Garten und Landschaft 09 2010

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September 2010

Garten+

Landschaft Zeitschrift f端r Landschaftsarchitektur

Ingenieurbiologie mit Sonderteil zur Messe GaLaBau


Inhalt 9/2010

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Verlag: Callwey Verlag Streitfeldstraße 35 D-81673 München Fon +49 89 /43 60 05-0 Fax +49 89/43 60 05-113 www.garten-landschaft.de

120. Jahrgang

Für die Zukunft gestalten.

Garten + Landschaft

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Faschinenbewehr Robert Schäfer

Journal

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Die Ruhr leuchtet Thomas Jakob Das Lichtkunstfestival „Twilight Zone“ an der Ruhr

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Eine Kulturhauptstadt macht noch keine Kulturlandschaft Hans-Peter Rohler, Harald Fritz Umbau der Autobahn A 42 zur Parkautobahn im Emscher Landschaftspark

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Wir stecken in einer ökologischen Falle Thomas Jakob Interview mit Wolfgang Haber zu nachhaltigem Handeln

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Gas, Strom und Wasser Klaus Bierbaum Neugestaltung der Verwaltung und des Betriebshofs der Stadtwerke Mainz

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Streit um die Neugestaltung des Gendarmenmarkts in Berlin Juliane Schneegans Umbau soll Anfang 2011 beginnen

6 Die A 42 durchs Ruhrgebiet soll zur Parkautobahn mit Blick auf Sehenswürdigkeiten werden. Unter anderem markieren nun 1 000 Mammutbäume und rote Holzstelen die Autobahn.

Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur e.V. (DGGL) Wartburgstraße 42 10823 Berlin www.dggl.org

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Editorial

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8 Bierbaum Aichele Landschaftsarchitekten gestalteten den neuen Vorplatz der Stadtwerke Mainz. Drei gläserne Spiegel reflektieren ein Intarsienbild vom Boden in die Vertikale.

10 Die Ingenieurbiologie wird nicht zuletzt durch den Klimawandel immer wichtiger. Vor allem beim Erosionsschutz sind standortangepasste Maßnahmen wichtig.


Ingenieurbiologie

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Herausforderungen für die Ingenieurbiologie Eva Hacker Der Klimawandel und die Folgen für den Erd- und Wasserbau

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Begrünungsmaterial und Begrünungstechniken Eva Hacker Übersicht über Materialien und Begriffe in der Ingenieurbiologie

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Ingenieurbiologie – gemeinsames Arbeiten in der EU Eva Hacker Auf dem Weg zur europäischen Richtlinie für Ingenieurbiologie

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Testanlage für ingenieurbiologische Bauweisen Gerhard Hauber, Peter Geitz Renaturierung des Kallang Flusses in Singapur

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Neues Leben an der Großen Mittweida Andreas Stowasser Naturnahe Umgestaltung eines Flusses in Schwarzenberg

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Buschpackwerk für den Puhlstrom Silke Melzer, Astrid Subatzus Vegetationstechnische Maßnahmen zur Ufersicherung im Spreewald

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Gut gebettet auf neuen Sohlen Frank Spundflasch, Rolf Johannsen Renaturierung der Taft zwischen Hessen und Thüringen

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Von schwimmenden Teppichen und lebenden Inseln Henning Günther Schwimmende Vegetationsmatten als Mittel zur Wasserretention

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Lebende Wände – Dekoration versus Klimatisierung Manfred Köhler Vorzüge und Nachteile von Systemen zur Fassadenbegrünung

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Wo der Schotter blüht Bernhard Scharf, Ulrike Pitha Forschungsergebnisse zu Schotterrasen

17 In Singapur testen deutsche Landschaftsarchitekten verschiedene ingenieurbiologische Bauweisen. Ziel ist es, dem Kallang Fluss wieder ein naturnahes Bett zu geben.

