Nationalen Armutskonferenz vom 22. November 2016

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Mediendienst Aus Anlass der Nationalen Armutskonferenz vom 22. November 2016

17. November 2016

Die Nationale Armutskonferenz muss Weichen stellen

Armut vermeiden ist billiger als Armut lindern Hugo Fasel

Statt auf dem Buckel der Armen sparen die Prioritäten richtig setzen

Die Schweiz braucht eine nachhaltige Armutspolitik Bettina Fredrich

Sowohl der Bund als auch die Kantone sind gefordert

Armutspolitik in der Schweiz – was geschehen muss Marianne Hochuli

Appell der Caritas an Bundesrat Alain Berset

Armut bekämpfen in der reichen Schweiz Dokumentation

Der Mediendienst der Caritas Schweiz ist ein Angebot mit Hintergrundtexten zur freien Verwendung. Für Rückfragen stehen die Autorinnen und Autoren gerne zur Verfügung. Download als PDF unter www.caritas.ch/mediendienst (nicht öffentlich zugänglich)


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Die Nationale Armutskonferenz muss Weichen stellen

Armut vermeiden ist billiger als Armut lindern Am 22. November findet in Biel die von Bundesrat Alain Berset einberufene Nationale Konferenz gegen Armut statt. Der Anlass bietet die Gelegenheit, in der Öffentlichkeit verstärkt das bedrängende Problem der Armut zu debattieren. Caritas-Direktor Hugo Fasel benennt die zentralen Herausforderungen, denen sich eine nachhaltige Politik zur Bekämpfung der Armut stellen muss. Während Jahren und Jahrzehnten stand in der Schweiz sozialpolitisch die Schaffung und Ausgestaltung der klassischen Sozialwerke im Vordergrund. Es mussten Lösungen dafür erarbeitet werden, wie die Risiken Alter, Krankheit, Invalidität, Unfall oder Kinderkosten durch geeignete Sozialversicherungslösungen auf gesamtschweizerischer Ebene aufgefangen werden konnten. Aktuell steht die Frage der Altersvorsorge 2020 zuoberst auf der Agenda.

Armut ist die Herausforderung der Zukunft Die Bedeutung der Sozialversicherungen für die Bewältigung wesentlicher Risiken im Laufe des Lebenszyklus ist unbestritten. In den letzten Jahren sind jedoch neue Risiken entstanden: Jährlich werden fast 40’000 Personen ausgesteuert; berufliches Wissen, das bislang am Arbeitsmarkt von Bedeutung war, wird wegen Strukturveränderungen in der Wirtschaft plötzlich nicht mehr gebraucht; ältere Arbeitnehmer/innen haben Schwierigkeiten wieder eine Stelle zu finden; Alleinerziehende, insbesondere Frauen, können oft kein existenzsicherndes Einkommen erzielen. Hinzu kommt, dass in einzelnen Branchen ein Teil der Löhne unter dem Existenzminimum liegt. Als Folge davon nimmt die Armut in der Schweiz ständig zu. Armut ist die zentrale sozialpolitische Herausforderung der Zukunft. Nach den Berechnungen des Bundesamtes für Statistik sind in der Schweiz über eine Million Menschen von Armut betroffen oder bedroht. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Längst nicht alle Menschen können am Gütersegen unserer Gesellschaft teilhaben. Sie sind stattdessen arm und stehen am Rand der Gesellschaft. Und nach wie vor tragen Kinder aus armutsbetroffenen und bildungsfernen Haushalten ein sehr hohes Risiko, als Erwachsene wieder zu den Armen zu zählen: Armut wird in der Schweiz vererbt – einmal arm, immer arm!

