Wachtveitl Schauplatz Tatort Callwey issuu

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Udo Wachtveitl Alexander Gutzmer Guido Walter Oliver Elser

Schauplatz Die Architektur, der Film und der Tod

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‚Noch heute sprechen mich Leute wegen der Diözesanbibliothek in Münster im Tatort ‚Herrenabend“ an. Dass Wim Wenders im SamsungSpot durch unser Berliner GrimmeZentrum läuft, ist dagegen kaum jemanden aufgefallen. Klar, der Tatort ist Kult – und eine kulturelle Referenz! Es gibt ja kaum etwas Deutscheres. Würde man mich fragen, wäre ich sofort für eine Folge dabei.“

Max Dudler, Architekt


Udo Wachtveitl

Die Architektur, der Film und der Tod

Alexander Gutzmer

Guido Walter

Callwey Verlag

Oliver Elser


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2012

Tatort Hamburg Die Ballade von Cenk und Valerie


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Vorspann

von Alexander Gutzmer

Im Jahr 1988 schrieb der Medientheoretiker Friedrich Kittler einen Aufsatz, der, wie viele akademische Fachtexte, in der breiten Öffent­­lichkeit einigermaßen unbeachtet blieb. Dabei war seine These bemerkenswert. ‚Die Stadt ist ein Medium“ lautete die – und auch der Titel des Essays. In dem Text erläuterte Kittler, weshalb sich urbane Räume heutzutage nur noch verstehen lassen, wenn man sie mit den Begriffen der Medientheorie untersucht. (Gemeint war natürlich nicht zuletzt Kittlers Medientheorie.) Medien sind für Kittler sämtliche sozialen Einrichtungen, die mit Daten umgehen. Medien berechnen, speichern und übertragen Daten. Und genau das tun Kittler zufolge eben auch Städte. Friedrich Kittler war ein schmaler Mann, der viel rauchte und immer so wirkte, als würde ihm ein bisschen frische Luft guttun. Mit jemandem wie ihm hätte der draufgängerische Kommissar Horst Schimanski aus Duisburg nur wenig anfangen können. Auch Kittlers Medientheorie hätte Schimi wohl nicht besonders fasziniert. Schimanskis Ding war immer das Handfeste: ‚Faust auf Faust, hart ganz hart“, wie der singende Sozialarbeiter Klaus Lage es ausdrückte, 1985 für den ersten Schimanski-Kinofilm ‚Zahn um Zahn“. Schmimanski und Kulturtheorie, das passt nicht. Und doch ist der Prügelkommissar die beste Bestätigung für Kittlers Gedanken. Kaum einer in der Riege der Tatort-Kommissare nämlich hat es wie Schimi vermocht, die Stadt (in seinem Fall eben Duisburg) auszupressen, ihr ihre Geheimnisse zu entlocken, sie so lange durchzuschütteln, bis sie ihr Innerstes preisgege-

ben hat. Auch wenn dieses Innerste selten rein oder auch nur sympathisch ist. Städte sind also Medien. Und sie spielen in Medien eine Rolle. Selten zuvor wurde der urbane Raum, in dem wir uns bewegen, auf so strategische, überzeugende und auch sensible Art und Weise eingefangen wie durch die ARD-Kultreihe ‚Tatort“. Diese Erkenntnis war es, die uns zu diesem Buch bewogen hat. Das enge Verhältnis von Tatort und Stadt zeigt sich schon daran, wie man in Deutschland über konkrete Tatort-Formate spricht. Da gibt es ‚den Münsteraner Tatort“, da ermitteln ‚die beiden Kölner“, und da versuchen sich immer wieder Schauspieler daran, ‚den aus Berlin“ zu nutzen, um den Charakter der Hauptstadt ins Bild zu setzen. Um diese Themen geht es in unserem Buch. Wir wollen zeigen, wie der Tatort die Städte nutzt, in denen er spielt. Wir wollen zeigen, welche Rollen die Städte jeweils spielen. Und wir wollen die Frage stellen, was die Art, wie Tatort und Stadtraum interagieren, über unsere (bundesrepublikanische) Gesellschaft erzählt. Denn dass sie darüber etwas erzählt, davon sind wir überzeugt. Nach Durchsicht dieses Buches sind Sie es hoffentlich auch. Wenn über Stadt nachgedacht wird, dann geht es immer auch um ein Thema, das mir als Chefredakteur eines Architekturmaga­ zins naturgemäß besonders am Herzen liegt: die Architektur. Das heißt, dieses Buch ist – auch – ein Architekturbuch. Kein klassisches Fachbuch, in dem Grundrisse und Schnitte sich über Dutzende Seiten


