Baumeister 09 2012

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Bau me ister

10 9 . J a h r g a n g

September

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Das ArchitekturMagazin

Was ist zeitgemäß, Winfried Nerdinger? se ite 18

Kirche am Meer seite 56 + Diller Scofidio +

Stadien als mediale Räume

Renfro + Hartmut Esslinger + Graft

s e i t e 74

+ Ippolito Fleitz + Vilhelm

Ab s e i t e 2 8

09

...und die Architektur

Lust

4 194673 015006

Angst

D A,L C H

Schmerz

15 E u r o 17 E u r o 23 SFR

Hammershøi


18

Köpfe

Mit histo­ rischem Bewusstsein die Moderne vermitteln interview

Wolfgang Bachmann Alexander Gutzmer fotos

Fritz Beck

19

1

Die Sammlung, die Winfried Nerdinger 1975 übernahm, befand sich in einem Abstellraum über der Bibliothek der TU München und in einer angemieteten Wohnung. In 37 Jahren hat er daraus ein international bekanntes und geachtetes Museum gemacht.

Noch bis Ende September ist Winfried Nerdinger Chef des Münchner Architekturmuseums. Zeit für eine Rückschau auf Nazi- und Rekonstruktionsdebatten – und für den Blick nach vorn: In diesem Gespräch ruft Nerdinger heutige Architekten zu offensiverem sozialem Engagement auf.

B

aum e i s t e r : Herr Nerdinger, wir stehen in der Münchner Pinakothek der Moderne, die sich inzwischen vor Bauschäden schüttelt. Spüren Sie Schadenfreude? Sie hatten ja nie einen Hehl daraus gemacht, dass das nicht Ihre Architektur ist. W i n f r i e d N e r d i n g e r : Das sind zwei verschiedene Dinge: zum einen die Bauschäden, die nach nur zehn Jahren natürlich peinlich sind. Zum anderen meine persönliche Einschätzung dieses Baus, der nicht meiner Architekturauffassung entspricht.

B : Entspricht er nur nicht Ihrer Auffassung – oder hatten Sie Schwierigkeiten, die Räume zu bespielen? W N : Schwierigkeiten überhaupt nicht. Die Räume haben Vor-und Nachteile. Der Vorteil: Wir können in alle drei Räume Nordlicht hereinkommen lassen. Somit haben wir die Möglichkeit, Architektur mit Tageslicht zu zeigen und uns wie ein Schaufenster nach außen zu öffnen. Der Nachteil: Es sind drei hintereinander angeordnete, schmale Räume – nicht der ideale Grundriss, um Ausstellungen zu entwickeln. Wir haben das als Herausforderung genommen und in den 42 Ausstellungen, die wir in den vergangenen zehn Jahren machten, jedes Mal dem Thema entsprechend einen vollständig anderen Raumeindruck gestaltet. Architektur ist Raumgestaltung, und das vermitteln wir auch.

nichten nur eine Angelegenheit von Architekten, Planern und Behörden ist. Hier liegt auch unsere Aufgabe als Architekturmuseum: Wir müssen Themen vermitteln, nicht Lösungen vorschlagen; wir müssen Probleme in ihrer Komplexität sichtbar machen und damit zum weiteren Nachdenken anregen. Wir sind Teil eines großen Museums, in dem sich vier eigenständige Häuser unter einem Dach befinden. So haben wir sehr hohe Besucherzahlen – manchmal bis zu 500.000 Besucher im Jahr. Das Interessante dieses Hauses ist ja, dass Sie einmal Eintritt bezahlen und dann durch das gesamte Museum gehen können. So kommen auch sehr viele Besucher zu uns, die normalerweise nicht in eine Architekturausstellung gehen würden. Dies ist eine enorme Chance und Aufgabe, Architektur an eine breite Öffentlichkeit zu vermitteln. B : Geben Sie doch mal Ihrem Nachfolger einen Tipp: Wohin müssen sich die Ausstellungen in den nächsten zehn Jahren entwickeln? W N : Ich habe hier ein bestimmtes Profil an Ausstellungen entwickelt, eine Mischung aus thematischen, historischen und biographischen Ausstellungen sowie einigen speziell zukunftsorientierten wie zum Beispiel zuletzt „Bauen mit Holz – Wege in die Zukunft“. Kazunari Sakamoto bekam seinen Auftrag für die Werkbundsiedlung, weil wir ihn ausgestellt hatten. Vorher kannte ihn hier doch niemand! Wir zeigten beispielsweise die erste große umfassende FreiOtto-Ausstellung oder „Architektur, wie sie im Buche steht“ – eine der erfolgreichsten Ausstellungen: Jeder kennt Romane, in denen über Architektur geschrieben wird. Diese fiktiven Architekturen haben wir nachvollziehbar präsentiert und damit alle an Literatur Interessierten mit Architektur zusammengebracht, das kam sehr gut an. Anders die Ausstellung über Architektur und Film in Israel, eine der wichtigsten, die ich gemacht habe – großes Besucherinteresse, Erfolg bei der zweiten Station in Tel Aviv, aber bei der Presse und Architekturkritik ein totaler Flop. Ein hochbrisantes Thema, um das ein Bogen gemacht wurde.

