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Tänzer springen viel früher von der Liege als andere Sportler“
Interview Jonathan Schneidemesser
Profitänzer gehören eher zu einer kleineren Leistungssportgruppe im Bereich der Physiotherapie. Der Frage, worauf es bei Tänzern zu achten gilt und warum sie eine so spannende Patientengruppe sind, gehen wir im Gespräch mit Andreas Stommel nach, der seit einigen Jahre Tänzer unterschiedlicher Disziplinen betreut.
BODYMEDIA: Für viele Physiotherapeuten sind Tänzer eine eher unbekannte Patientengruppe. Was sind typische Verletzungen von Tänzern, die es zu behandeln gilt? Andreas Stommel: Das ist sehr vielfältig, vieles spielt sich im Bereich der unteren Extremitäten ab, vor allem im Bereich des Fußes und des Sprunggelenks, häufig aber auch im Bereich der Lendenwirbelsäule. Das hängt natürlich auch von der Tanzrichtung ab. Beim Breakdance sind die Verletzungen etwas anders als im Ballett oder dem Standardtanz. Unterschiede gibt es aber auch bei den Geschlechtern. Im klassischen Ballett z. B. gibt es bei Männern sehr viele Schulterverletzungen, da diese bei den Hebungen der Tänzerinnen stark beansprucht werden. Für den Zuschauer sieht die Performance auf der Bühne leicht und elegant aus, aber damit die Abläufe so leicht aussehen, müssen sie Hunderte Male repetitiv trainiert werden. Das kann durchaus zu einer Überlastung führen. Und wenn das über Jahre oder sogar eine ganze Tänzerkarriere hinweg passiert, kann das im Extremfall, ähnlich wie im Fußball, wo es die Fußballinvaliden gibt, zu einer Invalidisierung des Tänzers führen.
BODYMEDIA: Sollte man an die Behandlung von Tänzern anders herangehen als an die anderer Leistungssportler? Andreas Stommel: Eigentlich nicht, auch wenn sich viele Tänzer nicht als Leistungssportler verstehen. Fragt man
einen Tänzer, wie er sich selbst wahrnimmt, kommt in 8 von 10 Fällen die Antwort „Ich bin Künstler“. De facto sind sie aber aus medizinischer Sicht Athleten. Meine Herangehensweise als Physiotherapeut ist also beinahe identisch zu einem Fußballer, Handballer oder Leichtathleten, denn die Verletzungen sind häufig sehr ähnlich, genau wie auch die diagnostischen Verfahren, und das obwohl bei Tanzen keine Kontaktsportart ist. Worin sich der Kontakt aber tatsächlich unterscheidet, ist in der Compliance der Protagonisten. Der Fußballer oder Leichtathlet nimmt das Engagement, das man für ihn aufbringt, dankend an, aber dann ist da oft kaum mehr Verbindlichkeit spürbar.
Tänzer hingegen springen häufig viel früher von der Behandlungsbank, als wir Therapeuten es ihm anraten, da sie oft freiberuflich arbeiten und kein Geld verdienen, wenn sie sich krankmelden. Anders als z. B. Profifußballer, die einen Arbeitsvertrag haben und ihr Geld auch dann bekommen, wenn sie nicht spielen. Der freiberufliche Berufstänzer geht, wenn es sein muss, auch mit starken Schmerzen und Blessuren auf die Bühne. Da kann man ihm als Physiotherapeut noch so sehr raten, langsam zu machen – das interessiert ihn nicht. Aber was man für die Tänzer in der Therapie tut, hat eine größere Nachhaltigkeit. Hat man ihm einmal bei einer größeren Verletzung geholfen, kommt er immer wieder zurück und nimmt dafür auch weite Wege auf sich. Das wird ein ganz enges Verhältnis, das ich so in keiner anderen Sportart erlebt habe.
BODYMEDIA: Spürt man dieses besondere Verhältnis auch in der Therapie? Andreas Stommel: Absolut, und darauf kommt es an. Man stellt immer wieder fest, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Künstler und Therapeut nur dann wirklich hergestellt werden kann, wenn der Tänzer spürt, dass der Be-
handler Erfahrung im Tanz und im Umgang mit Tänzern hat. Das erlebe ich auch in meinem Rehazentrum. Kommt ein Tänzer zu einem meiner Therapeuten, der noch keine oder wenig Erfahrung im Umgang mit Tänzern hat, dann ist das Verhältnis zu Beginn erst mal schwierig.
