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Hochstauden im Gebirgswald: natürlich, unzähmbar, vielfältig
In Gebirgswäldern stellen sich nach Störungen oder Eingriffen oft artenreiche Hochstauden- und Reitgrasfluren ein. Die Wiederbewaldung in solchen Beständen ist ein langsamer Prozess, der bis zu einem gewissen Grad gefördert werden kann. Vermoderndes Totholz spielt dabei eine wichtige Rolle.
T. Wohlgemuth, D. Scherrer, P. Bebi
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Hochstauden im Gebirge, grob oberhalb von 1000 bis 1200 m ü. M., bestehen aus mehrjährigen Kräutern und Stauden mit ausdauernden Wurzeln oder Rhizomen. Die Kräuter bilden eine natürlich-dauerhafte Bodenvegetation, in welcher Bäume nur langsam aufkommen können (Ott 1989). Häufig anzutreffende Arten sind Gelber und Blauer Eisenhut, Grauer und Grüner Alpendost, Alpen-Milchlattich, Weisse Pestwurz, Meisterwurz, Himbeere, Echte Goldrute, Rundblättriger Steinbrech, Gebirgs-Käl-
Abb.1: Hochstaudenfluren im Bündnerland mit Alpen-Milchlattich (links), Grauem Alpendost (rechts oben) und Grauem Alpendost/Echtem Wurmfarn (rechts unten). (Bilder: U. Wasem)
Abb. 2. Insekten auf Hochstaudenpflanzen: Blutzikaden auf Bergscharte (links), Blattkäfer der Gattung Oreina auf Meis-
terwurz (rechts oben) und Bunte Blattkäfer auf Weisser Pestwurz (rechts unten). (Bilder: B. Wermelinger)
berkopf, Nessel-Ehrenpreis, Weisser Germer, Purpurlattich, an vernässten Orten Echter Wurmfarn, Bergfarn, Wald- und Gebirgs-Frauenfarn sowie im Schatten der Stauden Gelbes Bergveilchen, Gemeiner Sauerklee, Berg-Goldnessel und viele andere (Ellenberg & Klötzli 1972). Die Kräuter bilden besonders in Waldlücken eine sehr artenreiche Bodenvegetation (Abb. 1) auf frischen bis feuchten, nährstoff- und humusreichen Standorten in luftfeuchten und zumeist schattigen Hanglagen der ober- und hochmontanen sowie der subalpinen und obersubalpinen Stufen. Auf einem Quadratmeter können bis zu 30 Pflanzenarten gedeihen – durchschnittlich rund 15 Arten (Daten aus Wohlgemuth et al. 2002). Eine Untersuchung in der hochstauden- und totholzreichen Windwurffläche Uaul Cavorgia bei Disentis ergab eine beachtlich hohe Zahl von 1200 verschiedenen Wirbellosen, zur Hauptsache Insekten (Duelli et al. 2002). Im Vergleich zum geschlossenen Wald wurden in den Windwurfflächen zehnmal mehr Individuen und zwei- bis viermal mehr Arten gefunden. Die Pflanzenarten dehnen sich nach grösseren Öffnungen, die durch natürliche Störungen wie Windwurf und Käferbefall oder durch Eingriffe entstehen, rasch aus und können über Jahrzehnte vorherrschen. Insbesondere durch die Stürme Vivian (1990) und Lothar (1999) sind vorübergehend grosse Hochstaudenflächen in vielen Teilen der Alpen entstanden. An weniger feuchten Hangpartien in denselben Höhenstufen wachsen Reitgrasfluren, die meist
Abb. 3. Vorkommen von Wäldern mit Hochstauden oder Reitgräsern in der Krautschicht gemäss NaiS (Frehner et al. 2005) auf dem Stichprobennetz des Landesforstinventars (Frehner et al. 2021). Hochstauden in den Standorttypen 19, 20, 27*, 50, 59, 60 sowie Reitgräser in den Standorttypen 47, 57 und 60*.
