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Planlos, pleite und den noch versorgt

gegessen. Ich habe erfolgreich am Ticketschalter verhandelt, mit dem nächsten Nachtbus mitfahren zu dürfen. Auf der Fähre nach Calais traf ich eine ältere Dame. Ich erinnere mich, dass ich ihr zur Untermalung meiner dramatischen Geschichte meinen vollständig leeren Geldbeutel unter die Nase gehalten habe. Aus Freundlichkeit (oder Mitleid) hat sie mich dann zum Frühstück eingeladen. All diese Erfahrungen und Begegnungen hätte ich nie planen können und sie wären nie passiert, wäre ich vorher nicht naiv gestrandet. Sie sind mir auch deswegen so gut in Erinnerung, weil ich in den Jahren darauf nur noch sehr selten solche „wilden“ Erlebnisse hatte.

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Unbewusst habe ich damals offensichtlich noch eine ganz andere Grenze überschritten: die Grenze von Jugendlichkeit zum Erwachsenensein. Von der Planlosigkeit zur Kontrolle. Als gehöre es dazu, das süße Privileg der Jugend – nichtsahnend, frei und unkontrolliert zu reisen – für mehr Vernunft abzustreifen. Das Wilde einzugrenzen. Alle meine folgenden Reisen liefen viel vorausschauender, geplanter und definitiv entspannter ab. Dass

man damit auch das Abenteuer abstreift, wird mir jetzt erst klar. Schade eigentlich. Julia Spanka

Den Enkel auf die Welt gebetet

Grenzerfahrung Gebet

Bei der Geburt unseres ersten Kindes gab es Komplikationen. Am Tag, als die Wehen einsetzten, gingen mein Mann und ich zur Mittagszeit ins Krankenhaus. Wir informierten meine Eltern und baten sie um Gebetsunterstützung. Sie waren leidenschaftliche Beter, und so wusste ich mich sehr getragen.

Bis zum Mittag des nächsten Tages hatte ich nach wie vor starke Kontraktionen, aber ansonsten tat sich nicht viel. Ich lag am Wehenschreiber, damit die Wehen und die Herztöne des Babys beobachtet werden konnten. Da die Geburt nur langsam vorwärtsging, wurden wir während dieser Zeit weitestgehend alleingelassen. Irgendwann merkte mein Mann, dass sich die Herztöne unseres Kindes extrem verschlechtert hatten.

Er hat damals sofort reagiert und einen Arzt gesucht. Jetzt ging alles sehr schnell! Unser Kind musste ohne weiteren Zeitverlust geboren werden! Für einen Kaiserschnitt war es aber bereits zu spät, dafür war das Kind schon zu weit im Geburtskanal. Man entschied sich deswegen für eine Saugglockengeburt.

Am Nachmittag war unser Sohn endlich geboren – mit einem Knoten in der Nabelschnur. Die Ärzte meinten, es sei ein Wunder, dass unser Kind überlebt hatte!

Die andere Seite der Medaille

Das ist der eine Teil der Geschichte ... Zeitgleich geschah im Haus meiner Eltern Folgendes:

In den endlosen Stunden, in denen sie von uns keine Nachricht bekommen hatten (wir reden von der Zeit vor dem Handy!), gingen ihnen natürlich viele Gedanken durch den Kopf. Aber etwa 24 Stunden, nachdem ich ins Krankenhaus gefahren war, bekam mein Vater auf einmal den Eindruck, dass etwas ganz und gar nicht stimmte und unser Kind in Lebensgefahr sei. Er beschrieb später, dass er spüren konnte, wie Satan verhindern wollte, dass unser Baby lebend zur Welt kommt.

Er hat sich dann buchstäblich auf die Knie geworfen und im Gebet um unser Kind gerungen. Ich weiß nicht genau, wie lange dieser Kampf ging, definitiv war es aber eine lange Zeit. Dann auf

einmal wusste mein Vater, dass der Kampf gewonnen war. Wie sich später herausstellte, war das die Uhrzeit, zu der unser Kind lebend auf die Welt kam. Christiane Spanka

Das Leben versteht man nur im Rückblick!

Grenzerfahrung: Krankheit und Not

Ursula Lochas hat ihren Mann verloren und wird – nach mensch

lichem Ermessen – auch ihre Tochter verlieren. Eine Mutter

erzählt über ihr Leben, ihre an MS erkrankte Tochter und das,

was ihr trotzdem Halt gibt.