26 Um die Eigendynamik zu fördern, erhielt der Mittelgebirgsbach Taft ein neues Bett. Im Bild: ein wiederbelebter Altarm nach seinem Anschluss an den neuen Wasserlauf.

Sonderteil zur GaLaBau2010

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Fokus GaLaBau Praxis Recht

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Nachrichten Bücher Termine Wettbewerbe DGGL Nachrichten Autoren, Vorschau, Nachtrag, Impressum

64 68 70 71 74 80 80

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34 Fassadengebundene Begrünungssysteme können sehr spektakulär aussehen. Nicht zu unterschätzen sind allerdings die extremen Bedingungen und der Pflegeaufwand.

Bilder: Planergruppe Oberhausen, Dietmar Strauß, Bender GmbH & Co. KG, Atelier Dreiseitl, Spundflasch und Johannsen, Manfred Köhler Titel: Hangsicherung an der B 49 im Zuge der Ortsumgehung Neuhäusel im Westerwald, Bender GmbH & Co. KG

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Bender GmbH & Co. KG (2)

Mit Totholzfaschinen lassen sich Hänge und Böschungen dauerhaft gegen Erosion sichern. Standortangepasste Vegetation unterstützt die Begrünung.

Herausforderungen für die Ingenieurbiologie In Zeiten von Klimawandel und verstärkten Extremwetterereignissen ist es notwendig, im Erdund Wasserbau wieder naturnäher zu arbeiten. Bei Renaturierungsmaßnahmen müssen mehr denn je differenzierte und dem Ort angepasste Methoden und Arbeitsweisen entwickelt werden.

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Aufgrund des Klimawandels müssen herkömmliche Bauweisen in der Böschungssicherung weiterentwickelt und an den jeweiligen Standort angepasst werden. Im Bild: Hangsicherung mit Faschinen an einer Straße.

Eva Hacker Ob es das gestiegene Umweltbewusstsein und ökologischere Denkansätze sind oder die Temperaturverschiebungen, die Zunahme von Extremwetterereignissen und daraus resultierende Erosion, verändertes Abflussverhalten und Dürren – naturnahes und nachhaltiges Bauen mit pflanzlichen Materialien rückt wieder mehr ins Bewusstsein – und damit auch die Ingenieurbiologie. Eines ist sicher: Vermehrt kommt es an Böschungen und Hängen zu Erosion. Und angesichts zunehmender Starkregenereignisse wird in Mitteleuropa die Gefahr von Hochwasser verstärkt. Die größere Dynamik von Gewässern erhöht den Druck auf die Ufer. Niederschläge mit hohen Regenmengen innerhalb kürzester Zeit führen dazu, dass oberflächlich ausgetrocknete Böden

weggespült werden. Und schließlich werden sich die Waldgrenzen verschieben, dadurch Permafrostböden auftauen, die dann der Erosion ausgesetzt sind und enorme Mengen Methan freisetzen. Dies sind nur einige Phänomene, die auf uns zukommen. Sie erfordern ingenieurbiologische Hangsicherungen und Begrünungen. Diese Sicherungen bergen aber auch die Chance, Erd- und Wasserbau wieder naturnäher zu entwickeln. Ingenieurbiologische Lösungen werden sich in zwei Richtungen entwickeln und verfeinern: zum einen der Rückbau und die Entwicklung von Gewässern, zum anderen eine veränderte Böschungssicherung durch differenzierte und angepasste Methoden und Arbeitsweisen.

Ingenieurbiologie im Wasserbau Um ausufernde Gewässer zu entschärfen, Retentionsräume zu schaffen, aber auch die Gewässerqualität zu verbessern, strebt man in Europa naturnahe Ansätze an. Hierbei bietet die EU-Wasserrahmenrichtlinie Orientierung. Für den Wasserbau bedeutet das häufig, kanalisierte und eingeengte Flüsse und Bäche rück- und umzubauen. Dabei bieten sich in vielen Fällen Lösungsmöglichkeiten mit ingenieurbiologischen Maßnahmen an. Methoden, mit Pflanzen und Pflanzenteilen zu bauen wurden bis vor wenigen Jahren vorrangig genutzt, um Ufer zu sichern. Man nannte das sogar Lebendbau oder Lebendverbau, was der Natur angepasster war als viele rein technische Lösungen.