Das Recht auf ein menschenwürdiges Dasein Menschen, die in Not geraten, haben ein Recht auf Unterstützung, und sie haben ein Recht auf ein menschenwürdiges Dasein. So steht es in der Bundesverfassung. Der Auftrag an Bund, Kantone und Gemeinden ist klar: Die Existenzsicherung ist Aufgabe und Verpflichtung des Staates. Wie sie konkret ausgestaltet werden soll, ist in den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) formuliert. Offensichtlich ist, dass es zu einem menschenwürdigen Dasein ein finanzielles Existenzminimum braucht. Unverzichtbar ist aber auch die Anerkennung eines sozialen Existenzminimums: Ein Mensch muss trotz seiner Armut am sozialen und kulturellen Leben teilnehmen können.

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Die Sparmassnahmen in den Kantonen und Gemeinden haben jedoch dazu geführt, dass mehrere Kantone Sozialleistungen wie die Verbilligungen der Krankenkassenprämien reduziert haben. Auch in der Sozialhilfe findet ein finanzieller Leistungsabbau statt: Einerseits werden die situationsabhängigen Leistungen gekürzt, und andererseits fehlt den Mitarbeitenden in der Sozialhilfe immer mehr die Zeit für persönliche Beratung und Begleitung von Sozialhilfeempfängern und -empfängerinnen. Es ist inakzeptabel, dass die Staatsfinanzen auf dem Buckel der Armutsbetroffenen saniert werden. Von den vielerorts vorangegangenen Steuersenkungen haben bekanntlich auch nicht in erster Linie die Armen profitiert.

Armutsbekämpfung ist sowohl Sache der Kantone als auch des Bundes In der breiten Bevölkerung ist das Bewusstsein gewachsen, dass die tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturveränderungen neue Risiken hervorgebracht haben und dass das Armutsrisiko stark gestiegen ist. Das Bundesparlament hingegen verweigert sich der Frage der Armutsbekämpfung immer noch weitestgehend. Entweder redet es die Armutsrealität klein, oder diese wird als Aufgabengebiet an die Kantone abgeschoben. Sie seien für die Sozialhilfe verantwortlich und deshalb für die Armut zuständig, heisst es. Damit geht eine enorme Verkürzung der Armutsproblematik einher. Es wird unterstellt, dass Armut primär durch Sozialhilfe bekämpft und beseitigt werden könne. Die Sicht der Caritas ist eine grundlegend andere: Armut muss an den Wurzeln angepackt und kann nicht bloss durch Zuschüsse aus der der Sozialhilfe abgefedert werden. Armutsbekämpfung verlangt Investitionen. Diese müssen bei den Ursachen der Armut ansetzen, und sie sind nicht einfach eine Angelegenheit der Kantone, auch der Bund und die Wirtschaft sind gefordert.

Forderungen der Caritas -

Um die Armut in der Schweiz konsequent zu bekämpfen, braucht es im Wesentlichen folgende Politiken:

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Sozialhilfe: Das Leistungsniveau der Sozialhilfe darf nicht weiter gekürzt werden. Die Richtlinien der SKOS sind durch die Kantone und Gemeinden verbindlich einzuhalten. Das Existenzminimum ist nach unten nicht verhandelbar.

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Bildungspolitik: Viele Menschen, die in Armut geraten, besitzen Bildungsdefizite. Durch Strukturveränderungen sind bisherige wertvolle berufliche Fähigkeiten plötzlich nicht mehr gefragt und müssen durch neue Kenntnisse ersetzt werden. Gezielte Weiterbildung und Nachholbildung sind notwendig. Dazu braucht es von Seiten des Bundes ein stärkeres Engagement und die Entwicklung von Lösungsansätzen.

