Baumeister 03/2016

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BAU ME ISTER

11 3 . J A H R G A N G

März

Das ArchitekturMagazin

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+ PETER HAIMERL HERZOG & DE MEURON PÁ L M A R K R I S T M U N D S S O N KSP JÜRGEN ENGEL ARCHITEKTEN MARTE.MARTE PHILIPP MEUSER JOSE P M ARÍA MONTANE R OMA R3 ARCHITETTI

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D A,L I CH

15 E U R O 17 E U R O 19,50 EURO 23 SFR

ZANDERROTH

Rotterdamer Würfelspiel ... ODE R WARUM GUTE ARCHITE K TUR KLUGE BAUHERREN BRAUCHT


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B3 Der Bauherr ist des Architekten Lieblingsfeind. Die unterstrichenen Beiträge rechts zeigen, dass gute Architektur auch mit komplizierten Bauherren geht. Nur der Weg dahin ist steinig.

Köpfe

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Bernhard und Stefan Marte in ihrem Büro

Mitten in Rotterdam: Stadtverwaltung von OMA

10 Marte Marte

22 Gezähmtes Gebirge

Die Vorarlberger lieben den Werkstoff Beton.

Die Stadtverwaltung Rotterdam lässt sich von OMA ein multifunktionales Haus bauen.

14 Josep María Montaner

32 Zu viel der Freiheit

Der Architekt und Lehrer wird Stadtpolitiker und will in Barcelona einiges ändern.

16 Pálmar Kristmundsson BAU MEISTER. DE

Ideen

Isländische Architektur mit japanischem Einfluss

Zusammen wohnen: Eine Berliner Bauherrengruppe beauftragte Zanderroth Architekten mit einem Lückenfüller.

42 Braunschweiger Wasserspiele Schwieriger Anfang mit gutem Ende: Stadtbad von KSP Jürgen Engel Architekten

52 Raumakrobaten R3 Architetti bauen sich ein Architekturbüro.

Gemeinsam mit unserer Schwesterzeitschrift Topos haben wir die „Baumeister Topos Cities Initiative“ gegründet. Die hat nun auch einen eigenen Bereich auf unserer Website.

60 Neues Herz für Colmar Nicht nur Museum, auch Stadtmitte: Umbau von „Unterlinden“ von Herzog & de Meuron


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Fragen

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Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Flughafen

Viel Licht im März: auf der Light + Building 2016

70 Wo spielt die Musik in München?

86 Licht

74 Brauchen wir den Wohnungsbau dritter Klasse?

FOTOS V.L .N.R .: PE TR A R AINE R; SE BASTIAN VAN DA M ME; GREGOR F ISCHE R/DPA

Lösungen

76 Die Flüchtlingskrise als Chance? 80 Wie viel Gebäudeautomation macht Sinn?

96 Referenz Arno Brandlhubers „Antivilla“ mit Technik von Siedle

98 Schalter und Gebäudeautomation RUBRIKEN 6 EIN BILD 50 KLEINE WERKE 51 SONDERFÜHRUNG 58 UNTERWEGS 82

82 Wie gestalten wir den Stadtumbau?

Jörn Frenzel ist Berliner Strategieentwickler und Architekt. Er ist Mitbegründer von vatnavinir (friends of water) – einer Plattform, die sich mit Landschaftsentwicklung und Strategien rund um die heißen Badequellen in Island befasst. Für uns sprach er Pálmar Kristmundsson in Reykjavík.

ARCHITE K TUR & M ANAGE ME NT 103 IMPRE SSUM + VORSCHAU 104 PORTFOLIO: FENSTER, TÜREN, TORE 11 4 MAIL AN...

Die „Wasserwelt“ in Braunschweig hat für uns Juliane Demel besucht. Sie hat dort und in Auckland Architektur studiert und ist – über einen Exkurs unter anderem nach Peking für ein Postgrad-Exchange – inzwischen im Büro Henning Larsen beschäftigt.


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Zwischen Natur und Kommerz Reykjavík entwickelte sich in den 2000er Jahren zur internationalen Metropole der Finanzwikinger. Der isländische Architekt Pálmar Kristmundsson hat die Stadt während des wirtschaftlichen Aufschwungs geprägt wie kein anderer.