aus artenarmen Beständen von Reitgräsern (Gattung Calamagrostis) bestehen, mit Wald-Reitgras auf der Alpensüdseite und Wolligem und Buntem Reitgras (Berg-Reitgras) in Graubünden und im Wallis (Delarze et al. 2015). Hochstauden- und Reitgrasfluren sind in vielfältigen Übergängen anzutreffen und enthalten oft attraktive Blütenpflanzen wie Feuerlilie, Türkenbundlilie oder Bergscharte (Abb. 2). Hochstaudenreiche Waldvegetation tritt in Tannen-Buchenwäldern (19, 20), in Weisserlen-Ahornwäldern (27*), Tannen-Fichtenwäldern (50), Lärchenwäldern (59) und Fichtenwäldern (60) auf. Diese Wälder machen schweizweit (mittlere Höhenlage 1427 m ü. M.) rund knapp 7 Prozent der Waldfläche aus, im Kanton Graubünden 8 Prozent. Eine reitgrasreiche Vegetation weisen WollreitgrasTannen-Fichtenwälder (47) und Buntreitgras-Fichtenwälder (57, 60*) auf, mit 5 Prozent Anteil schweizweit (mittlere Höhenlage 1614 m ü. M.) und 11 Prozent im Kanton Graubünden (Scherrer et al. 2021, mit Daten aus Frehner et al. 2021 berechnet). Wälder mit Hochstauden und Reitgräsern sind daher in den Alpen und in den Hochlagen des Juras verbreitet, wobei reitgrasreiche Wälder auf der Alpensüdseite besonders häufig vorkommen (Abb. 3).
Verwandte der Hochstauden- und Reitgrasfluren
In tieferen Lagen mit weniger Jahresniederschlag sind Waldöffnungen von anderen Pflanzengemeinschaften besiedelt, so von Schlagfluren mit Tollkirsche auf neutral bis basischen Böden, Wald-Weidenröschen auf eher saurer Unterlage oder Adlerfarn auf mageren Böden. Adlerfarn breitet sich ebenfalls auf extensiv oder nicht mehr beweideten Weiden aus. Auf nährstoffreichen Böden der tiefen Lagen machen sich Brombeergestrüppe besonders üppig breit. Einerseits wird diese Entwicklung durch die Ausbreitung der armenischen Brombeere verstärkt,
Abb.4: Verjüngungsdichte in 22 Vivian-Windwurfflächen oberhalb von 1000 m ü.M., 20 Jahre nach dem Sturm (Daten aus Kramer et al. 2014) als Funktion der hochstaudenartigen Vegetation (Hochstauden, Farne, Reitgräser oder Zwergsträucher).
anderseits profitieren die Brombeerarten auch vom grossen Nährstoffeintrag aus der Luft.
