Leseprobe | The art of Banksy

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BANKSY Fetish Lady, 2006, Privatsammlung

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ist bei Le canard inquiétant (Die beunruhigende Ente) der Fall, einem kleinformatigen Bild von 1959, auf dem eine ruhige Landschaftsszenerie von einer übergroßen grotesken Ente bedroht wird, die mit breiten und schnellen Pinselstrichen in leuchtenden Farben gemalt ist: »Warum Dinge aus der Vergangenheit wegwerfen, wenn man sie mit ein paar Pinselstrichen modernisieren kann?«, fragte sich Jorn. Seiner Ansicht nach sei die Aussagekraft alter Gemälde noch nicht erschöpft, sondern könne durch neue und unerwartete Bildeinlagen erneuert werden. »Auf diese Weise wird die hergebrachte Kultur wieder aktuell. Beachten Sie: Gemälde ist fertig. Geben Sie ihm den Gnadenstoß mittels détournement. Es lebe die Malerei.«12 Auch Banksys Werk stützt sich oft auf Drucke, kitschige und unbedeutende Gemälde oder gar Reproduktionen bekannter und kunsthistorisch bedeutender Gemälde, in die er eingreift, indem er sie mit verfremdenden Objekten und Bildern, völlig losgelöst von ihrem ursprünglichen Kontext, überlagert. Er stört den romantischen Sonnenuntergang über dem Wald durch bedrohliche Militärhubschrauber; er inszeniert einen Angriff futuristischer UFOs mit Laserwaffen auf Fischer des 18. Jahrhunderts am Flussufer; und er versenkt Einkaufswagen im Seerosenteich in Claude Monets Garten in Giverny, direkt unter der japanischen Brücke. Banksys détournements erweitern Asger Jorns Methode um eine politische Intention und warnen uns ausdrücklich davor, »vorgefertigten« Bildern zu vertrauen, weil hinter ihrer stillen Schönheit doch eine Bedrohung lauern könnte.13 Das détournement ist nicht nur ein machtvolles Instrument, um den politischen Kampf zu kommentieren und die Kunstwelt zu kritisieren: Es ist die Dimension des Auf-den-Kopf-Stellens von symbolischen und realen Inhalten, die situationistische Methoden antreibt. Dieselbe Dynamik des symbolischen Umstürzens prägt die gesamte künstlerische Tätigkeit von Banksy, sei es bei der Verwendung von Schablonen für Graffiti an der Jerusalemer Klagemauer oder beim Verspotten der Institution Museum, wenn er seine Werke heimlich und ungefragt der National Gallery in London, dem Louvre in Paris oder dem Metropolitan Museum of Art in New York unterschiebt. Banksys Reisen nach Israel sind bekannt, ebenso seine Schablonenarbeiten seit 2005 auf der palästinensischen Seite der Mauer im Westjordanland, mit denen er seine Stimme zum Thema Flüchtlinge, Migranten und die damalige humanitäre Krise erhob. Ein ähnlicher Geist weht durch seine Bilder im Flüchtlingslager im französischen Calais, von denen eines aus dem Jahr 2015 stammt; das Porträt von Steve Jobs unterstreicht, dass dieser der Sohn eines in die USA ausgewanderten syrischen Flüchtlings war. Ein Jahr später verwob der Künstler das Migrationsproblem mit der Politik der französischen Regierung, indem er auf einem Baugerüst vor der französischen Botschaft in London eine Schablonenarbeit hinter-