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as Büro von PK Arkitektar liegt in einem der wenig verdichteten Innenstadtviertel von Reykjavík am Rande der Altstadt, wo die Gebäude kaum älter sind als 100 Jahre. Das Bauen in Island hat sich hier von einfachen und naturverbundenen Torfhäusern zu großen Stahl-Glas-Beton-Bauten entwickelt, die Reykjavík bis zur großen Krise 2008 zu einer internationalen Metropole der Finanzwikinger machen sollten – einer Art Luxemburg des Nordens mit einer mobilen, internationalen und designaffinen Einwohnerschaft. Darunter befindet sich der Turm von Höfðatorg aus der Feder von Pálmar Kristmundsson – einem Architekten, der die Jahre des Aufschwungs und besonders die 2000er Jahre in Island wie kaum ein anderer geprägt hat. Pálmar Kristmundsson wuchs in dem abgelegenen, doch aufgrund der Fischerei sehr internationalen Dorf Þingeyri in den Westfjorden Islands auf. Die Wirtschaft misst sich damals noch in Tonnen Fisch, und der Alltag in den Docks ist geprägt von harter Arbeit und rauen Seeleuten. Die Mechaniker und Schmiede des Orts sind für Kristmundsson bis heute wahre Erfinder – und die Landschaft, das Meer und die Materialien seiner gebauten Umgebung prägen ihn früh. Es spricht für die Sensibilität seiner Architektur für Material und Detail, wenn er erzählt: „Als sie die alten Holzpiers im Hafen mit Stahl erneuerten, wollte ich das Holz aufkaufen und wiederverwenden. Aber sie haben es verbrannt.“ Früh kam Kristmundsson hier auch mit Japan in Kontakt, wo er später gut zwei Jahre studierte und arbeitete. In seiner Monografie findet sich eine Kindheitsanekdote: Pálmar fing mit seinen Freunden Tintenfische, indem sie am Strand ein Feuer entfachten, von dem die Tiere angelockt wurden und ihnen so ins Netz gingen. Ein japanischer Seemann bat sie um einen Teil ihres Fangs. Zu ihrem großen Erstaunen benutzte er den Tintenfisch nicht als Köder zum Fischen, sondern aß ihn. Es war damals unüblich in Island, Tintenfisch zu essen, und dann auch noch roh! Pálmar freundete sich mit dem Fremden an – und der zeigte ihm das Bild eines typisch japanischen Raums mit Tatamis. Dieses Bild hinterließ einen tiefen Eindruck bei dem Jungen und war wohl ein erster Impuls, Architektur zu studieren. Erste Projekte

Text: Jörn Frenzel

Nach dem Architekturstudium in Aarhus und Kopenhagen ging Kristmundsson mit einem Monbusho-Stipendium nach Tokio und blieb WEITER


Köpfe

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Rechts: Pálmar Kristmundsson gründete das Büro PK Arkitektar 1986. Mittlerweile führt er es gemeinsam mit dem Brasilianer Fernando de Mendonca – sie beschäftigen

PORTR ÄT: ÅKE E:SON LINDM AN, FOTOS: R AFAE L PINHO, BJARNI KRISTINSON

15 Mitarbeiter.

Links und links oben: Das Wohnhaus in Brekkuskógur sieht nicht nur grün aus – es hat auch eine fast makellose CO 2-Bilanz.


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Köpfe

4 Oben: der 19 Stockwerke hohe HöfðatorgKomplex. Das Gebäude entstand vor und nach der Bankenkrise von 2008 – und wurde zu einem der kontroversesten Bauprojekte

Die Kreativstation Steypustöðdin befindet sich in den Westfjorden Islands, wo Kristmundsson aufgewachsen ist. Der versiegelte schwarze Kieselboden im Innenraum scheint in den schwarzen Strand überzugehen.

FOTO LINKS OBE N: HE DI K AIROUANNAIS

Islands.


