STUDI VERSUM NUMMER 47 | 2012.11
Schrittweiser Untergang 09 Cédric Wermuth 28 Kleiderlos in Gottes Schoss 12
Haut
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Natural American Spirit® ist anders... ♦ Etwa 12% mehr Tabak pro ♦ 100% Tabak ohne Zusatzstoffe Zigarette als die meisten ♦ Tabak von der höchsten und handelsüblichen Filterzigaretten besten Qualität, keine Blähtabake, ♦ Nachhaltiger Tabakanbau keine Folientabake, keine ♦ Umweltbewusstes Verhalten Tabakreste, keine Blattrippen
Rauchen ist tödlich. Fumer tue. Il fumo uccide.
EDITORIAL | INHALT
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Liebe Leserinnen und Leser,
Der Wichtigkeit der Haut wird nicht immer die nötige Beachtung geschenkt. Bei Umfragen, auf welches Sinnesorgan man nicht verzichten will, geben fast 70 Prozent das Auge an. In Gedanken an die fünf Sinne Riechen, Schmecken, Hören, Fühlen und Sehen erscheinen die anderen vier weniger alltagsrelevant. Dass die Haut aber nicht nur für den Tastsinn von Bedeutung ist, sondern wirklich das einzige dieser fünf Organe ist, bei dem ein Verzicht dramatische gesundheitliche Konsequenzen hätte, wird gerne vergessen. Wir möchten diesem essentiellen und vielseitigen Organ mit dieser Ausgabe besondere Beachtung schenken. Linda Mülli berührt in ihrem Text die Problematik der eingeschränkten Tastfähigkeit, der so genannten Hypästhesie. René Köhne wühlt die Religionsgeschichte auf und geht dem Widerspruchsvorwurf nach, dem sich Vertreter des katholischen Nudismus ausgesetzt sehen. Nora Lipp geht mit einem Bestatter auf Tuchfühlung und begleitet ihn durch seinen von Vergänglichkeit geprägten Alltag. Gregor Schenker packt das Phänomen der Neurophilie an, das sich gerade in abstrusen Fetischen niederschlägt, die keinen Halt vor Kriminalität machen. Traurig, aber wahr: Der Printmarkt verschlechtert sich, es werden immer weniger Anzeigen gebucht, die Medienlandschaft lichtet sich. Selbst grosse Medienhäuser verkleinern ihre Redaktionen oder fügen Ressorts zusammen, wie das kürzlich bei 20 Minuten geschehen ist. Dieses «Unwetter» hat auch unser Magazin nicht verschont. Die Konsequenz ist: Nach sieben Jahren leidenschaftlicher Arbeit wird das beliebte StudiVersum eingestellt und ihr haltet somit die finale Ausgabe in Händen. Ein herzliches Dankeschön geht an alle aktuellen und ehemaligen Beteiligten – die Schreib- und Bildredaktion, Layout, Lektorat und Marketing – die zusammen dieses Heft möglich gemacht und ihm den unverwechselbaren Charakter verliehen haben. Ausserdem wollen wir uns bei allen Lesern und Unterstützern für ihre Treue bedanken – und nicht zuletzt bei Patrick, der das Ganze erst möglich gemacht und jedem von uns die Möglichkeit gegeben hat, sich im Medienbereich zu verwirklichen.
Euer Filip Dingerkus
3 STUDIVERSUM | 2012.11
04 LIEBLINGSDING Warum ich meine Dreadlocks liebe 05 UMFRAGE Was berührt dich? 06 AUS DEM LEBEN Bringt Musik auf die Strasse! 08 DAS UNIKAT | Studikrakel Get Your Second-Skin 09 WISSENSCHAFT Verwahrlosung 11 ATELIER Strassenzirkus on Tour
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Nackte Christen 16
Über das (Nicht-)Fühlen 20
Leerstelle Leichnam 24
Kampf um die Haut 28 UNIPOLITIK Links, Cédric, Marsch 30 reportage tu was! 32 UNTERHALTUNG impressum, Abschied 33 extrem Harry ohne Gnade 34 WIE ANNO DAZUMAL Das Geheimnis
LIEBLINGSDING
Warum ich meine Dreadlocks liebe
ˇ ,25, studiert an der Tomáš Bat’a Universität in Zlín im Master Fotografie Jacub JurdiC «Als ich 15 war hab ich mich in der Hardcoreszene bewegt und da gabs total viele Dreadlockers, so hab ich mich in diesen Haarschnitt verliebt.»
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UMFRAGE
Was berührt dich? Wie empfindsam reagieren wir heutzutage auf Dinge, die um uns herum passieren? Sind wir noch empfänglich für Sensibilität, trotz der extremen Medialisierung von Gewalt? StudiVersum fragte bei Studenten in Kopenhagen nach, was sie berührt. r Text und Bilder Viviane Lichtenberger
Nikolas Velschow, 29, Techno-Anthropologie «Die Musik von Beethoven berührt mich besonders, davon kriege ich Gänsehaut. Wovon ich auch Gänsehaut kriege, sind schöne Landschaften in der Natur. Ich bin Halb-Isländer, die Landschaft und die Natur dort ist überwältigend.» Nina Hansen, 20, Wirtschaft «Wenn ich etwas über Dinge erfahre, die mit unserer Umwelt zu tun haben, wie Naturkatastrophen, Probleme und deren Konsequenzen.» Kadi K., 23, Kommunikation «Wenn ich anderen Leuten behilflich sein kann, wenn sie mit einem Problem zu mir kommen und ich ihnen mit meinen Lösungen weiterhelfen kann. Aber es berührt mich auch, wenn ich meinen Freunden positive Erlebnisse mitgeben kann, zum Beispiel wenn ich für sie koche. Es berührt mich, wenn ich sehe, dass sie es mögen und wieder von mir bekocht werden möchten.» Inuk Thomsen, 29, Sound-Design «Das Wetter und Altern.» Josefine Brinck Mulvad, 26, Techno-Anthropologie «Die Leute um mich herum und deren Gedanken. Die Informationen, die ich durch mein Studium bekomme, aber nicht unbedingt emotional, eher in meinem Verhalten. Ich werde vermutlich nur noch Bio-Produkte kaufen, sobald ich das Geld dazu habe.» Mikael Sørensen, 29, Soziologie «Musik, Filme und meine Familie.» Aleksandra Ravlic, 21, Pädagogik «Wenn ich Nachrichten schaue und einen Überblick bekomme, was in der Welt neben mir passiert. Vor allem wenn ich etwas über Kinder aus ärmeren Teilen der Welt sehe.» Christian Schreder, 28, Bio-Technologie «Die Leute um mich herum. Es gibt bestimmt andere Dinge, die mich unbewusst auch berühren, die ich aber nicht wahrnehme. Ich bin eher eine intuitive Person.»
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AUS DEM LEBEN
Me, myself and Don Draper «Kafkaeske Erfahrungen in einer Werbeagentur 1963/2012» oder «Wenn sich der Herbst dem Ende zuneigt». Ein Abschied von StudiVersum. Text Melanie Keim
Als ich heute Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand ich mich auf einer braunen Couch in einer Werbeagentur in New York wieder, hatte einen Anzug an, eine Sekretärin vor der Türe und einen fürchterlichen Kater. Im Büro roch es nach dem Parfüm, das ich letzte Woche im Schrank meines Grossvaters gefunden hatte, von weit unten hörte ich das Hupen der Cabs, die schon bald alle das gleiche gelbe Kleid tragen würden, und für einen kurzen Moment tauchte eine Erinnerung an die Langstrasse auf. Mühsam schleppte ich mich zum Pult hinüber, zog mein letztes Hemd aus der Schublade und brachte meine Frisur mit einigen hastigen Griffen wieder in Ordnung. Auf dem Pult lag noch immer die mit JFK-Portraits bedeckte Zeitung von gestern, was meine Stimmung nicht gerade verbesserte. Plötzlich klopfte jemand heftig an die Tür, eine Stimme rief: «Don, are you in there?» Es war Peggys Stimme, ich kannte sie aus dem Fernsehen. Doch was sollte ich ihr antworten? Schliesslich war Don Draper schon lange tot. Als Don Draper heute Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich auf einem drehbaren Bürostuhl in einer Werbeagentur in Zürich wieder, hatte einen hellblauen Pullover an, einen riesigen Bildschirm vor der Nase und einen Hund an seiner linken Wade. Im Büro roch es leicht nach dem Pudel, den die junge Grafikerin täglich zur Arbeit mitnahm, und nach dem sauren Nespresso, der nur halb so gut war wie der wässrige Filterkaffee an der Madison Avenue. Don starrte auf den Bildschirm vor sich, strich mit den lackierten Nägeln über die Tastatur seines Macs und tippte gedankenverloren sein Passwort ein: madmen2012. Durch das Fenster kam ein kalter Windstoss herein, der die vor ihm liegenden Blätter durcheinanderbrachte. Das E-Mail im Posteingang mit dem Titel «Letzte StudiVersum-Ausgabe» sprang ihm sofort ins Auge. Doch er musste es nicht öffnen. Schliesslich wusste er bereits, dass der wirklich gute Journalismus tot war.
6 STUDIVERSUM | 2012.11
Sex 2.0 in Budapest Norditaliener, süsse Versuchungen, ein DildoDelphin und ein Sex-Guru – eine Erlebnissafari durch das Nachtleben Budapests. Text Viviane Lichtenberger
Es gibt Nächte, in denen man Kurioses, Lustiges oder Bizarres erlebt. Besonders unterhaltsam wird es, wenn man unter Alkoholeinfluss steht. Oder wenn man reist. Ich durfte während einer Nacht die Kombination von beidem erleben. Abende, in denen man seinen Ausgang so ungeplant wie möglich angeht, sind für mich immer die besten. Meine letzte Nacht in Budapest war ebenfalls ungeplant und – sieh an, sieh an – dieses spontane Herumstreifen während ein paar dunkler Stunden hinterliess einen bleibenden Eindruck und lebt von Begegnungen fürs Leben. Die erste Begegnung, mit der meine Kollegin und ich an dem Abend konfrontiert wurden, hatten wir in einer «Kert» (hier als Bezeichnung für eine Bar im Innenhof, zu Deutsch: Garten). Wenige Minuten nach unserer Ankunft buhlten zwei Italiener um unsere Aufmerksamkeit. Neben Begegnungen, die im Gedächtnis bleiben, gibt es solche, an die man an sich nur noch beiläufig erinnert. Die Konversation mit den zwei Herren gehört zu den letzteren. Was mir blieb, ist, dass die beiden mehrmals unterstrichen, dass sie aus NORD-Italien und nicht aus dem – nach ihrer eigenen Aussage – armen Süditalien kommen. Unsere nächste Begegnung empfing uns mit einem Korb voller Schokokugeln. «Mein Freund ist Security und hat heute Geburtstag», meinte der Ungare. Er erzählte uns von Budapest, seiner Liebe zur Schweiz und seiner Begeisterung fürs Backen. Meine Hand, in der sich eine Schokokugel umhüllt von einer Serviette befand, fühlte sich immer schwerer an, und je mehr der Typ erzählte, desto gieriger wurde meine Lust auf die Schokoleckerei. Allmählich schwärmte
er nicht mehr von den Alpen und dem Backen, sondern von den Körperformen meiner Kollegin. Nach unserer Verabschiedung bissen wir voller Freude in die Schokokugel. Leider landete diese prompt genauso beherzt im nächsten Abfallkübel – statt süsser Schokolade begegneten unsere Zungen einer undefinierbaren Mischung aus Mehl und einer ungeniessbaren klebrigen Masse. Aller guten Dinge sind drei. Meine dritte Begegnung begann das Gespräch so: «Kannst du den Namen meines Delphins erraten?» Damit meinte er ein Delphin-Amulett, das um seinen Hals hing. Natürlich erriet ich den Namen nicht, da er den ungewöhnlichen Namen «Dildo» trug. Träger dieses sonderbaren Amuletts war ein Kerl mit langen schwarzen Locken, mehreren Ketten mit Totenkopf-Anhängern um den Hals und einem Cowboy-Hut auf dem Kopf. Eine Mischung aus Crocodile Dundee und einem Piraten. Die skurrile Eröffnung dieses Gesprächs verleitete mich dazu, weiter mit Crocodile Dundee zu reden, da ich mir sicher war, dass es ein noch skurrileres Ende nehmen würde. Auf den Dildo-Delphin folgte die Frage: «Auf was für einer Reise in deinem Leben befindest du dich? Ich finde, du siehst aus wie jemand, der nicht weiss, wo sie momentan im Leben steht.» Ich spürte, dass das noch nicht alles war. Schliesslich streckte er mir seine Visitenkarte entgegen und meinte: «Do you want to come to an after-party?» Erstaunt las ich seine Visitenkarte. Fettgedruckt stand da: Sex 2.0. «I’m a sex revolutionist». Mein inneres Lachen versteckte ich gekonnt und liess den SexRevoluzzer von dannen ziehen. Und bevor man mich fragt: Nein, zur After-Party ging ich nicht.