ließ: die kleine Cosette aus Victor Hugos Les Misérables, Banksys Bearbeitung einer alten Illustration von Émile Bayard. Das Mädchen ist vor einer ausgefransten französischen Flagge zu sehen; die Tränen, die schon auf der Vorlage über ihr Gesicht laufen, stehen nun im Zusammenhang mit dem Tränengas, das aus einem Kanister unter ihr aufsteigt und an das Gas erinnert, das die Polizei während einer Razzia in der Zeltstadt »Dschungel von Calais« Anfang 2016 einsetzte. Während dieser Aktion versah Banksy auf seinem Instagram-Profil Fotos seiner Schablonengraffiti an Hauswänden der französischen Hauptstadt mit der kurzen, aber bedeutungsvollen Bildunterschrift: »Fünfzig Jahre nach dem Aufstand in Paris 1968. Die Geburtsstätte der modernen Schablonenkunst«. Damit berief er sich ausdrücklich auf die französische visuelle Tradition vom Mai 1968. Damals besetzten Studenten und Künstler die École des Beaux-Arts in Paris (aus diesem Anlass in »Atelier Populaire« umbenannt), wo sie unermüdlich Dutzende von Plakaten herstellten, die anschließend in den Straßen der Stadt verteilt wurden. Diese Plakate kombinierten Slogans und politische Kampfparolen mit unverzichtbaren und eindrücklichen Grafiken, die noch heute so wirkungsvoll wie damals sind, zum Teil auch dank ihrer Einfarbigkeit.1 4 Der ikonografische Vergleich dieser Plakate mit Banksys Schablonenarbeiten liegt nahe: Die bedrohliche Silhouette einer Ratte mit scharf akzentuierten Augen und Schnauze im quadratischen Rahmen eines Siebdrucks. Ein großes Schriftband kennzeichnet das verhasste Tier als »faschistisches Ungeziefer«. Die Ratte wird mit dem politischen Gegner gleichgesetzt; sie betont den großen Abstand zwischen den Auffassungen der Revoltierenden und der ideologischen Andersartigkeit des Gegners. Dieses Tier, Träger ausschließlich negativer Eigenschaften, kehrt regelmäßig als Motiv wieder und wird zum Gegenstand wiederholter Betrachtungen. Ratten, traditionell als erbärmliche Lebewesen empfunden, gelten als Überträger von Krankheiten, Infektionen und Epidemien. Sie stehen in Banksys Werk für soziale Isolation (wie bereits beim Franzosen Blek le Rat, bürgerlicher Name Xavier Prou). »Ratten existieren unerlaubt«, erklärt Banksy. »Sie werden gehasst, gejagt und verfolgt. Sie leben in stiller Verzweiflung im Dreck. Und dennoch schaffen sie es, ganze Zivilisationen in die Knie zu zwingen. Wenn du dreckig, unbedeutend und unbeliebt bist, dann sind Ratten dein ultimatives Rollenmodell.«1 5 Sie überleben, anders als wir, den nuklearen Holocaust. Wir handeln vereinzelt, angetrieben von dumpfem Zorn; das Handeln von Ratten hingegen ist immer von einer kollektiven Logik inspiriert. Sollten wir von ihnen lernen?


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ICH WIDERSPRECHE, ALSO BIN ICH / GIANNI MERCURIO


ATELIER POPULAIRE Plakate, Mai 1968

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ICH WIDERSPRECHE, ALSO BIN ICH / GIANNI MERCURIO



»Ich mache mir vor, dass ich Kunst benutze, um für Widerspruch zu werben, aber vielleicht benutze ich Widerspruch nur, um für meine Kunst zu werben.« Banksy, Interview mit Ossian Ward, »Time Out London«, 1. März 2010


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RATS »Ratten existieren unerlaubt.