Foto links: Sylvia Lochas (42) ist seit ihrer

Kindheit MS-krank. Selbstständig kann

sie nur noch atmen und die Augen öffnen,

alles andere ist nicht mehr möglich. Fünf

Pflegekräfte und ihre Mutter versorgen

sie rund um die Uhr in ihrem Zuhause.

ch bin in der DDR aufgewachsen und wurde christlich erzogen. Ich habe drei Kinder. Meine älteste Tochter musste als

Baby ins Krankenhaus, weil sie keine Nahrung bei sich behalten konnte. Sie hatte während der Geburt Fruchtwasser geschluckt und sich dadurch eine Lungenentzündung zugezogen. Sie musste sofort in eine Kinderklinik unter ein Sauerstoffzelt. Dass sie groß geworden ist, ist ein Wunder. Ich durfte nicht bei ihr im Krankenhaus bleiben. Ich konnte sie manchmal durch die Glasscheibe sehen. Von August bis Ende November waren wir getrennt, das war ganz, ganz furchtbar. Ich habe die Milch abgepumpt, und mein Mann hat sie jemandem mitgegeben, der sie dann ins Krankenhaus zu meiner Tochter gebracht hat. Ich habe mir vorgestellt, dass ich durch die Milch mit meinem Kind verbunden bin. Auf eigenes Risiko haben wir sie dann aus dem Krankenhaus mit nach Hause genommen. Als die Oma meines Mannes das dünne Baby sah, meinte sie: „Ach wenn’s doch gleich gestorben wäre.“ Sie mochte pummelige Kinder lieber. Das hat mich sehr gekränkt.

Etwas über ein Jahr später war schon unser zweites Kind da, ein Sohn. Im Nachhinein weiß ich, dass ich mit dem zweiten Kind überfordert war. Ich mag meine Kinder, aber es war schwierig für mich, die beiden großzuziehen. Wir wohnten damals in einer Anderthalb-Zimmer-Wohnung ohne eigene Küche. Ich hatte einen Gaskocher besorgt, um in dem Zimmer jeden Tag die Windeln auszukochen. Das Wasser musste ich jedes Mal aus dem Bad holen und das Abwasser wieder dorthin zurücktragen.

Sylvia, unser drittes Kind, war ein Nachzügler und mein Wunschkind. Mein Mann war gegen eine erneute Schwangerschaft, aber ich hatte mich durchgesetzt. Damals war ich 34. Mit Sylvia war es so einfach. Sie war die ersten drei Jahre nie krank! Die erste Krankheit war dann eine Augenmuskellähmung. Das könnte der erste MS-Schub gewesen sein. (Anmerkung der Redaktion: Multiple Sklerose oder MS ist eine Erkrankung des Zentralen Nervensystems.) Man sagt, MS-Leute sind sehr ehrgeizig. Auf Sylvia trifft das zu. Sie hat mir mal vorgeworfen, ich hätte sie nie gelobt. Ich habe das nicht gespürt. Ich weiß aber noch, dass ich dachte: „Die ist überall so gut, wenn ich ihr das auch noch ständig sage, wird sie vielleicht überheblich."

Turnerin und wollte für Olympia trainieren.

Kurz vor der Wende: damit die Kinder eine

„Zirkusvorstellung" für die Nachbarn geben

konnten, brauchte es eine behördliche Erlaubnis.

Regelmäßig hält Ursula Lochas mit ihrer Tochter

Andacht, hört den Evangeliumsrundfunk oder

singt ihr Lieder vor. Was man auf diesem Foto

nicht sieht: Diese Augenblicke gehören zu den wenigen, in denen Sylvia überhaut noch

die Augen öffnet.

Inzwischen habe ich verstanden: Mein Mann musste gehen, damit ich Sylvia nach Hause holen konnte ... Ich hätte nie gedacht, dass sie so lange mitmacht.

1995 wurde bei ihr MS festgestellt; da war sie 17. Das will man einfach nicht wahrhaben. Das will nicht in den Kopf rein, dass ein so gesundes, begabtes Kind so eine Krankheit haben soll. Der Arzt hat gesagt: Sie kann alles werden außer Pianistin.

Sie gehörte zu den drei besten ihres Abi-Jahrgangs. Aber zur Zeit ihrer Abschlussfeier war ihre Sprache schon retardiert. Sie redete sehr schleppend und hat die Wörter so langgezogen. Mehrmals dachten die Leute im Saal, sie wäre fertig mit ihrer Rede und fingen an zu klatschen, aber Sylvia setzte immer wieder an und

hat die Sätze oft wiederholt. Sie hörte einfach nicht auf. Es ist sehr schwer, da zuzuhören. Gott war da für mich weit weg. Wie konnte er das Mädel so bloßstellen? Aber ich habe mich auch über Sylvia geärgert: „Merkst du das nicht? Hör endlich auf zu reden!“ Wer hätte denn gedacht, dass es noch schlimmer werden würde? Damals habe ich mich fast geschämt. Jetzt würde ich diese Sätze so gerne noch mal von ihr hören. Ich habe nichts, nur die Erinnerung.