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Familienpolitik: Die Analyse der Familienarmut zeigt, dass vor allem Alleinerziehende einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt sind. Armutsgefährdet sind aber auch Familien mit mehreren Kindern. Familienarmut darf nicht sein. Sie zeitigt negative Langzeitwirkungen, und die Kinder wer-

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den in ihrer Entwicklung in gravierendem Ausmass eingeschränkt. Das zentrale Instrument zur Bekämpfung von Familienarmut sind Ergänzungsleistungen für Familien. Es gibt bereits in einigen Kantonen positive Erfahrungen, der Bund muss nun die Verantwortung für eine gesamtschweizerische Einführung und Mitfinanzierung übernehmen. -

Arbeitspolitik: Langzeitarbeitslosigkeit und Aussteuerung nehmen alljährlich zu. Diesen Menschen fehlt eine Perspektive, sie sind früher oder später auf Sozialhilfe angewiesen. Die Anstrengungen zur Integration arbeitsloser Menschen müssen deshalb verstärkt werden. Dies hat in erster Linie durch die Arbeitslosenversicherung zu geschehen.

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Armutsprogramm: Das Nationale Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut dauert nur noch zwei Jahre und soll 2018 abgeschlossen werden. Die Erfahrungen der ersten Jahre haben gezeigt, dass es notwendig ist, das Wissen und die Erfahrungen zur Armutsproblematik an einer konkreten Stelle des Bundes zu bündeln und mit den verschiedenen Akteuren der Zivilgesellschaft auszutauschen. Das Armutsprogramm des Bundes muss weitergeführt werden.

Investieren und umsetzen! Das Armutsprogramm des Bundes und die Armutsberichte der Kantone haben die Armutsproblematik klar herausgearbeitet. Es ist nun entscheidend, dass der Weg zur Vermeidung von Armut mit Entschiedenheit und Nachhaltigkeit beschritten wird. Gerade angesichts der oft zu vernehmenden Sparparolen muss daran erinnert werden: Es ist langfristig billiger, Armut zu vermeiden als Armut zu bekämpfen oder zu lindern. Hugo Fasel, Direktor von Caritas Schweiz, E-Mail: hfasel@caritas.ch; Tel. 041 419 22 19.

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Statt auf dem Buckel der Armen sparen die Prioritäten richtig setzen

Die Schweiz braucht eine nachhaltige Armutspolitik Ob Sozialhilfe, individuelle Prämienverbilligung oder Schule: Wegen leeren Kantonskassen werden neuerdings in all diesen Bereichen Leistungen abgebaut. Dies wird nicht ohne Folgen für die Schwächsten in unserer Gesellschaft bleiben – ein Armutszeugnis für die Schweiz. Es ist höchste Zeit, die Prioritäten richtig zu setzen. Gegenwärtig sind hierzulande über eine Million Menschen von Armut betroffen oder bedroht. Unter ihnen befinden sich überdurchschnittlich viele Alleinerziehende, Familien mit drei und mehr Kindern sowie Menschen mit geringer Ausbildung. Darunter sind jedoch auch viele ältere Frauen, die in der Vergangenheit den Hauptteil der Care-Arbeit übernommen haben und deshalb nur ungenügend für ihre Rente vorsorgen konnten. Mehr als 120’000 armutsbetroffene Männer und Frauen sind erwerbstätig. Ihr Lohn reicht aber nicht, um die Existenz zu sichern. Sie sind working poor.

Abbau in der Armutsbekämpfung All diesen Menschen garantiert die Bundesverfassung in Artikel 12 das Recht auf Hilfe in Notlagen: «Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind». Bis anhin fehlt allerdings ein Gesetz auf Bundesebene, das dieses Recht auf Existenzsicherung umsetzt. Die Armutsbekämpfung liegt deshalb in der Kompetenz der Kantone. Diese orientieren sich an den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe, den SKOS-Richtlinien. Auf Druck der Kantone wurden die SKOSRichtlinien in den letzten zwei Jahren verschärft. Mit dem Argument, die Sozialhilfe sei zu teuer, wurden zahlreiche Leistungen gekürzt. Das Resultat: Die neuen SKOS-Richtlinien untergraben das soziale Existenzminimum. Gespart wird insbesondere beim Lebensunterhalt für Grossfamilien und junge Erwachsene. In vielen Kantonen wurde zudem die Zulage für Alleinerziehende gestrichen. Das heisst, für Mütter und Väter, welche die Erwerbs- und Betreuungsarbeit alleine bewerkstelligen müssen, werden die finanziellen Ressourcen knapper. Die jüngsten Sparmassnahmen in der Sozialhilfe resultierten also in einem Abbau der materiellen Unterstützung für Armutsbetroffene. Damit nicht genug: Die knappen Kantonsfinanzen erhöhten zudem den Druck in den Sozialdiensten. Auch die Beratung und Begleitung armutsbetroffener Menschen kann immer weniger wahrgenommen werden. Immer öfter passieren Rechtsfehler in der Sozialhilfe, und Armutsbetroffene erhalten die Leistungen nicht mehr, auf die sie Anspruch hätten.