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erstrecken. Aber ein Architekturbuch in dem Sinne, dass es nach der Wirkung der Architektur sucht. Diesen Ansatz verfolgt der Architekturjournalismus heute immer mehr: Nicht nur sein Aussehen, sondern auch seine realen Effekte sind für die Beurteilung eines Gebäudes entscheidend. Mit unserem Buch schließen wir uns diesem Ansatz an. Auch wir wollen die Effekte von Architektur zeigen – in diesem Fall ihre erzählerischen Effekte. Wir wollen untersuchen, welche Rolle Gebäude oder Städte in konkreten Tatort-Episoden spielen. Und sie spielen Rollen. Oder ist Ihnen noch nicht aufgefallen, dass die Täter immer in modernistischen Villen wohnen, die Guten hingegen gerne in wild zusammengestückelten, aber sympathisch wirkenden Vorstadthäuschen? Und die Kommissare in stets etwas zu teuer wirkenden, dafür aber ebenso charmant unaufgeräumten Innenstadtlofts? Das alles ist natürlich kein Zufall. Stadtbilder und architektonische Impressionen werden im Tatort filmstrategisch eingesetzt. Die Art, wie das geschieht, verrät einiges über die politischen Einstellungen der Drehbuchautoren. Es verrät aber auch viel über uns als Zuschauer. Weshalb denken wir bei moderner Architektur sofort an kapitalistische Dekadenz? Und weshalb findet bei uns im Kopf eine Verknüpfung zwischen Stahlarchitektur und Verbrechen statt? Hatte nicht Adolf Loos mal programmatisch deklariert, Ornament sei Verbrechen? Für den heutigen Fernsehzuschauer gilt das offenbar nicht mehr. Er scheint stattdessen zu glauben: Ornamentlosigkeit generiert Verbrechen.

Das Ressentiment gegen die Bauten der Moderne ist eine Konstante aller Tatort-Formate. Ansonsten aber herrscht erzählerisch und inszenatorisch die ganz große Vielfalt. Die spaßigen Ermittlungen in Münster haben mit den erdigen Sozialstudien aus Bremen oder Ludwigshafen nicht viel zu tun. Das jeweils sehr unterschiedliche Lokal­ kolorit ist ein Strukturmerkmal der Reihe. Und es erklärt vielleicht auch ihren Erfolg. Der Tatort gehört zu Deutschland – weil die Republik in ihm sich selbst erkennt. Der Tatort ist das föderale Deutschland. Er lenkt unseren Blick dabei gerade auch auf jene Städte, die nicht permanent medial reflektiert werden. Tatort, das ist eben nicht nur Berlin, München, Hamburg. Sondern – zum Beispiel – auch Hannover. Und als jemand, der in Hannover aufgewachsen ist, kann ich sagen: Die Art, wie die Stadt gezeigt wird, ist mir als Hannoveraner wichtig. Ich möchte die eigene Stadt ‚adäquat“ widergespiegelt sehen. Wobei die eigenen Erwartungen natürlich, lokalpatriotisch gefärbt, immer etwas zu hoch ansetzen. Doch gerade das Beispiel Hannover zeigt, wie über die gefilmte Architektur, in diesem Fall vor allem über das expressive Polizeipräsidium, die Stadt eine visuelle Präsenz erhält, die man im realen Stadtraum nur schwer entdeckt. In diesem Sinne bildet der Tatort nicht nur die föderale Identität Deutschlands ab. Er stärkt und beeinflusst sie auch. Im Tatort erkennen wir nicht nur uns selbst. Über den Tatort arbeiten wir auch an uns.


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Schauplatz Tatort

Die Architektur, der Film und der Tod


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Vorspann

Alle Teams Berlin Bremen Dortmund Frankfurt a. M. Hamburg Hannover Kiel Köln Konstanz Leipzig Ludwigshafen Luzern München Münster Saarbrücken Stuttgart Wien Wiesbaden

Häuser undercover Auch Gebäude müssen gute Schauspieler sein

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10 Fragen an Mehmet Kurtulus

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‚Ach, Sie sind Architekt? Toll!“ Ein Essay von Udo Wachtveitl

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‚Die Flügel, die man uns anklebt, passen nicht.“ Dominik Graf und die Räumlichkeit der Spannung

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10 Fragen an Stefan Konarske

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Architektinnen der Atmosphäre Wie Szenenbildnerinnen im Tatort Stimmung inszenieren

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Der Mann vom Vorspann Ein Besuch bei der Tatort-Legende Horst Lettenmayer

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Die Frau und der Raum Eine frauenbewegte Spurensuche in Frankfurt und Bremen

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Fiese Typen hinter Glasfassaden Architektur als Stilmittel

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Die Tatort-Städte

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Orte des Bösen Wo im Tatort getötet wird

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Charme des Proletarischen Ein Interview mit Norbert Bolz

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Nick Tschiller vs. Horst Schimanski Zwei Macho-Kommissare im Schnelltest

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Im Knast mit Joe Bausch Eine Visite in der JVA Werl

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10 Fragen an Andreas Hoppe

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Refugien der Nonkonformisten Die Kommissars-Wohnungen als Charakterzeichnungen

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High Noon in der Röhre Der Architekt Stefan Behnisch erklärt, wie er fast die Matrix inszeniert hätte

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10 Fragen an Adele Neuhauser

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Lieblingstatorte Die Autoren – drei hymnische Kritiken

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Impressum, Bildnachweis

Duisburg Essen Frankfurt Berlin Münster München Hamburg


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2010

Tatort Kรถln Kaltes Herz


3 L채nder

18 St채dte

36 Kommissare

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Ermittlungen: Wo wohnen, wie arbeiten die Kommissare?

