
6 minute read
Vestibuläre Störungen
system auf eine veränderte Kopfposition entsprechend reagieren kann. Diese Verbindung zwischen Gleichgewichtssystem und Gehirn ist auch der Grund, wieso wir uns beim Stolpern auffangen: Unsere Muskulatur ist über Reflexbahnen mit unserem vestibulären System gekoppelt. Verändert sich plötzlich und unerwartet die Position unseres Kopfes (Sturz), führt dies zu einer reflektorischen Anspannung unserer „Anti-Gravitations-Muskeln“ in der hinteren Kette, was uns vor einem Sturz bewahrt, solange das System einwandfrei funktioniert. Ist dieses System kompromittiert, kommt es zu einem Sturz, der eine Verletzung nach sich ziehen kann. Natürlich lässt sich ein Sturz nicht immer vermeiden, aber das Training und die Unversehrtheit des vestibulären Systems tragen dazu bei, das Risiko einer Verletzung zu minimieren.
AUFGABEN DES VESTIBULÄREN SYSTEMS
Das vestibuläre System gibt uns konstant Auskunft darüber, wo wir uns im Raum befinden und in welche Richtung wir uns bewegen; es hilft uns, unsere Balance zu halten und sagt unseren posturalen Muskeln, was zu tun ist. Daher sind die Körperhaltung und das Funktionieren des vestibulären Systems eng miteinander verknüpft. Die Gravitation ist dabei die primäre Kraft, auf die das vestibuläre System reagiert. Beim zeitlichen Verlauf eines Schwindels wird unterschieden: • Ein Schwindel über Sekunden bis wenige Minuten ist auf einen Lagerungsschwindel (BPPV), eine
Vestiburalisparoxysmie (unter einer Minute), eine Bogengangsdehiszenz (knöcherner Defekt des meist vorderen Bogengangs), eine paroxysmale Hirnstammattacke, eine orthostatische Dysregulation oder eine TIA (Transitorische Ischämische Attacke) zurückzuführen.
SCHWINDEL: WICHTIGE FRAGEN
Folgende vier Aspekte sind bei der Einordnung von Schwindelsymptomen relevant:
1.
Wie ist der zeitliche Verlauf?
2.
Welche Symptome sind erkennbar?
3.
Gibt es modulierende Faktoren?
4.
Was sind die Begleitbeschwerden?
• Schwindelattacken über viele Minuten bis hin zu Stunden deuten entweder auf Morbus Menière (20
Minuten bis 12 Stunden), auf eine vestibuläre Migräne (5 Minuten bis 72 Stunden) oder auf eine episodische Ataxie hin. Hierbei liegt meist eine einseitige Hemmung oder Übererregung des vestibulären Systems vor. Da das vestibuläre System zweiseitig angelegt ist, können sich vestibuläre Beschwerden auch nur auf eine Seite beziehen. Akut einsetzende Störungen, die über Tage bis Wochen dauern, sind ein Anzeichen für eine periphere Vestibulopathie oder einen Hirnstamm- oder ein Kleinhirninfarkt. Schwindelsymptome, die mindestens drei Monate andauern, deuten auf eine chronische Vestibulopathie, auf einen funktionellen Schwindel, auf eine neurodegenerative Erkrankung, auf eine Störung des Kleinhirns oder auf einen Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule hin. PERIPHERES ODER ZENTRALES PROBLEM?
Um zu prüfen, ob es sich um eine Störung des peripheren oder des zentralen Systems handelt, hilft die Differenzierung über das Gefühl, ob sich der Raum bewegt (eher peripheres Problem) oder ob man das Gefühl hat, sich selbst zu bewegen (zentrales Problem). Ein zentrales vestibuläres Problem ist der Hinweis auf eine funktionelle vestibuläre Störung, die mit der Struktur des Gleichgewichtsorgans nichts zu tun hat. Dies deutet in diesem Fall eher auf ein Integrationsproblem des Nervensystems hin.
Bei der Art der Schwindelsymptome wird unterschieden in einen Drehschwindel, wie z. B. bei einer Karusselfahrt (z. B. der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel BPPV oder die akute einseitige Vestibulopathie), oder einen Schwankschwindel, wie bei einer Bootsfahrt (beidseitige Vestibulopathie oder posttraumatischer Schwindel), hin. Der Drehschwindel entsteht durch eine Störung der Bogengänge. Da die Bogengänge Kopfrotationen erfassen, ist die Art des Drehschwindels auch gleichzeitig ein Hinweis darauf, welcher Bogengang betroffen sein kann. Bei einem Lagerungsschwindel sind in etwa 90 Prozent aller Fälle die hinteren Bogengänge betroffen; diese registrieren das Nachhintenführen des Kopfes (Nackenextension).
Ein Benommenheitsschwindel deutet auf eine funktionelle Prob-
lematik hin. Die Modulierbarkeit des Schwindels bezieht sich darauf, ob und inwieweit ein Schwindel durch Bewegung ausgelöst werden kann. Eine Veränderung der Kopfposition relativ zur Schwerkraft deutet auf einen BPPV oder einen zentralen Lagenystagmus hin, horizontale Kopfdrehungen auf eine Vestibulariparoxysmie, Husten, Pressen, Niesen oder schweres Heben auf eine Bogengangdehiszenz oder eine Fistel, bestimmte soziale Situationen wie große Menschenmengen oder schnelle Bewegungen im visu-
ellen Feld auf einen funktionellen Schwindel mit Integrationsproblematik. Eine Besserung des funktionellen Schwindels ergibt sich häufig durch Ablenkung, leichten Alkoholgenuss oder Bewegung.
