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Neurozentriertes Training

Das Neuroathletik-Training ist die Weiterentwicklung des klassischen Athletiktrainings unter Einbeziehung des Nervensystems als zentralem Element der Bewegungssteuerung. Beim Athletiktraining geht es um die Verbesserung der angeborenen Fähigkeiten und der erlernten Fertigkeiten mit dem Ziel, Athleten optimal auf den Wettkampf vorzubereiten. Neurozentriertes Training hingegen setzt nicht auf Wettkampfvorbereitung und Leistungsverbesserung, sondern auf die vorgeschaltete Leistungsbefähigung. Grundlegend ist die Tatsache, dass Bewegung und Schmerzen im Gehirn entstehen. Hier setzt das Training dementsprechend an. Neurozentriertes Training ist ein gehirnbasiertes Training, das den Fokus auf die neuronalen Prozesse des Körpers legt. Es verbindet Atmung, Gleichgewicht, Augen und Bewegung miteinander. Somit werden aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse auf die aktuelle Situation der Trainierenden angewandt. Schauen wir uns nun an, wie man dieses Training auf unterschiedlichste Klienten übertragen kann.

Denn das Potenzial des eigenen Nervensystems zu nutzen, kann auf ganz unterschiedliche Art und Weise die Lebensqualität der Betroffenen verbessern. Von Schmerzreduzierung über Bewegungsoptimierung bis hin zur Leistungssteigerung – mental und körperlich.

Kannst du deine Arbeit kurz beschreiben?

Ich betrachte meine Arbeit als neuronales Ganzkörpertraining, welches physiologische, effiziente und schmerzfreie Bewegungen im Alltag ermöglicht.

Wie würdest du das einem dreijährigen Kind beschreiben?

Ich würde ihm den Unterschied von Bewegungen mit und ohne visuelle Kontrolle spürbar machen.

Was verstehst du unter neurozentriertem Training?

Für mich ist es ein neuronales Ganzkörpertraining, welches neben den rein funktionalen und biomechanischen Komponenten die bewegungssteuernden Systeme miteinbezieht. Erst dadurch ist es möglich, noch gezielter Bewegungen anzubahnen, zu optimieren und sie in den Alltag zu übertragen.

Und worin siehst du das größte Potenzial?

Dass jeder ein Verständnis für Bewegung und Schmerz erlangen kann und somit zu seinem eigenen Therapeuten/Trainer werden kann. Gleichzeitig sehe ich auch gerade darin derzeit noch die größte Herausforderung in der Übernahme von Eigenverantwortlichkeit für Wohlbefinden und Gesundheit.

Was war bisher dein spannendster Fall ?

Im Bereich der neurologischen Rehabilitation arbeite ich mit Schlaganfall-, Multiple-Sklerose-, Schädelhirntrauma- und Parkinson-Patienten und -Patientinnen. Hier geht es häufig um die Anbahnung und das Ermöglichen von Bewegungen im Alltag. Durch gezielte Übungen der Makulaorgane, eine Stimulation einzelner Hirnnerven, Kopf- und Augenbewegungen gelang es mir zum Beispiel bei einer Parkinson-Patientin innerhalb einer Einheit, ihr Gangbild deutlich zu verbessern. Sie erlangte dadurch mehr Sicherheit und war weniger sturzgefährdet. Ihre Bewegungen waren insgesamt gezielter und wesentlich koordinierter, wodurch alltägliche Aktivitäten einfacher umsetzbar waren. Mithilfe der daraus entstandenen, individuell angepassten Übungen, welche sich gut in den Alltag integrieren lassen, ist es inzwischen der Patientin möglich, ihr Nervensystem täglich positiv zu beeinflussen und somit an gezielten und koordinierten Bewegungen im Alltag eigenständig zu arbeiten.

Foto: Susann Conrad

SUSANN CONRAD

Ergotherapeutin www.susannconrad.de

Fehlt dir etwas beim neurozentrierten Training?

Zum Teil – dass man neuronale Aktivitäten immer als komplexe Vernetzung mehrerer Areale betrachten darf.

Was fehlt dir in der Branche aktuell?