Und Ihr Nachfolger? Ich werde mich hüten, meinem Nachfolger einen Tipp zu geben. Ich wünsche ihm alles Gute – aber ich bin kein Prognostiker. B:

W N:

B : Sie haben nie in Architekturdebatten eingegriffen, Kritiken zu neuen Bauwerken verfasst. Die Schweigepflicht des Bauhistorikers? W N : Kritiken für Bauzeitschriften überlasse ich gerne Ihnen, aber ich habe sehr wohl immer wieder zu Architekturproblemen Stellung genommen. Ich sehe meine Aufgabe darin, Architektur zu erklären und zu vermitteln.

Sehen Sie die Debatte über Architektur im Wachsen oder haben Sie den Eindruck, dass sich die Gesellschaft weniger für Architektur interessiert? W N : Ich sehe ein wachsendes Interesse an der gebauten Umwelt. Zunehmend breitere Bevölkerungsschichten entwickeln ein Bewusstsein dafür. Ich glaube auch, dass dieses Thema mitB:

B : Sie haben sich wiederholt am Begriff „zeitgemäße Architektur“ gestört. Was ist an dem unscharfen, aber dennoch hinreichend deutbaren Attribut falsch? W N : Wogegen ich mich gewandt habe, war die Vorstellung vom Ausdrücken eines „Zeitgeistes“. Goethe hat das sehr schön auf den Punkt gebracht:

„Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln.“ Weiter


Ideen

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1

Architektur – Implantat Architekten

Ippolito Fleitz Group Oben: Auch Kassenpa­ tienten entspannen sich gerne in einem freund­

kritik

Wolfgang Bachmann

lichen, fast vornehmen Warteraum. Rechts: Neben dem Empfang reihen sich an der versetzten Flurachse die Behandlungsräume hinter der Glaswand.

Fotos

Zooey Braun

Ein Konzept wie aus einem Guss, der Name Weissraum gilt als Programm. Kompromisslose Ästhetik bis in jedes Detail übersetzt die Präzision des Dentisten in Innenarchitektur.


Architekten

Pedra Silva Arquitectos

Oben: Dunkel, beruhi­ gend, wohlig. Die Praxis empfängt die Patienten

Schwarz

33

2

Ideen

Weiß

mit einem stimmungsvollen Anmelde- und

kritik

Wartebereich.

Claudia Fuchs

Rechts: Streng, klar, sauber. Als Gegensatz

Fotos

dazu bleiben die kom­

João Morgado

räume sachlich weiß.

pakten Behandlungs-

Ein schwarzer, verspiegelter Wartebereich – eine Vorhölle? –, kalte, klinisch-weiße Behandlungszimmer: Starke Kontraste sorgen für ein Wechselbad der Gefühle in dieser Lissaboner Zahnarztpraxis.


38

Ideen

39

3

Architekten

Graft kritik

Doktor

Wolfgang Bachmann Fotos

Tobias Hein

– Oben: Kein Friedhof der

Spiele

Kuscheltiere. Hier wird erst mal gespielt, ein Tierchen als Freund für die Behandlung ausge­ sucht, und dann zaubert der Doktor... Rechts: Zwischen den „Dünen“ liegen die Pra­ xisräume, auf der Rück­ seite bieten sie Stauraum und Tische.

Es geht auch um Architektur, aber zunächst beeindruckt das Konzept. 80 Mitarbeiter, darunter 17 Ärzte im KU64/65 Berlin. Sie sorgen für das Rundum-schön-und-gesund-Wohlfühlpaket.


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Ideen

Für Privat

Linke Seite: Doktorspiele für Erwachsene. Der Pati­

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5

Patienten

Zahnarztpraxen sehen heute wie Kinder­ krippen oder das Interconti aus, Domi­ nastudios wie das Sprechzimmer beim Urologen. Solche bizarren Etablissements erinnern an Arbeiten von Allen Jones, Annie Sprinkle oder Ed Kienholz. Bieten dort Dominas die Gegenwelt zu unserem sicheren Bürgerleben? Wir haben die „Residenz Hekaté“ in Karlsruhe besucht.

ent steckt allerdings ge­ fesselt im Latexanzug, während die Kieferortho­

I n t e r vi e w

pädin Hand anlegt.

Wolfgang Bachmann

Oben: Konsequente Be­ handlung. Der Gynostuhl wartet auf hartleibige Männer.

Fotos

Michael Hertle


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