AUS DEM LEBEN
Bringt Musik auf die Strasse! Wie man sein Herz an die eigene Band und Musik verliert. Eine Liebeserklärung. Text Cécile Imhof
Bepackt mit drei Konzertzusagen, Schlafsack und Zelt, mit all unseren Instrumenten und natürlich mit genügend Flüssiggold zog es mich und meine Ska-Band «Canastron» in der vorletzten Semesterferienwoche in den Norden. Schon nach kurzer Fahrt kam unser Trompeter auf die glorreiche Idee, unser Vehikel von Bandbus noch schnell wiegen zu lassen. Der Schock sass tief: mehr als eine halbe Tonne Übergewicht! Also stand alles wieder auf Anfang. Die schwersten Instrumente und Verstärker unserer grössenwahnsinnigen Backline – mein heiss geliebtes Rhodes-Piano eingeschlossen – wurden kurzerhand durch leichtere ersetzt. Das Gewicht schrumpfte und es konnte endlich losgehen. Bevor unser «Tourlaub» überhaupt richtig begonnen hatte, stand das Motto dieser zweiwöchigen Reise bereits fest: Sei spontan oder nicht, aber besser wäre, du bist es! Kurz nachdem wir unserem Bus die besagte Schlankheitskur verpasst hatten, erfuhren wir nämlich, dass das erste Konzert abgesagt wurde. Enttäuschung machte sich breit. Doch so schnell gaben wir nicht auf! Acht sturköpfige und leidenschaftliche Musizierende – zusammen eine grosse Familie – lassen sich nicht so leicht unterkriegen. Wir beschlossen, einmal mehr spontan umzudisponieren und mit Strassenmusik reich zu werden. Natürlich scheiterten wir kläglich; gelohnt hat es sich aber allemal. Denn auf dem Weg von Zürich, Solothurn über Freiburg, Stuttgart, Mannheim und Hamburg nach Berlin erlebten wir so viele verschiedene Klangwelten wie wir Städte, Strassen, Bars und Flusspromenaden bespielten. Wir sahen, dass sich die Menschen im Süden Deutschlands auf der Strasse begeistern lassen, im Norden die Strassenmusikanten dafür eher Eingang in die Bars und Clubs finden. Ob durch Jam-Sessions oder Konzerte, in Deutschland hält sich Ska in den Musikwelten der Städte! Genau dieser Glaube an die Ska-Unity, zu dem auch die bedingungslose Treue unserer Schweizer Fangemeinschaft zu zählen ist, haben uns trotz allen Hindernissen den Ansporn gegeben, unseren nördlichen Nachbarn ein Stück Zürcher Spirit näherzubringen. Ob
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gelungen oder nicht, uns hat es noch mehr geeint und die Freude an unserer Musik um ein Vielfaches verstärkt. Band, ich liebe dich, und ich rate allen Musikmachenden da draussen: Tourlaubt um die Welt und bringt eure Klänge auf die Strasse! Ausführlicher Tourbericht und Fotogalerie auf: www.canastron.ch und www. semestra.ch/magazin/artikel/canastron
Mensa Basel: The Fight. Fleisch oder nicht Fleisch? Diese Frage hat in den vergangen Wochen unter Basler Studenten zu heftigen Wortgefechten geführt. Text Linda Mülli
Fanden die Initianten der «Vegi-Mensa Uni Basel», der Verzehr von Tofu und Sojaprodukten reiche völlig aus und sei nicht nur um der Tiere, sondern auch der Umwelt willen mehr als berechtigt, entgegneten die karnivoren Kommilitonen, dass der Verzicht auf Wurst und Co. Privatsache sei. Über Wochen tauschten sich beide Parteien (Facebook sei Dank) rege aus. Verlinkt wurden Artikel, Videos, Studien, «Experten»-Meinungen; User berichteten von persönlichen Erfahrungen mit Tieren zu Hause und auf dem Teller. Zwar übte man sich in gepflegtem und sachlichem Umgang, doch nicht selten driftete die Diskussion ab – zuweilen bis unter die Gürtellinie. Nun hat die Mensa, gemäss der Abstimmung im Studentenrat, u. a. das tägliche Angebot um mindestens ein veganes Menü zu erweitern. Eine weitere Forderung ist der Pilotversuch mit einer rein vegetarischen Mensa im Biozentrum. Doch betrachten wir es rückwirkend nochmals aus der Vogelperspektive (und damit ist jetzt nicht ein zukünftiges Poulet gemeint): Wohin führt uns dieses Hickhack? Der Bottom-up-Initiative gebührt Respekt. Sie hatte Erfolg, auch die Argumente sind plausibel. Abschlachten jeglicher Art ist verwerflich und «artgerechte» Tierhal-
tung ein Muss. Doch ob man Fleischliebhaber mit Gruselfilmen über Schlachthöfe zur «Umkehr» bewegen kann, halte ich für höchst fraglich. Auch ist es kein Geheimnis, dass die Fleisch-Lobby wirkungsvoller vorgeht als die Gemüse-Fraktion. Wir erinnern uns an die Sommerkampagne: «Schweizer Fleisch. Alles andere ist Beilage». Dass an der Olma auf Senf verzichtet wird, aber auf die Wurst keinesfalls, wird sich wohl so schnell nicht ändern. Sollten wir aber, statt den Fleischkonsum zu verteufeln, nicht besser den bewussten Umgang mit Lebensmitteln fordern? Ich, selbst Vegi, finde ein Regal voller völlig identischer Gurken ebenso absurd wie maschinell geschlachtete Hühner oder noch auf dem Schiff abgepackten Thunfisch. Das Problem liegt doch in der Abstraktion unserer Lebensmittel, sei es nun ein Steak oder ein Sojaprodukt. Täglich landen die schönsten Salatköpfe im Müll und Milch wird literweise ausgeschüttet. Das nenne ich den grössten Frevel unserer Zivilisation! Statt dem Streit ob Fleisch oder Tofu fände ich eine Initiative «Mensa à la Volksküche» mit der Verwendung von aus Supermärkten aufgrund des Ablaufdatums verbannten Produkten bedeutend cooler!
Das Unikat
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studikrakel
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beren. Je offensichtlicher und öfter öffentliches Verhalten negativ auffällt, umso mehr führt es zu regelverletzendem Verhalten. Keizer stellte mit seinem Ergebnis eine direkte Forderung an Vertreter des öffentlichen Raums: konsequenteres Eingreifen. Beachtenswert an der Broken-Windows-Theorie ist, dass sie, trotz wenig empirischer Evidenz, Grundlage für die Umstrukturierung der New Yorker Polizei Mitte der Neunziger Jahre war. William Bratton, damaliger Polizeichef, und Bürgermeister Rudolph Giuliani führten die «Zero-Tolerance-Politik» ein. Schon gegen Bagatelldelikte wie Graffiti sprayen oder Schwarzfahren wurde strikt vorgegangen. Die Auswirkungen waren enorm: 75 Prozent weniger Straftaten, die U-Bahn und der Central Park wurden wieder zu frequentierbaren Orten.
WISSENSCHAFT
Forschung in der Schweiz
Verwahrlosung Heute ein kaputtes Fenster, morgen ein zerstörtes Haus, übermorgen Raubüberfälle, in ein paar Jahren ein Viertel geprägt von Kriminalität. Das ist kein Bespiel von schwarzmalenden Politikern, sondern eine Theorie, die eine solche Reihenfolge prophezeit. Das Konzept der Broken-Windows-Theorie wurde 1982 von den beiden US-amerikanischen Wissenschaftlern James Q. Wilson und George L. Kelling aufgrund eines Experiments des Psychologen Philip Zimbardo entwickelt. Zimbardo stellte 1969 ein altes Auto in den Strassen New Yorks ab, entfernte das Nummernschild und öffnete
die Motorhaube. Innerhalb von 26 Stunden wurde das Gefährt geplündert und zerstört.
Eine Mücke wird zum Elefanten
Wilson und Kelling brachten das kaputte Auto oder im Pendant eine zerbrochene Fensterscheibe – namensgebend für die Theorie – in direkten Zusammenhang mit dem Verfall und der ansteigenden Kriminalität eines Ortes. Die Dynamik des Phänomens fassen sie wie folgt zusammen: Die sichtbare, physische Verschlimmerung vereinfacht unerwünschtes Verhalten. Das steigert die Angst der Bürger vor steigender Kriminalität. Die verfallene Umgebung signalisiert, dass hier keine oder wenig Kontrolle herrscht. Der Rückzug der verängstigten Bürger führt tatsächlich zu weniger Kontrolle. Die Kriminalität nimmt zu, die Bewohner ziehen sich noch mehr zurück, das Viertel verkommt, und so weiter.
Unordnung und Kriminalität
Die junge Forschung basiert hauptsächlich auf diesen anfänglichen Experimenten. 2008 belegten der niederländische Sozialpsychologe Kees Keizer und sein Team den Zusammenhang zwischen Unordnung und Kriminalität. So beobachteten sie unter anderem, dass ein 5-Dollar-Schein eher geklaut wird, wenn er aus einem verwahrlosten Briefkasten hängt als aus einem sau-
Auch hierzulande gab es Untersuchungen zur Broken-Windows-Theorie. Patricia Funk untersuchte in ihrer Doktorarbeit in Wirtschaftswissenschaften an der Universität Basel, wie sich nicht-staatliche Bestrafung (in ihrem Fall Stigmatisierung auf dem Arbeitsmarkt) auf die Kriminalität auswirkt. Danach forschte sie über die Effekte härterer Sanktionen auf verschiedene Deliktarten. Dabei bezog sie sich auch auf die Broken-Windows-Theorie. «Der wichtigste Punkt der Theorie ist, dass das Nicht-Ahnden von kleineren Vergehen ein Umfeld schafft, welches das Entstehen von schwereren Delikten fördert», so Patricia Funk. Schweizer Daten belegten, dass die Theorie konsistent sei. Eine Zunahme von leichteren Kriminaldelikten wie Diebstahl führte längerfristig zu einer Zunahme von schwereren Delikten wie Raub. Über die Gesellschaft zeigt die Theorie, dass potentielle Täter rational auf Anreize reagieren. Je mehr eine Umgebung zerstört ist, umso tiefer ist die Hemmschwelle, selbst zu zerstören. Ganz klar ist der Mechanismus der Broken-Windows-Theorie noch nicht. Offensichtlich besteht ein Zusammenhang zwischen Unordnung und Kriminalität, aber Kritiker betonen, dass andere Faktoren wie Armut und Erziehung einen direkten Einfluss haben und deshalb auch eine Rolle spielen. r Text Claudia Piwecki, Illustration Melanie Imfeld
Studien zur Theorie Kees Keizer, Siegwart Lindenberg, Linda Steg: «The Spreading of Disorder» in Science Express, November 2008. George L. Kelling, James Q. Wilson: «Broken Windows» in The Atlantic, März 1982. Patricia Funk und Peter Kugler: «Dynamic Interactions Between Crimes» in Economics Letters, 2003, 79: 291-298.