Sparen bei Gesundheit und Bildung Ob Armut in der Schweiz zu- oder abnimmt ist indes nicht nur eine Frage der Sozialhilfepraxis. Zentral sind auch Leistungen, welche der Sozialhilfe vorgelagert sind und ein Abrutschen in die Armut verhindern. Eine dieser Leistungen ist die individuelle Prämienverbilligung. Auch hier haben die Kantone in den letzten Jahren gespart. Gesamthaft verringerten sich die kantonalen Ausgaben für die individuelle Prämienverbilligung zwischen 2010 und 2014 um 169 Millionen Franken. Tausende verloren ihren Anspruch auf Prämienverbilligung. Dies blieb nicht ohne Konsequenzen. So zeigen Studien,

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dass die Belastung durch Krankenkassenkosten für Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen seither deutlich angestiegen ist. Insbesondere Familien mit knappem Budget – also einem Einkommen wenig oberhalb der Armutsgrenze – sind von den Kürzungen betroffen. Gespart wurde im Jahr 2015 zunehmend auch im Bildungsbereich – namentlich im Blick auf die obligatorische Schule. Die Ausgabenkürzungen von 265 Millionen Franken betreffen unter anderem die Unterrichtsbedingungen. So wurden etwa Lektionen gestrichen und Klassen vergrössert. Gebühren auf Unterrichtsmaterialien wurden eingeführt und die Kosten für Schullager auf die Eltern abgewälzt. Bis 2018 sollen weitere 535 Millionen Franken eingespart werden. Die aktuellen Abbaumassnahmen brechen mit Tabus. So soll der Deutschunterricht für Fremdsprachige beispielsweise von den Eltern berappt werden, oder das 10. Schuljahr als Brückenangebot wird fallen gelassen. Dieser Abbau trifft die Schwächsten.

Prioritäten richtig setzen Armut in der Schweiz verschwindet nicht von selbst. Im Gegenteil: Wir wissen heute, dass Armut nachhaltig nur durch eine weitsichtige Politik überwunden werden kann. Statt mittels Leistungskürzungen finanzpolitische Symptombekämpfung zu betreiben, muss künftig in die Prävention von Armut investiert werden. Dazu gehören existenzsichernde Löhne, Ergänzungsleistungen für Familien, Massnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie, Ausbildung und Beruf, niederschwellige Angebote in der Frühen Förderung, Investitionen in Nachhol- und Weiterbildung und Förderung des preisgünstigen Wohnungsbaus. Bund, Kantone und Gemeinden sind gefordert. Die Schweiz hat es in der Hand, als reiches Land die Prioritäten richtig zu setzen. Bettina Fredrich, Leiterin Fachstelle Sozialpolitik, Caritas Schweiz, bfredrich@caritas.ch, Tel. 041 419 23 37

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Sowohl der Bund als auch die Kantone sind gefordert