19 danach noch fast zwei Jahre. Die Zeit in Japan wurde – wie die Kindheit in Þingeyri – prägend für den Architekten, was sich in einer minimalistischen Formensprache, hoher Präzision im Detail, dem Sinn für reine Materialien und einer engen Beziehung des Gebäudes zu seiner Umgebung widerspiegelt. Das Gebäude B63 von 1999 auf Brunastaðir ist eines der ersten Häuser, die Kristmundsson auf diese Weise umsetzte. Der städtische Masterplan dieses Einfamilienhausviertels hatte eigentlich Garagenriegel als Schutz vor dem Nordwind mit dahinterliegenden Wohnhäusern ohne nennenswerte Aussicht vorgesehen. Der Architekt drehte dieses Prinzip um, und somit erfreut sich das Haus am Ende der Sackgasse eines weitschweifenden, völlig unbeeinträchtigten Blicks auf den Kollafjörður und die karge vulkanische Landschaft mit dem dramatischen Hausberg Reykjavíks, dem Esja, im Hintergrund. Die präzise an den Ecken auf Gehrung geschnittene Basaltverkleidung des Hauptkörpers, die verzinkten Dachkanten und die vollverglaste, spiegelnde Nordfassade integrieren das Gebäude in die windig-raue Landschaft. Im Kontrast zur dramatischen Umgebung ist das Innere schlicht gehalten: Weiße Putzflächen setzen sich von Sichtbetonflächen und Iroko-Holzböden ab. Auf dem Höhepunkt Viele Gebäude von PK Arkitektar haben seither in Island Standards gesetzt, wenn es um vollendetes, minimalistisches Design und Landschaftsbezug ging. Der schützende Betonpanzer des vielfach veröffentlichten Àrborg-Hauses steht hier mit an erster Stelle. Es darf mithin zu den modernen Architekturklassikern Islands gezählt werden. Das geschwungene Oberflächendetail, das an das allgegenwärtige Wellblech isländischer Hausfassaden erinnert, ist hier in Beton gegossen und findet sich auch am Tresen der Isländischen Botschaft (als Teil der Nordischen Botschaften) in Berlin.

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ie eleganten, mit Liparit akzentuierten Villen für die zahlungskräftigen Klienten der Boomjahre führten schließlich auch zu dem bis dato größten Projekt des Büros, das Kristmundsson mit seinem Partner, dem brasilianischen Architekten Fernando de Mendonca, ausführte: dem Höfðatorg-Komplex. Das Büro entwarf hierbei auch den Masterplan, auf dessen Grundlage zunächst der gläserne Büro- und Gewerbeturm Turninn Höfðatorgi H1 und mittlerweile auch ein mit Aluminium verkleideter Hotelkomplex errichtet

wurden. Der Turm H1 ist durch sein Entstehen vor und nach der Bankenkrise 2008 und durch seine Höhe von 19 Stockwerken inklusive einer siebengeschossigen Basis zu einem der ambitioniertesten, aber auch kontroversesten Bauprojekte Islands geworden. In politischer Hinsicht ist das kommerzielle Bauprojekt großen Maßstabs, dessen Bau während der Rezession zunächst stillstand und erst 2010 fertig gestellt wurde, für viele Isländer zum Symbol zügelloser und überzogener Investoreninteressen geworden.