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ATELIER
Strassenzirkus on Tour Projekt «Trottvoir»
Zusammen mit Freunden im VW-Bus durch Europa. Im Gepäck: Jongliergeräte, Kunsträder, Musikinstrumente und Kostüme. Im Kopf: ein Strassentheaterzirkusstück. Einen Teil der Idee gibt es schon länger. Die Freunde, die diesen Sommer auf Europatour waren, kennen sich nämlich vom Theaterzirkus «Tortellini» aus Luzern. Dort lernten sie als Kinder und Jugendliche das Zirkushandwerk, kombiniert mit Schauspiel und Musik. Im vergangenen Sommer taten sich nun einige Ehemalige und Mitglieder der Jugendtruppe wieder zusammen, um die erlernte Kunst von der Theaterbühne hinaus auf die Strasse zu bringen. Sie gaben sich den sprechenden Namen «Trottvoir», schrieben ein Theaterzirkusstück und gingen damit für acht Wochen auf eine Tour durch Europa. Zu zwölft spielten sie auf den öffentlichen Plätzen Frankreichs, zu sechst reisten sie weiter nach Slowenien und Kroatien und zu viert beendeten sie ihre Reise schliesslich in Bosnien. «Trottvoir» spinnt ihre Akrobatik und Musik rund um die Geschichte eines gefundenen Koffers, um den ein Streit entbrennt. Eine einfache Geschichte, doch sie wird auch ohne grosse Worte vom fremdsprachigen Publikum verstanden und enthält Spannung – was befindet sich denn nun im Koffer? In Frankreich hätten sie damit viele Leute begeistert, erzählt Laeticia Blättler, die alle Stationen der Zirkusreise mitgemacht hat. Mit den Worten «idyllisch» und «poetisch» hätten viele Zuschauer das Gesehene beschrieben und machten der Truppe damit auch Mut für die Weiterreise nach Osteuropa. Denn was sie dort erwarten würde, wussten sie nicht so genau. Die Menschen dort reagierten dann auch verhaltener, blieben aber trotzdem stehen, liessen die jungen Luzerner für sie spielen und waren am Ende ebenso begeistert. «Es ist so schön, etwas zu machen, das bei anderen gut ankommt und ihnen gefällt», meint Laeticia lächelnd. r Text Julia Krättli, Bilder Beat Blättler
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Wer sich etwas Ähnliches mal ansehen möchte: Der Theaterzirkus Tortellini plant für nächstes Jahr wieder eine Produktion. Infos: www.tortellini.ch
Nackte Christen Adam und Eva wurden aus dem Paradies geworfen. Dies geschah jedoch nicht, weil sie nackt waren, denn das ist mit dem Christentum absolut vereinbar. Weil das so ist, gibt es Gläubige, die beim Beten nackt ihrem Schöpfer entgegentreten. Ein Blick auf die «Christian Naturists» in den USA.
«Nipplegate»: Im Verlauf der Halbzeit-Show des US-amerikanischen Football-Finales im Jahre 2004 wurde durch einen «KleidungsDefekt» Janet Jacksons Brust entblösst. Zwar nur für einen kurzen Augenblick, allerdings vor Millionen Augen. Der amerikanische Sender CBS sollte daraufhin mit mehreren hunderttausend Dollar gebüsst werden. Auch bei Facebook übt man sich in der Ächtung von Nacktheit; so wurden vor einiger Zeit die Bilder stillender Mütter von dem sozialen Netzwerk verbannt. Ein Redakteur des britischen Guardians erklärte die amerikanische Verankerung des Unternehmens als Grund hierfür und bestätigte damit wahrscheinlich das Bild manch eines Europäers: In den Vereinigten Staaten hat man ein Problem mit nackter Haut. Die Verhüllung des Körpers zeigt sich dort als starke soziale Konvention in der Gesellschaft. In diesem Kontext mag also verwundern, dass in den USA Gruppierungen nudistischer Christen existieren. Ähnlich den normalen Anhängern der Freikörperkultur, auch Naturisten genannt, verbringen diese einen Teil ihrer Zeit gänzlich ohne Be-
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kleidung. Das Besondere dabei ist: Dies gilt ebenfalls für Aktivitäten wie den Besuch des Gottesdienstes, Bibelkunde oder Gebete. Ist das eine Antwort auf das ständige Problematisieren von Nacktheit?
Das Web verdeckt die Blösse
Das Tabu birgt für überzeugte Nudisten die Notwendigkeit einer gewissen gesellschaftlichen Zurückhaltung; öffentlich bekennen sich nicht viele der Christen, abgesehen von einigen Sprechern der Szene wie der Autor Jim C. Cunningham. Der anonyme Charakter des Internets bietet den «Christian Naturists» eine sichere Umgebung, gewährt aber auch Aussenstehenden einen Einblick. Es existiert eine Anzahl bunt gemischter Webangebote als Informationsund Vernetzungsort für gläubige Naturisten und Interessierte. Da wäre exemplarisch die «Christian Nudist Convocation», ein Mitglied der etablierten «American Association for Nude Recreation» (AANR). Sie preist Events in verschiedenen US-Staaten an und hat es sich unter anderem in die Statuten geschrieben, die Verbreitung von Gottes Botschaft unter den «normalen» Nudisten zu fördern. Ein befreundetes Resort in Florida lädt derweil auf seiner Webseite ein, sich sonntags mit Gleichgesinnten zum Gottesdienst einzufinden. Daneben kann man sich bei «CNVillage» und zahlreichen anderen Anlaufstellen über die persönliche Glaubensreise, das Christentum sowie Gebete austauschen und vor allem Kontakte knüpfen.
Grundlagen christlicher Nacktheit
Wer hinter einem lockeren Umgang mit Nacktheit die Umwälzung der christlichen Sexualmoral vermutet, täuscht sich. Dieser Punkt wird in der Satzung von Tom Pines Portal «The Naked Truth Naturists» wie auch im Grundlagentext des «Fig Leaf Fo-
«Ein Resort in Florida lädt ein, sich sonntags zum nackten Gottesdienst einzufinden» rum» klargestellt. Man proklamiert eine familientaugliche Nacktheit ohne den Makel ungebührlicher sexueller Aufladung. Gleichzeitig schreibt man dem sozialen Nudismus positive Effekte auf die Kontrolle des eigenen sexuellen Verlangens zu und Kinder würden durch die Nacktheit im familiären und sozialen Umfeld von «unnatürlicher und ungesunder» Neugier im Bezug auf den Körper abgehalten. Entsprechend stellt sich der «unverfälschte christliche Nudismus» der sexuell aufgeladenen Nacktheit als Antithese gegenüber; eine Distanzierung zur Sexualität, wenngleich mit anderem Hintergrund als beispielsweise bei der FKK. Die bröckelnde Bekleidungskonvention impliziert dane-
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ben auch keine Abwendung von der christlichen Lehre. Im Gegenteil, man hebt an vielen Stellen die Nähe zur Bibel hervor. Tom Pine und seine Gruppe, ihrer Aussage nach praktizierende Christen, bekennen sich klar zur biblischen Schöpfungsgeschichte, betonen die Wichtigkeit von Gottes Wort sowie die Konformität der Idee mit der Heiligen Schrift. Dies wird gewissenhaft durch vielfache Bibelanalysen abgesichert, beispielsweise auch im Blog «The Biblical Naturist». Matthew Neal, der unter diesem Pseudonym den Blog führt, hat gleich einem Literaturwissenschaftler Bibelpassagen überprüft, um diese logisch auf Argumente gegen Nudismus abzusegnen. Als nur ein Beispiel verweist er auf die Genesis; Gottes
Antwort auf Adams Scham schreibe dessen Nacktheit in keinster Weise Problemcharakter zu.
Keine Botschaft ohne Dialog
Matt Neal erklärt im Interview, dass er als langjähriger Pastor den grössten Teil seines Lebens dem Priesteramt widmet und seine Kompetenz in der Schrift nun in den Dienst der Gemeinschaft stellt. Allerdings wird diese schlicht nicht herausgefordert. Von vielen Kritikern könne keine Rede sein, da zum Thema kein Dialog vorhanden sei. Herausforderungen würde er willkommen heissen – seinen Begrüssungstext im Blog ziert der Satz «An unchallenged belief is not a trustworthy belief.» Neal ist das Thema ein persönliches Anliegen: Er sieht den Naturismus als Kampf gegen das falsche, übersexualisierte, nicht gottgegebene Bild des nackten Körpers, welches das Nacktheitstabu befeuere; viele (christliche) Männer würden durch diesen Umstand der Knechtschaft der Pornografie anheimfallen. Das Tabu werde eigentlich nicht gestützt durch die Heilige Schrift, Nacktheit selbst werde in der Bibel, anders als die landläufige
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sprechenden Körperregionen führen und Kinder überhaupt lehren, dass Nacktheit etwas Anormales sei. Erektionen seien generell auch kein Thema, niemand bringe in diese Umgebung sexuelle Intentionen mit. Diese soziale Nacktheit sei seiner Meinung nach «langweilig»; er hätte noch nie sexuelle Erregung bei anderen feststellen können. Der Moderator einer nordtexanischen Gruppe, Jerry Sledge, meint hierzu, die gewöhnliche Reaktion sei schlicht, es unter dem Handtuch zu verstecken, auf dem man normalerweise Platz nehme.
Hinter dem Tabu
Meinung, an keiner Stelle als Grund für gerechtfertigte Scham dargestellt. Schon gar nicht sei sie verboten. Dass kaum einer diese Argumentation in Frage stellt und kein Diskurs entsteht, kann eventuell auf den Umstand zurückgeführt werden, dass naturistische Geistliche sich aus Angst vor Ablehnung und Unverständnis vor ihrer nichtnudistischen Gemeinde nicht öffentlich dazu bekennen.
Konfessionslos-nackte Gottesdienste
Sowohl Priester als auch Gläubige unterschiedlicher Konfessionen müssen sich im Rahmen grösserer Nudistentreffen, häufig in AANR-Resorts oder lokalen, nudistischen Kirchgemeinden, nicht verstecken.
Neal beschreibt die Gemeinschaft als Konfessionsmix. Er ist der Meinung, dass die Katholiken aufgrund der «Theologie des Leibes» von Papst Johannes Paul II. im Hinblick auf die Bedeutung des menschlichen Körpers den Protestanten voraus sind. Aber die Betonung liegt auf den christlichen Gemeinsamkeiten. Während der Glaubensbezeugung, der Messe, sind alle gleich nackt. Dies sei dem Gottesdienst in keinster Weise abträglich. «I have personally led worship services fully nude», meint Neal. Familien einschliesslich ihrer Kinder würden sich einfinden. Die Anwesenheit der Sprösslinge betrachtet Neal nicht als Problem. Brüste und Genitalien als anstössig zu behandeln würde erst zu einer Sexualisierung der ent-
Dieser Teil der Gesellschaft stellt seinen Weg des religiös gestützten Nudismus scheinbar erfolgreich dem Tabu der Nacktheit als Antwort gegenüber, was an sich nicht unbedingt den Zweck der Idee darstellt. Sledge bestätigt eine interessante Vermutung: «Body Issues» seien für Menschen ein wichtiger Beweggrund, den Nudismus zu pflegen. Dessen ist man sich auch bei den «Christian Naturists» bewusst und hebt die wachsende Akzeptanz gegenüber dem eigenen Körper als positiven Aspekt hervor. Neben dem Erfahren einer besonderen Nähe und Vertrauen lässt sich aber vor allem das Bedürfnis feststellen, individuelle nudistische Gepflogenheiten gegen den Glauben abzusichern, wenn ein Verbot durch die Bibel vermutet wird. Das Konstrukt hat als Antwort auf die Problematisierung nackter Haut allerdings einen Schwachpunkt: Der Ursprung des Tabus, der Umgang mit der Sexualität, wird dabei ausgeklammert. Eine dogmatische Abtrennung von jener löst jedoch nicht den Grundkonflikt. Letztlich wird für die generelle Enttabuisierung der Nacktheit schlicht folgendes notwendig sein: eine Entproblematisierung der Sexualität. r Text René Köhne, Bilder Melanie Imfeld
Wem die sexuelle Revolution von Papst Johannes Paul II. noch nicht bekannt ist, kann sich im Buch «Theologie des Leibes für Anfänger» weiterbilden (West, Christopher: Theologie des Leibes für Anfänger. Einführung in die sexuelle Revolution von Papst Johannes Paul II. Fe-Medienverlag, Kisslegg 2005. Im Buchhandel für 19.90 Franken). Wer hingegen bestrebt ist, seine nudistischen Tendenzen gegen seinen Glauben abzusichern, der informiert sich auf Jimccunningham.com über vorhandenen Lesestoff. Auf Gameo.org, einer baptistischen Online-Enzyklopädie, findet sich die Geschichte einer Gruppe von Täufern, die im 16. Jahrhundert nackt durch Amsterdam zogen und die Stadt vor dem Zorn Gottes warnten. Sie wurden im Anschluss allesamt geköpft.