von Oliver Elser

Lea Odenthal und ihr Kollege Kopper können Dienstliches bei einer Flasche Rotwein nachts am Küchentisch besprechen, denn sie wohnen gemeinsam in einer Zweck-WG. Sebastian Bootz hingegen streitet nachts mit seiner Ehefrau. Sie leben mit zwei Kindern in einer Hinterhof-Remise in Stuttgart – doch eine Trennung droht. Thorsten Lannert, sein Partner, lebt wie die meisten Tatort-Kommissare allein und flirtet durch eine Klappe seiner Wohnungstür mit der Nachbarin gegenüber, einer Studentin. Der Münsteraner Gerichtsmediziner Karl-Friedrich Boerne flirtet nur, wenn er sturzbetrunken ist, mit seinem Nachbarn, dem Kommissar Frank Thiel. Meistens streiten sie sich, im Treppenhaus und auch sonst. Klara Blum, Ermittlerin in Konstanz, lebt in einem Haus am See, dessen Einrichtung ähnlich hell, freundlich und aufgeräumt ist wie die Altbauwohnungen von Charlotte Lindholm, Hannover, Inga Lürsen aus Bremen und Eva Saalfeld, Leipzig. Keppler dagegen, Saalfelds Kollege und Ex-Mann, wohnt im Hotel. Dieses Schicksal teilt er mit Max Ballauf, der erst nach gut einem Jahrzehnt zur eigenen Wohnung kam, nun aber mit Blick auf den Kölner Dom. Sein Kollege Freddy Schenk ist mit einem Phantom verheiratet. Seine Ehefrau ist häufig am Telefon, aber nie zu sehen, ebenso wenig wie seine Wohnung. Auch die Wohnungen der Münchner Kommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr spielen fast nie eine Rolle. Reto Flückiger wohnt auf seinem Boot im Vierwaldstättersee. Frank Steier hat gar kein Zuhause, er lebt im Frankfurter Polizeipräsidium. Peter Faber schläft ebenfalls gelegentlich im

Büro. Er wohnt in einem Dortmunder Plattenbau ‚wie ein Penner“, sagt sein Kollege Daniel Kossik, dessen Wohnung Schauplatz einer Affäre mit der Kollegin Nora Dalay ist. Die vierte Kommissarin aus Dortmund, Martina Bönisch, hat eine Familie, trifft aber auch Männer zum Sex im Hotel. Felix Murot vom Landeskriminalamt in Wiesbaden lebt mit einem haselnußgroßen Hirntumor namens Lilly in einer Wohnung mit Klavier. Moritz Eisner, Wien, und Nick Tschiller, Hamburg, wohnen mit ihren Töchtern zusammen. Felix Stark aus Berlin mit seinem Sohn. Sein Partner Till Ritter ist der einzige Tatort-Kommissar, dessen Wohnung in einer Architekturzeitschrift abgebildet sein könnte. Jens Stellbrink hat die ungewöhnlichste Wohnung von allen: Einen Pavillon auf dem Dach eines Schulgebäudes in Saarbrücken. Klaus Borowski lebt in einer für seine Besoldungsstufe eher zu großen Altbauwohnung in Kiel, in die einmal sein Chef mit einzieht und endlich für Ordnung sorgt. Fast alle Ermittler aus den 18 Tatort-Städten haben ein charakteristisches Wohnverhalten. Ihre Büros sind oft weniger aussagekräftig. Nicht Vollständigkeit war das Ziel auf den folgenden Seiten, sondern das Herausfiltern von Mustern und blinden Flecken: Altbauwohnungen, der Hang zum RetroChic, sexuelle Vorlieben, Ungereimtheiten, Bemerkenswertes und Kurioses. Angabe zur Anzahl der Folgen: seit Beginn der Tatort-Reihe im Jahr 1970.

Bei den Städten mit aktuell aktiven Teams bezeichnet die Jahreszahl deren ersten Einsatz. Teilweise wurde dort bereits

zuvor ermittelt (z.B. Berlin: 73 Folgen seit Beginn der Tatort-Reihe, davon 28 Folgen mit Ritter und Stark seit 2001).


Quellen: tatort-fans.de/tatort-fundus.de, Stand 08/2013

Bremen

Stade

Kiel

Hamburg

Lübeck

Hannover

Folgen: 31 seit 1997 Seite 18

Folge: 1 1983

Folgen: 28 seit 2003 Seite 28

Folgen: 77 seit 2013 Seite 24

Folge: 1 1981

Folgen: 25 seit 2002 Seite 26

Münster

Bremerhaven

Braunschweig

Folgen: 23 seit 2002 Seite 42

Folge: 1 1982

Folgen: 1 1979

Dortmund

Berlin

Folgen: 2 seit 2012 Seite 20

Folgen: 73 seit 2011 Seite 16

Essen

Leipzig

Folgen: 22 bis 1980

Folgen: 60 seit 2008 Seite 34

Duisburg

Weimar

Folgen: 29 bis 1991

Folgen: – ab 2013

Düsseldorf

Erfurt

Folgen: 15 bis 1997

Folgen: – ab 2013

Köln

Frankfurt a. M.

Folgen: 63 seit 1997 Seite 30

Folgen: 65 seit 2011 Seite 22

Saarbrücken

Heppenheim

Folgen: 33 bis 2013 Seite 44

Folge: 1 1984

Wiesbaden

Ludwigshafen

Stuttgart

München

Folgen: 2 seit 2010 Seite 50

Folgen: 57 seit 1989 Seite 36

Folgen: 55 seit 2008 Seite 46

Folgen: 90 seit 1991 Seite 40

Mainz

Baden-Baden

Konstanz

Bern

Luzern

Wien

Folgen: 3 bis 1980

Folgen: 14 bis 1998

Folgen: 26 seit 2002 Seite 32

Folgen: 11 bis 2002

Folgen: 4 seit 2011 Seite 38

Folgen: 58 seit 1999 Seite 48

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Berlin

Till Ritter

Felix Stark

Berlin

Schauspieler

Dominic Raacke

Schauspieler

Boris Aljinovic

Dienstgrad

Hauptkommissar

Dienstgrad

Hauptkommissar

1999 34

Im Dienst seit Bisherige Folgen

Bisherige Folgen

Familienstand

Wohnarchitektur

Wohnverhalten

loftartig zeitgenössisch

Blickfang Wohnung

Fahrrad und Ausblick auf Berlin, rohe Betonwände flirtet gerne aber meist erfolglos