Die Anerkennung als Präventionsmaßnahme und Therapiekonzept. Auch nach über 21 Jahren neurologischer Arbeit finde ich es immer noch faszinierend, wie das Gehirn arbeitet, sich immer wieder anpasst und auch in Ausnahmesituationen funktioniert. Ich liebe es, mithilfe meiner Erfahrungen, meiner Erkenntnisse und meines Wissens Menschen auf ihrem Weg der Genesung zu begleiten und anleiten zu können. Dabei spielt es keine Rolle, für welchen Alltag sie mehr Bewegung, mehr Leistung oder weniger Schmerz benötigen.

Kannst du deine Arbeit kurz beschreiben?

Ich helfe Frauen, ein besseres Verständnis für ihren Körper und ihre Emotionen zu bekommen, um wieder schmerzfrei und uneingeschränkt ein Leben mit mehr Leichtigkeit zu führen.

Es gibt in der Branche unterschiedliche Sichtweisen auf neurozentriertes Training. Was verstehst du darunter?

Die Lehre des eigenen Nervensystems. Wir vermitteln Zusammenhänge und ein Verständnis für das, was wir wahrnehmen, was um uns herum passiert. Durch gezielte Testung verschiedener Einflussbereiche auf unser Gehirn können wir besser verstehen, was um uns herum passiert, selbstbestimmt handeln und wirkliche Veränderungen erzielen.

Worin siehst du das größte Potenzial?

Durch diese Methode zu zeigen, dass alles um uns herum einen Einfluss auf uns hat.

Was war dein spannendster Fall bisher?

Eine Kundin litt drei Jahre unter Dauerkopfschmerz nach der Geburt ihres Kindes. Dadurch entstanden emotionale Probleme und Wahrnehmungsdefizite. Durch gezielte Arbeit an Gleichgewicht und Atmung in Kombination mit Beckenboden- und Innenwahrnehmungsschule hatte sie nach sechs Monaten Training keine Einschränkungen mehr. Und sie ist immer noch bei uns im Personal Training. Jetzt liegt ihr Fokus auf Kafttraining und Fitness, was vorher nie denkbar gewesen wäre!

GINA KAPPES

Expertin für rehabilitatives neurozentriertes Training www.true-evolution.com/frauencoaching

Was fehlt dir beim neurozentrierten Training?

Mehr emotionales Verständnis.

Foto: Moritz schulz owner TrueEvolution

Foto: augenblen.de

LUKAS FECHER

Bewegungs-Coach www.fechersfitnessfactory.de

Kannst du deine Arbeit kurz beschreiben?

Ich bringe Menschen – junge, alte, unsportliche sowie Profis mit und ohne Handicap – mit Spaß in Bewegung.

Okay. Und wie würdest du das einem dreijährigen Kind beschreiben?

Ich arbeite mit Dreijährigen. Ihnen würde ich neurozentriertes Training folgendermaßen erklären: Im Kopf sind ganz viel Steckdosen und bei vielen Menschen lösen sich im Lauf der Jahre die Stecker aus den Steckdosen. Diese dürfen wieder neu in die Dose gesteckt werden. Ich unterstütze die Menschen dabei, dass es ihnen gelingt.

Was verstehst du unter neurozentriertem Training?

Die Aktivierung bestimmter Gehirnareale durch Bewegung oder das Setzen von Reizen zur Leistungsoptimierung oder Schmerzreduktion.

Und worin siehst du das größte Potenzial?

Wenn wir das Ganze mit Spaß und Freude verbinden.

Was ist deine größte Herausforderung in der Arbeit in Bezug darauf?

Wie der einzelne Mensch am Ende darauf reagiert.

Was war bisher dein spannendster Fall?

Ein junger Schüler von mir, der nach einem sehr schweren Motorradunfall zu mir kam und seinen Arm nicht mehr über Kopf heben konnte. In den Trainings setzten wir verschiedene Reize und führten gezielte Bewegungen aus. Nach ein paar Monaten konnte er seinen Arm wieder über Kopf ansteuern und auch wieder Gewichte bewegen.

Was fehlt dir beim neurozentrierten Training?

Manchmal der Durchblick.

Was fehlt dir in der Branche aktuell?

Ich wünsche mir mehr Teamgeist, Füreinander und Miteinander.

Kannst du deine Arbeit kurz beschreiben?

Ich betrachte Dirigenten als Athleten und helfe ihnen, ihre Performance und ihr Wohlbefinden beim Dirigieren zu erhöhen.

Was verstehst du unter neurozentriertem Training?