Natürliche Verjüngung als langsamer Prozess
In Hochstauden und Reitgrasfluren können sich Bäume nur schwerlich etablieren, da dichter Bewuchs, mangelndes direktes Licht und Pilzbefall in der Krautstreu das Emporwachsen behindern. Nadelbäume können auf Moderholz, auf topografisch erhöhten Stellen an und aufwachsen, wobei der Aufwuchs dann gelingt, wenn der lokale Wilddruck klein und Schneeschimmel wenig problematisch ist. In hochstaudenreichen Fichtenwäldern ist vermoderndes Holz das wichtigste Verjüngungssubstrat (Imbeck & Ott 1987). Langsam vermoderndes Totholz bietet über mehrere Jahrzehnte ein mageres, hochstaudenfreies Verjüngungssubstrat, auf welchem über längere Zeit Bäume heran und über die Hochstauden hinauswachsen können (z. B. Eichrodt 1970). Auf natürliche Weise entstehen so ungleichartige, stufige Bestände, dies im Gegensatz zu gleichförmig aufkommender (Fichten)Verjüngung nach grösseren Schlägen oder Beweidung (Bischoff 1987, Ott 1989). Aufkommende Fichten finden in den fruchtbaren, biologisch sehr aktiven Böden der Hochstauden (in der Regel Mullbraunerden) gute Wuchsbedingungen. Viele frühere Generationen haben sich mit dem Problem der Verjüngung in hochstaudenreichen Gebirgswäldern beschäftigt. Dabei wurden die natürlichen Prozesse in FichtenUrwäldern als Vorbild für die Förderung der Verjüngung angesehen. Der Schweizerische Forstverein stellte 1910 eine Preisfrage nach der Ursache des häufigen Fehlens der natürlichen Verjüngung in alten Fichtenbeständen hoher Lagen, worauf Johann B. Bavier, der spätere Bündnerische Kantonsforstinspektor, in seiner 24 seitigen Antwort kurzgefasst meinte: «Gut Ding will Weile haben» (Bavier 1910). Auf VivianWindwurfflächen wurden in hochstaudenreichen Öffnungen 20 Jahre nach der Störung im Durchschnitt zwischen 2000 bis 5000 Stämme pro Hektare gefunden, oder ein Bäumchen pro 2 bis 5 Quadratmeter. Vorverjüngung wurde noch spärlicher festgestellt (Abb. 4 und 5).
Abb. 5: Wiederbewaldung auf der grossen Windwurffläche Uaul Cavorgia bei Disentis, 22 Jahre nach dem Sturm Vivian (1990). Die gleichmässige Bestockung auf der bepflanzten Fläche unterscheidet sich deutlich von der strukturreichen
Verjüngung auf der geräumten, belassenen Fläche. (Bild: U. Wasem)
Aktuelle Erkenntnisse zur Baumverjüngung
In subalpinen Fichtenwäldern der Randalpen und Nordhänge stellen die Hochstauden eine grössere Konkurrenz für die Verjüngung dar als in den kontinentalen Hochalpen und an Südhängen. Totholz als Verjüngungssubstrat ist in den Flächen ausreichend zu belassen. Offene Erde (nach Störungen), kleine Kuppen oder Trupps von Vogelbeeren sind ebenfalls günstig für die Verjüngung. Bestandesöffnungen sind schlitzförmig zu halten und so zu bemessen, dass an den verjüngungsgünstigen Stellen mindestens zwei Stunden Besonnung im Juni möglich ist (Schwitter et al. 2020). Die sehr grosse Bedeutung von Moderholz für die Verjüngung ca. 20 bis 30 Jahre nach dem Belassen von Totholz wurde insbesondere in neueren Wiederholungsaufnahmen auf früheren Windwurf und Käferflächen bestätigt (Marty 2020, Caduff et al. 2021). Basierend auf Untersuchungen in 10 Kahlhiebflächen in Gebirgswäldern der Südostschweiz (1450–1850 m ü. M.) nennen Kalt et al. (2021) für schwierige Verjüngungssituationen die Option eines Moderholzschlags, der als Basis für die Verjüngung in 20 Jahren dienen soll. Zusammenfassend bestätigen neuere Untersuchungen, dass Hochstauden – langfristig gesehen – nicht ein unüberwindbares Verjüngungshemmnis darstellen und dass die Wiederbewaldung an solchen Hochstaudenstandorten jedenfalls zeitlich und räumlich differenziert zu betrachten ist.
Dr. Thomas Wohlgemuth ist Leiter der Forschungsgruppe Störungsökologie an der WSL (Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft).
Dr. Daniel Scherrer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Forschungsgruppe Störungsökologie (WSL).
Dr. Peter Bebi ist Leiter der Forschungsgruppe Gebirgsökosysteme und des Forschungszentrums CERC am WSL-Institut für Schnee und Lawinenforschung, SLF Davos.
Literaturverzeichnis auf www.buendnerwald.ch