Aktuelle Architektur ab 1990

Präsidiumsarchitektur

Altbau bis 1950

Aktuelle Architektur ab 1990

Präsidiumsarchitektur

Nachkriegsmoderne 1950–1990

Wohnarchitektur

Sonstiges

2001 28

Im Dienst seit

Familienstand

Nachkriegsmoderne 1950–1990

Nirgendwo sonst wird so viel mit dem Auto an den Wahrzeichen der Stadt vorbeigefahren. Zu Hause sind Ritter und Stark nur selten.

Altbau bis 1950

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Wohnverhalten

gemütlich

Blickfang Wohnung

Fernseher

Sonstiges

hat vier Semester Kunst studiert, fährt U-Bahn und Fahrrad


Beweise

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Bericht

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2 1 Wichtiges Accessoire in diversen Tatort-Präsidien: die Leuchtkarte für den Überblick. 2 Präsidium bis 2006. Drehort Ludwig-Erhard-Haus, Architekt Nicholas Grimshaw, 1998. 3 Wohnung von Till Ritter in ‚Machtlos“ (2013). Beton-Chic mit Berlinblick.

Felix Stark ist ein Familienmensch mit einem gemütlichen Zuhause. Till Ritter hingegen zieht als einsamer Wolf nachts durch die Stadt. Gedreht wird immer in anderen Wohnungen, von denen eine besonders in Erinnerung blieb. Denn Ritters Neubau-Loft ist die Einzige unter allen Kommissarwohnungen, die ein Werk aktueller, zeitgenössischer Architektur ist. In der Folge „Machtlos“ (2013) ist Ritters spärlich möblierte Wohnarchitektur zu sehen: kühle Sichtbetonwände und das Bett direkt am raumhohen Fenster. Er und sein Kollege gönnen sich dort ein paar Stunden Schlaf, nachdem sie einen Kindesentführer (Edgar Selge) tagelang verhört haben. Der Entführer weigert sich zu sagen, wo das Kind versteckt ist, und bleibt bei der Forderung von 10 Millionen Euro. Einen ersten Teilbetrag des Lösegelds hat er nach der Übergabe auf dem Alexanderplatz an Passanten verschenkt. Ist er verrückt? Völlig übermüdet bietet Till Ritter seinem Partner an, bei ihm zu schlafen. Das helle Loft ist das Gegenbild zur beklemmenden Enge der Verhörsituation und zur großbürgerlichen Villa der Eltern des entführten Kindes. An Ritters Betonwand lehnt ein Rennrad. Ein kleiner Scherz für die Fans, denn Ritter ist eigentlich leidenschaftlicher Autofahrer. In der Folge „Alles hat seinen Preis“ (2012) wettet er gegen seinen Rad fahrenden Kollegen, dass er mit dem Auto schneller ist – und gewinnt. Futuristisch Die Büros der Berliner Kommissare waren zeitweilig in einem spektakulären Bauwerk untergebracht. Als Drehort diente das Ludwig-Erhard-Haus, der Sitz der Industrie- und Handelskammer sowie der Berliner Börse, das nach dem Entwurf des britischen Hightech-Architekten Nicholas Grimshaw im Jahr 1998 eingeweiht wurde. Die futuristisch anmutende Halle schien nicht recht zur prekären finanziellen Situation des Landes Berlin zu passen. Als im Jahr 2006 die Produktionsfirma des Tatorts wechselte, wurde das Präsidium in ein weniger auffälliges Bauwerk verlegt, das im realen Leben von der Berliner Wasserbetrieben genutzt wird.

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Das erste Opfer

Stadt:

Stuttgart Team:

Thorsten Lannert, Sebastian Bootz Buch:

Stephan Brüggenthies, Leo P. Ard, Birgit Grosz Regie:

Nikolai Rohde Kamera:

Jürgen Carle, Ralf Nowak Szenenbild:

Annette Reuther Werner Sobeks Haus R128 soll zeigen, dass ökologisches Bauen und eine radikale zeitgenössische Architektursprache kein Widerspruch sein müssen.

2011

Bauunternehmer Börner wird nachts mit einem Radlader außer Gefecht gesetzt, dann spritzt der Mörder ihm noch eine Injektion. Restaurantbetreiberin Sigrun Karrenbrock wird mithilfe eines gestohlenen Geländewagens überfahren und verblutet. Ein Foto und die Mordmethode bringen die Kommissare darauf, dass die beiden Fälle zusammenhängen. Es geht um einen Freundeskreis, der vor vielen Jahren zerbrach.