nel, Kanäle, Bahnbetriebswerke

Sie werden gehasst, gejagt und ver-

und ungenutzte Architekturruinen

folgt. Sie leben in stiller Verzweif-

auf, um Mauern, Waggons, Tore und

lung im Dreck. Und dennoch schaf-

Rollläden mit Farbe aus Sprühdo-

fen sie es, ganze Zivilisationen in

sen zu verzieren, immer auf der

die Knie zu zwingen. Wenn du dre-

Hut vor dem Wachpersonal, das

ckig, unbedeutend und unbeliebt

hinter der nächsten Ecke lauern

bist, dann sind Ratten dein ultima-

könnte. Seit jeher stehen sich die

tives Rollenmodell.« Mit diesen

Künstler und die ständig gehetzten

Worten führte Banksy in seinem

Kreaturen nahe, beide geschwo-

Buch Wall and Piece in das Thema

rene Feinde der bürgerlichen Ord-

Ratten ein. Die rhythmisch-ver-

nung. In Dutzenden von Beispielen

knappte Wortwahl erinnert ein we-

führt Banksy die im Verborgenen

nig an ein Lied der Grunge-Band

lebenden Nagetiere in den unter-

Pearl Jam von 1993, Rats, das

schiedlichsten Lebenslagen vor,

ebenfalls den Parallelen im Leben

als Identifikationsobjekt für die

von Nagetieren und Menschen

Menschheit als Ganzes, nicht nur

nachspürt, nur in scheinbar etwas

für den kleinen Kreis der Graffiti-

kultivierterer Form. Das Motiv der

Outlaws. Eine Menschheit mit ge-

Ratte hat Banksy nach eigener

gensätzlicher Polung, in der Gut

Aussage vom französischen Graf-

und Böse tief im Leben aller ver-

fiti-Künstler Blek le Rat übernom-

wurzelt sind. So agieren Ratten als

men (der seit den 1980er-Jahren

Vandalen, die mit Farbe und Pinsel

auf den Mauern von Paris wahre

bewaffnet sind, als bürgerliche

Nagerplagen in Form von Schab-

Gestalten mit Regenschirmen und

lonenmalereien hinterließ). Sie

tadelloser Kleidung, als Einbrecher,

gehören zum Bildrepertoire der

Rapper, Arbeiter, Saboteure, be-

meisten Graffiti-Maler auf der gan-

gabte Kletterer, ja sogar Terroris-

zen Welt. Die wichtigste Parallele

ten, die giftige Substanzen auf

zwischen den Ratten und diesen

den Straßen und an den Mauern

Künstlern (Rat ist nicht umsonst

der Stadt verteilen. Das Panorama

ein Anagramm von Art) besteht in

ist so breit wie die Vielfalt der Cha-

ihrer Nachtaktivität: Während die

raktere und Talente unter uns

Ratten Abwasserkanäle, Unterfüh-

Menschen. So gelangt die Identi-

rungen, heruntergekommene und

fikation mit den Ratten, den stillen

herrenlose Areale unserer moder-

Mitbewohnern unserer Städte, un-

nen Metropolen bevölkern, suchen

seren schwierigen und unausrott-

die Graffiti-Künstler im Schutz der

baren Nachbarn, zur Vollendung.

Dunkelheit die gleichen Orte, Tun-

M.P.

RAT AND HEART 2015 Sprüh- und Dispersionsfarbe auf Leinwand, 52,5 x 57,58 cm Artificial Gallery, Antwerpen

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RATS ON SAFE 2003 Tür mit Rahmen, 54 x 39,5 x 10 cm Artificial Gallery, Antwerpen

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VIOLIN RAT 2001 Sprühfarbe auf Metall, 50 x 35 cm Privatsammlung

IMPROVED RAT 2009 Privatsammlung


NAPALM Vietnam, 1972. Der Fotograf Nick Út fängt eine der einprägsamsten Szenen des 20. Jahrhunderts ein: dunkle Wolken in der Ferne und Soldaten im Hintergrund, während im Vordergrund Kinder verzweifelt von einem Dorf weglaufen, das soeben mit Napalm bombardiert wurde. Die neunjährige Kim Phúc läuft, den Mund zu einem Schrei geöffnet, mit nacktem Körper, der Spuren von Verbrennungen zeigt, auf den Betrachter zu. Das Bild – das dem Fotografen den PulitzerPreis eintrug und das Opfer berühmt machte –, ist eines der grauenhaftesten Zeugnisse des Vietnamkriegs und steht stellvertretend für die Schrecken aller Kriege. Banksy isoliert das erschütternde Bild des vietnamesischen Mädchens und versetzt es in einen völlig anderen Kontext. Neben dem Kind, dessen Arme sie ergreifen, gehen jetzt lachend und winkend Mickey Maus und Ronald McDonald, Sinnbilder der modernen Konsumgesellschaft und der kapitalistischen amerikanischen Gesellschaft. Der Kontrast könnte kaum heftiger sein: Auf einem glatten und neutralen Hintergrund, der keinerlei Bezugspunkte zu einer Umgebung eröffnet und eine grausige Stille suggeriert, vereinen sich Verzweiflung und Schmerz des Kindes neben dem aufgesetzten Grinsen zweier Maskottchen der heutigen Unterhaltungswelt, die fröhlich auf den Betrachter zuschreiten, zu einem der beißendsten Werke des Graffiti-Künstlers Banksy. M.P.

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NAPALM 2004 Siebdruck, 50 x 70 cm Privatsammlung

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NOLA (WHITE RAIN) 2008 Siebdruck, 56 x 76 cm Privatsammlung

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RAT WITH 3D GLASSES 2010 Sprüh- und Dispersionsfarbe auf Holz, 38 x 48 cm Privatsammlung


2008 – BRISTOL

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2008 – LONDON

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BANKSY – EINE CHRONIK


ALBUM

»WALLED OFF HOTEL« SEIT MÄRZ 2017 182 Caritas Street, Bethlehem

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BANKSY – EINE CHRONIK


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