Aus Tänzersicht kann ich das auch nachvollziehen, denn die Pathogenese kann man häufig nur dann verstehen, wenn man die Tanzdisziplin kennt, wenn man weiß, wie ein Tänzer trainiert und welche Moves er ausführt. Beim Ballett z. B. sollte man die fünf Ballettpositionen kennen, wie Spitzentanz funktioniert, was ein Grand Jete oder ein Arabesque ist und welche Konsequenzen der Spitzentanz für ein Kind hat, das noch nicht voll ausgewachsen ist. Diese Dinge muss man aus dem Effeff beherrschen, sonst wird man als Physiotherapeut nicht in der Lage sein, einen Tänzer adäquat zu beraten oder zu therapieren. Auch wenn ich das schon viele Jahre mache, gehe ich heute noch regelmäßig in Ballettsäle
und schaue mir Unterricht an, lasse mir neue Lehransätze zeigen und diskutiere mit den Ballettpädagogen, um am Puls der Zeit des Tanzes zu bleiben.
BODYMEDIA: Der Therapeut sollte es dem Tänzer also ermöglichen, schnell wieder gesund zu werden. Gibt es dafür spezielle physiotherapeutische Verfahren? Andreas Stommel: Grundsätzlich kann man sagen, je professioneller das Tanzen ausgeübt wird, desto spezieller werden die physiotherapeutischen
Die Herangehensweise an die Behandlung von Tänzern unterscheidet sich kaum zu anderen Sportarten, da die Verletzungen häufig sehr ähnlich sind
Um die Pathogenese einer Tanzverletzung verstehen zu können, sollte man die jeweilige Tanzdisziplin kennen
Verfahren, die zur Anwendung kommen. Oft stehen die Tänzer aber vor ganz anderen Schwierigkeiten. Lassen Sie mich noch mal das Beispiel mit dem Fußballer aufgreifen. Diese sind bei der Verwaltungsberufsgenossenschaft gegen Unfälle versichert. Hat ein Spieler also eine Verletzung, bekommt er weiterhin sein Gehalt. Selbst wenn seine Karriere durch eine Verletzung vorbei sein sollte, ist er bis zu seinem Lebensende abgesichert.
Bei einem freiberuflichen Tänzer ist das normalerweise nicht der Fall. Wenn er überhaupt angestellt ist, dann über eine, maximal zwei Saisons – oder aber er ist Freelancer. Beide Settings sorgen dafür, dass er in der Regel keine gesetzliche Unfallversicherung hat. Kommt hinzu, dass er Ausländer ist, und in Deutschland sind die ausländischen Tänzer absolut in der Überzahl, hat er manchmal keine Krankenversicherung. Wenn man dann als erstversorgender Physiotherapeut feststellt, dass ein Röntgenbild oder ein MRT nötig ist, fragt der Fußballer nur, wann es gemacht wird, den ausländischen Tänzer bewegt eher die Frage, wie viel das kosten wird. Aber bei deutschen Tänzern ist die Situation meist nicht ganz so gravierend. Diese sind in der Regel gesetzlich versichert – kommt es nun zu einer Überlastungsproblematik oder sogar einer Verletzung, dann reihen sie sich in die Vielzahl aller anderen gesetzlich Versicherten ein. Das bedeutet, sie müssen sich auf lange Wartezeiten beim Arzt oder Physiotherapeuten einstellen. Zudem stellt der typische 20-Minuten-Rhythmus eine Unterversorgung für die Komplexität mancher tanzspezifischen Verletzungen dar.
BODYMEDIA: Und wie ist die Lage bei den Tanzprofis? Andreas Stommel: Auch hier müssen wir wieder etwas differenzieren. So haben z. B. Profitänzer eines Staatsballetts oft einen eigenen Physiotherapeuten für die Kompanie. Um das einzuordnen, kann ich ein Beispiel des Ballett am Rhein in Düsseldorf, das ich betreue. Hier arbeiten drei Physiotherapeuten auf selbstständiger Basis. Zusammen betreuen wir 30 Tänzer, kommen aber zusammen nicht auf eine Vollzeitstelle. Vergleichbare Situationen finden sich in vielen Staatstheatern sowie auch bei TV-Shows, in denen Tänzer zu sehen sind.
Ich durfte die Tänzer beim RTL-Format „Let’s Dance“ betreuen, und als die Paare noch vollzählig waren, also über 20 Personen, war es eine Herausforderung, allen gerecht zu werden. In Richtung Finale mit drei Paaren wird die Situation dann natürlich etwas überschaubarer. Man muss allerdings auch lobend erwähnen, dass bei so einer Fernsehproduktion überhaupt Geld für die Gesunderhaltung der Protagonisten in die Hand genommen wird. Neben mir als Physiotherapeut gab es sogar einen Arzt, der durch die Tänzer konsultiert werden konnte.