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Thorsten Lannert am Tag darauf bei sich zu Hause, in dem rundum verglasten Würfel R128, den man über eine Brücke betritt. Sie antwortet so kühl wie die Architektur ihrer Umgebung auf die Fragen der Kommissare und benennt als Alibi ihren Liebhaber. Die beiden sind fassungslos, so wenig Trauer vorzufinden, und entfernen sich unbeholfen über die schmale Brücke aus der für sie unbegreiflichen Welt. Nun ist es keineswegs so, dass im wahren Leben ein solches Haus ein Hort der Gemütlichkeit wäre. Sobek hat mit dem R128 aus dem Jahr 2000 ein Experimentalbauwerk geschaffen, das seinen Bewohnern einiges abverlangt – aber es entstand ja auch für ihn selbst. Die Steuerung von Licht, Heizung und Belüftung erfolgt über ein vollautomatisches Regelsystem. Gerüchten zufolge hat der Sohn im Teenageralter das Haus verlassen, um auf demselben Grundstück das Gartenhaus zu beziehen. In der Tatort-Folge war das Haus mit Polstermöbeln nach Entwürfen des Architekten Le Corbusier ausgestattet, deren Materialkombination aus schwarzem Leder und verchromtem Stahlgestell in Banken und Firmenlobbys zur Standardausstattung zählt. Kommissare, Architektur und die zunächst verdächtige Witwe: Alles ertrinkt in einer Grau-Schwarz-Chrom-Tristesse, wären da nicht ein roter Teppichboden, rote Aktenordner und eine rote Decke auf dem Sofa: das Farbspektrum der 1980er Jahre, als das Wort „cool“ die deutsche Sprache eroberte und man sich an „Designermöbel“ zu gewöhnen anfing. Bei so viel Niedertracht in architektonisch ambitionierter Umgebung kann kein Zufall vorliegen: Es ist ein tiefes Unbehagen an der Moderne, das hier nahezu wöchentlich zu fernseh­ therapeutischer Verarbeitung drängt. Ein schwacher Hoffnungsschimmer jedoch glimmt auf, dass die deutschen Fernsehzuschauer irgendwann ihren Frieden mit der Architektur unserer Zeit schließen werden: Bei der Darstellung der Polizeipräsidien nehmen immer mehr Drehorte starke Motive der 1960er bis 1970er Jahre auf – und das keineswegs nur als negativ besetzte Angsträume. Auch immer mehr Kommissare wohnen endlich „modern“.


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10 Fragen

an

Mehmet Kurtulus

Es war der Selbstmord eines Managers auf einem Fähranleger an der Elbe. Der Mann saß auf einer Parkbank, nachts, während es regnete und die Schiffe an ihm vorbeifuhren. Das Bild drückte genau die Gefühlswelt dieses Charakters aus. Alle Komponenten der Komposition passten zueinander und es wurde zusätzlich mit Emotionen gefüllt.

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Wie würden Sie kurz die Wohnung beschreiben, in der Cenk Batu lebt? Die Mundsburg in Hamburg war Cenk Batus Adlerhorst. Er konnte dort im 19. Stock die Stadt im Auge behalten und dennoch in Sicherheit – bedingt durch die Architektur und Anonymität – Kraft und Ruhe schöpfen.

1

Welches Gebäude hat Sie bisher als Drehort am meisten beeindruckt? Während der Dreharbeiten zu „Die Ballade von Cenk und Valerie“ standen die Drehtage in der Handelskammer in Hamburg an. Wir hatten eine Bande von durchgeknallten Brookern, denen wir im Film ein „Zuhause“ geben mussten. Ich betrat also an dem Morgen die Handelskammer, die für uns eine Bank darstellen sollte. Ich hatte sehr wohl die altehrwürdigen Mauern im Blick. All die Säulen und Bögen waren mir nicht entgangen, doch das Gefühl des leichten Zweifels, ob es die richtige Location sei, verflog im Nu mit dem Anblick des riesigen Glasskubus, fast schwebend im Zentrum der Halle. Eine moderne Enklave im Traditionellen. Genau richtig für unsere Story.

2

Welches Gebäude ist Ihnen als Drehort negativ in Erinnerung? Das ist schwer zu sagen, denn in der Kunst liebt man alle Mosaik­teile, die gemeinsam das Ganze ergeben. Wenn zum Ausdruck der Geschichte des Films ein besonders hässliches oder ein besonders unangenehmes Gebäude gebraucht wird, kann es nicht hässlich genug sein, verstehen Sie? Man wird es sowieso lieben.

3

An welchen Tatort erinnern Sie sich wegen interessanter Schauplätze? Ich meine, „Auf der Sonnenseite“ bot dem Zuschauer ein Kaleidoskop an verschiedensten Welten und Milieus, konzentriert auf eine einzige Stadt.

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Welcher „Ort des Verbrechens“ ist Ihnen bei jenen Tatorten, bei denen Sie mitgespielt haben, am stärksten in Erinnerung geblieben?

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Wie würden Sie Batus Büro beschreiben? Batus Büro war die Straße und die gesamte Hansestadt seine unendlichen Flure.

7

Ist Ihnen ein Polizeigebäude aufgrund seiner Architektur aufgefallen? Da muss man nicht lange nachdenken – die Davidwache mit ihrer sehr hanseatischen Struktur, die für Standfestigkeit, Tradition und Klarheit steht. Für einige „Klienten“ springt da sogar noch so was wie ein Museumsbesuch im denkmalgeschützten Altbau raus. So hätte man auch den kulturellen Teil abgedeckt.

8

Wo in „Ihrer“ Tatort-Stadt würden Sie gerne einmal drehen? Der Fernsehturm in Hamburg hat für mich immer etwas „Spaceiges“. Ich denke da nicht an einen Weltraum-Tatort, sondern versuche lediglich, seine Wirkung zu beschreiben.

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Was sollte dort passieren? Eine gediegene Restaurantszene. Die Luft ist zum Schneiden. Es sind mehrere „Parteien“ im Raum. Cenk Batu unter ihnen. Jemand läuft und springt durchs Fenster in die Tiefe – ein optischer Leckerbissen – aber es ist diesmal kein Selbstmord, sondern Flucht.

