Mediendienst 10 24. Juli 2014
Nahost-Konflikt
„Die Angst ist ein Antrieb, der sich positiv nutzen lässt“ Interview mit Jonathan Peled
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Nahost-Konflikt
„Die Angst ist ein Antrieb, der sich positiv nutzen lässt“ Ein Abbruch der Gespräche und Kontakte zwischen der palästinensischen und der israelischen Bevölkerung kennzeichnen die Zeit nach der zweiten Intifada (ab Oktober 2000). Ohne Dialog, ohne Annäherung zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen ist aber kein Frieden möglich. Dies gilt erst recht seit der Eskalation der Gewalt im Gazastreifen. In einem Projekt der israelischen Organisation Friendship Village, einer palästinensischen Partnerorganisation und der Caritas Schweiz lernen junge, politisch aktive Frauen und Männer aus Palästina und Israel, einen Friedensdialog zu führen. Seit beinahe 15 Jahren leitet Jonatan Peled die Organisation Friendship Village. Trotz seiner 77 Lebensjahre, 30 Jahre Vermittlung zwischen den zerstrittenen Parteien und einem Abbruch des Friedensprozesses zwischen Israel und Palästina denkt er nicht daran, aufzugeben. Im Gegenteil: „Der Weg zum Frieden ist mindestens so wichtig, wie der Frieden selbst“, sagt er. Werden Sie trotz all der Misserfolge der vergangenen Jahre im Nahost-Konflikt nicht müde? Jonatan Peled: Ich kann es mir nicht leisten, müde oder demotiviert zu sein. Die Situation in Israel wendet sich je länger je mehr zum Schlechten, es zeichnet sich eine Abkehr vom Friedensweg ab. Da muss man etwas tun, viel tun. Was ist Ihre Erklärung für diese Entwicklung? Wir Juden haben im Laufe der 2000 Jahre der Verfolgung und Diskriminierung eine Paranoia entwickelt: Wir haben Angst. Angst, wieder diskriminiert und verfolgt zu werden. Die Antwort unserer Regierung auf diese Angst ist Härte und Stärke. Wir glauben, es reicht, genug stark zu sein, um jegliches Unheil und jegliche Katastrophe abzuwenden. Ich meine aber, dass die Stärke, die Macht allein nicht ausreichen; wir müssen einen Weg finden, diese Macht und die Stärke in eine positive, konstruktive Richtung zu lenken. Auch ich habe Angst – schliesslich bin ich Jude -, aber die Angst ist für mich ein Antrieb, ein Gefühl, das sich positiv nutzen lässt. Emotionalität spielt denn auch eine zentrale Rolle im Projekt des Dialogs zwischen den künftigen palästinensischen und israelischen Führungspersönlichkeiten, das von Friendship Village und der palästinensischen Partnerorganisation organisiert und von Caritas unterstützt wird. So ist es. Selbstverständlich sind Geschichte, Kultur und weitere kognitive Inhalte ebenfalls Thema der Workshops und der gemeinsamen Treffen. Ich lege aber grossen Wert darauf, die Gefühle – eigene und jene des sogenannten „Gegners“ – bewusst zu machen, also genau die Angst, den Hass, die Feindseligkeit, das Misstrauen, und alle Vorurteile, auf deren Basis diese negativen Gefühle entstehen, zum Inhalt der gemeinsamen Gespräche zu machen.
Caritas Schweiz, Mediendienst 10, 24. Juli 2014
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Warum? Es sind Gefühle, die unsere Entscheidungen und unser Handeln bestimmen - ob wir es wollen oder nicht. Das ist bei Politikern und Führungskräften der Zivilgesellschaft nicht anders. Sie können noch so lange über rationale Lösungen reden – wenn sie einander misstrauen, werden diese Lösungen nie Bestand haben, falls sie überhaupt umgesetzt werden. Unser Konflikt ist so vertrackt und geht inzwischen so tief, dass wir die Basis, die emotionale Grundlage, ändern müssen. Wie soll das gelingen? Da der Friedensprozess seit Jahren blockiert ist, wurden auch alle Kontakte zwischen den Bevölkerungsgruppen abgebrochen. In den Workshops begegnen sich die meisten Palästinenser und Israelis zum ersten Mal. Nicht selten ist ihre Motivation, am Projekt teilzunehmen, schlicht Neugier: Sie haben bis jetzt noch nie eine Person aus Palästina beziehungsweise aus Israel kennengelernt, obwohl sie an politischen Lösungen für den Konflikt arbeiten. Bei den gemeinsamen Treffen sprechen sie über ihre Erfahrungen, sie legen ihre Perspektiven offen, sie hören sich die andere Seite an. Und dann kehren sie in ihr politisches Denksystem zurück? Die Begegnungen mit der anderen Seite ändern eben viel: Man erkennt die Perspektive des anderen. Zahlreiche Beispiele von unseren Absolventen bestätigen mir, dass der Dialog auf jeder Ebene zentral ist. Einer unserer Teilnehmer, heute Parteivorsitzender, strebt nun den Dialog und den Frieden als politisches Ziel an. Ein anderer setzt sich für palästinensisch-israelische-Organisationen ein. Ein Dritter, heute Schuldirektor, hat Treffen zwischen israelischen und palästinensischen Familien etabliert. Sie bringen die Seiten zusammen und kämpfen damit gegen die Verhärtung, die Politik der Angst an. Das ist ein Weg, der mindestens so wichtig ist, wie das Ziel, also der Frieden selbst – ein nachhaltiger Weg und der einzige, der stabile Lösungen ermöglicht. Interview von Iwona Swietlik Für Rückfragen: Nicole Stolz, Programmverantwortliche Asien/Europa, Caritas Schweiz, E-Mail nstolz@caritas.ch, Tel. 041 419 23 40
Box: Caritas Schweiz, die israelische Organisation Friendship Village und ihre palästinensische Partnerorganisation bieten jungen, politisch aktiven Frauen und Männern aus Israel und Palästina gemeinsame Dialog-Workshops an. Die Teilnehmenden müssen Führungserfahrung im politischen Umfeld, in der Zivilgesellschaft oder Verwaltung ausweisen. Durchgeführt werden drei Kurszyklen, die je 10 Monate dauern und diverse Treffen, Workshops, Lesungen und Aktionen umfassen. Zwischen Mai 2012 und Oktober 2014 werden so 72 junge Menschen im Friedensdialog geschult.
Caritas Schweiz, Mediendienst 10, 24. Juli 2014