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Über das (Nicht-)Fühlen Auf bis zu zwei Quadratmetern Haut fühlen wir Druck, Schmerz und Temperatur, können so nicht nur unsere Umgebung wahrnehmen, sondern auch mit Mitmenschen in Kontakt treten. Ist die Berührungsempfindung herabgesetzt, spricht man von Hypästhesie.
Ergreifendes geht «unter die Haut» oder «berührt» uns, Probleme brennen uns unter den Nägeln, wir verspüren Mitgefühl – die Liste von Phrasen, die Sprache und Fühlen verknüpfen, liesse sich leicht erweitern. Auch Rihanna haucht für einen Werbespot von Emporio Armani «Wanna feel your skin» und bezieht sich da nicht auf ihre Bluejeans. Bei Pablo Neruda, seines Zeichens Poet der Liebe, steht physisches und psychisches Fühlen in engster Korrelation, so schreibt er beispielsweise: «Por sentirte en mis venas como Dios en los ríos […]» (Neruda, Pablo. Crepusculario. Hrsg. v. Andrés Bello. Romanyà Valls, Barcelona 1999). Empfindungen der Haut, unserem flächenmässig grössten Organ, sind für uns Menschen zentral. Wie mag es wohl sein, nichts mehr zu fühlen? Die warme Sonne nicht mehr auf der Haut zu spüren? Die Wärme eines geliebten Menschen? Kieselsteine unter den Füssen oder schlicht zu merken, wenn es zu kalt ist und man sich besser einen Pullover anziehen soll?
Sensibilitätsverlust durch Störungen
Ganz so dramatisch ist es wohl doch nicht, die Fantasie offenbar zu plastisch, wie im Gespräch mit Jürg Kesselring deutlich wird.
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Der Neurologe und Spezialist für Multiple Sklerose (MS) relativiert meine Vorstellungen davon, was im Fachjargon mit Hypästhesie bezeichnet wird, definiert als «herabgesetzte Berührungs- beziehungsweise Druckempfindung» bestimmter Hautareale: «Grundsätzlich kann jede Veränderungen an den peripheren Nerven oder im zentralen Nervensystem auch zu Hypästhesien führen, wenn empfindungsleitende Nervenbahnen vom Krankheitsprozess betroffen sind.» Diese Störungen des Neuroapparates werden von den Patienten unter anderem als Sensibilitätsverlust wahrgenommen.
So fühlen wir normalerweise
Marcus D’Souza vom Institut für Biochemie des Universitätsspitals Basel – ihn habe ich ebenfalls um fachliche Stütze gebeten – klärt über den Prozess des Fühlens auf: Die Rezeptoren in der Haut nehmen eine Berührung war. Anschliessend wird der Impuls über «periphere» Nerven zum Rückenmark und von da aus über «zentrale» Nervenfasern in die graue Substanz der sensiblen Hirnrinde auf der gegenüberliegenden Körperseite geleitet. Erst dann können wir die Berührung bewusst wahrnehmen. Sowohl die peripheren Nervenfasern als auch die zentralen Nervenfasern sind durch eine Isolierung besonders schnell leitend. D’Souza vergleicht dies mit der besseren Übertragung von Musik über «dicke» Lautsprecherkabel als über störanfällige «dünne» Kabel. Die Aufgabe der Isolierung erfolgt durch Hilfszellen, die Myelinhüllen um die Nervenfasern bilden, um so eine ungestörte Weiterleitung der Berührungsempfindung zu ermöglichen. Wird, wie bei MS, die Myelinhülle, also die Isolationsschicht um die Axone (Nervenfasern), durch einen Entzündungsvorgang, dessen Ursache man immer noch
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nicht genau kennt, angegriffen und abgebaut, wird die elektrische Impulsleitung in den Nervenfasern verlangsamt oder funktioniert in unzuverlässiger Weise. Diese Störungen äussern sich entweder als Taubheit oder als Schmerz.
und nimmt die Schmerzen nach einem möglichen Sturz weniger stark wahr als am kommenden Tag in nüchternem Zustand, wie der Ausdruck «sich eine Bierjacke anziehen» verdeutlicht.
Verschiedene Ursachen…
Doch noch immer bleibt die Frage: Wie muss man sich Hypästhesie vorstellen? Kesselring, Chefarzt für Neurologie und Rehabilitation am Rehabilitationszentrum in Valens, zitiert Betroffene: «Häufig beschreiben sie den Sensibilitätsverlust als ein Gefühl, auf Watte zu gehen, einen zu engen Gurt zu tragen oder Schmirgelpapier an den Händen zu haben.» Er denke, so fährt Jürg Kesselring fort, dass Ärzte von ihren Patienten lernen können, wie sich ein Symptom anfühlt. Ein Arzt müsse nicht nur die medizinische Erklärung finden können, sondern auch Empathie zeigen. So helfe ein Selbstexperiment, um MS-Symptome noch besser nachvollziehen zu können.
Hypästhesie kann, je nach Lokalisation der Entzündungsherde im zentralen Nervensystem, verschiedene Körperteile betreffen. Ein häufiger Grund für eine verminderte Berührungsempfindung beispielsweise an der Hand sind lokale, periphere Nerveneinengungen. Aber auch Tumore, vor allem im Kopf oder Rückenmark, oder Entzündungen im Nervengeflecht der Schulter sind häufige Ursachen einer Hypästhesie. Ausserdem kann das Krankheitsbild durch Lähmungen, Verbrennungen oder andere Erkrankungen wie Durchblutungsstörungen verursacht werden. Auch tritt Hypästhesie nach toxischen Einflüssen auf: Manch einer verliert nach zu exzessivem Alkohol- oder Drogenkonsum den direkten Zugang zum Körper, wird langsamer
«Wie Schmirgelpapier an den Händen»
Der Versuch des Nachfühlens
Alle kennen die taube Backe nach der
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Zahnarztspritze und das anschliessende Gefühl, nur noch Pappe zu essen, oder das Unvermögen, mit einem «eingeschlafenen» Bein zu gehen, die Tapsigkeit, durch Taubheit des Fusses bedingt, und den Schmerz, wenn das Blut zurückfliesst. Irritiertes Fühlen und diffuses Wahrnehmen kommt auch nach einer Operation vor, wenn die Nerven (noch) nicht sauber zusammengewachsen sind. Ohne hinzusehen stellt sich die Frage, ob es nun drei Finger auf der Narbe sind oder nur einer. Wenn wir so äussere Einflüsse nicht mehr genau einordnen können, bedeutet dies den Verlust von Kontrolle, was, wie bei einem plötzlich auftretenden MS-Schub, verunsichernd oder sogar beängstigend sein kann.
Parästhesie: Schmerz statt Kuss
Ein weiteres Symptom ist Schmerz. Eine Bloggerin, die offenbar an MS erkrankt ist, schreibt: «Ich vergass, dass ich nichts mehr Kaltes anfassen kann. Sebastian gab mir gestern einen Kuss und pustete meine Wange an. Ich fuhr mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück, er perplex. Autsch!»
Hier wird eine verzerrte Wahrnehmung beschrieben: Beim Kuss ihres Freundes empfindet die Bloggerin Schmerz, was eine völlig unerwartete Reaktion ihrerseits ist und auch ihren Freund verständlicherweise verstört. Jürg Kesselring kommentiert: «Sobald Normalitäten wie das geregelte Wahrnehmen unserer Umwelt eingeschränkt sind, sind wir verunsichert. Vor allem scheint diese Patientin das Vertrauen in ihre Umgebung verloren zu haben.» Wenn sich eine Berührung, wie beschrieben, als Missempfindung äussert, so spricht man von Parästhesie.
Anästhesie: die Superhelden
Anästhesie, der komplette Sensibilitätsausfall, ist eine Verstärkung des oben genannten Phänomens. Als Beispiel dient hier die Literatur: In seiner «Millennium»-Trilogie erfindet Stieg Larsson die Figur Ronald Niedermann. Dieser mutiert «dank» Anästhesie zu einem Superboxer, einer menschlichen Maschine. Zu nennen ist zudem der Hauptcharakter in der Comedy-Produktion «Kick Ass»: Der anfänglich etwas linki-
sche Teenager Dave kommt seinem Traum, ein Superheld zu werden, dank Metallimplantaten, die sein Schmerzempfinden verringern, bedeutend näher. Wieder wird also das Nichtfühlen positiv bewertet, lässt ihn aber zugleich weniger «menschlich» erscheinen.
Heilungschancen
Doch zurück zur Normalität: Auch wenn die Vorstellung von vermindertem Fühlen im ersten Augenblick reizvoll erscheinen mag, so sucht die Wissenschaft in der Realität nach Heilungsmöglichkeiten. Jürg Kesselring meint dazu: «Die Hypästhesie kann sich auf verschiedene Weise wieder bessern.» Es handle sich dabei, so fährt er fort, um Reparaturvorgänge im Nervensystem selbst, die wohl auch durch Medikamente und vielleicht auch durch mechanische Einflüsse verbessert werden könnten. Doch er fügt auch hinzu: «Bezüglich Heilungschancen sind wir bei neurologischen Erkrankungen eher zurückhaltend-realistisch.» r Text Linda Mülli, Bild Tamara Widmer
PUBLIREPORTAGE
Der Ghostwriter Thomas Nemet ist professioneller Ghostwriter. Als Geschäftsführer von Acad Write hilft er so manchem Student aus der Klemme. Seit der Gründung von Acad Write im Jahre 2004 hat die Firma weit über 6‘000 Aufträge in Empfang genommen. Mit Standorten in der Schweiz, Deutschland, Österreich, Kroatien und Grossbritannien ist sie eine der grössten Ghostwritingagenturen. Besonders die BWL-Studenten nehmen gerne und oft fremde Hilfe in Anspruch, wenn es um das Verfassen von wissenschaftlichen Arbeiten geht. Aber ist das moralisch überhaupt vertretbar? Thomas Nemet, Geschäftsführer, meint dazu: «Unsere Kunden geben uns das Thema und den Umfang vor, wir schreiben dann eine Arbeit für sie – mit Recherche, allfälligen
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Korrekturen und allem, was dazugehört. Natürlich ist uns bewusst, dass unsere Arbeiten von den Studenten zum Betrug benutzt werden könnten, aber damit haben wir nichts zu tun. Wir erledigen nur unseren Auftrag.» Zu seiner relativ ungewöhnlichen Tätigkeit ist der 42-Jährige eher zufällig gekommen, nämlich als er auf Jobsuche war und eine Stelle bei einer anderen Ghostwriter-Firma fand. Das Berufsfeld gefiel ihm gut und kurz darauf machte er sich selbständig. Die Preise für das Ghostwriting gestallten sich individuell, je nach Komplexität, Länge und Arbeitsaufwand. Billig ist so eine fremdgeschriebene Arbeit jedenfalls nicht – dafür wird eine hohe Qualität und penible Termineinhaltung garantiert. Die Mitarbeiter von Acad Write besitzen allesamt einen Hochschulabschluss. Thomas Nemet zum Beispiel promovierte in Philosophie. Seine Dissertation hat er jedoch ganz alleine geschrieben, ohne Ghostwriter.