Neurozentriert zu trainieren bedeutet, die Menschen und deren Performance ganzheitlich zu betrachten. Das Training findet unter Berücksichtigung der neuronalen und nervalen Belastungen statt und berücksichtigt die Prinzipien der Arbeitsweise unseres Nervensystems.

Und worin siehst du das größte Potenzial?

Das größte Potenzial von neurozentriertem Training für Dirigenten liegt in der Optimierung der Input-Qualität und deren Interpretation während des Dirigierens. Das Dirigat verkörpert Musik. Wie überzeugend das gelingt, hängt nicht nur von der Ausstrahlung, sondern auch von der Qualität der Bewegungen ab. Gut koordiniert und ausdauernd hochwertig, erfordern sie – wie jede gezielte körperliche Ertüchtigung – ein spezielles Training. Eine gute Körperhaltung und das Wissen darüber, wie man sich nach kräftezehrenden Arbeitsphasen wieder regeneriert, sind nur zwei wichtige Aspekte, die Dirigenten helfen, lange gesund und fit zu bleiben. Dass der Körper ein unverzichtbares Kapital ist, wird zumeist erst dann beachtet, wenn die Performance schlechter wird – weil etwa die Bandscheibe zwickt, die Hand zittert oder der Kopf wackelt. Hingegen nehmen Dirigenten es für selbstverständlich, dass sie beim Kon-

Foto: Leonard Leesch

ALEXANDER LEBEK

Dirigenten-Trainer www.dirigententraining.de

zert ihren Körper gern auch akrobatisch in den Dienst der Musik stellen. Eigentlich doch ein Widerspruch. Jedenfalls kommt das Körperliche des Dirigierens im musikalischen Alltag eher zu kurz. Die Dirigierbewegung ist sehr komplex und individuell. Sie besteht aus unterschiedlichen Teilabläufen, die genauestens aufeinander abgestimmt sein sollten. Schon geringe Koordinationsschwächen oder eine qualitativ unsaubere Ausführung bedeuten verschenktes dirigentisches Potenzial. Durch das Erkennen der verschiedenen Bewegungsphasen und ein isoliertes Training der einzelnen Bereiche können gezielt Schwachstellen und Ungenauigkeiten verbessert werden.

Was ist deine größte Herausforderung in der Arbeit in Bezug darauf?

Die große Herausforderung ist die Akzeptanz dieses Trainingsansatzes bei den Dirigierenden.

FAZIT

Aus den Interviews wird klar: Neurozentriertes Training ist für alle geeignet. Gerade weil jeder Mensch individuelle Leistungsansprüche hat, bietet sich hier eine ganz neue Trainingsperspektive, wenn man dort ansetzt, wo Bewegung und Schmerzen entstehen, nämlich im Gehirn.

Die Beispiele zeigen eindrucksvoll, was aktuell schon umgesetzt wird, und verdeutlichen, wozu das menschliche Nervensystem in der Lage ist. Wir brauchen mehr Mut und mehr Neugierde, die gewohnten Pfade zu verlassen, auch mal nach rechts und links zu schauen und neue Ansätze in die alltägliche Arbeit einfließen zu lassen. Man muss dafür die Welt nicht neu erfinden, sondern Altbekanntes mit neuen wissenschaftlichen

LUISE WALTHER

Die Berliner Personal Trainerin arbeitet an der Schnittstelle Medizin-Fitness. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Individualisierung und Professionalisierung von Reha- und Trainingsprozessen mit Fokus auf Schmerzreduzierung und Bewegungsoptimierung ihrer Kunden.

www.neurozentriertestraining.de Erkenntnissen intelligent verbinden. Und wir alle dürfen Mut und Neugierde beweisen, welche neuen Optionen sich daraus entwickeln. Der Blick über den eigenen Tellerrand und die Erweiterung des eigenen Horizontes durch Austausch mit Kollegen, Kunden und Experten kann ein erster Schritt in diese Richtung sein. Vielen Dank an die Kollegen, die sich die Zeit genommen haben, ihre Erfahrungen und Arbeitsweisen mit mir zu teilen! Diese Beispiele zeigen, wie unterschiedliche die Anwendungen sein können. Der „One Size fits All“-Gedanke passt nicht in den Trainingsbereich. Die eigene Arbeitsweise für individuelle Zielgruppen zu finden, kann langfristig nicht nur sehr dankbar und zufrieden, sondern auch erfolgreich machen. W

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