Mediendienst 15 20. November 2014
40 Jahre Europ辰ische Menschenrechtskonvention (EMRK) in der Schweiz
Grundrechte werden in Frage gestellt Isabelle Bindschedler
Der Mediendienst der Caritas Schweiz ist ein Angebot mit Hintergrundtexten zur freien Verwendung. F端r R端ckfragen stehen die Autorinnen und Autoren gerne zur Verf端gung.
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40 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in der Schweiz
Grundrechte in Gefahr Vor 40 Jahren ratifizierte die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Seither wurden viele Grundrechte in die Bundesverfassung aufgenommen. Dieser doppelte Schutz der Grundrechte durch die Bundesverfassung und die EMRK garantieren eine effektive Durchsetzung wichtiger Grundfreiheiten. Mit der Forderung „Landesrecht vor Völkerrecht“ der SVP stehen diese Errungenschaften in Gefahr. Die geltenden Schutzbestimmungen aus den völkerrechtlichen Verträgen könnten jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Die EMRK hat die in der Bundesverfassung verankerten Grundrechte massgeblich geprägt. Seit der Ratifizierung der EMRK durch die Schweiz wurden wichtige Grundrechte wie zum Beispiel das Recht auf Freiheit und Sicherheit, die Garantie eines fairen Gerichtsverfahrens, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit und das Verbot von Diskriminierung im Rahmen der Totalrevision im Jahre 1999 in der Bundesverfassung aufgenommen. Sie bieten Schutz vor staatlicher Willkür und gelten sowohl für Schweizerbürgerinnen und Schweizerbürger wie in der Schweiz lebende Ausländerinnen und Ausländer. Und vor allem: Sie garantieren auch den Schutz von Minderheiten. Der Menschenrechtsschutz in der Schweiz ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Aufgrund diverser Angriffe von rechtsbürgerlichen Akteuren und Parteien auf die Geltung dieser Konvention für die Schweiz und der stetigen medienwirksamen Stimmungsmache „Volk gegen die Elite“ und „Einheimische gegen Fremde“ wird der Boden bereitet, diese Errungenschaften zu schwächen. Aufgrund der Umkehr des Grundsatzes Völkerrecht vor Landesrecht, wie die SVP es mit ihrer neuesten Initiative beabsichtigt, können durch einen Mehrheitsbeschluss geltende Schutzbestimmungen, welche sich aus den völkerrechtlichen Verträgen ergeben, jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Dadurch wird zum Beispiel eine verstärkte Einschränkung des Rechts auf Familienleben für bestimmte Ethnien vorstellbar, ihr Zugang zu Sozialhilfe oder weiteren Sozialversicherungsleistungen könnte eingeschränkt werden. Für Betroffene wäre es nicht mehr möglich, sich wie bisher auf die EMRK und andere völkerrechtliche Verträge zu berufen – zum Beispiel auf die Kinderrechtskonvention oder auf die Konvention zum Schutz von Behinderten.
EMRK muss erhalten bleiben Caritas Schweiz hilft gemäss ihrem Leitbild Menschen in Not ungeachtet ihrer religiösen und politischen Anschauung sowie ihrer ethnischen Zugehörigkeit und engagiert sich gesellschaftspolitisch im Interesse der sozial Benachteiligten. Dies mögen in der Schweiz Minderheiten sein. Aber gerade diese Menschen bedürfen des Schutzes der EMRK. Darum setzt sich Caritas Schweiz für den Erhalt der EMRK ein. Im Alltag der Rechtsberatungsstellen von Caritas Schweiz erfahren die Juristinnen und Juristin immer wieder, wie wichtig die EMRK ist. Zum Beispiel dürfen Familienangehörige von Flüchtlingen, welche bereits in ihrem Heimatland verheiratet waren, bedingungslos in die Schweiz einreisen. Hingegen dürfen in der Schweiz anerkannte Flüchtlinge, welche erst nach ihrer Flucht aus dem Heimatland geheiratet haben, ihre Ehepartnerinnen oder -partner erst dann nachziehen, wenn sie nicht von der
Caritas Schweiz, Mediendienst 15, 20. November 2014
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Sozialhilfe leben. Es hat weitreichende Folgen, wenn man das Recht auf Familienleben (Art. 8 EMRK, Art. 14 BV) von Flüchtlingen an die Voraussetzung der Sozialunabhängigkeit knüpft, zumal für viele Flüchtlingsfamilien das Zusammenleben nur im Asylland des einen Ehepartners möglich ist. Für die Flüchtlinge ist es eine grosse Herausforderung und oft mit Schwierigkeiten verbunden, innerhalb kurzer Zeit hier Fuss zu fassen und finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. Und bis eine finanzielle Unabhängigkeit erreicht ist, gehen wertvolle Jahre für die Integration der nachzuziehenden Familienmitglieder verloren. In den letzten Jahren wurde immer häufiger über Volksinitiativen (zum Beispiel Minarett-Initiative, Verwahrungsinitiative, Ausschaffungsinitiative) abgestimmt, die gegen in der Schweizer Verfassung verankerte Grundrechte sowie gegen die für die Schweiz verbindliche EMRK verstossen. Und weil sie nicht EMRK-konform sind, sind Mehrheitsentscheide des Schweizervolkes dazu nicht immer richtig. Das zeigt sich oft auch darin, dass das Bundesgericht oder der europäische Gerichtshof für Menschenrechte dann Korrekturen vornehmen müssen. Caritas Schweiz ist besorgt über diese gefährliche Entwicklung für die Grundrechte in der Schweiz und ist der Meinung, dass das Schwächen der Grundrechte eine Schwächung der Demokratie, der Rechtssicherheit und Freiheit bedeutet und die Situation von Menschen in Not weiter verschlechtert. Wenn die Schweiz die EMRK missachtet und aufkündigt, gibt sie ihre eigenen Grundwerte preis. Isabelle Bindschedler, Leiterin Abteilung Anwaltschaft, Caritas Schweiz, E-Mail ibindschedler@caritas.ch, Tel. 041 419 23 06
Caritas Schweiz, Mediendienst 15, 20. November 2014