Leerstelle Leichnam In «CSI» werden sie aufgeschnitten. In «Six Feet Under» begraben. Dexter produziert sie reihenweise. Leichen führen ein reges Leben auf unseren Bildschirmen. Wer von uns aber wüsste einem Toten die Augen zu schliessen? Darum kümmern sich die Bestatter. Einer von ihnen ist Adrian Hauser.
Die Flauheit kam im Nachhinein. Sie veranlasste mich eine SMS zu schreiben – essen und reden wollte ich – und auch wenn niemand Zeit hatte: Die routinierten Handlungen in der Mensa – die Pasta in Empfang nehmen, danken, lächeln, das Geld in die Hand drücken – taten ihren Dienst. Zurück von den Toten weiss ich, dass ich eine schlechte Bestatterin wäre.
Andere Sorgen als den Tod
Geht Adrian Hauser zu Bett, hat er keine Sorgen oder andere Sorgen als den Tod: «Grübeleien gibt es bei mir nicht. Sonst jagst du dir eine Kugel in den Kopf». Pflegt oder transportiert er eine Leiche, läuft Country- und Bluegrassmusik aus Amerika. Der 42-Jährige ist seit fünf Jahren vollamtlicher Bestatter und Friedhofswart in Willisau. Dreissig war er, als er spürte, dass er noch nicht angekommen war, wo er hingehörte. Schichtarbeit und Hierarchien sagten ihm immer weniger zu. Als Polizist sah er nur Tote, die von Verkehrsunfällen und Gewalteinwirkung gezeichnet waren. Die Arbeit als Bestatter ist da weitaus angeneh-
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mer. Die Toten, mit denen er hier zu tun hat, starben meist aus natürlichen Gründen. Das heisst nicht, dass die Arbeit immer einfach ist: «Ich bin auch schon in Tränen ausgebrochen». Angehörige erwarteten aber nicht, dass er mit ihnen trauert, sondern vor allen Dingen kompetent und beratend zur Seite steht.
Ein bis zwei Kilogramm Asche
Später an diesem Tag gehen wir über den Friedhof. «Der gesellschaftliche Druck, sich kremieren zu lassen, nimmt zu». Früher hat Hauser vier neue Grabreihen pro Jahr angelegt, heute ist es noch eine halbe. Die Menschen lassen sich in Urnenwände stellen oder im Gemeinschaftsgrab beerdigen. Hauser sagt, viele Leute liessen sich kremieren, weil sie niemandem zur Last fallen wollten. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts prägten Mediziner die Bestattungsriten: Der Leichnam wurde zur hygienischen Bedrohung. Man fürchtete sich vor Ansteckung und Leichengiften, die das Grundwasser verschmutzten, aber auch davor, lebendig begraben zu werden. Leichen wurden nicht mehr im Wohnzimmer aufgebahrt. Die Feuerbestattung wurde populär. Platzprobleme waren ein weiteres Argument dafür. So lautete das Motto der französischen Feuerbestattungsbewegung: «La terre aux vivants». 1874 führte die Firma Siemens in Dresden die erste moderne Kremation durch. Ein bis zwei Kilogramm Asche bleiben von einem verbrannten menschlichen Körper zurück.
Berufung zum Bestatter
Das Telefon klingelt, jemand ist gestorben. «Ob Sie eine Erdbestattung einer Kremation vorziehen, müssen Sie selbst entscheiden». Versiert und gleichzeitig zurückhaltend höre ich Hauser nebenan Auskunft geben. Ich betrachte derweil den Raum und
die Urnen, herzförmig mit Tieren bedruckt, blaugewellter Stein, Goldumrandungen. Auf dem Tisch brennt eine violette Kerze. Broschüren liegen da mit Titeln wie «Meine Partnerin liegt im Sterben» und «Das Jahr der Trauer». Hauser als vollamtlicher Bestatter verkörpert einen neuen Typus dieses Amtes. Schreiner und Fuhrleute waren es, die diesen Beruf traditionellerweise ausübten; noch heute ist Bestatter oft ein Nebenamt. Der Berufsverband der Bestatter wurde 1986 gegründet, den Fähigkeitsausweis besitzen nur wenige. Darin sieht Hauser kein Problem. Bestatter solle man auch ohne absolvierte Lehre werden können, denn: «Dazu muss man berufen sein, vieles kann man gar nicht lernen». Er distanziert sich aber von der Entsorgungsmentalität, die einige Bestatter praktizierten: «Das Schlimmste ist, einen Verstorbenen übernehmen zu müssen und gebrauchte Handschuhe unter dem Leichnam zu finden».
Verbot zu verwesen
Wir fahren zum Friedhof. Ich habe schon Tote gesehen, war aber noch nie in dem Raum, wo die Leichen gepflegt werden. Licht fällt von oben auf eine metallene Liege. Der Geruch im Raum steigt nur langsam in die Nase, liegt dafür umso schwerer im
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«Das Verschliessen der Körperöffnungen kann auch für den Bestatter unangenehm sein» Magen. Heute werde ich keine Leiche sehen. Dafür erfahre ich, wie die Leiche, die ich schon gesehen habe, vorher zurechtgemacht wurde. Vom Verbot zu verwesen hat Baudrillard gesprochen. «Modern Embalming» heisst das heute in Extremform: Der Leiche werden alle Körperflüssigkeiten entzogen und die Organe entnommen, danach wird sie mit Formalin konserviert. In der Schweiz gibt es zwei Thantropraktiker, die dieses Verfahren beherrschen. Nur selten wird diese Möglichkeit hierzulande angewendet, meist dann, wenn eine Leiche über weite Strecken transportiert werden muss oder wenn eine völlig entstellte Leiche, wie eine Wasserleiche, aufgebahrt werden soll. Die Tendenz zur Ästhetisierung der Leiche zeigt sich jedoch auch bei uns. Ziel ist es, die Identität des Körpers länger aufrechtzuerhalten und den unangenehmen Details des Verwesungsprozesses zu entgehen.
Eine sozialverträgliche Leiche möchte auch Hauser gewährleisten. Horrorgeschichten, «dass etwas aus dem Sarg tropft oder eine Fliege aus dem Mund des Verstorbenen kriecht», will er nicht selber erleben. Makel werden kaschiert, Körperöffnungen abgedichtet, der Sarg mit Stoff und Holzwolle ausgekleidet. Problematisch wird es, wenn sich die Bestattung verzögert und die Leiche bis zu sieben Tagen haltbar gemacht werden muss. Dann friert Hauser die Leiche bei minus 20 Grad ein. Dadurch bekommt sie aber eine ganz andere Farbe, sie «sieht aus wie ein Stück Fleisch», und wenn sie auftaut, muss Hauser ihr das Wasser abtupfen.
Perfekter Finish
Der Bestatter agiert an einer Leerstelle, mit der wir nicht umzugehen wissen. Doch auch er hat nur zwei Stunden Kontakt mit der Leiche. «Was zurückbleibt, sind die Angehörigen», so Hauser. Wir gehen an-
ACADEMIC GHOSTWRITING
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schliessend in den Präparationsraum. Auf dem Rand des Lavabos liegen eine Kinnstütze und gelber Gummi, im Schrank Einlagen, wie Hauser es nennt. Pampers steht auf der Packung. Dann zeigt mir Hauser Wattestäbchen, mit denen Ohren, Nasen und Rachenraum gereinigt werden. Eine Tablette, die – aufgelöst in Wasser – eine gallertartige Masse ergibt, kippt man dem Verstorbenen in den Mund, wo sie verklumpt, damit keine Körpersäfte mehr aufsteigen können. Das Verschliessen der Körperöffnungen kann, trotz aller Professionalität, auch für Hauser unangenehm sein. «Ganz am Anfang hat's mich mal so richtig erwischt: Wir mussten einem Mann den Mund zunähen, weil sich der nicht anders schliessen liess. Das war grob, aber das sind Ausnahmen». Seine Aufgabe sieht Hauser darin, «einen perfekten Finish» zu gewährleisten, egal unter welchen Voraussetzungen. Auf einem Tablar steht eine einsame Puderdose. Nur selten, bei Selbstmorden und schweren Verkehrsunfällen, muss Hauser zum Schminkkoffer und zu Nadel und Faden greifen. Oft lassen sich Schussverletzungen auch mit einfachen Tricks verdecken, einem Hut zum Beispiel.
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Hauser nimmt einen Lippenstift aus dem Schrank: Der gehörte einer Verstorbenen. Hauser schminkt die Toten nicht um. Die Verwandten sollen Abschied nehmen können, von der Person, die sie gekannt haben. Schlafend soll er aussehen, der tote Mensch.
Überhaupt nicht esoterisch
Die Trauernden kommen üblicherweise nicht in diesen Transformationsraum, nur der Bestatter und der Tote. Während der Leichenpflege denkt Hauser ganz Alltägliches. Hat er den Verstorbenen gekannt, erinnert er sich. Oft hört er Musik. «Da bin ich total oberflächlich, überhaupt nicht esoterisch angefressen». Eine Kollegin von ihm sei da anders, diese berühre die Toten viel mehr, nehme ihre Energie auf. Er aber müsse für ein gutes Arbeitsklima nicht «ständig seine Räume ausräuchern». Im Umgang mit den Toten folgt er einem schlichten Grundsatz: «Ich behandle sie so, wie ich gerne behandelt werden würde». Manchmal möchten die Angehörigen dabei sein; das sei bereits eine Form der Trauerarbeit. «Sie holen Wasser oder reichen mir eine Socke. Manchmal reden sie auch einfach. Auf jeden Fall hilft es ihnen».
Meistens jedoch kommen die Angehörigen zur Vordertüre rein und sehen den gewaschenen, gekämmten und geföhnten Leichnam.
Blick ins Nichts
Die Gespräche in der Mensa plätschern. Ich bin meinem Unbehagen auf der Spur: Es wurzelt in der Scheu vor der Leiche. Medial wird der Tod unzählige Male vervielfältigt. Tote, verfallsanfällige Körper aber sind unsichtbar geworden. Den Blick auf den Leichnam vermeiden wir. Er befremdet uns: Wir suchen den verstorbenen Menschen, können ihn aber nicht finden – da klafft nur das Nichts. Angesprochen auf das Jenseits, äussert Hauser sich vage: «Das kommt schon gut». Bestatter sein, bedeutet für ihn, den Leuten abzunehmen, wofür sie nach dem Tod eines Nahestehenden nicht den Kopf haben. Dass sein Beruf belasten kann, blendet er nicht aus. Er schafft sich Freiraum: Fährt Harley, verbringt Zeit mit seinem Sohn, seinen Tieren und im Garten, kümmert sich, wenn möglich, um höchstens einen Todesfall pro Tag. Denn: «Ich will nicht an den Punkt kommen, an dem ich nur noch Tote sehe». r Text Nora Lipp, Bilder Tamara Widmer
Kampf um die Haut Das Enthäuten ist eine Folterpraxis, die bereits in der Antike zur Anwendung gekommen und über die Jahrhunderte in ganz verschiedenen Kulturen aufgetaucht ist. Bis heute inspiriert sie zu drastischen Darstellungen in der Kunst.
