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Ingeborg Bachmann
Der Philosoph Peter Natter nimmt sich im Bregenzerwald ein Buch vor und liest es mit Blick auf seine unmittelbare Umgebung. Diesmal Gedichte von Ingeborg Bachmann
Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.“ So steht es in Ingeborg Bachmanns Gedicht „Böhmen liegt am Meer“. Der Bregenzerwald liegt nicht am Meer, muss er auch nicht. Das Von-Grund-auf-Wissen und das Unverlorensein sind dennoch zwei Eigenschaften, die dem Tal und seinen Bewohnern eigen sind, denke ich. Darin kommt für mich eine ganz eigene Art des Beheimatetseins zum Ausdruck: keine euphorische, keine großtuerische, mehr eine zurückgenommene, eine stille. So weit, so gut.
Es schneit, es schneit richtig, schöne, nicht zu große, nicht zu kleine Flocken fallen ruhig und regelmäßig vom Himmel. Sie fallen auf eine schon recht ansehnliche Schneedecke, wie es sich gehört für Ende Jänner, hier, in dieser Gegend. Schnee, der auf Schnee fällt, ist, wie der große Dirigent Claudio Abbado einmal gesagt hat, die schönste Musik, die es gibt. Sie kommt der Ruhe ganz nahe, jener Ruhe, zu der man gelangt, wenn der Lärm der Welt verstummt. Eine solche Ruhe finde ich hier, in meinem Siebaner Hüsle: eine innere Ruhe, begünstigt von der Stille, die ringsum waltet, wenn einmal keine Traktoren und vor allem keine Motorsensen oder -gebläse – bzw. die sie Bedienenden – Krawall machen. Auch für die große Stille ist der Winter eine gute Zeit.
Viel, und wahrscheinlich manchmal sogar zu viel oder eher: die falsche Ruhe war um die Dichterin, die mich diesmal wieder in mein Refugium begleitet: Ingeborg Bachmann (1926–1973), in Klagenfurt geboren, in Rom gestorben. Ihr kurzes, von der Erfahrung von Nazitum und Krieg, von Krankheit, Sucht und Liebesdesaster (als existenzielle Katastrophe, nicht als romantisches Herzeleid) gezeichnetes Leben hat sich meistens in Zwischenräumen abgespielt, zwischen Wien
Der Bregenzerwald liegt nicht am Meer
und Rom, Zürich und München – auch zwischen Sprachen, zwischen Menschen, zwischen allen Stühlen ...
Fast ihr gesamtes Leben lang focht sie einen Kampf mit der Sprache aus, genauer: focht um eine Sprache, mit der etwas anzufangen wäre, mit der den Geschehnissen, den Ereignissen des Lebens – der Liebe nicht zuletzt, oder dem Verhältnis der Geschlechter zu- und untereinander – gerecht zu werden wäre. Diesen Kampf fechten auch viele ihrer literarischen Figuren. „Das dreißigste Jahr“, so ist der erste Prosaband der zuvor als Lyrikerin schnell berühmt gewordenen Bachmann benannt (Salzburger Bachmann Edition. Suhrkamp Piper 2020). Es sind sieben Geschichten unterschiedlicher Thematik: Von einer Kindheit und Jugend in K. (K. wie Klagenfurt) zwischen Krieg und falschem Frieden, in dem die Täter bald wieder Karriere machen; von Mördern und Irren: Männer im Weinkeller (im doppelten Sinn des Wortes); von einem in einem Schrei verstummenden, wahrheitssuchenden Landesgerichtsrat; von zwei Frauen und der (Un-)Möglichkeit, der Herrschaft zu entkommen; von einem Vater und der gescheiterten Beziehung zu seinem kleinen Sohn, den er vergeblich vor der alten, abgenutzten Sprache und Welt schützen möchte. Scheinbar ziemlich unterschiedliche Themen. Allen gemeinsam ist aber eines: die Suche nach einer „unverbrauchten Wahrheit“, jener der Literatur.
Für dieses Suchen bewundere ich die Bachmann. Und genau dieses unbeirrbare, kompromisslose Suchen und Finden ist es, wofür ich meinerseits
den Bregenzerwald brauche und liebe. Auch wenn es wohl heißen müsste: Für das, was ich in mir finde, wenn ich im Bregenzerwald bin. Aber päpstlicher als der Papst soll auch der Wahrheitssucher nicht sein, will er nicht bei einer Wahrheit landen, „von der keiner träumt, die keiner will“, wie es am Ende einer der Erzählungen („Ein Wildermuth“) heißt.
