
8 minute read
Long Covid
Long Covid ist der Sammelbegriff für eine Vielzahl gesundheitlicher Langzeitfolgen nach einer Coronainfektion, die auch mehr als vier Wochen nach Beginn der Erkrankung an Covid-19 fortbestehen oder neu auftreten kann. Zu den häufigsten Langzeitfolgen zählen Müdigkeit, Erschöpfung und eine eingeschränkte Belastbarkeit (Fatigue), Kurzatmigkeit, Schlafstörungen, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Muskelschwäche/-schmerzen sowie psychische Probleme wie depressive Verstimmungen und Ängstlichkeit. Schlimmstenfalls können sich die Symptome manifestieren und der Betroffene wird diese nicht mehr los. Deshalb ist es besonders wichtig, bei den Erkrankten eine Chronifizierung rechtzeitig zu erkennen und die Krankheitszeichen therapeutisch anzugehen. Bei dieser schweren Erkrankung ist das Gehirn häufig durch entzündliche Prozesse mitbetroffen. Die sehr komplexe Struktur des Gehirns und des Nervensystems funktioniert bei Long-Covid-Betroffenen also nicht mehr wie vor der Erkrankung – die Neuronen „funken“ nicht mehr richtig. Schauen wir uns daher erst einmal die Struktur des menschlichen Gehirns genauer an.
DAS GEHIRN ALS ZENTRUM
Unser Leben und alle damit verbundenen Aktivitäten wie unser Denken, Fühlen, Sprechen, Atmen, Schmecken, unser Puls, unser Empfinden und sportliches Treiben – alles wird von unserem Gehirn gesteuert. Wie wir uns gerade bewegen wollen, ob wir in einem bestimmten Moment schnell genug reagieren oder ob wir uns konzentrieren können – die Befehle und damit die Reize, die wir für unser willkürliches und unwillkürliches Handeln bekommen, steuert ganz allein nur das Gehirn. Vom Aufbau sieht unsere „Steuerzentrale“ folgendermaßen aus: Das Großhirn ist, wie der Name schon sagt, der größte und schwerste Teil des Gehirns. Er sieht aus wie eine Walnuss. Das Zwischenhirn besteht aus dem Thalamus und dem Hypothalamus. Im unteren Bereich befindet sich der Hirnstamm, der besonders von den Nachwirkungen der Entzündungen im Gehirn betroffen ist, die durch Covid-19 entstehen können. Des Weiteren ist die Insula (Inselrinde), einer der fünf Großhirnlappen, ein zentraler Bereich, der ebenfalls stark betroffen ist. Im weiteren Aufbau unseres Gehirns haben wir noch das Mittelhirn und das Kleinhirn, graue (Nervenzellkörper) und weiße (Nervenfasern) Substanzen, Hirnnerven, den Liquor (Hirn- und Rückenmarksflüssigkeit), das Ventrikelsystem (Hohlräume, in denen der Liquor zirkuliert) und die Blut-Hirn-Schranke (Schutzmechanismus gegen Gifte, Krankheitserreger und andere schädigende Substanzen im Blut). Laut Charité in Berlin, die die Entzündungsmediatoren in der Gehirnflüssigkeit (Liquor) von Long-Covid-Erkrankten analysiert, können die Inselrinde und das Stammhirn betroffen sein. Demnach sollten beim Training Übungen ausgewählt werden, die speziell diese Hirnareale erreichen.
VESTIBULOOKULÄRER REFLEX
Astbewegung: Die Augen verfolgen das Ziel, wobei der Gegenstand bewegt wird, der Kopf aber ruhig bleibt.
Kopfbewegung: Während sich der Kopf bewegt, bleibt der Blick auf das (statische) Ziel fokussiert.


ME/CFS
Die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die bisher leider noch kaum erforscht ist, obwohl ca. 17 Millionen Menschen weltweit darunter leiden. Auch bei diesem Krankheitsbild sind eine akute Erschöpfung und Schwäche zu beobachten. Muskelschmerzen, übermäßige Müdigkeitsattacken (Fatigue), Herzrasen, „Hirnnebel“, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen sind häufig. Der Gang ins Badezimmer, das Einkaufen im Supermarkt oder einfach nur aus dem Bett aufzustehen, kann zur Qual und Tortur werden.
Wenn sich die Betroffenen einmal mehr anzustrengen versuchen, als ihnen möglich ist, kann eine Verschlechterung des Krankheitsbildes entstehen, die sogenannte Post-Exertional Malaise. Viele Patienten können nicht mehr arbeiten, sind hausgebunden und sogar bettlägerig. ME/CFS ist eine ausgeprägtere Form als das Long-Covid-Syndrom. Betroffene beider Erkrankungen sprechen gut auf Übungen aus der Neuroathletik an.