Am diesjährigen Zurich Film Festival lief auch der Horrorthriller «Maniac». Elijah Wood, bekannt aus «Herr der Ringe», spielt darin Frank, einen psychopatischen Mörder. Er überfällt Frauen, skalpiert sie und befestigt die erbeuteten Kopfhäute an Schaufensterpuppen. Das Horrorfilm-Remake von Franck Khalfoun und Alexander Aja ist nichts für schwache Nerven. Schon das Original, das der Pornofilmer William Lustig und der Charakterdarsteller Joe Spinell im Jahre 1980 präsentierten, war keine feinfühlige Angelegenheit. Wenn sich Kopfhäute blutig vom Schädel lösen, wird einem schnell flau im Magen. Das Abziehen der Haut, ob teilweise oder ganz, ist ein beliebtes Motiv im modernen Horrorfilm, zum Beispiel in «The Texas Chainsaw Massacre» von 2003. Der Film bezieht seine gruselige Wirkung unter anderem daraus, dass der verrückte Kettensägenmörder Leatherface seinen Opfern die Kopfhaut entfernt, um daraus Masken anzufertigen. Auch dieser Streifen ist ein Remake; Tobe Hoopers Original von 1974 gilt als Klassiker des Horrorgenres. Egal ob Vorlage oder Kopie, die Geschichte basiert auf den Taten des amerikanischen Mörders Ed Gein. Er wird 1957 verhaftet, nach-
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dem in seiner Heimatgemeinde zwei Frauen verschwunden sind. Die Spuren führen auf sein Anwesen. Dort findet die Polizei nicht nur die Leichen der Vermissten, es stellt sich auch heraus, dass Gein verstorbene Frauen ausgegraben und aus ihren Überresten Masken oder Gürtel genäht hat. Einige Jahre vor Hooper nimmt sich schon Alfred Hitchcock dieser Ereignisse an: In «Psycho» gräbt ein Mann die Leiche seiner Mutter aus, um sie auszustopfen. Sowohl «Psycho» als auch «The Texas Chainsaw Massacre» helfen mit, das moderne Horrorkino aus der Taufe zu heben: ein Horrorkino, das ohne Vampire oder Geister auskommt, sondern von psychopathischen Mördern und ihren grauenhaften Taten handelt. Die Gewaltdarstellungen werden immer härter. Dabei liefert das Enthäuten eine Vorlage für drastische Effekte.
Die Geschichte des Schindens
Beim Enthäuten handelt es sich um eine Prozedur, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt. Es ist eine Hinrichtungsmethode, die zu einem langsamen und qualvollen Tod führt. Ein anderes Wort dafür ist «Schinden», was in Begriffen wie «Menschenschinder» nachklingt und verwandt ist mit dem schweizerdeutschen Verb «schinde», das sich auf das Schälen von Orangen oder Kartoffeln beziehen kann. Erste Erwähnungen des Enthäutens entdeckt man bei den Assyrern oder Persern, wo es als brutale Strafe zum Beispiel für Aufständische dient. Später taucht es in der griechischen Mythologie auf, wie in der Geschichte um den Satyr Marsyas. Ein Meister auf der Doppelflöte, ist er derart von sich selbst überzeugt, dass er den Gott Apollon zum musikalischen Wettstreit herausfordert. Zunächst scheint Marsyas der Sieg so gut wie sicher, schliesslich gewinnt aber Apollon, weil er nicht nur auf der Kithara
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Indem die Killer ihren Opfern die Haut abziehen, töten sie sie nicht einfach, sondern berauben sie ihrer Identität.
spielt, sondern dazu auch singt. Dem hat der Satyr mit seiner Flöte nichts entgegenzusetzen. Die Bestrafung für Marsyas Überheblichkeit fällt harsch aus: Er wird an einem Baum aufgehängt, seine Haut wird ihm bei lebendigem Leibe abgezogen. Dieses harte Vorgehen inspiriert über die Jahrhunderte Bildhauer und Maler. In der christlichen Literatur, wo Darstellungen von Folterpraktiken und Grausamkeiten aller Art besonders in den Märtyrerlegenden zu finden sind, begegnet uns das Schinden ebenfalls, so zum Beispiel in der Legende des Bartholomäus, einem der zwölf Apostel. Im ersten Jahrhundert predigt er in Armenien und bekehrt den Königshof zum Christentum. Die Anhänger der geschassten Götzen und Astyages, der Bruder des konvertierten König Polymios, bringen ihn in ihre Gewalt. Er wird geschlagen, gehäutet und gekreuzigt. Vielfältig und weit verbreitet sind die Abbildungen, die Bartholomäus mit seiner abgezogenen Haut zeigen. Unter anderem stösst man in den Malereien von Michelangelos Sixtinischer Kapelle auf ihn. Die Tradition entsetzlicher Gewaltdarstellungen in christlichen Geschichten wirkt bis heute nach: Auch in Mel Gibsons «Passion of the Christ» werden dem Gottessohn mit Geiseln die Haut am Rücken aufgerissen.
Enthäutung in Amerika
Jenseits des Atlantischen Ozeans bedienen sich die Azteken des Schindens: Sie sollen ihrem Vegetations- und Kriegsgott Xipe Totec Menschenopfer dargebracht haben. Sein Name bedeutet auf Deutsch so viel wie «Un-
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ser Herr, der Geschundene». Gemäss den aztekischen Mythen hat er sich selbst die Haut abgezogen, um damit die Menschheit zu ernähren. Dementsprechend wird er mit rotem Körper und seiner übergeworfenen Haut abgebildet. Jeweils im Frühjahr wird ein Fest zu seinen Ehren gegeben, in dessen Rahmen Kriegsgefangenen die Haut abgezogen wird. Mit diesen Häuten kleidete sich der Oberpriester. Das Ritual hat auch Mel Gibson erneut begeistert: Sein «Apocalypto» kann sich mit «Passion of the Christ» in Sachen Gewaltdarstellung durchaus messen. Die Azteken sind auch dem Skalpieren zugeneigt, einer gewaltsamen Handlung, die später in Nordamerika eine Rolle spielen wird im Konflikt zwischen europäischen Siedlern und den Ureinwohnern. Das Bild des brutalen Indianers, der schutzlose Zivilisten skalpiert, stimmt nicht ganz, denn die Europäer greifen genauso zu dieser Praxis. Lokale Regierungen schreiben Skalpprämien aus, mit schlimmen Folgen: Friedliche Stämme, Frauen und Kinder werden bevorzugt niedergemetzelt, da deren Skalps leichter zu holen sind. Das Skalpieren von Frauen erinnert uns zudem an den anfangs erwähnten «Maniac».
Rache der Puppen
Das Schinden kennt auch im Alpenraum seine Varianten, zum Beispiel in der Sage des Sennentuntschi. Diese erzählt, wie Sennen in der Einsamkeit der Alpen auf die Idee kommen, sich eine Frau zu basteln. Die Puppe muss allerlei Schandtaten über sich ergehen lassen. Schliesslich wird sie leben-
dig und rächt sich, indem sie den Sennen die Haut abzieht. Die Sage wird immer wieder in Literatur, Theater und Film aufgearbeitet. Michael Steiners erfolgreicher Horrorthriller «Sennentuntschi» ist streng genommen keine Verfilmung der Sage, diese bietet aber den Hintergrund für die Geschichte: Drei Männer auf einer Alp halten im Absinthrausch eine Ausreisserin für die lebendig gewordene Puppe und missbrauchen sie. Sie finden ein grässliches Ende, als sie enthäutet und ausgestopft werden. Sie selbst werden zu Puppen. In Steiners Film, der voller Anspielungen und Zitate auf das Horrorgenre ist, wirken auch Ed Gein, «Psycho» und «The Texas Chainsaw Massacre» nach. Die Schilderungen des Enthäutens in geschichtlichen, mythologischen oder sagenhaften Berichten haben die Menschen über die Jahrhunderte immer wieder zu drastischen Darstellungen inspiriert. Das Schinden hat bis heute nichts von seinem Schrecken verloren und ist ein beliebter Effekt im modernen Horrorkino. Es geht aber nicht nur um die Grausigkeit der Darstellung allein: Indem die Killer ihren Opfern die Haut abziehen, töten sie sie nicht einfach, sondern berauben sie ihrer Identität. Unsere Haut bestimmt unser Aussehen, wie wir nach aussen hin wirken, welches Bild wir von uns selbst machen. Die schrecklichste Szene in «The Texas Chainsaw Massacre» ist vielleicht jene, in der Leatherface der letzten Überlebenden seine neuste Maske präsentiert – sie besteht aus der Kopfhaut eines ihrer Freunde. r Text Gregor Schenker, Illustration Melanie Imfeld
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UNIPOLITIK
Links, Cédric, Marsch Cédric Wermuth, vormals «Enfant terrible der Schweizer Politik» genannt, hat sein Studium pausiert und ist im Nationalrat vorerst sesshaft geworden. StudiVersum hat mit ihm ein Interview im Café des Bundeshauses über Occupy, das UniversitätsBiotop, die GLP und die Überwindung des Kapitalismus geführt. StudiVersum: Du wohnst ja immer noch in einer WG. Wie organisiert Ihr Eure Putzaktionen? Cédric Wermuth: Wir haben tatsächlich jemanden angestellt, der bei uns regelmässig die Gemeinschaftsräume putzt. Was wir selbst machen, sind unsere Zimmer und das Entsorgen. Und letzteres klappt dementsprechend auch suboptimal. Einmal im Jahr räumen wir den Estrich aus und das ganze Gerümpel aus dem Haus; wir haben eben einen riesigen Estrich, was dazu verlockt, wirklich alles dort abzustellen. Wir haben uns im Hinblick auf die ganze Occupy-Bewegung gefragt, warum die Studenten heute so «handzahm» sind. Den Unterschied machen zwanzig Jahre neoliberale Gehirnwäsche. Der politische Mainstream hat weite Teile der Gesellschaft bewusst entpolitisiert. Die Idee, dass sich jeder möglichst um sich selbst kümmern soll, führt dazu, dass es kollektives Handeln immer weniger gibt. Das spärliche Engagement in Vereinen zum Beispiel ist kein Zufall, die Selbstverständlichkeit gibt es heute nicht mehr. Meine Generation erwartet vom politischen System keinen Veränderungsimpuls mehr; politische Lethargie ist die Folge. Man hat den Menschen eingetrichtert, die Politik könne nichts gegen die «Sachzwänge» der Wirtschaft machen. Ich bin – global betrachtet – nicht enttäuscht von der Occuppy-Bewegung. Die Bewegung ist anschlussfähig, in fünf Jahren oder vielleicht in zehn.
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Wie kann man bei den Studenten den Willen wiedererwecken, etwas politisch zu bewegen? Der Entscheid zum Widerstand ist letztendlich ein individueller. Aber die Linke muss Überzeugungsarbeit leisten. Denn von der Möglichkeit politischer Veränderung überzeugt man nur, wenn man wirklich etwas bewegt – das ist das Mühsame an der politischen Arbeit. Das heisst: versuchen, scheitern, nochmals versuchen, besser scheitern. Als politische Bewegung muss man die politische Aktion vor allem als pädagogische Aufgabe verstehen. Engagement muss spürbar das eigene Umfeld verändern, diskutieren alleine reicht nicht. Es liegt am Schluss oft an einem kleinen Kern, der eine Geschichte vorantreibt. Hast Du dich während deiner «aktiven» Studienzeit an der Uni Zürich für die universitätsinterne Politik interessiert? Nein, die Uni war nicht mein Biotop. Ich war auch immer nur so ein Schmalspurstudent, mein Hauptengagement lag ausserhalb der Uni. Ich fand, dass meine Zeit an anderen Orten besser eingesetzt ist als im Studierendenrat. Der StuRa ist leider ein zahnloses Gremium. Das liegt allerdings weniger an seinen Mitgliedern als an der fehlenden institutionellen Einbindung in die Entscheidungsprozesse der Uni. Hast du denn politisch gesehen Kontakt zum Universitäts-Biotop? Ja, über den Verband der Schweizer Studierendenschaften. Die Jungen in der Fraktion arbeiten eng mit dem VSS zusammen; aktuell versuchen wir mit allen Mitteln die Erhöhung der Studiengebühren zu verhindern. Es ergeben sich auch Kontakte zu Studenten im Rahmen universitärer Veranstaltungen; ich werde relativ häufig eingeladen, lustigerweise noch nie von der Universität Zürich, dafür bereits mehrmals nach St. Gallen. Dort bin ich dann eine Art Anschauungsobjekt, wenn sie einen Linken für eine Debatte brauchen (lacht). Aber mich reizen diese Debatten sehr, dafür muss man seine Argumente am besten vorbereiten. Siehst Du Dich jetzt als Nationalrat selbst als Teil des «Establishments»? Ja, wahrscheinlich ist man das, das ist schwer abzustreiten. Ich glaube, die Gefahr, sich von der «Basis» zu entfernen, ist wirklich real. Du kannst Dich mit dieser Welt hier 24 Stunden beschäftigen, ohne Probleme. Ich muss sehr bewusst versuchen, mich selber zurückzubinden. Ich habe das Gefühl, dass ich noch irgendwie «Bodenhaftung» habe, aber beurteilen müssen das natürlich andere.