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tädtebaulich wird der fortschreitende Verlust der dicht gewebten und (mit Ausnahme der Hallgrimskirkja) vorwiegend niedrig bebauten Altstadtstruktur beklagt. Der Turm orientiert sich städtebaulich und gestalterisch nicht an der niedrigen Stadtstruktur, sondern an seinem weiteren geografischen und topografischen Kontext: dem Meer, dem Himmel und den Bergen im Hintergrund mit dem Berg Esja als Reykjavíks natürlicher Landmarke.Die Fassade des Turms versucht, diese Umgebung durch Lichtreflexe und Brechungen einzufangen sowie gleichzeitig seine Großmaßstäblichkeit zu brechen. In der Curtain Wall wechseln sich 1,5 x 3 Meter große Festverglasungen mit versetzten, vertikalen Glasschlitzen mit wechselnden Rücksprüngen ab und bringen somit Bewegung in die Fassade. Eine rau behauene Betongiebelwand des Sockelgebäudes kontrastiert direkt mit der glatten Glasoberfläche. Die Interieurs bieten unvergleichliche Ausblicke und sind selber einfach gehalten: Holz- und Betonfußböden mit Besenstrich sowie die polierten Betonoberflächen des Kerns kontrastieren mit Trennwänden aus Glas und leuchtend weißen Putzwänden. Insgesamt ergeben sich Innenräume, die – wie bei Kristmundssons Einfamilienhäusern – Behaglichkeit und Schutz vor den nordischen Elementen in einer harten, widerstandsfähigen Schale bieten. Mittlerweile hat die isländische Konjunktur wieder Fahrt aufgenommen und PK Arkitektar haben verschiedene größere Projekte auf dem Tisch: Das Produktions- und Bürogebäude für die Gentechnikfirma Alvogen nahe des Campus der Universität Islands befindet sich kurz vor Fertigstellung und weitere Gebäude im In- und Ausland sind in Arbeit. Auch kleinmaßstäblichere Projekte, welche den Bezug zur Natur und das bauliche Erbe Islands wieder stärker suchen, wie die Ferienhütten der isländischen Akademikervereinigung in Brekkuskógur am See Laugarvatn, wurden 2015 abgeschlossen.

Überschüssiger Erdaushub dient hier als Schutzwall für Außenterrassen, und die Begrünung geht in die Dächer über, wodurch die Hütten in der Landschaft „verschwinden“. Die Fassaden sind mit angekohltem Hartholz, wie es zum Beispiel in Japan Verwendung findet, verkleidet, und das Gebäude hat mit seiner geothermischen Beheizung eine fast makellose CO 2 -Bilanz. Zurück in Þingeyri Dieser Trend einer wieder verstärkten Hinwendung zur Natur und den eigenen Wurzeln in den Westfjorden ist nicht zufällig und zu einem gewissen Teil der Einsicht geschuldet, dass jeder künstlerische Gestaltungswille des Einzelnen letztlich vor den Naturgewalten dieser Insel im Nordatlantik und dem Erfindertum und Überlebenswillen seiner Bewohner zurücktreten muss. In diesem Sinne hat sich Pálmar Kristmundsson ein kleines Ferienhaus auf dem Gelände einer ehemaligen Betonfabrik nahe seiner Heimatstadt gebaut und ist damit zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Er hat die einfachste aller Strukturen, ein bestehendes Betonhäuschen mit Satteldach, auf die ihm eigene Weise umgebaut: minimalistisch in den architektonischen Mitteln, sensibel dem Kontext gegenüber und durchdacht bis in kleinste Detail. Steypustöðdin – oder auch Kreativstation – ist eine mit Cortenstahl verkleidete Klause, die in der windumtoßten Landschaft am Dyrafjörður immer weiter verwittert und im Innenraum vorwiegend auf die Landschaft verweist: der versiegelte schwarze Kieselboden scheint durch das Panoramafenster hindurch in den schwarzen Strand überzugehen, und weiter bis zum anthrazitfarbenen Ozean und den Tafelbergen dahinter. Es ist ein post-industrieller Ort der Verschmelzung von Architektur und Natur und ein Ort der Heimkehr; oder in Pálmar Kristmundssons eigenen Worten: „Die Betonfabrik bei Sandasandur ist einer dieser missachteten Orte. Sie war einige Jahre verlassen und ging mir nicht mehr aus dem Sinn als einer der faszinierendsten und aberwitzigsten Schauplätze für Kreativität.“


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Ideen

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Ein dreigeschossiger Neubau mit gotisch angehauchten Lichtschlitzen begrenzt nun einen Hof – als Pendant zum gegenßberliegenden Kloster.


61 Architekten: Herzog & de Meuron

Fotos: Ruedi Walti

Kritik: Karin Leydecker

Neues Herz für Colmar

Drei Jahre war es geschlossen, nun hat das Musée Unterlinden in Colmar wieder seine Tore geöffnet. Das „Schatzkästlein“ mit dem berühmten Isenheimer Altar wurde für 44 Millionen Euro von den Baslern Herzog & de Meuron umgebaut und durch Neubauten erweitert: Es präsentiert sich in einem neuen städtebaulichen Kontext als kleines Museumsquartier.