10

Bitte vervollständigen Sie diesen Satz: „Wenn in einem Tatort ein Architekt/eine Architektin vorkommt, dann ist er/sie meistens …“ ..mit Brille.


Mehmet Kurtulus wurde 1972 im türkischen Usak geboren. Er spielte in verschiedenen

Filmen von Fatih Akin mit. 2004 produzierte Kurtulus mit ihm ‚Gegen die Wand“. Die Rolle

des Cenk Batu übernahm er in 2008. 2011 erklärte er, seinen Vertrag nicht zu verlängern.

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Essay

von Udo Wachtveitl

‚Ach, Sie sind Architekt? Toll!“ Im BR-Tatort ‚Im freien Fall“ gibt sich Kommissar Leitmayr als Architekt aus. Das passt, so Udo Wachtveitl in diesem Essay. Denn Architekten schaffen künstliche Welten – wie Filme.

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as Geschäft der Tatort-Ermittler ist Aufklärung. Sie sind auf der Seite des Rechts und sortieren die Welt in Gut und Böse. Ihr Auftrag ist es, stellvertretend für den Zuschauer, im Gefüge der bundesrepublikanischen Wirklichkeit die Räume des Unheimlichen – reale und psychologische – zu erkennen, zu erforschen und dem Tod, der dort wohnt, die beängstigende Macht zu nehmen. Denis Diderot, einer der prominentesten Aufklärer, formulierte die für das bürgerliche Schauspiel wichtigste Raumtheorie, nämlich die der „Vierten Wand“. Im Theater trennt diese imaginierte, einseitig durchsichtige, ansonsten aber undurchdringliche Wand die Szene – den Guckkasten – vom Betrachter. Die Akteure sind in ihrer Welt versunken, wissen nicht, dass sie beobachtet werden, und haben somit auch keinen Grund, dem Zuschauer etwas vorzumachen. Diese Theorie wurde nach einer wilden, experimentellen ersten Phase der Kinematografie Anfang des 20. Jahrhunderts auch für den Spielfilm zum vorherrschenden Paradigma. D. W. Griffith, der amerikanische Filmpionier, hat die Grundidee um die Metapher der Leinwand bzw. des Bildschirms als „properly adjusted window“ erweitert, ein „Fenster“, durch das wir sehen könnten, was tatsächlich geschah. Es erlaubt dem Betrachter, sich unabhängig von den interpretierenden Auslegungen der Experten, ein eigenes Bild zu machen. Die Welt hinter diesem Fenster ist objektiv erkennbar, so die Implikation. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Tatsächlichkeitsvermutung, die man dem technischen Filmbild beimisst. Freilich haben Griffith selbst und andere Filmemacher nach ihm die suggestiven Möglichkeiten des Mediums gezielt eingesetzt, um zu manipulieren. Die Frage nach der Wirklichkeit außerhalb des Guckkastens, hinter dem „Fenster“, der Leinwand oder des Bildschirms, was also schließlich jenseits der erlaubten Räume lauert, ist selbstreflexives Spiel in vielen Filmen. Die Tatort-Episode „Im freien Fall“ (2001) des Bayerischen Rundfunks beginnt – untypisch und zugleich themensetzend – im Schlafzim-

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mer eines der Protagonisten. Kommissar Leitmayr wird durch einen Anruf, einen Ruf zum Dienst, aus dem Schlaf in eine kalte, in blaue Farbe getauchte Welt gerissen (1). Es ist ein unruhiger Schlaf, man darf annehmen, er hat schlecht geträumt. Er will an diesem Tag in dieser Welt nicht recht ankommen. Am Tatort sehen er und seine Kollegen auf einem Glasdach – hinter der Scheibe – undeutlich die Silhouette eines Toten. Im nächsten Schnitt sehen wir sie in einem ungewöhnlichen Blickwinkel direkt von oben (2), die Kamera bewegt sich leicht und zieht sich zurück. Wer schaut da? Die regulären Erschließungswege des Hauses bieten keinen Pfad an, von dem aus sich diese perspektivische Bewegung ergäbe. Im Gestus beobachtender Erforscher, ausgestattet mit den passenden Utensilien wie Aufzeichnungsgerät und Gummihandschuhe, machen sich die Kommissare routiniert an ihre Arbeit an der Leiche (3). Während der weiteren Erkundung des Tatorts lehnt sich Leitmayr gegen ein Geländer. Doch dies ist kein sicheres Haus, ein Haltepfosten löst sich aus der Verankerung (4). Leitmayr schwebt zwischen Himmel und Erde (5) und schafft es gerade noch, sich auf ein Fenstersims zu retten (6). Auch hinter dieser Scheibe liegt wieder eine reglose Person. Eine schöne Frau – Anne Mars – schläft da, leicht bekleidet, das Haar offen. Ihr Schlafzimmer ist in warmen Farben gehalten, weiche, fließende Formen herrschen vor (7, 8). Leitmayr versucht, sich rettenden Einlass zu verschaffen, es gelingt ihm nicht, sie ist die Herrin dieses Raums. Schließlich öffnet sie das Fenster, somnambul, ohne ein Wort zu sprechen. Später wird sie sagen, sie hätte das alles für einen Traum gehalten (9). In ihrem Schlafzimmer verliert Leitmayr die Orientierung. Seine Bewegungen sind fahrig, unbeholfen, inkompetent, er findet zunächst den Ausgang nicht. Auch auf dem Weg nach draußen zeigt sich noch einmal, wie gefährlich dieses Haus ist: Er rutscht auf der Treppe aus (10). Kurz bevor er ohnmächtig wird und aus dem Rahmen kippt (11), nimmt die Kamera den Zuschauer mit in einen eigentlich unzu-


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Tatort Architektur

von Guido Walter

Fiese Typen hinter Glasfassaden Im Tatort rangieren Architekten am Ende der Wertschätzungsskala. Der Tatort ‚Architektur eines Todes“ ist das beste Beispiel der stereotypischen Darstellung des Architektenberufs. Wer im Glashaus wohnt, ist kühl kalkulierend, erfolgsverwöhnt und lässt seine Kinder luxusverwahrlosen.