Armutspolitik in der Schweiz – was geschehen muss Die UNO-Agenda 2030, die von der Schweiz vor einem Jahr in New York unterzeichnet worden ist, will als erstes Ziel die Armut weltweit, aber auch in jedem einzelnen Land bekämpfen. Darum könnte diese Agenda 2030 der Armutspolitik in der Schweiz neuen Schub verleihen. Es braucht jedoch den politischen Willen, Armut als gesellschaftliche Herausforderung anzuerkennen, die notwendigen Daten aufzuarbeiten und die entsprechenden Massnahmen und Investitionen zu tätigen. Ein solch investive Armutspolitik zahlt sich letztlich für die ganze Gesellschaft aus. Vor über einem Jahr, im September 2015, hat die Schweiz in New York die Agenda 2030 unterzeichnet. Sie hat sich damit verpflichtet, die Armut auch in der Schweiz in all ihren Formen zu überwinden. Sie bekennt sich dadurch zu einer Politik, die Armut nicht nur aktiv bekämpft, sondern durch weitsichtige Massnahmen verhindert. Denn die Armutszahlen in der Schweiz sind beunruhigend: Über eine Million sind von Armut betroffen oder von Armut bedroht, im vergangenen Jahr haben fast 38’000 Männer und Frauen ihren Anspruch auf Arbeitslosentaggeld verloren. Und 123’000 Menschen sind trotz Erwerbsarbeit arm. Was ist zu tun?

Die Kantone müssen die Voraussetzungen für eine weitsichtige Armutspolitik schaffen Schweizerische Armutspolitik ist bis anhin weitgehend kantonale Politik und umfasst Bereiche wie die Bildungs-, Gesundheits-, Wohn- oder Steuerpolitik. Um Armut entgegenzuwirken und die richtigen Entscheide treffen zu können, braucht es zunächst verlässliche Daten und Situationsanalysen zur Armut in den Kantonen. Erst die Hälfte der Kantone erstellt heute auf Daten basierende Armutsberichte mit strategischen Zielen und den davon abgeleiteten Massnahmen. Da besteht grosses Verbesserungspotenzial. Fehlende Bildung ist die Hauptursache für Armut. Eine Ausbildung für alle und kontinuierliche sinnvolle Weiterbildungen sowie Nachholbildungen für Erwachsene sind Voraussetzung, um heute in der sich schnell verändernden Arbeitswelt überhaupt noch Fuss fassen zu können. Diese Notwendigkeit ist im Prinzip anerkannt, es wird aber viel zu wenig unternommen. Die Kantone setzen die notwendigen Finanzen nicht ein oder bauen das Stipendienwesen nicht aus. Und es mangelt an erwachsenengerechten Ausbildungsmöglichkeiten, die auch Familienverpflichtungen berücksichtigen. Und schliesslich unterlassen es Unternehmen in vielen Fällen, ihren Mitarbeitenden die notwendigen Weiterbildungen zu ermöglichen. Dies würde sich für ein Unternehmen jedoch lohnen, wie eindrückliche Beispiele selbst von kleinen und mittleren Betrieben zeigen. Erwerbstätigkeit gilt in der Schweiz noch immer als Königsweg, um nicht in Armut zu geraten. Dies jedoch nur, wenn das Einkommen existenzsichernd ist und die Erwerbstätigkeit derart ausgestaltet ist, dass sie mit der Familienarbeit zu vereinbaren ist. Bezüglich Vereinbarung von Beruf und Familie hinkt die Schweiz jedoch weit hinter den Anstrengungen ihrer Nachbarländer her. Die teure familienexterne Betreuung mit der dringend notwendigen Frühen Förderung für Kleinkinder sowie der Aufgabenhilfe für Schulkinder können sich Menschen mit tiefem Einkommen in vielen Fällen nicht leisten.

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Gerade hat es das Parlament verpasst, hier mit einem jährlichen Kredit etwas Abhilfe zu schaffen. Den entsprechenden bundesrätlichen Vorschlag hat das Parlament abgeschmettert. Die grösste Belastung im Budget von Armutsbetroffenen sind die hohen Krankenkassenprämien. Anstatt abzubauen, wie dies die Kantone in den letzten Jahren mehrheitlich getan haben, muss die Krankenkassenprämienverbilligung so ausgebaut werden, dass die Haushalte höchstens acht Prozent ihres steuerbaren Einkommens für Krankenkassenprämien aufwenden müssen. Dieses Ziel hat der Bund zu Beginn der 1990er-Jahre in seiner Botschaft zur Revision der Krankenversicherungen selbst gesetzt.