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Ingenieurbüro Spundflasch und Johannsen (6)

Das Ingenieurbüro Spundflasch und Johannsen aus Oberbösa plante und überwachte die Renaturierung eines Abschnittes der Taft zwischen Thüringen und Hessen. Im Bild: die Sohlengleite im Frühjahr 2010.

Gut gebettet auf neuen Sohlen In den 1960er-Jahren wurde die Taft im Hügelland zwischen Thüringen und Hessen begradigt und mit Betonplatten eingefasst. Im Zuge eines Flurneuordnungsverfahrens erhielt der Bach ein neues, mäandrierendes Bett. Seine Eigendynamik wurde mit ingenieurbiologischen Bauweisen gefördert.

Frank Spundflasch, Rolf Johannsen Die Taft ist ein Bach im Hügelland an der ehemaligen innerdeutschen Grenze zwischen Thüringen und Hessen, der ein Auental durchfließt. Der Bach entspringt in der hessischen Rhön und mündet beim thüringischen Wenigentaft in die Ulster. Im Rahmen von Flurbereinigungsverfahren fördert das Flurneuordnungsamt Meiningen im Freistaat Thüringen eine umfassende Entwicklung der Region. Gemäß der EUWasserrahmenrichtlinie liegt dabei ein besonderes Augenmerk auf der wasserwirtschaftlichen und ökologischen Entwicklung der Fließgewässer. Durch das Flurneuordnungsverfahren Buttlar ergab sich 2008 die Möglichkeit, die begradigte und mit Betonplatten eingefasste Taft zu renaturieren. Das Vorhaben sollte die eigendynamische Gewässerentwicklung stärken und so zu einer naturnahen Auenlandschaft führen.

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Dieser Gewässerabschnitt befindet sich 1,5 Kilometer oberhalb der Mündung. Dort hat das Gewässer den Charakter eines Auenbergbaches der oberen Forellenregion. Typisch für diesen Naturraum ist eine Talvegetation aus Bruchweide, Schwarzerle, Esche und Stieleiche. Dank der guten Zusammenarbeit aller beteiligten Ämter wurden die Pläne schnell genehmigt. Die Umsetzung des Entwurfs aus dem Jahr 2008 war bereits im Oktober 2009 abgeschlossen. Um das Gewässer durch die gesamte Breite der Aue zu führen sowie den Grundwasserstand und die Überflutungshäufigkeit zu erhöhen, wurde ein 500 Meter langer Abschnitt des Tafttals aus der Nutzung genommen. Der zulässige Wasserrückstau im Oberwasser zwischen Thüringen und Hessen sowie einen Wasserabzweig zur Mühle in Wenigentaft

waren in der Planung ebenso zu berücksichtigen wie eine Übergangsstrecke für die flache Sohlgleite. Diese dient dazu, die Höhendifferenz des tieferen Bachprofils im Unterwasser zu dem flacheren neuen Bachprofil auszugleichen. Zudem sollten Wanderer, Radfahrer und Schäfer einen Weg erhalten, um das Gewässer zu passieren. Folgende hydrologische Daten kennzeichnen den Planungsabschnitt: Einzugsgebiet ländlich z.T. bewaldet Mittlerer Niedrigwasserabfluss Mittelwasserabfluss 2-jährlicher Hochwasserabfluss 10-jährlicher Hochwasserabfluss 50-jährlicher Hochwasserabfluss

AE = 38,9 km2 MNQ = 0,098 m3/s MQ = 0,311 m3/s MHQ = 5,39 m3/s HQ10 = 10,5 m3/s HQ50 = 18,1 m3/s

