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Mechanismen von Beweglichkeitstraining
der Parameter „Muskellänge“ evaluiert werden soll, in den meisten Fällen nicht die Muskellänge, sondern die Faszikellänge gemessen wird.
Tatsächlich kann sich der Faszikel durch die Neubildung von Sarkomeren, welche die kleinsten Bestandteile einer Muskelfaser sind, innerhalb weniger Tage verändern. Ein längerer Faszikel entspricht jedoch nicht automatisch einem längeren Muskel. Zudem gibt es keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen einer größeren Faszikellänge und einer verbesserten Beweglichkeit. Somit stellt die sogenannte Sarkomergenese, die durch Stretching stattfindet, zumindest keinen ausschlaggebenden Faktor für eine verbesserte Beweglichkeit dar.
2. PASSIVER MUSKELTONUS
Des Weiteren wird diskutiert, ob eine Reduktion des passiven Muskeltonus durch Dehntraining zu einem größeren Bewegungsspielraum führt. Der passive Muskeltonus beschreibt die Ruhespannung des Muskels durch seine molekularen Bestandteile: • Titin (verbindet die Z-Scheibe mit dem Myosinmolekül) • Myosinkopf und Querbrückenbildung • muskuläres Bindegewebe (Endo-, Peri-, Epimysium) • tiefe und oberflächliche Faszien • Sehne • Flüssigkeitsgehalt
Während die Ruhespannung der gedehnten Muskulatur einen Einfluss auf die Beweglichkeit hat, kann sie jedoch nicht auf die Bestandteile der Muskel-Sehnen-Einheit reduziert werden. Darüber hinaus kann sie in der Praxis auch nicht isoliert betrachtet werden, da eine starke Muskeldehnung automatisch auch zu einer Zunahme des aktiven Muskeltonus führt (vgl. Beispiel Active Straight Leg Raise). Zudem haben auch das Nervensystem und Gelenkstrukturen einen maßgeblichen Einfluss auf den Bewegungsumfang.
Die Studienlage macht deutlich, dass keine inverse Relation zwischen dem passiven Tonus und der Beweglichkeit besteht. In Bezug auf die Dehnpraxis kann dies dahingehend interpretiert werden, dass Maßnahmen, welche die größte Tonusreduktion erreichen, nicht zur größtmöglichen Steigerung der Beweglichkeit führen. Ein geringerer passiver Muskeltonus scheint somit nicht mit größerer Beweglichkeit zusammenzuhängen.
3. AKTIVER MUSKELTONUS
Als dritter Funktionsmechanismus wird eine Reduktion des aktiven Muskeltonus beschrieben. Wie zuvor erwähnt, kommt es bei starken Muskeldehnungen eines Zielmuskels (Agonist) zu einer reflexartigen Anspannung der gegenspielenden Muskulatur (Antagonist). In zahlreichen Studien wurde die aktive Muskelspannung elektromyografisch gemessen. Dabei konnte festgestellt werden, dass die Muskelaktivität des gedehnten Antagonisten selbst bei massiven Dehnpositionen nur minimal ausfällt. Darüber hinaus scheinen längere Dehnperioden nicht zu einer nachhaltigen Reduktion des aktiven Tonus zu führen. Dementsprechend ist der aktive Muskeltonus wohl auch nicht der Hauptmechanismus, der dazu führt, dass unser Körper beweglicher wird.
4. DEHN-/SCHMERZTOLERANZ
Zuletzt bleibt der Mechanismus der angepassten Dehn- oder Schmerztoleranz als Hauptgrund für eine Beweglichkeitssteigerung als Vermutung übrig. Dieser Mechanismus beschreibt, dass wir aufgrund von Anpassungen des Nervensystems beweglicher werden. Hier wird angenommen, dass ein intensiver Stretch (und der damit verbundene „Dehnschmerz“) dazu führt, dass der Körper weniger sensibel auf Dehnreize reagiert und es dadurch zu einer Zunahme der Beweglichkeit kommt. Die vergrößerte Schmerztoleranz nimmt im gesamten Körper zu, da das Nervensystem den gesamten Körper einschließt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass lokale Dehnreize einen Effekt auf die Beweglichkeit des gesamten Bewegungsapparates haben können.