Es braucht ein verbindlicheres Engagement des Bundes Aber nicht nur die Kantone, sondern auch der Bund muss sich viel intensiver gegen Armut in der Schweiz engagieren. Bis vor wenigen Jahren war Armut in der Schweiz auf Bundesebene ein Tabuthema. Mit der Einführung der nationalen Armutsstatistik und dem nationalen Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut hat der Bund in den letzten Jahren erste Schritte getan, die Armut in der Schweiz anzuerkennen und sichtbar zu machen. Sie genügen jedoch nicht. So ist das Bundesprogramm gegen Armut sehr bescheiden bestückt und läuft 2018 aus. Caritas fordert darum, dass der Bund ein nationales Beobachtungs-, Mess- und Steuerungsinstrument in Form eines schweizerischen Armutsmonitorings einführt. Ein solches Monitoring soll Bund, Kantone und Zivilgesellschaft verpflichten, sich auf verbindliche und messbare Ziele zu einigen, Massnahmen festzulegen und eine regelmässige Evaluation durchzuführen. Marianne Hochuli, Leiterin Bereich Grundlagen und Fachstelle Migrationspolitik, Caritas Schweiz, E-Mail mhochuli@caritas.ch, Tel. 041 419 23 20

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Appell der Caritas an Bundesrat Alain Berset

Armut bekämpfen in der reichen Schweiz Sehr geehrter Herr Bundesrat Die sozialen Herausforderungen, welche die Schweiz bewältigen muss, haben sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte spürbar verändert. Die Bedeutung der Sozialversicherungen für den Umgang mit Risiken wie Alter, Invalidität, Unfall, Krankheit oder Arbeitslosigkeit ist unbestritten. Weniger bewusst ist hingegen die Tatsache, dass es neue Risiken gibt, die durch die bestehenden Sozialversicherungen nur beschränkt aufgefangen werden. Im Zentrum steht das Armutsrisiko. Nach den Berechnungen des Bundesamtes für Statistik sind in der Schweiz über eine Million Menschen von Armut betroffen oder bedroht. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Längst nicht alle Menschen können am Gütersegen unserer Gesellschaft teilhaben. Sie sind stattdessen arm und stehen am Rand der Gesellschaft. Und nach wie vor tragen Kinder aus armutsbetroffenen und bildungsfernen Haushalten ein sehr hohes Risiko, als Erwachsene wieder zu den Armen zu zählen: Armut wird in der Schweiz vererbt – einmal arm, immer arm!

Es gibt das Recht auf ein menschenwürdiges Dasein Menschen, die in Not geraten sind, haben ein Recht auf Unterstützung, und sie haben ein Recht auf ein menschenwürdiges Dasein. So steht es in der Bundesverfassung. Der Auftrag an Bund, Kantone und Gemeinden ist klar: Die Existenzsicherung ist Aufgabe und Verpflichtung des Staates. Wie sie konkret ausgestaltet werden soll, ist in den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) formuliert. Offensichtlich ist, dass es zu einem menschenwürdigen Dasein ein finanzielles Existenzminimum braucht. Unverzichtbar ist aber auch die Anerkennung eines sozialen Existenzminimums: Ein Mensch muss trotz seiner Armut am sozialen und kulturellen Leben teilnehmen können. Die Sparmassnahmen in den Kantonen und Gemeinden haben mittlerweile jedoch dazu geführt, dass viele Kantone Sozialleistungen wie die Prämienverbilligungen für die Krankenkassen reduziert haben. Auch in der Sozialhilfe findet ein finanzieller Leistungsabbau statt. Dieser geht auf Kosten der persönlichen Beratung und Begleitung von Sozialhilfeempfängern und -empfängerinnen. Es darf aber nicht sein, dass die Staatsfinanzen auf dem Buckel der Armutsbetroffenen saniert werden. Von den vielerorts vorangegangenen Steuersenkungen haben bekanntlich auch nicht in erster Linie die Armen profitiert.