MASSIVE STRESSSITUATION
Begleitsymptome sind typischerweise ein Tinnitus (Morbus Menière), ein verstärktes Hören körpereigener Geräusche (Bogengangdehiszenz) oder eine vestibuläre Migräne (episodische Kopfschmerzen und Licht- oder Lärmempfindlichkeit). Übelkeit und Erbrechen sind unspezifische Begleitsymptome, die bei akuten und chronischen vestibulären Störungen auftreten können und auf eine Beteiligung des Hirnstamms hindeuten. Übelkeit weist auf eine va-
gale Beteiligung und eine Dysbalance zwischen Sympathikus und Parasym-
pathikus hin. Dies ist meist die Folge einer massiven Stresssituation, wie sie bei vestibulären Störungen häufig auftritt. Akute und plötzlich auftretende Symptome werden in der Regel in der Klinik behandelt. Periphere vestibuläre Störungen gehören zum Behandlungsgebiet des HNO-Arztes. Die funktionellen Störungen sind meist unspezifisch und medizinisch schwierig zu behandeln. Die Ursachen der funktionellen Störungen, die ein zentrales Verarbeitungsproblem des Nervensystems sind, werden bei neurologischen Tests häufig nicht entdeckt.
Zentrale Verarbeitungsprobleme beziehen sich meist auf eine Kommunikationsstörung mit dem visuellen System (vestibulookularer Reflex) oder auf ein Integrationsproblem mit
dem Kleinhirn. Störungen im Kleinhirn, die zu vestibulären Problemen führen, machen sich unter anderem als Episoden von Schwindel und Desorientierung bemerkbar. Die tieferen Rückenmuskeln sind dabei meist verspannt und schmerzen schnell bei Belastung oder langem Stehen. Häufig liegt eine chronische Verspannung der lumbalen oder cervicalen Muskeln vor. Benommenheit entsteht meist bei einer Fahrt im Auto oder Zug. Große Menschenansammlungen verschlechtern in der Regel die Symptomatik. In der spezifischen Überprüfung fällt hierbei auf, dass der Gang breit ausgeführt wird. Dieser zeigt sich häufig instabil mit Schwanken in die Richtung der Dysfunktion.
Bei visuellen Testungen fällt auf, dass Betroffene häufig Doppelbilder
sehen. Dies ist besonders auffällig bei der Ausführung von Vergenzübungen wie dem „Pencil Push Up“. Weiche Folgebewegungen zeigen sich bei Defiziten als ruckartig. Dabei kann der Kopf meist nicht stabil gehalten werden, während isolierte Augenbewegungen ausgeführt werden. Das autonome Nervensystem ist meist fehlreguliert durch mittleren bis starken Stresssymptomatik.

TRAINING
Ist das Kleinhirn an vestibulären Störungen beteiligt, sollten primär Blickstabilisierungsübungen, Folgebewegungen und spezifische Blicksprünge entsprechend der Examination ausgeführt werden und zusätzlich Rotationsübungen auf der Seite der jeweiligen Störungen. Diese können zum Beispiel erst auf einem Drehstuhl ausgeführt werden und dann im Stand. Möglich sind auch sogenannte
PATRICK MEINART
Der Sporttherapeut und Psychologe ist Gründer der RELEASE FITNESS Academy und Ausbilder im Bereich des neurozentrierten Trainings. Er arbeitet an der Schnittstelle zwischen Krafttraining, Therapie und Sport auf Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse. www.release-fitness.com Rolling Patterns auf dem Boden. Eine Stimulation der Makulaorgane kann über Federn, Wippen oder Vorwärts-/ Rückwärtsgehen erfolgen.
Stehen vestibuläre Probleme in Verbindung mit dem visuellen System, kann dies über die Ausführung des vestibulookularen Reflexes
überprüft werden. Hierbei wird ein Objekt auf Augenhöhe fokussiert, während der Kopf in unterschiedliche Kopfpositionen rotiert
Die Positionierung des Kopfes entspricht der Aktivierung der jeweiligen Bogengänge. Hierbei wird überprüft, ob spezifische Bogengänge eine Überaktivität aufweisen (in diesem Fall wird das Gleichgewicht schlechter) oder ob ein visuelles Defizit vorliegt, was sich durch eine mangelnde Stabilisierung bemerkbar macht. Die Differenzierung bedarf jedoch weiterer Tests wie Folgebewegungen und Blicksprünge, um zu erkennen, inwieweit das visuelle System betroffen ist und sich negativ auf das vestibuläre System auswirken kann.
INFINITY WALK
Eine weitere Überprüfung und gleichzeitig Übung für die vestibuläre Integration ist der Infinity Walk. Diese Übung dient zwar primär der Verbesserung der Kommunikation beider Gehirnhälften, ist gleichzeitig aber auch ein Test zur Überprüfung des Gleichgewichtssystems, da der Infinity Walk eine Gangübung ist, die in einer Schleife (einer 8) ausgeführt wird. Dabei wird der Blick auf einen Punkt fixiert (Blickstabilisierung). Dies erfordert eine ausreichende Rotationsfähigkeit der HWS, was wiederum zu einer Aktivierung der horizontalen Bogengänge führt. Aufgrund der Kombination aus Gangübungen, Kopfrotation und vestibulärer Aktivierung ist der Infinity Walk eine ausgezeichnete Möglichkeit, um die Funktion des vestibulären Systems zu prüfen und es gleichzeitig bei Defiziten zu trainieren. W