TRAINING
Eines vorweg: Trainer sollten darauf achten, dass Betroffene nicht ins Schwitzen kommen. Im Gegenteil: „Pacing“ ist angesagt, die Anpassung der Aktivitäten an das eigene Energieniveau. Betroffene brauchen Ruhe, müssen sich oft ausruhen und lernen, die Krankheit anzuerkennen und mit ihr umzugehen. Wie schon erwähnt, kann eine Überforderung zur Verschlechterung des Krankheitsbildes führen. Also sind die Coaches dazu angehalten, „Tempozügler“ einzusetzen und den Kunden Zeit zu lassen. Wir müssen dabei viel Geduld mit den Trainierenden haben. Ein zu starker Trainingsreiz wäre hier unangebracht und das falsche Signal für die zum Teil schwer kranken Klienten. Das Neuroathletiktraining mit Long-Covid-Kunden erfolgt ruhig: Wir trainieren das Gehirn und das Nervensystem als zentrale Elemente der Bewegungssteuerung, um die neuronale Plastizität zu beschleunigen, d. h., wir versuchen, die Nervenzellen und die Synapsen schneller arbeiten zu lassen, damit die Steuerung des Körpers wieder richtig funktioniert. Wir als Trainer müssen bei dieser Kundenzielgruppe in unseren klassischen Trainingsansätzen umdenken: Wir beschäftigen uns beim Long-Covid-Training fast ausschließlich mit dem Gehirn. Der Rest des Körpers und seine muskulären Systeme werden erst einmal nicht in Betracht gezogen, auch wenn der Körper immer eine Einheit bildet und das eine vom anderen gegenseitig abhängig ist – Stichwort: Interdependenz. Wir richten unsere Arbeit und unsere Konzentration bei diesem Training in erster Linie auf die neuronalen Bereiche.
EINBEINSTAND UND MUSKELKONTRAKTION
Einbeinstand:
Das Propriozeptionstraining auf einem Bein trainiert das Gleichgewichtsgefühl.
Muskelkontraktion:
Das isometrische Anspannen der Muskulatur senkt z. B. den Blutdruck; hier im Bild: „Druck des Körpers gegen einen Baum“. ÜBUNGSAUSWAHL



Um das Gleichgewichtsgefühl zu verbessern, gibt der Trainer dem Klienten die Aufgabe, ein Ziel anzuvisieren, wobei entweder der Blick bei der Bewegung des Ziels mitgeht, der Kopf aber statisch bleibt (Astbewegung, siehe Bild 3), oder der Blick und das Ziel bei der Kopfbewegung statisch bleiben (Kopfbewegung, siehe Bild 4). Ihr vestibuläres System wird gereizt und im Gehirn kommen die nötigen Informationen an, um die körperliche Balance zu optimieren. Die Nervenzellen verbinden sich wieder und der Körper empfängt positive Signale zur Verbesserung. Genauso positiv reagiert der erschöpfte Körper, wenn er seine innere Balance z. B. mit Waldbaden oder Achtsamkeitsübungen wiederfindet. Bei „Shinrin-yoku“ geht der Coach mit dem Kunden in den Wald, spaziert mit ihm in Ruhe über die Wege, bleibt an den Stellen, die dem Betroffenen zusagen, stehen und es werden entspannte Übungen zur Waldluftatmung und Sauerstoffaufnahme durchgeführt. Ein Beispiel für solch eine Übung ist die einseitige Nasenlochatmung, wie sie schon bei den alten Yogis vor vielen Tausend Jahren trainiert wurde. Der Trainer leitet den Betroffenen dazu an, das rechte Nasenloch mit einem Finger zuzuhalten,

während durch das linke Nasenloch eingeatmet ist von viel Sauerstoff und Blutzucker (Glukose) wird. Dann wird gewechselt und durch das rech- abhängig. Auf eine Mangelversorgung reagiert te Nasenloch ausgeatmet und wieder eingeat- es äußerst empfindlich. Daher: Viel Zeit an der met, während das linke Nasenloch zugehalten frischen Luft verbringen – das Training kann dort wird usw. Dies kann z. B. bei ei- sehr gut durchgeführt werden! ner Tachykardie helfen, den ho- Eine Ernährungsweise mit viel hen Puls bei geringer Belastung Obst und Gemüse halten den zu drosseln. Beim Einbeinstand Blutzuckerspiegel konstant, hat der Trainer die Möglichkeit, die Neuronen bleiben besondas Gleichgewichtsorgan im In- ders gut wach und „funken“ nenohr des Kunden zu beein- somit besser. Auch Schokolaflussen