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Im Nationalratsalltag zeigt sich ja wahrscheinlich das «wahre Gesicht» der GLP und BDP; beide waren recht profillos und hatten bei der Wahl von diesem «Piraten-Effekt» ziemlich profitiert. Es sind bürgerliche Parteien. Gar keine Frage bei der BDP; die unterscheiden sich von der SVP-Linie nur mit kleinen Abweichungen. Und die GLP ist wirtschafts- und finanzpolitisch eine stramm bürgerliche Partei, Punkt. Beide tragen auch fast geschlossen die unmenschliche Asylpolitik mit. Ich vermute, dass gerade die GLP von vielen Linken aus Versehen gewählt wurde, in der Überzeugung, es sei eine linke Partei. Es hat sich gezeigt, dass sie es definitiv nicht ist. Grün und liberal, das klingt gut und ist eine schlaue Marketingüberlegung. Aber sie ist keine Alternative zu den bestehenden bürgerlichen Parteien und auch keine Alternative zu den Grünen. Wenn man grüne oder links-ökologische Politik wählen will, muss man immer noch die SP oder die Grünen wählen. Und was findest Du toll an der SVP? Nichts. Ich glaube nicht, dass es etwas gibt, das mich an der SVP begeistern könnte. Das Ziel ist eine Gesellschaft ohne so reaktionäre Kräfte. Ich würde nichts vermissen, wenn es sie nicht gäbe. Ich halte nicht viel von einem blinden Glauben an den Pluralismus. Die Politik der SVP schadet direkt der gesellschaftlichen Mehrheit. Allerdings habe ich mich anfangs vor allem über Abgrenzung definiert: Die SVP hat mich politisiert. Vielleicht ist sie langfristig für die «Linken» sogar ein Glücksfall. Das werden wir in zehn Jahren sehen. Die folgende Frage ist sicher schon hundert Mal gestellt worden: «Überwindung des Kapitalismus»…? Es geht um die Demokratisierung unserer
Gesellschaft, vor allem um die Demokratisierung der Wirtschaft. Die heutige Politik und herrschende Ideologie trennen streng zwischen der politisch-bürgerlichen Sphäre und der Sphäre der Privatmacht über Produktion und Verteilung, wenn auch in der Realität gar nicht möglich. Die Geschichte der Menschheit ist eigentlich eine Geschichte der Abschaffung von «privatisierter» Macht. Was nach den bürgerlichen Revolutionen und den 68ern noch fehlt, ist die Abschaffung der privaten Verfügungsgewalt über ökonomische Macht. Hier steckt die Linke in einer ideologischen Blockade: Wir sprechen über eine Re-Regulierung des Finanzsystems, aber das grundsätzliche Problem der Besitzverhältnisse wird nicht aufgelöst. Solange das System in privaten Händen ist, tendiert es dazu, die Interessen der Kapitalbesitzer höher zu werten als das Interesse der Mehrheit. Wir stehen vor zwei Aufgaben: Auf der einen Seite geht es darum, das Kräfteverhältnis zwischen der lohnabhängigen Mehrheit und der besitzenden Minderheit umzukehren, und auf der anderen darum, ideologische Aufklärung zu betreiben. Was machst Du, wenn Du deinen Abschluss hast? Ich muss erst mal den Abschluss haben. Promovieren kann ich mir nicht vorstellen. Wenn alles normal läuft, dürften die nächsten zehn Jahre mit parlamentarischer Arbeit verplant sein. Man weiss zwar nie, es könnte auch schon nach vier Jahren vorbei sein, aber ich hoffe es einmal nicht. Was danach kommt weiss ich nicht. Ich glaube, dass wir in den nächsten Jahren eine relativ starke Veränderung in der Gesellschaft brauchen. Ich hoffe, dass sie kommt und dass ich hier daran mitarbeiten kann. In welcher Funktion ist nicht so relevant. r Text René Köhne, Bild Filip Dingerkus
Cédric Wermuth spricht sich für finanzielle Transparenz bei Parlamentariern aus. Konsequenterweise gibt er auf seiner Webseite Einblick in seine Einkommenssituation. Für seine Arbeit als Parlamentarier von Januar bis September 2012 deklariert er ein durchschnittliches Monatseinkommen von knapp 9‘000 Franken. Auf www.cedricwermuth.ch kann man zudem einen Blick in seine Steuerveranlagung von 2010 werfen. Unser Schweizer Sackmesser musste am Eingang des Bundeshauses beim Sicherheitsdienst abgegeben werden und konnte nach dem Aufenthalt wieder abgeholt werden. Dies bedeutet, dass Besucher des Bundeshauses erst mit dem Verlassen des Bundeshauses wieder zu richtigen Schweizern werden.
REPORTAGE
Tu was! Gute Vorsätze scheitern häufig an den Hürden des Alltags. Was aber, wenn es eine einfache Möglichkeit gäbe, die Welt ein klein bisschen besser zu machen? Wenn der Aufwand derartig gering wäre, dass wir ihn nicht einmal bemerken würden? Morgens, halb zehn in der Migros: «Haben Sie eine Cumuluskarte?» Die Frage hat bereits einen derartigen Kultstatus erreicht, dass sie in jeden ernstzunehmenden Reiseführer über die Schweiz unter der Rubrik «Unentbehrlicher Wortschatz» zu finden sein sollte. Wie wird jetzt aber aus der täglichen Einkaufstour eine gute Tat? Durch die auf der Kundenkarte gesammelten Cumuluspunkte werden den Kunden 1 Prozent des Einkaufswerts in Form von Gutscheinen zurückerstattet. «Die Idee fand ich interessant», erklärt die 21-jährige Debora Buess, die zeitweise als Kassiererin beim orangefarbenen Riesen arbeitete. «Aber für mich
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persönlich hat es sich kaum gelohnt, alle paar Monate fünf Franken zurückzubekommen.» Durch ihr politisches Engagement – Buess ist Mitglied der Jungen Grünen Schweiz – wurde sie darauf aufmerksam, dass es durchaus auf diese kleinen Beträge ankommen kann. «Es gibt Leute, die auf diese fünf Franken angewiesen sind. Beispielsweise Nothilfebezügerinnen und Nothilfebezüger, die mit acht Franken am Tag auskommen und davon Nahrungsmittel, Kleidung und Hygieneartikel bezahlen müssen.» Buess, die Geologie an der Universität Bern studiert, arbeitet seit 2009 mit dem Solidaritätsnetz Ostschweiz zusammen. Das Solidaritätsnetz Ostschweiz setzt sich für eine menschenwürdige Asyl- und Migrationspolitik ein und unterstützt Nothilfebezüger. «Ich kannte das Solinetz bereits», erklärt Buess, «ich wusste, dass die Hilfe dringend nötig ist und bei den richtigen Menschen ankommt! Das Projekt stellt einen Gegenpol zu der sich immer mehr verschärfenden Asylpolitik dar.»
«Wir sind sehr froh über die Zusammenarbeit mit der Migros!»
2011 lernte Debora Buess die Zürcherinnen Cora Dubach und Sereina Roffler kennen, die die solidarische Cumuluskarte (Solikar-
te) auch in Zürich einsetzen wollten. Die solidarische Cumuluskarte war der Migros in der Zwischenzeit nicht entgangen. Buess erhielt im Januar 2012 einen Brief, in dem die hohen Beträge beanstandet wurden. Die grossen Summen deuteten darauf hin, dass die Karte nicht innerhalb eines Haushalts genutzt werde. Dies widerspräche den Allgemeinen Geschäftsbedingungen und die Karte sollte gesperrt werden. Obwohl die Migros das Projekt zunächst nicht weiterlaufen lassen wollte, setzten sich die drei jungen Frauen monatelang dafür ein. Mit Erfolg! Die Solikarte wird mittlerweile von der Migros akzeptiert. «Wir sind sehr froh über die Zusammenarbeit mit der Migros», berichtet Buess. Durch kleine Gesten kann also durchaus Grosses bewirkt werden; so konnten bis heute dank der Initiative der drei jungen Frauen schon über 14'000 Franken in Form von Gutscheinen an Bedürftige verteilt werden. Wie es weiter geht? «Wir möchten das Projekt national noch bekannter machen.» Auf der langen To-Do-Liste steht eventuell auch eine Zusammenarbeit mit Coop. Bisher hat der Grossverteiler eine entsprechende solidarische Supercard abgelehnt. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Vielleicht bald auch mit Deiner Unterstützung? Es geht ganz einfach: die Solikarte be-
stellen, beim nächsten Einkauf in der Migros vorweisen und Punkte für einen guten Zweck sammeln.
«Save the world – one click at a time»
Wer sogar zu faul dazu ist, das Haus zu verlassen, und die Welt im Pyjama umkrempeln will, kann sich vielleicht für eines dieser beiden Angebote im Internet begeistern. Anstatt Google oder Yahoo zu benutzen, können User etwa auf «soziale Suchmaschinen» umsteigen. Werbung im Internet ist ein Milliardengeschäft, das sich Hilfsorganisationen immer öfter zunutze machen. Das Prinzip ist einfach: Für jede getätigte Suche wird ein gewisser Betrag für einen guten Zweck gespendet. Die Suchmaschine Goodsearch.com, die mit Yahoo zusammenarbeitet, bietet zudem die Möglichkeit, gezielt nach Fotos und Videos zu suchen. Von den Werbeeinnahmen gehen 50 Prozent an diverse Hilfsorganisationen; bisher sind über neun Millionen US-Dollar auf diesem Weg zusammengekommen. Ripple.org, das von vier australischen Studenten entwickelt wurde, spendet gar den Gesamtbetrag, wobei eine Suche zwischen 0.01 und 0.2 Australische Dollar generiert. Givebackmail.com funktioniert ebenfalls dank Werbeeinnahmen, von denen
25 Prozent an unterschiedliche Hilfswerke gehen. Je mehr E-Mails von dem Provider aus gesendet werden, desto mehr Geld fliesst zugunsten der ausgewählten Organisation. Givebackmail.com arbeitet zudem mit vielen bekannten E-Mail-Providern wie Hotmail und Gmail zusammen, so dass alte E-Mail-Adressen oft behalten werden können. Das Verwalten mehrerer E-Mail-Adressen zugleich ist ebenfalls möglich. Bei diesem grundsätzlich englischsprachigen Service stellt sich leider das Problem der Umlaute, die (noch) nicht korrekt angezeigt werden. «Wir arbeiten daran!» erklärt Sam Yadegar, einer der Gründer von Givebackmail.com auf Anfrage.