Untersucht man die Studienlage hierzu genauer, stößt man zum Beispiel auf folgende Forschungsergebnisse, die die oben beschriebene Toleranzthese bestätigen: Wird die Hamstring-Muskulatur auf einer Seite gedehnt, führt dies ebenso zu einer vergrößerten Flexibilität auf der kontralateralen Seite um circa 15 Prozent (Killen et al. 2019). Sehr aufschlussreich ist zudem auch eine Studie von Wilke J. et al. (2017), die zu dem Ergebnis kam, dass Wadendehnungen die Beweglichkeit der Halswirbelsäule im gleichen Maße verbessern wie eine Dehnung der Halswirbelsäule selbst. In einer weiteren Studie konnte festgestellt werden, dass eine einseitige Dehnung der Hüftextensoren die Flexibilität auf der kontralateralen Seite um etwa 5–9 Prozent erhöht (Chaouachi et al. 2017). Nach aktuellem Stand der Forschung geht man daher stark davon aus, dass die Dehntoleranz der Hauptfaktor ist, warum Stretching dazu führt, dass unser Körper beweglicher wird.
FEE MEISSNER Seit 2013 fördert die Wirtschaftspsychologin und Bewegungstherapeutin Kunden in ihrer körperlichen und mentalen Flexibilität. Außerdem leitet sie im Rahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung Workshops und Kurse für Unternehmen. www.flexiblementor.com
BEDEUTUNG FÜR DIE PRAXIS
Basierend auf der veränderten Schmerztoleranz durch Stretching, kann die Dehnung einer Muskelgruppe auch dazu führen, dass sich die Beweglichkeit einer ande-
ren Körperpartie verbessert. Diesen Wirkmechanismus kannst du dir zu Nutze machen, wenn du mit Kunden arbeitest, die beispielsweise aufgrund von Schmerzen eine Extremität nur limitiert endgradig bewegen können. Erhöhst du nun deren Schmerztoleranz durch die intensive Dehnung eines anderen Körperteils, kann dies dazu führen, dass sich die schmerzfreie Beweglichkeit der eingeschränkten Extremität erhöht.
Um eine möglichst langfristige Steigerung der Beweglichkeit deiner Kunden zu erreichen, solltest du sie regelmäßig Dehnreizen aussetzen. Je häufiger diese stattfinden und je kontinuierlicher Stretching ausgeführt wird, desto nachhaltiger erweitert sich die Toleranzgrenze. Das Nervensystem gewöhnt sich an
ACTIVE STRAIGHT LEG RAISE
Beim aktiven Beinheben ziehen die Hüftbeuger das Bein in eine Hüftbeugung. Die Hüftbeuger verkürzen hierbei, während die Beinrückseite auf Länge gebracht wird. Mit zunehmender Dehnung baut die Beinrückseite als Schutz vor einer Überdehnung eine Gegenspannung auf (Dehnungsreflex). Sobald diese Gegenspannung größer ist als die aktive Kraft der Hüftbeuger, ist die maximale aktive Dehnposition erreicht. Man spricht hier von dem sogenannten physiologischen Bewegungsbereich.
PASSIVE STRAIGHT LEG RAISE
Kommen nun externe Kräfte zu oben genannter Übung hinzu, zum Beispiel indem der Trainer das Bein weiter in Richtung Hüftbeugung schiebt oder man die Kraft der eigenen Arme dazu verwendet, kann ein größerer Bewegungsumfang erreicht werden, weil die Bewegung nicht mehr durch die aktive Kraft der Hüftbeuger limitiert wird. Ab einem gewissen Punkt wird die Gegenspannung der Beinrückseite jedoch so stark, dass auch hier eine Dehngrenze erreicht wird. Im Rahmen des passiven Stretchings spricht man von dem sogenannten anatomischen Bewegungsbereich. die Dehnreize und interpretiert diese nicht mehr als „Gefahr“ und somit als „Schmerz“, sondern lässt einen großzügigeren Bewegungsrahmen zu.