Die hydrologischen Daten des Planungsabschnitts der Taft geben Aufschluss über die Durchflussmengen bei unterschiedlichen Wasserständen. Quelle: Regierungspräsidium Kassel 2007, Landratsamt Wartburgkreis 2007


Ein großmaßstäbliches Luftbild ließ einen in Buschwerk und Hochstaudenfluren schlummernden, sich schlängelnden Altlauf vermuten. Diese Annahme erwies sich nach dem Vermessen, geotechnischen Untersuchungen und intensivem Erkunden des Geländes jedoch als falsch. Die Auswertung historischer Karten zeigte, dass sich im Lauf der vergangenen 200 Jahre die Lage des gewundenen Taftbettes stark verändert hatte. In den 1960er-Jahren wurde die Taft im Zuge des Ausbaus der innerdeutschen Grenze begradigt und an den in Fließrichtung rechten Auenrand verlegt. Zusammen mit einem am linken Auenrand gezogenen Drängraben wurde dem dazwischenliegenden Auenboden so Wasser entzogen. Der Bodenaushub aus den Gräben wurde in der Mitte der Aue uhrglasförmig eingebaut. Dadurch trocknete die Aue noch stärker aus.

Vor Ort gewonnene Vegetationsplaggen begrünen die Uferböschungen der Taft. Das verlegte Bachbett führt durch bestehenden Auenwald.

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Von schwimmenden Teppichen und lebenden Inseln Wenn Stillgewässer verlanden, können schwimmende Vegetationsmatten und Inseln entstehen. Sie bestehen aus unterschiedlichen Arten der Ufer- und Röhrichtgesellschaften. Solche Vegetationsmatten können unter anderem zur Regenwasserretention eingesetzt werden. Wissenschaftler an der TU Berlin bauen daher Vegetationsmatten nach und untersuchen, welche Pflanzen sich dafür eignen.

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Henning Günther

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Schwimmende künstliche Vegetationssysteme reinigen Abwasser sowie Regenwasser und halten es zurück. Die Systeme orientieren sich an natürlichen Vorbildern. Zusätzlich verwendet man Gewebestrukturen auf Kunststoffbasis, die mit künstlichen Schwimmkörpern kombiniert sind, um den Pflanzen einen möglichst guten Halt zum Wachsen und der Gesamtkonstruktion den erforderlichen Auftrieb zu geben. Bei natürlichen, schwimmenden Vegetationsmatten ermöglichen Wurzeln und Rhizome Stabilität und Auftrieb der Pflanzen. Diese Matten sind bei schwankenden Wasserständen außerordentlich stabil und langlebig. So werden die Plaur (von slawisch plawnja = schwimmende Insel) im Donaudelta mit einem Alter von über 100 Jahren angegeben. Durch regelmäßiges Aufschwimmen in Folge von periodisch wiederkehrenden Überschwemmungen stehen die sich hierbei entwickelnden Bodenhorizonte nicht mehr in Kontakt mit dem Boden oder dem Seegrund und werden daher als Endstadium der Vegetationsabfolge beschrieben.


Oben: schwimmende Vegetationsmatte (Plaur), die sich im Donaudelta gelöst hat und bis ins Schwarze Meer geschwemmt wurde. Links: Plaurstück mit Rhizomen des 2. Horizontes.

Lösen sich Vegetationsmatten vom Ufer, dann treiben diese als schwimmende Insel auf dem Wasser und verursachen besonders auf schiffbaren Gewässern erhebliche Probleme und Schäden etwa an Bootsstegen. Bisherige Untersuchungen zu Auftrieb und Stabilität der schwimmenden Inseln haben sich daher vorrangig auf die Ursachen des Auftriebs und die Sukzessionsabfolgen konzentriert, um Anzahl und Ausdehnung der Inseln zu reduzieren. Da natürliche schwimmende Vegetationsmatten sehr langlebig sind, untersuchen wir an der TU Berlin, wie diese so nachzubauen sind, dass sich in möglichst kurzer Zeit die selbst erhaltenden Prozesse einstellen, also sich ausreichend Auftrieb und Stabilität ohne dauerhafte künstliche Hilfsmittel ergeben. Für die Regenwasserbewirtschaftung nutzbare Vorteile sind das Retentionsvolumen, das durch das Schwimmen an der Wasseroberfläche entsteht, die Wasserreinigung sowie eine relativ hohe Verdunstungsleistung, die das lokale Kleinklima in der Stadt verbessern kann.