Einfach weiterhin tun, was wir ohnehin schon tun
Das alles ist ja schön und gut, aber bringt das wirklich etwas bei den winzigen Beträgen, die dadurch eingenommen werden? Ich habe das mal nach dem altbekannten mathe-
matischen Grundgesetz für den Alltagsgebrauch (umgangssprachlich: «Handgelenk mal Pi») durchgerechnet. Auf Google werden über eine Milliarde Suchen pro Tag durchgeführt. Jetzt stellen wir uns rein hypothetisch vor, dass jede Suche einen Rappen für eine wohltätige Organisation generieren würde. Das wären eine Million Franken pro Tag. Selbst wenn wir nur gerade ein Prozent davon nehmen (beziehungsweise wenn 1 Prozent der User soziale Suchmaschinen nutzen würden), wären es immer noch 10‘000 Franken. Täglich werden übrigens um die 30 Milliarden (nach Abzug von 90 Prozent Spam) E-Mails verschickt. Wenn wir dieselbe Formel wie oben anwenden, ergäbe das drei Millionen Franken pro Tag für den guten Zweck. Und das ohne irgendeinen Mehraufwand, indem wir einfach weiterhin tun, was wir ohnehin schon tun. Und das Beste daran: Es lässt sich ganz simpel in den Alltag integrieren! r Text Evelin Meierhofer, Bild Tamara Widmer
Du möchtest die Solikarte unterstützen? Bestelle heute noch deinen Code unter solikarte.ch. Die Suchmaschinen ripple.org und goodsearch.com versorgen Dich mit allen nötigen Informationen aus dem grossen weiten Web und mit givebackmail.com machst Du in Zukunft nicht nur dem Empfänger Deiner E-Mail eine Freude.
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nbrett lieg t, he üc K m re Ih f au e di l, be ie Die Zw d gepf legt . w urde monatelang gehegt un Setzling, bevor das
: Er kontrolliert den Alles beginnt in den Händen des Gemüsebauers Von nun an wird die kleine Zwiebel von d. wir et ett geb e Erd e ker loc die in n che änz Pfl et und gewärmt. Doch das alles fleissigen Arbeitern bewässert, gedüngt, belüft egt, bis der Bauer einen braunen reicht ihr nicht. So wird sie tagein, tagaus geh muss jetzt möglichst schnell aus lle Kno Die t. enn erk d Fel dem r übe er imm Sch rend Tagen gleichmässig von der Erde. Nach der Ernte wird die Zwiebel wäh fernen die äusseren Schalen, ent de Hän e ckt chi Ges t. kne roc get ten Sei n alle eschnitten. Vom Bauer ein das Kraut am Zwiebelhals wird vorsichtig abg Geschäft geliefert. Dor t zupft ins l ebe Zwi die d wir rt, olie nkp bla l Ma tes letz ste ab. ihr eine Angestellte, überschüssige Schalenre
nze Arbeit nic ht Sorgen Sie da für, dass die ga as Gutes aus der Zwiebel: umsonst war. Machen Sie etw Mit den Rezepten , Tipps un der Saiso nk üche.
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d Hintergru nd berichten
unter Jetzt Abo bestel len abo w w w.saison .ch /de/ oder 0848 877 833. r Fr. 39.– 12 Ausgaben für nu
IMPRESSUM | 2012.11 HERAUSGEBERIN:
Campus Lab AG Eschenring 2 6300 Zug CHEFREDAKTOR:
Filip Dingerkus REDAKTOREN DIESER AUSGABE:
Filip Dingerkus, Mario Fuchs Cécile Imhof, Melanie Keim René Köhne, Julia Krättli Viviane Lichtenberger, Nora Lipp Evelin Meierhofer, Linda Mülli Claudia Piwecki, Gregor Schenker LAYOUT:
Aline Dallo BILDREDAKTION:
Melanie Imfeld, Tamara Widmer ILLUSTRATION:
Melanie Imfeld, Gregor Schenker FOTOGRAFIE:
Beat Blättler, Filip Dingerkus Melanie Imfeld, Tamara Widmer LEKTORAT:
Katrin Rychener DRUCK:
Vogt-Schild Druck AG KONTAKT:
Campus Lab AG Zähringerstrasse 51 8001 Zürich Tel: +41 44 201 16 57 Fax: +41 44 201 16 50 www.campuslab.ch info@campuslab.ch
Leserbrief zur Ausgabe 45: Abseits (Interview mit Roger Köppel)
«Bravo, ist doch nicht alles nur linker Stuss, der an der UNI geschrieben wird. Ihr macht guten Journalismus!» Für das Lob möchten wir uns gerne bedanken, aber nicht ohne die Erwähnung, dass für uns politische Positionen keine Indikatoren für journalistische Qualität sind. Wir haben uns immer bemüht, interessante Beiträge zu liefern, egal ob dabei «Linke» oder «Rechte» zu Wort gekommen sind. Um diesbezüglich Ausgewogenheit herzustellen, durfte zuletzt Cédric Wermuth seinen «Stuss» verzapfen.
LESERBRIEFE:
leserbriefe@studiversum.ch StudiVersum erscheint sechsmal jährlich in einer Auflage von 25 000 Exemplaren an allen Universitäten und Fachhochschulen der Deutschschweiz. Alle Rechte vorbehalten; Nachdruck, Aufnahme in OnlineDienste und Internet und Vervielfältigung auf Datenträgern wie CD-Roms etc. nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung der Herausgeberin.
Alles hat seine Zeit. Es gibt eine Zeit der Freude, eine Zeit der Stille, eine Zeit der Trauer und eine Zeit der Erinnerung. Viel zu schnell ist es von uns gegangen. In Gedenken an wunderschöne Momente und einzigartige Ausgaben.
StudiVersum 2005-2012
Es Ruhe in Frieden oder möge möglichst bald von den Toten auferstehen.
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EXTREM
Harry ohne Gnade Sämtliche Harry-Potter-Filme am Stück zu schauen ist eine Herkulesaufgabe. Es braucht einen bequemen Stuhl, Durchhaltevermögen und Kaffee in rauen Mengen. Mit Harry Potter konnte ich nie viel anfangen. Ich hab die ersten zwei oder drei Bücher gelesen, ich hab den ersten Film gesehen. Hobbits fand ich spannender als Zauberlehrlinge. Nichtsdestotrotz ist der Junge mit der Narbe ein Phänomen, an dem man kaum vorbeikommt. Allein die ständigen Diskussionen im Umfeld treiben einen zur Verzweiflung. Zeit also, Verpasstes nachzuholen. Inzwischen muss man nicht einmal die ganzen Romane lesen, sondern kann sich den Schuss komprimiert in Form der Verfilmungen geben. Zusammengenommen kommt die Reihe auf eine Laufzeit von ca. 20 Stunden. Mit Pinkelpausen und Zwischenverpflegung bringt man einen knappen Tag herum. Das Experiment beginnt morgens um neun Uhr. Mensch, sahen Radcliffe und Co. jung aus, damals im fernen Jahr 2001! Ansonsten ist «Harry Potter und der Stein der Weisen» immer noch so kitschig und kindisch, wie ich ihn in Erinnerung habe. Allen voran die bösen Dursleys (Harrys Pflegefamilie) sind unerträglich; als Muggel fühle ich mich persönlich beleidigt. Gewinner der Herzen ist Professor Snape: ein grundsympathischer Kerl, der Harry so wenig leiden kann wie ich. Der Eindruck, den der erste Teil hinterlässt, relativiert sich mit dem Fortschreiten der Reihe jedoch. So wie die jugendlichen Protagonisten älter werden, wird der Ton der Filme erwachsener – und brutaler. Die Dementoren entwickeln sich schnell zu meinen Lieblingsmonstern. Snape bleibt der coolste Typ. Mit der Zeit entdecken Harry und seine Freunde die Liebe, auch sonst wird alles immer komplizierter. Mehr als einmal beschleicht mich der Verdacht, dass man ohne Kenntnis der Bücher aufgeschmissen ist. Das hängt vielleicht auch mit meiner abnehmenden Aufnahmefähigkeit zusammen. Kann Voldemort, der alte Umstandskrämer, nicht endlich vorwärts machen? Als endlich das zweiteilige Finale naht, zeigen sich körperliche Ausfallerscheinungen. Es ist nach Mitternacht. Der Sessel vorm Fernseher ist unbequem, der Rücken schmerzt. Der halbe Liter Kaffee im Magen hält zwar wach, macht aber Kopfschmerzen. Durchhalten! Irgendwann läuft endlich der letzte Abspann und ich lasse mich ins Bett fallen. Harry Potter kennt keine Gnade und verfolgt mich bis in meine Träume. r Text Gregor Schenker, Bilder Melanie Imfeld
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WIE ANNO DAZUMAL
Der letzte Tipp Das Geheimnis Soll ich oder soll ich nicht, habe ich mich gefragt, als ich die traurige Nachricht gehört habe, StudiVersum werde eingestellt. Soll ich das Geheimnis lüften oder nicht. Seit nunmehr fünf Jahren gebe ich besorgten Studenten an dieser Stelle Ratschläge fürs Leben und seit nunmehr fünf Jahren treffen in der StudiVersum-Redaktion regelmässig Leserbriefe ein, in denen jemand fragt: Gibt es Horst wirklich? Jetzt ist es an der Zeit, das Geheimnis zu lüften. Die Wahrheit ist: Ja, es gibt mich wirklich. Ich heisse Horst und bin mittlerweile 76 Jahre alt. Allerdings: Ich habe mir erlaubt, das eine oder andere meiner Biographie zu beschönigen. Ich hoffe, ihr nehmt es mir nicht übel. Schliesslich musste ich verhindern, dass Heerscharen von Studenten meinen Laden stürmen. Denn die Wahrheit ist, dass ich zwar ein interessierter Zeitgenosse bin, aber kein Student oder Hörer an der geisteswissenschaftlichen Fakultät, wie ich euch stets glauben machen wollte. Nein, ich betreibe an der Münzgasse in Bern einen kleinen Spezereiladen. Dort verkaufe ich Dörrfrüchte aus Übersee, seltene Teesorten, glasierte Mandeln und dergleichen, handgezogene Kerzen, Gewürze aus aller Welt sowie zahlreiche alte Hausmittelchen. Ich kenne mich also durchaus aus im Kampf gegen die Tücken des Alltags. Mancher sagt, es sei an der Zeit, mich bald zur Ruhe zu setzen, aber daran denke ich noch lange nicht. Ich werde weiterchrampfen, bis mich der Herrgott zu sich bestellt. Helfen tue ich euch weiterhin gerne – ihr müsst in Gottes Namen nun halt den Weg an die Münzgasse auf euch nehmen. Aber keine Sorge: Ich werde euch empfangen, eine dunkle, dampfend heisse Schokolade auf den Tresen stellen und euch zuhören. StudiVersum danke ich an dieser Stelle für die Möglichkeit, hier schreiben zu dürfen. Wir werden uns wiedersehen, euer
Horst
Horst, 76, ist allzeit bereit: Ob im Haushalt oder in der Garage, beim Einkaufen oder an der Uni, Horst hilft! Als Hörer besucht er regelmässig Vorlesungen und weiss daher bestens Bescheid, was den Jungen von heute unter den Nägeln brennt. Seine Tipps sind längst schon keine Geheimtipps mehr. Deshalb: Horst ausschneiden, an den Kühlschrank oder die Pinnwand heften, dann kann nichts mehr schiefgehen!
34 STUDIVERSUM | 2012.11
ibiloco Was geht euch unter die Haut? Grapevine mein tattoo goldie bestimmti lieder:) Plum S Piercing gaht under d Huut und chunnt sogar wider fĂźre ;) Plum also eich gahts dur dure.. ussert es dermal anchor
35  STUDIVERSUM | 2012.11
ibiloco Welches ist das beste Sprichwort mit dem Wort Haut? iboloco Aus einer Igelhaut macht man kein Brusttuch? Muskmelon never heard PupCake Uf di fuul huut liege
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