus, DIY und bewusster Verzicht liegen im Trend. Für Bio bedeutet das eine Rückkehr zu den eigenen Wurzeln.

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→ Sich einfach den Einkaufskorb voll packen, ohne groß nachzudenken – das war einmal. Heute kaufen gerade Bio-Kunden bewusster ein, greifen zum nachhaltigsten Produkt. Oder rühren Brotaufstriche, Gesichtsmasken etc. gleich zu Hause selbst an, ziehen Kräuter auf der Fensterbank und lassen liegen, was sie als überflüssigen Schnickschnack betrachten. Eigentlich ganz im Sinne der Bio-Branche. Denn die ist schließlich schon vor über 40 Jahren angetreten für umweltbewusstes Wirtschaften und ein Umdenken beim Konsum.

Aufbruch in die PostBequemlichkeits-Ära

Das duftende, selbst gebackene Brot wird in ein Bienenwachstuch eingeschlagen, das die Freundin zu Weihnachten gefertigt und geschenkt hat. Mit der handbetriebenen Flockenquetsche, für einiges Geld vor kurzem angeschafft, schmeckt das Müsli am Morgen noch besser. Auf der Fensterbank wachsen die Sprossen im Keimgerät. In einer Ecke der Küche stehen leere Gläser mit Schraubdeckel und einige Tupperdosen für den nächsten Einkauf bereit, schließlich soll möglichst viel Verpackungsmüll vermieden werden. Im Putzschrank hat ein Baukastenset Einzug gehalten, mit dessen Zutaten – jeweils entsprechend gemixt – sowohl Wäsche gewaschen als auch Geschirr gespült oder Fußböden gereinigt werden können: Willkommen in der Post-Bequemlichkeits-Ära. Der Trend ist nicht zu übersehen. Viele Leute wollen weniger gedankenlos konsumieren. Wollen weg vom Vorgefertigten, hin zum Selbstgemachten. Weg vom überflüssigen Verpackungsabfall, hin zu Mehrweg oder dem Befüllen eigener Behältnisse. Weg vom immer mehr und mehr, hin zu einem nachhaltigen und verantwortungsbewussten Einkauf.

Noch ist das keine Massenbewegung. Es sind vor allem die ohnehin kritischen Verbraucher, die dem neuen Trend folgen. Die Leute, die Wert auf gute Produkte legen, auf Nachhaltigkeit und umweltschonende Herstellung. Genau die Leute, die eben auch Bio-Produkte einkaufen. Hat die Bio-Branche da etwa etwas falsch gemacht, dass ihre Kunden jetzt auf Verzicht und Do-it-yourself setzen?

Für Umdenken und ein anderes Wirtschaften →

Das Ergebnis des eigenen Tuns sehen

»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, findet Kathrin Jäckel, Geschäftsführerin für den Bereich Kommunikation und Markt beim Bundesverband Naturkost Naturwaren (BNN). Sie sieht die neue Beliebtheit des Selbermachens eher als Ausgleich zu Stress und dem Gefühl, dass sich die Welt immer schneller dreht: »Wir haben zum einen das Bedürfnis nach Verlangsamung und zum anderen den Wunsch, ein Ergebnis unseres Handelns zu sehen. Wer den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt, weiß zwar abends auch, was er getan hat, kann es aber nicht vorzeigen. Das ist anders, wenn ich ein Brot backe, Marmelade einkoche oder meine eigene Kleidung nähe.« Diese Meinung teilt Daniel Anthes vom Zukunftsinstitut in Wien, wo die großen und kleinen Trends unserer Zeit erforscht und analysiert werden. »Jeder Megatrend erzeugt irgendwann einen Gegentrend. Das riesige Warenangebot durch die Globalisierung, unsere Überflussgesellschaft, die unendlichen Nachrichtenströme und permanente Erreichbarkeit – all das führt dazu, dass wir uns überfordert fühlen. Der Gegentrend ist dann die Individualisierung, um wieder das Gefühl der Selbstbestimmung und der Selbstverantwortung zu bekommen.«

TI PPS & TRI CKS Z U M T H E M A A U F SEITE 12/13

Schutz vor Überforderung und bewusstes Gestalten von Nachhaltigkeit

Für die einen sei der »neue Minimalismus« eine Art psychischer Selbsthilfe, um mit dem Überangebot und der »Immerverfügbarkeit« von Produkten und Informationen zurechtzukommen. Für die anderen sei der bewusste Verzicht mit dem Anspruch verbunden, durch das veränderte Konsumverhalten die Gesellschaft nachhaltiger zu gestalten. »Klar ist jedenfalls, dass Wohlstand bei vielen Menschen in Zukunft nicht mehr durch Besitz, sondern durch Erfahrungen und Zeit definiert wird«, so Anthes.