Sie hat mal zu mir gesagt: „Mutti, mir hilft keiner.“ Da war sie gestürzt und niemand kam zum Helfen, weil alle dachten, sie wäre betrunken oder hätte Drogen genommen. Was das Mädel aushalten musste, kann man sich nicht vorstellen. Sie wollte sich aber auch oft nicht helfen lassen. Als sie einen Stock bekommen sollte, wollte sie den nicht. Sie hat so gekämpft! Es war auch ein Kampf, als wir das erste Mal einen Rollstuhl brauchten. „Dann setz ich mich eben rein“, hab ich da gesagt. Ich brauchte in dieser Phase viel Geduld und Zeit für Gespräche, Gespräche und nochmals Gespräche. In dieser Zeit war Sylvia depressiv, und auch ich war oft traurig.

Sylvia war als Kind ein echter Bewegungsakrobat. Sie wollte Bodenturnerin werden und für Olympia trainieren. Das war in der dritten Klasse. Aber am Schwebebalken hatte sie schon leichte Gleichgewichtsstörungen. Man hat ihr dann gesagt, dass sie deswegen nicht ins Olympia-Kader kommen könne, sondern in den „normalen“ Sportverein müsse.

Mit dem Zirkus vor der Polizei

In den Winterferien haben wir als Familie oft Zirkusvorstellungen gegeben. Unsere Katze war der Tiger. Sylvia hat sich ihre Sachen selber genäht, und zusammen haben die Kinder Plakate gemalt und in den Läden ausgehängt. Im Februar '89 sollten auch wieder Vorstellungen sein. Eines Tages waren die selbstgemachten Plakate aus den Geschäften weg. Dann kam auf einmal Hauptmann Wunderlich zu uns, um uns zu informieren, dass die Veranstaltung unrechtmäßig sei und nicht stattfinden könne. Da musste ich erst mal die Kinder beruhigen und habe dann die anderen Eltern informiert. Die sind zur Polizei und haben sich beschwert. Da haben sie dann auch die Plakate entdeckt. Die Polizei hatte ernsthaft gedacht, dass die Plakate verschlüsselte Nachrichten seien und bei uns ein geheimer Treff wäre. Das war kurz vor der Wende. Aber die Eltern haben sich durchgesetzt: Wir haben dann eine echte Genehmigung von den Behörden für unsere Aufführung bekommen – als wäre es Zirkus Aeros. (Anmerkung der Redaktion: Aeros ist ein Leipziger Zirkus, der 1961 in den Staatszirkus der DDR eingegliedert wurde) Wahnsinn! Das war ein Kampf. Gott sei Dank ist das vorbei.

Die Freunde von damals – da kommt keiner mehr. Sie kommen nicht damit klar, dass Sylvia so schlimm dran ist. Das tut mir auch weh, denn unsere Familie war immer für die anderen da.

Mein Mann „musste“ gehen

Dann kam das mit meinem Mann: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Es stand für mich aber fest: Der kommt durch. Ich habe immer gebetet, dass Sylvia vor uns heimgeht. Aber dann ist er doch gestorben. Da hab ich eine ganz große Wut gehabt. „Was soll denn das?! Du siehst doch, was wir hier alles um die Ohren haben!“ Inzwischen habe ich verstanden: Mein Mann musste gehen, damit ich Sylvia nach Hause holen konnte. Sie war nämlich vorher eine Zeit in einem Pflegeheim – mein Mann hatte das mit Sylvia nicht so verkraftet und hatte es irgendwann nicht mehr gut ausgehalten, sie zu Hause zu haben. Nachdem mein Mann tot war, habe ich sofort das Gartenhaus für Sylvia umbauen lassen. Jetzt kann sie in ihrem Bett in den Garten gefahren werden. Ich hätte nie gedacht, dass sie so lange mitmacht …

Ich habe mich manchmal von meinem Mann verlassen gefühlt. Ich war oft hin- und hergerissen, weil ich es ihm recht machen wollte und Sylvia. Dadurch, dass es immer um sie ging, war mein Mann vielleicht ein bisschen eifersüchtig. Ich war sehr enttäuscht, dass er nur für die Firma da war. Ich glaube, er hat sich in seine Arbeit gestürzt, weil er das mit Sylvia nicht gut bewältigen konnte. Ich war auch nicht glücklich, in das neue Haus zu ziehen. Da sollte ich entscheiden, wo die Steckdosen hinkommen sollen und so was – das war mir alles zu viel. Einmal wollte ich mich von meinem Mann trennen. Gott sei Dank habe ich das nicht gemacht. Irgendwann ging ich in psychologische Behandlung. Ich musste das alles verkraften. Die Therapeuten haben damals gesagt: „Dann trennen Sie sich doch, Frau Lochas.“ Aber ich habe das nicht gemacht. Das ist gut. Es war für uns beide schwer, aber wir sind zusammengeblieben. Jetzt bin ich jeden Tag dankbar, dass ich im neuen Haus die Stufen zu meiner Tochter gehen kann. Das habe ich meinem Mann zu verdanken. Er hat’s gut

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