Der Opernturm in Frankfurt steht im Stadtteil WestendSüd gegenüber der Alten Oper an der Ecke Bockenheimer Landstraße/Reuterweg. Die gelbbeige Steinverkleidung der Fassade fügt ihn in das Gebäude-Ensemble am Opernplatz ein.


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Architektur eines Todes

2009

Opernturm Schnitt

Der Opernturm ist 170 m hoch und besitzt 42 Stockwerke.

Stadt:

Frankfurt Team:

Charlotte Sänger, Fritz Dellow Buch:

Judith Angerbauer Regie:

Titus Selge Kamera:

Frank Blau Szenenbild:

Károly Pákozdy

Die Frankfurter Tatort-Kommissare Charlotte Sänger und Fritz Dellwo suchen nach Anett Berger, der spurlos verschwundenen Assistentin der Star-Architektin Sofia Martens (Nina Petri). Die bisexuelle Sofia sucht in ihrer knappen Freizeit im Internet Kontakt zu anderen Frauen. Für die Aufrechterhaltung der Fassade ist ihr Mann Holger Martens (Stephan Bissmeier) zuständig, der sich um Kinder und Haushalt kümmert. Doch die Fassade bröckelt.


K Architekt des Frankfurter Opernturms ist Professor Christoph Mäckler, Projektentwickler das US-amerikanische Unternehmen Tishman Speyer Properties, bekannt durch das Sony Center in Berlin.

Bis zum Jahr 2002 stand an der Stelle das 1960 erbaute Zürich-Haus, eines der ersten Hochhäuser in Frankfurt. 2002 wurde das Zürich-Haus sowie weitere Gebäude auf dem Grundstück abgerissen. Grundsteinlegung des Opernturms war am 4. September 2007.

Das Sockelgebäude mit sieben Stockwerken rundet das Gesamtensemble des Opernturms ab.

alt, herzlos, hart. Wer so tickt, der wohnt und arbeitet bestimmt auch so. Im Tatort geht diese Gleichung auf. Interior Design und Familienglück, das passt im Krimi nicht zusammen. Und so steht der Tatort-Architekt im Sakko hinter Glasfronten und denkt über seine Missetaten nach. Im Eigenheim am Bodensee oder im Büro des 26. Stockwerks eines Hochhauses in Frankfurt am Main. Ein Büro, wie es die Firma Prof. Christoph Mäckler Architekten (CHM) besitzt. Der Panoramablick über Frankfurt ist grandios. Durch milchige Scheiben schweift der Blick über das Häusermeer. Ein akrophobisches Szenario. Wie geschaffen für die Darstellung eines Architektenbüros im Tatort. „Die kamen hier rein, sahen den Ausblick und sagten sofort: Das ist es!“, erinnert sich eine Mitarbeiterin vom Büro Prof. Christoph Mäckler Architekten und erzählt, wie das Tatort-Team im Vorfeld verschiedene Architekturbüros aufsuchte und dann den Hinweis bekam: „Gehen Sie doch mal zu Mäckler, das wäre doch so ein typisches Architekturbüro.“ Sie zeigt aus dem Fenster. „Hier sieht man den Opernturm, ein Projekt unseres Büros, der ja eine Rolle in dem Tatort damals spielte.“ Mächtig ragt der 42 Stockwerke umfassende, 170 Meter hohe Opernturm mit seiner siebengeschossigen Blockrandbebauung auf. Damals, 2009, war der Opernturm im Rohbau. Tatort-Kenner sehen noch die arme Architekten-Assistentin Anett Berger (Julia Dietze) in luftiger Höhe kauern. Denn um ihr Schicksal geht es in der Tatort-Episode „Architektur eines Todes“, die 2009 bei CHM gedreht wurde. „Architektur eines Todes“ ist das beste Beispiel der stereotypischen Darstellung des Architektenberufs im Tatort. Er oder Sie ist kühl kalkulierend und erfolgsverwöhnt. Gefühlskalt und weinerlich zugleich: Star-Architektin Sofia Martens (Nina Petri) sitzt mit einer Schnittwunde heulend im Auto, während ihre Assistentin von Unbekannten entführt wird. Aufgefallen ist das Negativklischee im Tatort, sagt die Architektin. „Architekten sind meist die smarten Typen, manchmal etwas zwielichtig.