So ist dann wohl auch die Do-it-yourselfWelle ein kleines Stück des neuen Luxusgefühls: Es gilt als schön und erstrebenswert, Zeit zu haben für kreative (Haus-) Arbeit, die sich nicht finanziell lohnen muss, die ein Gegengewicht zum Job und dem Leben in der Stadt bildet. Und wenn sich diese Selbstverwirklichung außerdem noch optisch ansprechend bei Instagram, Pinterest und Co. darstellen lässt, umso besser: Schließlich brauchen auch Individualisten Anerkennung, Zuspruch und den Kontakt zu Gleichgesinnten.

Für Umdenken und ein anderes Wirtschaften

Die Bio-Branche hat also nicht nur nichts falsch gemacht, sondern der Trend zum bewussten und nachhaltigen Konsum passt eigentlich genau zu dem, wofür die »Ökos« einst angetreten sind – für ein Umdenken und ein anderes Wirt schaften. Rückblick in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts: die FlowerPower-Bewegung der Hippies, die auf müpfige Studentenbewegung der 68er, die Frauenbewegung, der Club of Rome – und große Umweltskandale. Großflä-

»Klar ist jedenfalls, dass Wohlstand bei vielen Menschen in Zukunft nicht mehr durch Besitz, sondern durch Erfahrungen und Zeit definiert wird.«

chige Dioxinkontaminationen in Hamburg durch ein Werk von Boehringer, Hormone im Kalbsfleisch, Pestizide in der Muttermilch, giftige Dämpfe aus Holzschutzmitteln, die für Innenräume ausgelobt waren, und etliches mehr. Einige wenige Menschen haben die Nase voll, sie wollen etwas anderes. Sie wollen die Umwelt schützen, wollen, dass der Planet für zukünftige Generationen bewohnbar bleibt. Sie sind bereit, ihren Lebensstil zu verändern, weniger und anders zu konsumieren. Und sie sind überzeugt, dass eine andere Landwirtschaft und ein anderes Wirtschaften möglich ist.

»Müslis« als Gegenmodell

So wie Joseph Wilhelm und Jennifer Vermeulen: Sie mieten 1974 einen Bauernhof in Oberbayern, um dort gesunde Lebensmittel anzubauen. Ein Jahr spä ter eröffnen sie in Augsburg den Naturkostladen »Rapunzel Naturspeisen« und verkaufen dort selbst gemachtes Müsli, Nussmuse und Fruchtschnitten. Oder Ulrich Walter: Der gelernte ReedereiKaufmann übernimmt 1979 einen klei nen Bio-Laden im niedersächsischen Diepholz – und stellt erstaunt fest, dass es weder Kaffee noch Tees und Kräuter aus biologischem Anbau gibt. Kurzentschlossen gründet er die Firma Lebensbaum, fördert Anbauprojekte in aller Welt und nimmt die Herstellung selbst in die Hand. Die Rohwaren siebt er im heimischen Betrieb in Wäschewannen und füllt sie mit kleinen Schippen in Tüten ab – zwei Beispiele für viele ähnliche PionierGeschichten. »Naturkost« hieß Bio damals, »Müslis« oder auch »Körnerfresser« wurden die Bio-Protagonisten der ersten Stunde mehr oder weniger liebevoll genannt. Einfach sollten die Produkte sein, transparent ihre Herkunft, nachvollziehbar die Verarbeitung, möglichst schlicht verpackt. Sowohl bei den Herstellern als auch bei den Menschen, die in den kleinen, anfangs oft schlecht sortierten Naturkostläden aus Überzeugung einkauften, stand das umweltbewusste Wirtschaften ganz oben auf der Agenda. Weniger, aber dafür natürlich und nachhaltig – also ein »zurück zu den Wurzeln«?