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Ideen

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Diesseits und jenseits des wieder ausgegrabenen Bachs: das Museum als st채dtebauliche Klammer


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Die Ausstellungsebenen werden 端ber zwei imposante Wendeltreppen erschlossen.


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Fragen

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Brauchen wir den Wohnungsbau dritter Klasse

Genau das brauchen wir

?

!

FOTO: GREGOR F ISCHE R/DPA

Philipp Meuser plädiert für ein undogmatisches Vorgehen beim Bau von neuen Wohnungen, wenn der gegenwärtige Zuzug von Flüchtlingen als Chance für den Immobi lienmarkt genutzt werden soll.

Erstaufnahme von Flüchtlingen im ehemaligen Flughafen Berlin Tempelhof


75 Text: Philipp Meuser

Seien wir ehrlich: In den vergangenen Jahren ist der Wohnungsbau durch ordnungspolitische Vorgaben und Lobbyarbeit zu einem Wirtschaftszweig verkommen, der von Finanzdienstleistern, Rechtsanwälten und Gutachtern dominiert wird. Das Ergebnis: exklusiver Wohnungsbau mit Quadratmeterpreisen von 4.000 Euro und mehr befriedigt die Renditeerwartung anonymer Anlagefonds. Sozialpolitisch sind sie ein Desaster, weil der Wohnungsbau für die untere Mittelschicht völlig zum Erliegen gekommen ist. Es fehlen die Anreize für die freie Immobilienwirtschaft, Wohnungen im unteren Preissegment anzubieten. Das Wirtschaftsrisiko des Bauträgers ist bei niedrigeren Verkaufspreisen ungleich höher, selbst wenn der Gewinn gleich bleibt. Und welcher Architekt würde sich mit einer anspruchsvollen Planung engagieren, wenn das Honorar bei gleichbleibender Komplexität der Aufgabe auch monetär in den Bereich der Selbstausbeutung fällt? Wenn es in diesem Beitrag um die Forderung nach einem Wohnungsbau dritter Klasse geht, dann haben Sie sich nicht verlesen! Damit soll ein Neubaustandard gemeint sein, der das Angebot von frei finanziertem und sozial gefördertem Wohnungsbau um ein Segment ergänzt, das auf Eigenleistung und freier Entscheidung über den Ausbau basiert. Heißt im Klartext: Ich ziehe mit einem kleinen Geldbeutel ein und entscheide im Laufe der Jahre, wie ich meine Wohnung nachrüste. Alles auf Basis von Eigentumsbildung, aber unterhalb des Sozialbaustandards. Die eigentliche Revolution und Vorteil dieses Segments: Die Eigentumswohnung könnte schon für weniger als 1.000 Euro pro Quadratmeter verkauft werden. Wenn es gestalterisch gelingt, die Wohneinheiten auf 30 Quadratmeter zu reduzieren, würde eine solche Wohnung weniger kosten als ein Mittelklassewagen mit Sitzheizung und Alufelgen. Da die Immobilienfinanzierung heute etwa 40 Prozent Eigenkapital fordert, würden also 10.000 Euro für die Befreiung vom Mieterdasein ausreichen. Die Restsumme dürfte sich finanzieren lassen. Auf dem Automobilmarkt funktioniert dies ja reibungslos mit konzerneigenen Banken.