Nun ist der Bregenzerwald vielleicht eine Region, die für die Vielfalt ihrer Dialekte zwischen Vorder- und Hinterwald bekannt ist (wem? wo?), meinetwegen auch für die klangliche Schönheit dieser Dialekte, nachvollziehbar etwa an den Gedichten von Gebhard Wölfle (1848–1904): „Healluf! As gaut dom Früohling zuo, /as rumplot i dor Kanisfluo, / am Grabo Merzoblüomle staund, / as gruonot voaror Stubowaund.“ („Merzoschnee“) Eine Region der großen Demagogen, der gefinkelten Rhetoriker einerseits, auch der Schwätzer und Plapperer andererseits, ist der Bregenzerwald nicht. Das stellt man ohne Bedauern fest. Schon eher sind sie schweigsam, die Wälder, wortkarg, „mulfuul“ meinetwegen. Da musst du manchmal schon auf eine Antwort warten. Nicht weil es länger dauern würde, bis die Frage angekommen ist, doch ihre Prüfung braucht Zeit.
Die titelgebende Erzählung „Das dreißigste Jahr“ ist ein Monolog: Einer redet mit sich selbst. Für die Welt mag er stumm sein. Er wird dreißig, kann sich nicht mehr jung nennen, zu viele Möglichkeiten sind schon an ihm vorbeigezogen: 1000 von 1001 womöglich. Es wird Zeit, die Zeit zu nutzen, aufzubrechen, anzufangen. Da kommt eine große Frage ins Spiel, die uns moderne Menschen beansprucht: Wer bin ich? „Wer bin ich denn, im goldnen September, wenn ich alles von mir streife, was man aus mir gemacht hat?“ (Bachmann). So gesehen sind meine Wälder keine modernen Menschen, auch das stelle ich ohne Bedauern, vielmehr mit Genugtuung, aufatmend fest. Moderne Menschen (in diesem Sinn) sind getriebene, von den Umständen gemachte Zeitgenossen; demgegenüber steht der verwurzelte, der gewordene Mensch. Weil nämlich das Machen, schöner: das Tun, die Arbeit, hier im Bregenzerwald, so wie ich ihn sehe, da und dort immer noch ein Ursprüngliches ist, weil das Handwerk eine wichtige Rolle spielt, anders als in Industrieregionen mit ihren Riesenfabriken und Großkonzernen.
Deshalb habe ich es hier nicht mit Machern, mit Wichtigtuern zu tun, sondern mit Menschen, die sich an ihrem Platz um ihre Aufgabe kümmern. Sie „spannen sich nicht vor die Zukunft“ (Bachmann): Sie leben jetzt. Sie sind einverstanden mit sich selbst, mit ihren Häusern (den wunderbaren Bregenzerwälder Bauernhäusern). Das ist etwas so ganz anderes als das ruhe-, rast- und ziellose Fortschreiten der Gschaftlhuber. Meine Wälder haben, tun und sind das Ihre und drücken sich nicht vor dem Preis: „Geh Tod, und steh still, Zeit. Keinen Zauber nutzen, keine Tränen, kein Händeverschlingen, keine Schwüre, Bitten.
Nichts von alledem. Das Gebot ist: Sich verlassen, dass Augen den Augen genügen, dass ein Grün genügt, dass das Leichteste genügt. So dem Gesetz gehorchen und keinem Gefühl. So der Einsamkeit gehorchen. Einsamkeit, in die mir keiner folgt.“ (Bachmann) Wenn ich sie sehe, die Handwerker, die Verwurzelten, die Bauern und Bäuerinnen, dann sehe ich Menschen vor mir, die wissen, dass sie nun „an die Reihe gekommen sind mit ihrem Leben“ (Bachmann), dass vor ihnen andere dran waren und nach ihnen andere kommen. Aber jetzt sind sie es. Woher sie diese Ruhe nehmen, weiß ich letztlich nicht. Doch man sieht ihnen an, dass sie sie haben. Das genügt. Peter Natter