Schwimmende Vegetationsmatten treten in Mitteleuropa als frühe Sukzessionsstadien in verschiedenen Verlandungsprozessen von Stillgewässern und der Entwicklung von Flachmooren auf. Die Artenzusammensetzung wird vom Nährstoffgehalt des Wassers bestimmt. Vom Ufer aus verlandet das Gewässer ins freie Wasser. Bei mesotrophen Gewässern folgt dem vorwachsenden Sumpfpflanzengürtel aus Scirpus lacustris und Phragmites australis ein Schwingrasen, der sich auf einer Schicht aus wenig zersetzten Pflanzenresten des Verlandungsgürtels (Saprobel) entwickelt. Er besteht aus Arten wie Carex limosa, Carex acutiformis, Caltha palustris und Menyanthes trifoliata. Diese Schwingrasen sind nur in der lockeren Saprobelschicht verwachsen und entwickeln an der Oberfläche ein dichtes Geflecht aus Wurzeln und Rhizomen. In nährstoffreicheren Gewässern kann auch eine schwimmende Pflanzendecke in das Wasser vorwachsen. Diese wird im Laufe der Zeit von Riedgräsern besiedelt, die den Zusammenhang der Pflanzendecke verstärken. Weitere Arten, die schon einen

festeren „Boden“ benötigen, wie etwa Comarum palustre, folgen nach. Weiter entstehen schwimmende Vegetationsmatten, wenn sich voll entwickelte und weit verzweigte Rhizomschichten des Verlandungsgürtels vom Grund eutropher Gewässer lösen. Wenn diese in einer lockeren Schlammschicht am Seegrund wurzeln, ohne mit einem festeren, darunter liegenden Untergrund zu verwachsen, können die Rhizomschichten mitsamt den Pflanzen aufschwimmen. Diese Pflanzendecken können sich in Folge schwankender Wasserstände, durch Wind und Wellen oder durch Eisgang vom Ufer lösen und treiben dann als schwimmende Insel auf dem Wasser. Dieses Aufschwimmen ganzer Pflanzenbestände tritt auch bei der künstlichen Überflutung von Feuchtgebieten in Kanada auf, wenn Wasserreservoirs für die Energiegewinnung aufgestaut werden. Die Bestände bestehen dort meist aus Typha- und Begleitarten. Schwimmende Vegetationsmatten bestehen aus dem Wurzel- und Rhizomgeflecht verschiedener Wasser- und Überwasserpflanzen

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Lebende Wände – Dekoration versus Klimatisierung Fassadengebundene Pflanzsysteme – Living walls oder auch Lebende Wände genannt – sehen zunächst einmal sehr spektakulär aus. Nicht zu unterschätzen sind jedoch die extremen Standortbedingungen und der Pflegeaufwand. Großflächige Begrünungssysteme können aber auch einen Beitrag zur Klimatisierung von Gebäuden leisten.