Die Sicherung der Existenz verpflichtet den Staat Herr Bundesrat, setzen Sie sich mit Nachdruck dafür ein, dass Bund, Kantone und Gemeinden dem Auftrag der Bundesverfassung nachkommen und all jenen, die in Not geraten sind, ein menschenwürdiges Dasein garantieren! Sorgen Sie dafür, dass die Sozialhilfe von Kantonen und Gemeinden ihre Aufgabe der Armutsbekämpfung wahrnimmt! Dazu gehören auch situationsgerechte Leistungen sowie persönliche Beratung und Begleitung. Auf diese Weise würde das fünfjährige Programm des Bundes-

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rates zur Prävention und Bekämpfung von Armut (2013 – 2018) entscheidend an politischer Bedeutung gewinnen. Armut darf jedoch nicht bloss durch Leistungen aus der Sozialhilfe bekämpft werden. Oberstes Ziel muss es sein, Armut zu verhindern. Dazu braucht es Investitionen auf der Ebene des Bundes, die bei den Ursachen der Armut ansetzen. Beispielhaft seien drei Politikfelder genannt: -

Bildungspolitik: Viele Menschen, die in Armut geraten, besitzen Bildungsdefizite. Durch Strukturveränderungen sind bisherige wertvolle berufliche Fähigkeiten plötzlich nicht mehr gefragt und müssen durch neue Kenntnisse ersetzt werden. Gezielte Weiterbildung und Nachholbildung sind notwendig. Dazu braucht es von Seiten des Bundes ein stärkeres Engagement und die Entwicklung von Lösungsansätzen.

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Familienpolitik: Die Analyse der Familienarmut zeigt, dass vor allem Alleinerziehende einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt sind. Armutsgefährdet sind aber auch Familien mit mehreren Kindern. Familienarmut darf nicht sein. Sie zeitigt negative Langzeitwirkungen, und die Kinder werden in ihrer Entwicklung in gravierendem Ausmass eingeschränkt. Das zentrale Instrument zur Bekämpfung von Familienarmut sind Ergänzungsleistungen für Familien. Es gibt bereits in einigen Kantonen positive Erfahrungen, der Bund muss nun die Verantwortung für eine gesamtschweizerische Einführung und Mitfinanzierung übernehmen.

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Arbeitspolitik: Langzeitarbeitslosigkeit und Aussteuerung nehmen alljährlich zu. Diesen Menschen fehlt eine Perspektive, sie sind früher oder später auf Sozialhilfe angewiesen. Die Anstrengungen zur Integration arbeitsloser Menschen müssen deshalb verstärkt werden. Dies hat in erster Linie durch die Arbeitslosenversicherung zu geschehen.

Weichen stellen für die Vermeidung von Armut Sehr geehrter Herr Bundesrat, der Bund hat die Herausforderung der Armut in der reichen Schweiz erkannt. Mit der Einführung einer nationalen Armutsstatistik und mit der Formulierung eines Nationalen Programms zur Prävention und Bekämpfung von Armut hat er wichtige Meilensteine gesetzt. Es ist nun entscheidend, dass der Weg zur Vermeidung von Armut mit Entschiedenheit und Nachhaltigkeit beschritten wird. Gerade angesichts der allenthalben zu vernehmenden Sparparolen muss daran erinnert werden: Es ist langfristig billiger, Armut zu vermeiden als Armut zu bekämpfen oder zu lindern. Sorgen Sie dafür, dass sich das Bundesparlament mit den Ursachen der Armut beschäftigt und die notwendigen politischen Weichenstellungen vornimmt! Caritas Schweiz

Mariangela Wallimann-Bornatico Präsidentin

Hugo Fasel Direktor

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