und somit die Informa- de ist erlaubt, denn sie liefert tionen in der Insula abzurufen, CHRISTIAN besonders schnell den Zucker, um herauszufinden, ob durch BORGGRÄFE den das Gehirn braucht, auch Long Covid die neuronalen Pro- Der Rehabilitations- und wenn es dadurch danach wiezesse dort eingeschränkt sind. Personal Trainer arbeitet der zu einem schnellen Abfall schwerpunktmäßig im Bereich Ist dies der Fall, also kann der Neuroathletik mit von Long des Blutzuckerspiegels kommt. Betroffene die Übung nicht lan- Covid betroffenen Kunden und Kurzfristig ist diese Art von ge ausführen (lange heißt ca. Profisportlern. Zucker vor einem Neuroath30 Sekunden auf einem Bein), www.borggraefe-training.de letiktraining sinnvoll, um das muss die Übung mehrmals und Nervensystem zu füttern, daoft trainiert werden. Das iso- mit die neuronalen Übungen metrische Anspannen trainiert effektiv, schnell und positiv die Muskelkontraktion; es aktiviert die Inselrin- funktionieren und verarbeitet werden. Wie schon de im Gehirn und viele Nervenenden, um z. B. erwähnt: Wir trainieren hier in erster Linie den Schmerzen bei Long-Covid-Betroffenen zu lin- Kopf, nicht den Körper, und brauchen dafür „Nerdern. Es senkt zudem den Blutdruck und hilft vennahrung“ im wörtlichen Sinne! den Kunden, wieder zu Muskelkraft zu kommen, die durch ihre Erkrankung stark abgenommen FAZIT hat. Die Energiekrise im Gehirn bei Long Covid Die gute Nachricht zuerst: Long Covid kann durch und ME/CFS hat auch einen enormen körperli- die richtige Anleitung und Übungsauswahl des Traichen Energieverlust zur Folge, da ja alles vom ners behandelt werden. 10 Prozent der Infizierten „Zentrum“ geschaltet wird. Funktioniert der von Corona bekommen Long Covid. Wenn es frühKopf nicht, kapituliert der Körper. Der Trainer zeitig erkannt und mit dem Training schnellstmögsollte diesen Klienten mit auf den Weg geben, lich begonnen wird, dann klingen bei 90 Prozent der auf ihre innere Stimme zu hören, Pausen zu ma- Betroffenen die Symptome nach 6 bis 12 Monaten chen, wenn sie sie brauchen, die Kräfte einzu- wieder ab. Die meisten Betroffenen finden ins alte teilen und sich nicht zu übernehmen Der Kunde Leben zurück. Es sind überwiegend junge Menschen bestimmt letztendlich das Tempo und die Länge zwischen 20 und 50 Jahren, die betroffen sind. Der der Übung. Du als Trainer kannst natürlich an- Neuroathletiktrainer braucht viel Erfahrung und fangs Wiederholungs- und Satzanzahl vorgeben, Gefühl im Umgang mit diesen Klienten. Er sollte musst dem Klienten aber die Möglichkeit geben, sich gut in seine zum Teil schwer erkrankten Klidie Übung vorzeitig zu beenden, wenn er nicht enten hineinversetzen und nicht zu viel von ihnen mehr kann und frühzeitig ermüdet. Erinnerung: verlangen. Jeder Betroffene leidet an unterschiedliBei Übertraining kann eine Verschlechterung chen Symptomen. Deshalb ist es sehr wichtig, das des Krankheitsbildes nicht reparable Symptome Training individuell und auf die jeweilige Sympauslösen. tomatik des Kunden abgestimmt durchzuführen. Eine Chronifizierung muss verhindert werden. Mit ERHOLUNG UND ERNÄHRUNG Neuroathletiktraining kann man die Ursache der Wie bereits erläutert, benötigt der Körper bei Long Erkrankung „an der Wurzel packen“, nämlich in unCovid Ruhephasen. Jegliche Überforderung kann serem Nervensystem, da SARS-CoV-2 oftmals eine zu einem „Crash“ und somit zur „Post-Exertional Entzündung im Gehirn auslöst. Die Neuroathletik Malaise“ führen. „Höher, weiter, schneller“ ist das ist für Coaches eine effektive Trainingsmethode, Letzte, was der Kunde jetzt braucht – eher ru- um diesen Entzündungsprozess zu stoppen, sodass hige Spaziergänge und Regenerationsmaßnah- die Neuronenbahnen wieder ihre richtigen Wege men wie einen Mittagsschlaf usw. Unser Gehirn finden und der Klient gesunden kann. ■