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Jemand, der Sakko und Jeans trägt und im Sportwagen vorfährt.“ Die Klischeehaftigkeit macht sie noch an einem weiteren Umstand fest. „Wir hatten eine Vielzahl von Modellen hier stehen. Die Tatort-Leute hatten aber ihre eigenen Modelle dabei, sehr miniaturhaft, mit Häuschen und Autos. Wie man sich als Laie ein Architekturmodell eben so vorstellt.“ Eines habe der Tatort „Architektur eines Todes“ aber gut rübergebracht: dass der Beruf des Architekten sehr, sehr arbeitsreich ist. Gedankt wird das nicht. Wie Barbara Gärtner in der „Süddeutschen Zeitung“ schreibt, sitzt beim Tatort der Böse meist im Glashaus. Die Kamera schwelge förmlich in langen Fahrten entlang der breiten Fensterfronten, hinter denen Angeber, Aufschneider, Schönheitschirurgen, Waffenschieber und Drogendealer leben. Laut Gärtner müssten wenige Requisiten herhalten, um ein Leben zu erzählen. Ein ganzer Lebensstil werde so im deutschen Fernsehkrimi diskreditiert. Der Tatort bediene Neidinstinkte nach oben. Wenn die schon das Geld für große Kunst und einen Interior Designer haben, so Gärtner, dann lassen sie – anders als wir Biomarktcardbesitzer – wenigstens ihre Kinder luxusverwahrlosen. Und so führt der Architekt sein von Profitgier und Statusdenken zerrissenes Leben im Tatort fort. Im Münchner Tatort „Das Glockenbachgeheimnis“ (2009) schwadroniert der sinistre Architekt Feuerberg (Martin Umbach) über seine Visionen eines „München der Zukunft“. Im einstigen Arme-LeuteRevier Münchens will er ein Seniorenheim für besser Betuchte errichten. Ein Alibi für die Tatzeit kann er natürlich nicht vorweisen. Ein solches hat der „angesehene Architekt“ Peter Huck im Tatort „Lockruf“ (1978) zwar. Kenner wissen aber: Regisseur Wolfgang Becker hätte die Rolle wohl kaum mit Fiesling-Darsteller Herbert Fleischmann besetzt, wenn da nicht noch was nachkommt. Und im Lindholm-Tatort „Der letzte Patient“ (2010) gerät Architekt Sallwitz (Jan Messutat) in den Verdacht, eine alleinstehende Ärztin in ihrer Praxis umgebracht zu haben. Das Videotagebuch der Toten offenbart: Architekt Sallwitz steht auf Gewaltspielchen ...


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Tatort Stadt

Vor über 40 Jahren, im Jahr 1970, war der Tatort erstmals im Fernsehen zu sehen. In der Krimireihe geht es vordergründlich um die Aufklärung von Verbrechen. Um Opfer, Täter und Ermittler. Wenn man seine Perspektive aber auf die Entwicklung von Stadt und Architektur in Deutschland richtet, geben die frühen Tatorte aus heutiger Sicht retroperspektivische Einblicke in verloren gehende oder bereits verschwundene, urbane Milieus und Lebenswirklichkeiten. Sie offenbaren, wie etwa bei der städtischen Silhouette von Duisburg, dramatische Änderungsprozesse. Deutsche Städte

und Landschaften in den Vordergrund zu rücken, war im föderalen Rundfunksystem durchaus gewollt. ‚Landeskunde als Thriller“ nannte das Jochen Vogt in ‚Tatort – der wahre deutsche Gesellschaftsroman“. Die Langlebigkeit der Serie aber sahen die Produzenten des Tatorts 1970 nicht voraus. Ohne ihre Absicht entwickelte sich die Reihe zum Zeitzeugen des Strukturwandels, der das Erscheinungsbild und die Architektur deutscher Großstädte bis heute prägt. Der Tatort konserviert die Ansicht auf Gebäude, Restaurants, Bahnhöfe und ganzer Straßenzüge der 1970er und 1980er Jahre.


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Tatort Duisburg

von Guido Walter

Duisburg Eine Stadt verschwindet Als Gรถtz George als Hauptkommissar Horst Schimanski 1981 an einem diesigen Morgen zum ersten Mal aus dem Fenster seiner Wohnung im 14. Stock eines Hochhauses sah, erblickte er eine imposante Industriekulisse. Heute hat sich der Rauch der Schlote weitgehend verzogen.

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Schauplatz Tatort

Exklusive Interviews mit dem Architekten Stefan Behnisch dem Regisseur Dominik Graf und dem TatortSchauspieler und Arzt Joe Bausch

www.callwey.de ISBN 978-3-7667-2052-8 ISBN 978-3-7667-2052-8

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Protzige Villen, düstere Tunnel, verwahrloste Hafengegenden – kaum eine Krimireihe spielt so raffiniert mit Formen räumlicher Inszenierung wie der Tatort. Dieses Buch zeigt, wie die Kult­ reihe Architektur und Urbanität nicht nur verarbeitet, sondern zum Hauptdarsteller macht. Unsere Autoren Udo Wachtveitl, Alexander Gutzmer, Guido Walter und Oliver Elser begeben sich auf eine architektonische Spurensuche der erfolgreichsten deutschen Krimireihe. In spannenden Vor-OrtReportagen, fundierten Interviews und grossen Bildstrecken decken sie auf, welche Rolle Stadt, Gebäude, Innenräume für Schimanski, Odenthal und Co. schon immer spielten und bis heute spielen.

Beweisaufnahmen: ein architektonischer Blick hinter die Kulissen des LieblingsKrimis der Deutschen

Ermittlungen: fesselnde Reportagen über legendäre Tatort-Episoden – und darüber, wie diese die Geschichte ihrer Stadt schreiben Observationen: die Arbeits- und Wohnsituation der Kommissare Analysen: spannendes Insiderwissen der Filmemacher – und wie Archi­tektur zum filmischen Stilmittel wird


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