FAZIT
Unser Nervensystem hat einen immensen Einfluss auf die Beweglichkeit unseres Körpers. Dieser Effekt kann durch die bewusste Integration positiver Emotionen verstärkt werden. Positive Emotionen führen nachgewiesenermaßen zu einer erhöhten Toleranz gegenüber Schmerzen, einer höheren Kooperationsbereitschaft und einer höheren Motivation aufseiten deiner Kunden. Daraus resultieren nicht nur schnellere, sondern auch anhaltendere Fortschritte. Das bedeutet auch, dass wir sowohl durch ein gezieltes Mentaltraining als auch durch meditative Techniken unseren Kunden dabei helfen können, an ihre Grenzen und auch darüber hinaus zu gehen. Dieser Prozess kann ebenso durch verbale und physische Unterstützung (z. B. in Form einer Hilfestellung) verstärkt werden. Eine professionelle Supervision und physische Berührung während einer Hilfestellung geben den Kunden einen sicheren Rahmen. Durch ein so entstandenes Vertrauensverhältnis fällt es deinen Trainierenden leichter, sich auf ihren Körper zu verlassen und intensive Dehnreize zu tolerieren. Wir können also schlussfolgern, dass ein effektives Dehntraining im besten Fall immer eine Kombination aus mentalem und physischem Training darstellen sollte.
Quellen:
Behm, D. G., Blazevich, A. J., Kay, A. D., & McHugh, M. (2016). Acute effects of muscle stretching on physical performance, range of motion, and injury incidence in healthy active individuals: a systematic review. Applied physiology, nutrition, and metabolism = Physiologie appliquee, nutrition et metabolisme, 41(1), 1–11. Behm, D. G., Cavanaugh, T., Quigley, P., Reid, J. C., Nardi, P. S., & Marchetti, P. H. (2016). Acute bouts of upper and lower body static and dynamic stretching increase non-local joint range of motion. European journal of applied physiology, 116(1), 241–249. Blazevich, A. J., Cannavan, D., Waugh, C. M., Miller, S. C., Thorlund, J. B., Aagaard, P., & Kay, A. D. (2014). Range of motion, neuromechanical, and architectural adaptations to plantar flexor stretch training in humans. Journal of applied physiology (Bethesda, Md. : 1985), 117(5), 452–462. Chaouachi, A., Padulo, J., Kasmi, S., Othmen, A. B., Chatra, M., & Behm, D. G. (2017). Unilateral static and dynamic hamstrings stretching increases contralateral hip flexion range of motion. Clinical physiology and functional imaging, 37(1), 23–29. Kato, M., Nihei Green, F., Hotta, K., Tsukamoto, T., Kurita, Y., Kubo, A., & Takagi, H. (2020). The Efficacy of Stretching Exercises on Arterial Stiffness in Middle-Aged and Older Adults: A Meta-Analysis of Randomized and Non-Randomized Controlled Trials. International journal of environmental research and public health, 17(16), 5643. Killen, B. S., Zelizney, K. L., & Ye, X. (2019). Crossover Effects of Unilateral Static Stretching and Foam Rolling on Contralateral Hamstring Flexibility and Strength. Journal of sport rehabilitation, 28(6), 533–539. Thomas, E., Bellafiore, M., Gentile, A., Paoli, A., Palma, A., & Bianco, A. (2021). Cardiovascular Responses to Muscle Stretching: A Systematic Review and Meta-analysis. International journal of sports medicine, 42(6), 481–493. Thomas, E., Bianco, A., Paoli, A., & Palma, A. (2018). The Relation Between Stretching Typology and Stretching Duration: The Effects on Range of Motion. International journal of sports medicine, 39(4), 243–254. Wilke, J., Vogt, L., Niederer, D., & Banzer, W. (2017). Is remote stretching based on myofascial chains as effective as local exercise? A randomised-controlled trial. Journal of sports sciences, 35(20), 2021–2027. W