Zugegebenermaßen reden wir hier über den Typus der Kleinstwohnung für Alleinstehende mit (vorläufigem) Niedrigstandard, der aber durch Kombination mit anderen Einheiten im Handumdrehen familientauglich und nach eigenen Ausbauleistungen durchaus komfortabel werden kann. Wer in eine solche Wohnung einzöge, würde möglicher weise ein neues Verständnis von Wohnkultur entwickeln, und die Do-it-yourself-Kultur, die uns von Hornbach bis Ikea vorgelebt wird, hätte eine zusätzliche Zielgruppe. Vor allem aber wäre die Frage nach dem Ausbaustandard unabhängig von Vermietervorgaben oder Förderungsrichtlinien vom Bewohner zu beantworten. Wenn wir zu einem Planen und Bauen zurückfinden wollen, das die Mindestanforderungen an ein würdevolles Wohnen erfüllt, dann wäre das ein Anfang. Würdevoll hieße hier, zu geringen Kosten frei über die eigenen vier Wände entscheiden zu dürfen. Es geht keineswegs um Eichenparkett und Marmorbad! Besonders die zuzugsstarken Ballungszentren benötigen dringend zusätzlichen Wohnraum, und diesen vor allem im Niedrigpreissegment. Darüber sind sich alle Beteiligten einig, über den Weg dorthin wurde jedoch stark diskutiert. Wenn wir den gegenwärtigen Zuzug von Flüchtlingen als Chance für den Immobilienmarkt nutzen wollen, brauchen wir ein undogmatisches Vorgehen beim Bau von neuen Wohnungen. Das soll nicht bedeuten, dass die eingefahrenen, vielleicht auch etwas verstaubten Mechanismen kritisiert werden sollen. Wenn wir jetzt Wohnraum für mindestens eine Million Menschen schaffen müssen, dann ist das auch für die Entwicklung der deutschen Städte eine große Chance! Jetzt haben wir Entwicklungsdruck, jetzt können wir die grundsätzlichen Fragen stellen: Welche Vision haben wir, wie wohnen wir im 21. Jahrhundert? Es geht um Einkommensgruppen, die bislang in einer Debatte über Eigentumsbildung überhaupt nicht berücksichtigt wurden. Familien oder Lebensgemeinschaften, die auf Wohnfläche und Standards verzichten zugunsten einer Unabhängigkeit von Vermietern und Altersarmut. Wir sprechen also von einem Wohnungsmarkt mit Einheiten von etwa 30, 60 oder 90 Quadratmetern – im Lebenszyklus zusammenschaltbar oder lebensabschnittsweise einzeln zu nutzen. Klar ist, dass sich Flüchtlinge und Migranten der ersten Generation diese Wohnungen nicht unbedingt leisten können. Aber die Gesamtlage würde sich entspannen, weil auch die untere Mittelschicht eine eigene Wohnung kaufen könnte, eben mit einem relativ geringen Standard. Unser kulturelles Verständnis vom Immobilienkauf gibt das aber gar nicht her. Wir brauchen eine Diskussion über Wohnungsstandards. Da haben wir Architekten wegen des aktuellen Handlungsdrucks doch mal eine Chance!

Ziel muss eine Senkung der Standards sein: weniger Fläche, geringere Ausbauqualität, mehr industrielle Vorfertigung. Vielleicht können wir von anderen Ländern lernen, von China oder Russland. Wer dort eine Wohnung kauft, kauft in der Regel einen Rohbau mit Heizung und Anschlüssen für Wasser, Strom und Gas. Der Ausbau liegt in der Verantwortung des Käufers. Wenn wir dahin kommen, dass Wohnungen nicht nur schlüsselfertig sondern vermehrt zum eigenverantwortlichen Selbstausbau angeboten werden, wäre ein erster Schritt getan. Wenn wir uns dann noch vorstellen, ein privater Fernsehsender würde eine neue Serie für Heimwerker produzieren, würde auch das Wohnen dritter Klasse zum Teil unserer Wohnkultur werden. Nicht umsonst hat Mercedes seiner Kleinstwagenserie den Namen Smart gegeben. Intelligentes Bauen könnte zukünftig also bedeuten, die Kleinstwohnung wie beim Monopoly Schritt für Schritt aufzupimpen und durch Hinzukäufe in eine Wohnung der Oberklasse zu veredeln. Wir müssen also eine Diskussion führen über neue Typologien und Finanzierungsmodelle des kostengünstigen Wohnungsbaus. Philipp Meuser, Architekt und Verleger, forscht derzeit unter anderem zu den Anwendungsmöglichkeiten des industriellen Wohnungsbaus. Sein „Zeit“-Interview im Herbst vergangenen Jahres mit dem provokanten Titel „Ja zur Platte!“ hat in der Flüchtlingsdebatte die Frage nach einer Renaissance des Plattenbaus wieder auf die Tagesordnung gebracht. Meuser, geboren 1969, lebt und arbeitet in Berlin.


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