Von der Naturkost zur Bio-Convenience

Als die Nachfrage nach ökologisch produzierten Lebensmitteln stetig zu steigen begann, professionalisierten sich die Bio-Pioniere. Und dabei ging es ihnen durchaus nicht nur darum, am Markt zu bestehen: Mehr Kunden sollten für Bio gewonnen werden, der Ausbau von Produktion und Produktpalette war der logische Weg dahin. Kleine Firmen, aus Idealismus gegründet, entwickelten sich zu florierenden mittelständischen Unternehmen. Rapunzel beispielsweise beschäftigt gegenwärtig etwa 400 Mitarbeiter und ist international tätig. Von Konsumverzicht war schnell keine Rede mehr: Tiefkühlpizza, Backmischungen, Gummibärchen, Porridge im Becher, bio-vegane Currywurst in der Schale für die Mikrowelle – so gut wie alles, was es im konventionellen Einzelhandel gibt, ist inzwischen auch in den Regalen der Bio-Märkte zu finden. »Das bediente ja auch die Nachfrage«, verteidigt Kathrin Jäckel vom BNN diese Entwicklung, die auch branchenintern durchaus immer wieder heftig diskutiert wurde. »Auch Convenience-Kunden wollten gerne Bio-Qualität.«

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Jetzt treffen sich die ursprünglichen Ideen der Bio- Pioniere wieder mit

Jetzt treffen sich die ursprünglichen Ideen der Bio- Pioniere wieder mit dem Zeitgeist.

»Der Spirit lebt«

Jetzt treffen sich die ursprünglichen Ideen der Bio-Pioniere wieder mit dem Zeitgeist, mit den veränderten Einstellungen zum Einkaufen und Besitzen. »Der nachhaltige Konsum, das ist doch das, wofür die Bios seit Jahrzehnten gekämpft haben«, freut sich Jäckel über die gegenwärtige Entwicklung. »Und der Spirit in der Branche lebt.« Glaubwürdigkeit ist und bleibt jedenfalls das Pfund, mit dem die Bio-Branche wuchern kann. Denn verraten hat sie ihre Ideale nie, höchstens vielleicht hin und wieder ein bisschen vernachlässigt. Doch der konsequente ökologische Anbau, die deutlich strengeren Kriterien bei den ökologischen Anbauverbänden im Vergleich zum EU-Biosiegel zu Tierhaltung und Ackerbau, die intensive Qualitätsarbeit, die vielen Projekte zum fairen Handel, das soziale Miteinander – all das hat »die Bios« immer von der konventionellen Land- und Lebensmittelwirtschaft unterschieden, ebenso wie der Anspruch, sich weiter entwickeln und Lösungen auf die drängenden Probleme der Zeit finden zu wollen.

Mit Bio Menschen bewegen

Klimawandel und der Artenschwund, diese Themen bewegen die Menschen gegenwärtig mehr denn je. Das gilt nicht nur für die Verbraucher, sondern auch für die Unternehmer: »Viele aus der Biobranche sehen alleiniges Wachstum nicht unbedingt als Muss und hinterfragen wirtschaftliche Zwänge mit Blick auf das Gemeinwohl«, beobachtet Kathrin Jäckel vom BNN. Statt auf Globalität setzt so manche Firma heute ihre Schwerpunkte bewusst auf Regionalität und Saisonalität. Auch Verpackungen sind ein wichtiges Thema: Viele Naturkostläden bieten inzwischen Unverpackt-Stationen, an der Fleisch- und Käsetheke werden eigene Behältnisse befüllt. Über einheitliche Mehrwegsysteme wird unternehmensübergreifend nachgedacht. All das muss aber auch publik gemacht und offensiv dargestellt werden, um alte Kunden weiter zu überzeugen und neue dazu zu gewinnen, findet Daniel Anthes. Der Trendforscher hält es auf jeden Fall für notwendig, dass auf die derzeitige Stimmung reagiert wird: »Nachhaltigkeit und Überkonsum müssen thematisiert werden, durch Kampagnen, Produkte oder Dienstleistungen. Bio ist noch lange kein Mainstream, da ist noch viel Luft nach oben.«

Denn so sinnvoll Verzicht und bewussteres Konsumieren ist: Es wäre auch ein großer Fortschritt für den Klimaschutz, wenn deutlich mehr Menschen ihre Ernährung auf ökologisch angebaute Lebensmittel umstellen. Und das eine schließt das andere ja nicht aus.

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