BODYMEDIA: Wie erwirbt man sich das Wissen für die Betreuung von Tänzern? Andreas Stommel: Mittlerweile gibt es ein schönes Format, was tanzphysiotherapeutische Fortbildungen angeht, das von einem Verband mit dem Namen ta.med e. V angeboten wird. Das steht für Tanzmedizin (ta.med.eu). Das ist eine multidisziplinäre Organisation, wo Tanzpädagogen, Tänzer, Orthopäden, Physiotherapeuten, Osteopathen und Psychologen ein Fortbildungsformat anbieten, das derzeit in Bonn und Hamburg durchgeführt wird. 2020 gab es ein Pilotprojekt, das von den teilnehmenden Physiotherapeuten sehr gut angenommen wurde, sodass es in diesem Jahr wiederholt wird. Das geht über vier Wochenenden, wovon
Profitänzer eines Staatsballetts haben oft einen eigenen Physiotherapeuten - für die gesamte Kompanie
die ersten drei Einheiten reine Lehrkurse sind, in denen neben der tanzmedizinischen Sprache viele Basics aus dem Bereich des Tanzes vermittelt werden. Die vierte Einheit besteht aus einem Refresher und einer kleinen Prüfung zum Abschluss. Erfolgreiche Teilnehmer erhalten ein tanzphysiotherapeutisches Zertifikat, das ein wunderbares Intro für die Therapeuten ist und z. B. bei Tanzkompanien die Türen öffnet.
BODYMEDIA: Was sollte man als Therapeut für die Betreuung von Tänzern mitbringen? Andreas Stommel: Das Verständnis für den Tänzer und den Tanz. Therapeuten, die selbst schon einmal getanzt haben, profitieren sicherlich von einem Vorsprung, aber die Nachfrage aus der Tanzwelt ist enorm groß. Daher werden sich da Türen auftun. Am einfachsten ist es, einfach mal bei einer regionalen Ballettschule vorbeizuschauen und eine Kooperation anzubieten, sei es, dass man für eine gewisse Zeit in die Tanzschule kommt oder eine offene Sprechstunde für Tänzer anbietet, in der man sie beraten kann. Andreas Stommel: Vorab muss ich sagen, ich komme selbst nicht aus der Tanzszene und kann auch nicht tanzen. Vor vielen Jahren, als ich meine erste Anfrage aus diesem Bereich erhielt, war ich also erst mal nicht so begeistert. Das war für eine Produktion mit dem Namen „Magic of the dance“, die mich für eine Europatournee anfragte. Ich lehnte erst mal mit dem Argument ab, dass ich selbst ja gar nicht tanzen könne und keinen Bezug zu Bewegung mit Musik hätte. Das Management damals war allerdings sehr hartnäckig, sodass ich dann nachgegeben habe. Zum Glück muss ich sagen, denn ich begleitete das Ensemble mit viel Freude vier Wochen lang. Der Kontakt zu den Tänzern, die Dankbarkeit und Verbindlichkeit waren für mich beinahe berührend, da ich es aus der Arbeit mit Profifuß- und -basketballern so nicht gewohnt war. Auch hier war das Miteinander immer schön und angenehm, bei den Tänzern wurde das aber noch mal auf eine neue Ebene gehoben. Das hat mich dann dazu bewogen, mehr mit Tänzern zu arbeiten. Der nächste Schritt war dann zum Deutschen Fernsehballett nach Berlin, von wo aus ich dann von verschiedenen Produktionsfirmen angefragt wurde. Dann kam ich zum Michael Jackson Musical BEAT IT!, das ich über 2 Jahre lang begleitete. Und so ging es dann von Produktion zu Produktion.
BODYMEDIA: Vielen Dank für das interessante Interview.
Andreas Stommel ist bereits seit 32 Jahren Physiotherapeut und gründete 1995 das Bonner Zentrum für Ambulante Rehabilitation GmbH. Hier vereint er über 70 Mitarbeiter aus 10 unterschiedlichen medizinischen Berufen. Außerdem ist er in Sachen Sport- und Tanzphysiotherapie als Speaker bundesweit unterwegs. 2021 verkaufte er das Unternehmen an die Rehaneo GmbH, eine Kette ambulanter Rehakliniken in Deutschland. Trotzdem gab er seine Arbeit am Patienten bis heute nicht auf. Vor 15 Jahren kam er mit der Tanzphysiotherapie in Kontakt, der er bis heute u. a. als Behandler sowie als Vorstandsmitglied und Referent des ta.med e. V. treu geblieben ist.
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