Die Begeisterung für fassadengebundene Pflanzsysteme, bezeichnet als „Living walls“, hat auch Deutschland erreicht. Bekanntester Vertreter der Gebäudekünstler ist der Franzose Patric Blanc. Eines seiner Projekte ist die grüne Wand an der Galerie LaFayette in der Berliner Friedrichstraße, ein weiteres das Caixa Forum in Madrid. Living-wall-Projekte entstanden in den vergangenen Jahren vor allem in Großstädten tropischer und subtropischer Länder. Im mitteleuropäischen oder gar kontinentalen Klima mit seinen extremen Wintertemperaturen gibt es hingegen kaum Erfahrungswerte. Bei diesen Lebenden Wänden handelt es sich um fassadengebundene Systeme mit Pflanzen, die sich für einen dauerhaften Einsatz eignen. Sie bestehen aus Gefäßen oder Trägerstrukturen, die die Substrate für die Pflanzen aufnehmen. Im Gegensatz zur klassischen Fassadenbegrünung verwendet man dort Pflanzen, die bislang nicht zur Fassadenbegrünung genutzt wurden. Neben guten Kenntnissen der Pflanzen, deren Wurzelvolumen, der Ausbreitungskraft und saisonaler Schwankungen ist auch das Wissen um Belichtung, Bewässerung und Pflege notwendig. Fallen Pflanzen an Fassaden aus, erkennt dies auch ein Laie sehr schnell. Die Marktführer behelfen sich meist mit regelmäßigem Nach- und Umpflanzen. Die Größe von Living walls reicht vom eher dekorativen Beiwerk in Bilderrahmengröße bis zu großflächigen Begrünungen. Mit zunehmender Größe nimmt auch der Effekt der Gebäudeklimatisierung zu. Beispiele hierfür sind der Changi Airport in Singapur und das Physikgebäude in Berlin-Adlershof (siehe Garten + Landschaft 1/2008). Die klassische Fassadenbegrünung mit Kletterpflanzen hat im deutschsprachigen Raum eine lange Tradition. Literatur zur Pflanzen-

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wahl und Befestigungstechnik findet man ebenso wie Aussagen zu ökologischen Effekten. Erfahrungen mit den Living walls gibt es jedoch nur wenige. Das große Interesse an Living walls außerhalb Europas hat zwei Hauptgründe: In den stark wachsenden Megastädten steht zumindest in den Innenstädten nur wenig Platz für bodengebundene Begrünung zur Verfügung; Fassaden- und Dachflächen gibt es dagegen reichlich. Bei Hochhäusern stehen hohe Investitionsmittel zur Verfügung, die Begrünung wird zur „Kunst am Bau“. Zudem steht im tropischen und subtropischen Klima ein breites Pflanzenspektrum zur Verfügung, das im Idealfall das ganze Jahr über üppig blüht. Und schließlich ist man sich etwa in Australien in den Fachkreisen von „Green roof Australia“ und „Green Infrastructure Network“ sicher, dass Living walls einfacher zu realisieren sind als Dachbegrünungen. Belastbare Messwerte zu Living walls, insbesondere zu Kübelbegrünungen, stammen in Deutschland derzeit nur vom Projekt BerlinAdlershof. Die dort gebaute Variante wurde acht Jahre auf Wasserverbrauch und Pflanzenwachstum untersucht. Die wenigen bisher in Deutschland realisierten Living-wall-Projekte sind genehmigungsrechtliche Einzelfälle. Im Rahmen der Fortschreibung der FLLRichtlinie Fassadenbegrünung wird seit Anfang 2010 an der Ergänzung der Fassadenrichtlinie auch um Aspekte von Living walls gearbeitet. Das Potenzial für begrünbare Wände ist enorm, allgemeine Zulassungen sind dringend erforderlich. Derzeit bieten mindestens 20 Firmen Livingwall-Systeme an; und der Markt für Systemkomponenten wächst ebenso wie der für Einzelelemente. Auch klassische Anbieter von Dachbegrünungen arbeiten an entsprechenden Lösungen.

Manfred Köhler (6)

Manfred Köhler


Wasserleitungen speisen Substrattaschen, in denen die Pflanzen wurzeln. Rechts: In Shanghai ziert eine Living wall nach diesem System den Eingangsbereich einer Shopping Mall.

Am Changi Airport in Singapur schm체ckt eine Living wall auf 300 Meter L채nge die Ankunftshalle. Die Lichterketten sind tempor채r zur Weihnachtszeit angebracht worden.

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